Die Geschichte der Maria Schneider - Vanessa Schneider - E-Book

Die Geschichte der Maria Schneider E-Book

Vanessa Schneider

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Maria Schneider war die Skandalschauspielerin der 70er-Jahre – berühmt und traumatisiert durch die Vergewaltigungsszene in »Der letzte Tango in Paris«. Erst nach Marias Tod betonte Regisseur Bertolucci, dass er die Szene nicht bedauere, und löste weltweit Empörung aus. Seitdem kämpft die #MeToo-Bewegung der Filmbranche gegen männlichen Machtmissbrauch.  Maria Schneider war 19 Jahre alt, als sie die Geliebte an der Seite von Marlon Brando in »Der letzte Tango in Paris« (1972) spielte. Der Film über eine junge Frau und einen älteren Mann, die in einem Pariser Appartement animalischen Sex haben, wurde zum Skandalfilm und Maria über Nacht zum Weltstar. Doch die von Bertolucci und Brando improvisierte Vergewaltigungsszene ptägte Marias Leben. Vor laufender Kamera weinte sie, schlug um sich, und niemand half ihr. Maria war zu jung, zu naiv, um rechtlich dagegen vorzugehen. Sie fühlte sich ausgeliefert, ohnmächtig und wurde drogenabhängig. Alain Delon und Brigitte Bardot boten ihr Zuflucht, Patti Smith schrieb einen Song für sie, Bob Dylan wurde ihr Liebhaber. Antonioni engagierte sie für »Beruf: Reporter« mit Jack Nicholson. Aber Maria war verloren. Zusammen mit ihrer Cousine, der Journalistin Vanessa Schneider, wollte sie ihre Version der Geschichte erzählen. Vorher starb Maria jedoch an Krebs. Was bleibt, ist ein bewegender Liebesbrief, ein zärtliches Porträt, eine rauschhafte Reise durch die Filmwelt der 70er und ein Appell an alle Frauen: Wehrt euch, von Anfang an!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vanessa Schneider

Die Geschichte der Maria Schneider

Aus dem Französischen von Grit Weirauch

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Vanessa Schneider

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Vanessa Schneider

Vanessa Schneider ist eine französische Journalistin und Romanautorin. Sie lebt in Paris, wo sie bei der renommierten Tageszeitung Le Monde arbeitet. Seit über zehn Jahren schreibt sie preisgekrönte Essays und Romane, die ins Ausland übersetzt wurden.

 

Grit Weirauch studierte Romanistik und Komparatistik in Saarbrücken und Berlin. Als Redakteurin arbeitete sie für verschiedene Tageszeitungen und für ARTE. Seit 2008 arbeitet Grit Weirauch als freie Übersetzerin aus dem Französischen und Spanischen.

zur Kurzübersicht

Über dieses Buch

Maria Schneider war die Skandalschauspielerin der 70er-Jahre – berühmt und traumatisiert durch die Vergewaltigungsszene in »Der letzte Tango in Paris«. Erst nach Marias Tod betonte Regisseur Bertolucci, dass er die Szene nicht bedauere, und löste weltweit Empörung aus. Seitdem kämpft die #MeToo-Bewegung der Filmbranche gegen männlichen Machtmissbrauch.

Maria Schneider war 19 Jahre alt, als sie die Geliebte an der Seite von Marlon Brando in »Der letzte Tango in Paris« (1972) spielte. Der Film über eine junge Frau und einen älteren Mann, die in einem Pariser Appartement animalischen Sex haben, wurde zum Skandalfilm und Maria über Nacht zum Weltstar. Doch die von Bertolucci und Brando improvisierte Vergewaltigungsszene ptägte Marias Leben. Vor laufender Kamera weinte sie, schlug um sich, und niemand half ihr. Maria war zu jung, zu naiv, um rechtlich dagegen vorzugehen. Sie fühlte sich ausgeliefert, ohnmächtig und wurde drogenabhängig. Alain Delon und Brigitte Bardot boten ihr Zuflucht, Patti Smith schrieb einen Song für sie, Bob Dylan wurde ihr Liebhaber. Antonioni engagierte sie für »Beruf: Reporter« mit Jack Nicholson. Aber Maria war verloren.

 

Zusammen mit ihrer Cousine, der Journalistin Vanessa Schneider, wollte sie ihre Version der Geschichte erzählen. Vorher starb Maria jedoch an Krebs. Was bleibt, ist ein bewegender Liebesbrief, ein zärtliches Porträt, eine rauschhafte Reise durch die Filmwelt der 70er und ein Appell an alle Frauen: Wehrt euch, von Anfang an!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Dank

Ich hatte ein schönes Leben.« Dein Satz glitt wie ein müder Finger über feinsten Samt. Du hast sanft gelächelt und bist in glücklichen Erinnerungen versunken, wenige Tage vor deinem Tod.

Du hast das nicht gesagt, um uns eine Freude zu machen oder dich selbst davon zu überzeugen, das war nicht deine Art. Du hast es anscheinend tief im Inneren empfunden.

Ich habe deine Worte nicht sofort verstanden. Sie klangen erst wie eine falsche Note in einer ausgewogenen Partitur, laut und aufgezwungen. So lange hatte ich dich aus Gewohnheit bemitleidet, mir Sorgen gemacht um dich, mich in dein Unglück, das zu unserem geworden war, hineinziehen lassen. Du aber hast daran geglaubt. »Ich hatte ein schönes Leben.«

Und es tut gut, dass du die Dinge so gesehen hast.

Du warst achtundfünfzig Jahre alt, als du uns verlassen hast. Kein Alter, um zu sterben, sagt man. Dabei hätten wir ehrlich gesagt nie gedacht, dass du es überhaupt erreichen würdest. Viele meinten, als sie von deinem Tod erfuhren, du wärst längst verstorben, so sehr gehören Persönlichkeiten wie du anscheinend der Vergangenheit an. Für einige Stunden, ein paar Tage betrittst du im Februar 2011 auf Internetseiten und in Zeitungen noch einmal die Bühne. In den verschiedenen Artikeln wird die gleiche Geschichte erzählt, mehr oder weniger grober Stoff aus vorgefertigten Phrasen und dick aufgetragenen Klischees: »das verlorene Kind des Kinos«, »das tragische Schicksal«, »die Skandal-Schauspielerin«. Man spricht von deiner zerschlagenen Karriere, vom Letzten Tango in Paris, von Sex, Drogen, der harten Kinowelt, den wüsten Siebzigern. Niemand schreibt darüber, wie du im Sterben Champagner getrunken hast. Dieses Getränk, das du genauso geliebt hast wie ich, und das einen die Verletzungen der Kindheit vergessen lässt und die innersten Risse in empfindsamen Seelen mit Freude füllt. Inmitten von Geperle und Gelächter bist du gegangen, umgeben von liebenden Gesichtern und prickelndem Lächeln. Aufrecht, erhobenen Hauptes, leicht beschwipst. Grandios.

Alain Delon hat sich in die erste Reihe gesetzt. Ich weiß nicht, wann ihr euch zum letzten Mal gesehen habt, aber er hat Platz genommen, mit weißer Mähne und tief gerunzelter Stirn, auf einer der Familienbänke. Dein Abschied sollte in Saint-Roch stattfinden, das hattest du dir gewünscht, in der Kirche der Künstler und Stars, mitten in Paris, der Stadt, die du so oft verlassen wolltest und in die du immer wieder zurückgekehrt bist. Die Musikstücke für die Zeremonie hattest du genau angegeben, Bach vor allem, so wie auch die Namen der geladenen Gäste. Erst mit den Jahren hatten wir entdeckt, dass du gläubig warst, an die religiösen Rituale deiner Kindheit angeknüpft hattest. In Kirchen hast du Kerzen angezündet und gebetet. Du hast darüber in einem Atemzug mit Astrologie und dem Einfluss der Planeten auf die Charaktere gesprochen. Dieser bunt zusammengewürfelte Glauben schien kein Problem für dich.

An jenem Tag in der Kirche Saint-Roch, von deren Turm der Starkregen tropfte, sitze ich hinter Alain Delon. Er hat darauf bestanden, dir zuerst die letzte Ehre zu erweisen und den Brief von Brigitte Bardot an dich vorzutragen, die zu schwach war, um zu kommen und ihn selbst zu lesen. Delon schenkt den Worten Bardots seinen tiefen Bass, als ob sie sich abgestimmt hätten, dir dasselbe zu sagen, deine beiden Kino-Paten. Viele Menschen sind unter dem kalten Gewölbe versammelt. Die Letzten unserer dezimierten Familie, deine so zahlreichen Freunde, ein früherer Kulturminister oder vielleicht sogar zwei, Unbekannte, die von dir Abschied nehmen wollen, die Familie deines Vaters – die Gélins, deine Halbbrüder und Halbschwestern, die wir später bei der Einäscherung auf dem Père-Lachaise wiedersehen werden –, Gesichter, die wir nur aus Zeitschriften kennen. Von einigen fallen uns die Namen kaum ein, ehemalige Stars aus den Siebzigern, Überlebende, wie du eine warst: Dominique Sanda, Christine Boisson, die in dem Erotikfilm Emmanuelle mitgespielt hat. Es sind viele, die sich an dich erinnern, viele, die dich bewundert haben, mehr wahrscheinlich, als du dir vorgestellt hattest. Deine Mutter ist nicht da. Sie nahm nicht den Flieger von Nizza nach Paris. Sie ließ ausrichten, sie sei zu erschöpft.

Alles ist in einer roten Mappe aufbewahrt, wie man sie in der Schule für Arbeitsblätter verwendet, mit zwei Gummibändern an den Ecken als Verschluss. Darin sind Fotos aus Zeitschriften, Interviews, Pressedossiers zu deinen Filmen. Ich bin sechs Jahre alt, acht, zehn, zwölf und ich sammele manisch alles über dich. Mit der abgerundeten Kinderschere schneide ich die Artikel aus, in denen dein Name auftaucht. Meine Mutter flehe ich an, mir Porträts von dir in meinem Alter und deine ersten Zeichnungen zu geben. Ich habe den Deckel der Mappe, in der sich mein Schatz befindet, mit buntem Glitzer und selbstklebenden Sternchen verschönert. In die Mitte habe ich ein Schwarz-Weiß-Foto von dir geklebt, das Zeitungspapier ist von schlechter Qualität. Du hast volle Wangen und dein Lächeln ist so strahlend, wie ich es noch nie an dir gesehen habe. Ich habe das Bild mit Tesafilm überklebt, damit es sich nicht abnutzt, und dabei wohl auch versucht, dich vor dem Schmutz des Lebens zu schützen. Mit den Jahren wird die Mappe immer mal wieder dicker, je nachdem, wie deine Schauspielkarriere verläuft. Enttäuscht stelle ich fest, dass in den Ausschnitten, die ich sammele, deine Filme immer weniger erwähnt werden und die Turbulenzen deines Privatlebens umso mehr. Kritiken und Porträts werden durch Berichte über deine Ausschweifungen ersetzt, die man mit groben Skandalschlagzeilen versehen hat. Je älter ich werde, desto weniger kann ich in die rote Mappe stecken. Du drehst nicht mehr oder nur sehr selten. Du tauchst manchmal in Low-Budget-Filmen auf, von denen einige nicht in französischen Kinos laufen. Hauptrollen bekommst du keine mehr. Journalisten und Journalistinnen interessierst du nicht mehr. Wie so viele deiner Generation schließt du dich der Riege der gefallenen Stars an, bist wie sie durch den Exzess verwelkt und wirst abgelehnt von einer neuen Zeit, in der Rebellentum keinen Platz mehr hat. Du bist nicht mehr die berühmte Persönlichkeit meiner Kindheit, eine, die man auf der Straße erkennt und die einen schaudern lässt vor Aufregung und Neid. Du bleibst meine Cousine, für die ich eine zärtliche und zugleich morbide Faszination hege. Ein zerbrochenes und kostbares Familienjuwel, das man weit hinten in einer geheimen Schublade aufbewahrt.

 

Es gibt nichts mehr über Maria zu schreiben, denn Maria existiert für die Welt nicht mehr. Die rote Mappe bewahre ich trotzdem auf, ein Mausoleum deines Ruhms. Ich nehme sie überall mit hin, lese immer wieder Bruchstücke deines Lebens. Und finde dahinter eine andere als die uns bekannte Geschichte, über die wir letztlich wenig reden, die die Presse zu erzählen hat und dabei Wahrheiten und Halbwahrheiten, Fantasien und Lügen miteinander vermischt – die Geschichte einer jungen Frau, die von der Explosion ihres öffentlichen Auftritts verwüstet wurde. Ein leidvolles Leben, ein aufreibender Kampf gegen eine zu belastende Kindheit. Dein Weg hallt wie ein Echo der Frauen in unserer Familie. Deinem Werdegang hätten wir, die Cousinen, folgen können, wenn du dich nicht, ohne es zu wissen oder zu wollen, für uns auf gewisse Weise geopfert hättest.

 

Die rote Mappe ist das Wertvollste, was ich habe. Wenn ich sie, was selten vorkommt, meinen Freundinnen zeige, ernte ich ratlose, misstrauische Blicke. Wer ist diese Schauspielerin, die anscheinend so viel Erfolg hatte und deren Name man nicht einmal gehört hat? Sie vermuten, dass ich lüge, mir eine berühmte Verwandte ausdenke, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Ich schweige schließlich, erzähle nichts mehr, die Stille ist mir lieber als der Zweifel, das Geheimnis lieber als die Fragen. Als ich die Wohnung der Familie mit zwanzig Jahren verlasse, verwahre ich die Mappe im Landhaus meiner Eltern. Dieser alte Bauernhof ist zu unserem Erinnerungsspeicher geworden. Regelmäßig schnüffeln wir hier in der Vergangenheit herum, in einem »Hinterzimmer«, das angeblich Papas Büro ist, in dem ich ihn aber nie habe arbeiten sehen. Ein großer Karton mit Bändern enthält Plakate, die Kunststudenten im Mai ’68 anfertigten, Flugblätter aus jener Zeit, Hunderte Notizen meines Vaters mit den Spuren seiner revolutionären Utopie und die Archive der »Organisation«, der er damals angehörte. Es gibt hier auch in einem bunten Haufen Zeug Sammlungen an Zeichnungen von Maria und uns und stapelweise alte Zeitungen, darunter die ersten Ausgaben der Libération, für die ich später arbeiten sollte. Dieses Haus scheint mir der ideale Schutzort für mein Dossier zu sein, damit es nicht bei künftigen Umzügen verloren geht. Es ist wie gemacht für dich, mit seiner großblumigen Tapete in Apfelgrün und Orange, den zusammengewürfelten Möbeln, den gefundenen Gegenständen, dem weitläufigen, verwilderten Garten, der sich in meiner Kindheit regelmäßig in ein Hippie-Camp verwandelte, wo Männer und Frauen in indischen Tuniken am Lagerfeuer Gitarre spielten und riesige Joints rauchten.

Jedes Mal, wenn ich auf dem Land bin, hole ich die Mappe aus der Schublade einer alten Kommode hervor. Sie verströmt einen immer beißenderen Geruch nach Staub. Die Fotos verblassen von Jahr zu Jahr, Zeit und Feuchtigkeit nagen an dem Papier. Eines Tages finde ich die Mappe nicht mehr. Sie hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin verärgert und traurig, und komme nicht umhin festzustellen, wie sehr mich die Geschichte der Mappe doch an dich erinnert: eine Abfolge von Erscheinen und Verschwinden. Sie ist wie ein umfangreiches und unvollständiges Resümee deiner selbst, nicht greifbar und doch präsent. Da die rote Mappe nicht mehr da ist, werde ich eines Tages von dir erzählen müssen.

Auf dem ältesten Foto, das ich von dir besitze, hast du einen Jungshaarschnitt. Meine Mutter hat die Aufnahme gemacht. Darauf bist du mit meinem Vater zu sehen, deinem Onkel, der nur ein paar Jahre älter ist als du und unglaublich jung aussieht. Ihr seid in einem Wald, Papa lehnt an einem Baum, du blickst wie ein scheues Reh in die Kamera. Du musst etwa zwölf sein, Papa acht Jahre älter. Wie zwei traurige Kinder seht ihr auf dem Schwarz-Weiß-Bild aus. Deine Mutter hat dir einfach kurze Haare verpasst. Vielleicht bist du für ihren Geschmack zu hübsch geworden und sie konnte das nicht ertragen. Noch hat sie dich nicht hinausgeworfen, noch bist du nicht bei uns eingezogen. Dein Körper ist der eines kleinen Mädchens, deine Haltung lässt schon die Jugendliche erkennen, die du bald sein wirst. Du siehst aus, als wüsstest du nicht, wer du bist. Einen Papa hast du nicht. Deine Mama liebt dich nicht, dein Gesichtsausdruck ist sorgenvoll wie der von Kindern, die ahnen, dass ihr Lebensweg steinig werden wird.

Du bist ein Nachkriegskind, ein Kind des Wiederaufbaus. Es ist der Anfang des wirtschaftlichen Aufschwungs in Frankreich, der Trente Glorieuses. 1952, in dem Jahr, als du geboren wurdest, fabriziert IBM eine seltsame Maschine, den ersten Computer. In französischen Haushalten wird mit Kohle geheizt, Wäsche per Hand gewaschen, Kindern außer zu Weihnachten und zum Geburtstag nichts geschenkt, man verreist nicht, hat keinen Kühlschrank, zwei Drittel der Bevölkerung haben kein fließendes Wasser, nur die Reichsten besitzen einen Fernseher. Die Schule ist nach Geschlechtern getrennt, die Mädchen bleiben unter sich und sind vor den Blicken der Jungen geschützt. Sie spielen Himmel und Hölle, Osselets und Jo-Jo, bis sie zur ersten Fete eingeladen werden. Die Pille gibt es nicht, Paare behelfen sich, so gut es geht, mit Tagezählen und illegalen Schwangerschaftsabbrüchen. Die Armut ist riesig. Ein einstiger Widerstandskämpfer und Priester, Abbé Pierre, ruft die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus ins Leben, um den Ärmsten zu helfen.

Du bist ein Kind des Friedens, aber der Krieg ist nicht zu Ende. Die Ablösung von der Kolonialmacht verläuft blutig, erst in Indochina, später in Algerien. Eine neue Weltordnung entsteht. Stalin stirbt 1953, Elisabeth wird wenige Monate später zur Königin von England gekrönt. In Frankreich kommandiert General de Gaulle das politische Leben. Am 4. November 1956 rücken sowjetische Panzer in Budapest ein und schlagen den ungarischen Aufstand nieder. Europa ist gespalten, bald ist auch die ganze Welt eine weite Front von Kommunisten und Antikommunisten. Der Krieg wird ein kalter.

Du bist ein Kind, und deine Mutter lässt dich bereits spüren, dass du neben ihren beiden Lieblingssöhnen überflüssig bist. Sie hat dir nicht verheimlicht, wer dein Vater ist: Daniel Gélin, der berühmte Schauspieler, der in Amerika gedreht hat. Du konntest seinen Namen nicht annehmen, denn er ist mit Danièle Delorme verheiratet und laut Gesetzgebung jener Zeit kann er somit seine Vaterschaft nicht anerkennen lassen. Er kommt dich ab und zu in Melun besuchen, wo du deine ersten Jahre verbringst. Allerdings so selten, dass du keinerlei Erinnerung daran hast. Und die Treffen werden immer seltener, dein Vater ist bei deiner Mutter unerwünscht. Sie ist nicht gut auf ihn zu sprechen, immer wieder sagt sie dir, dass du ihm egal seist. Er will dich nicht sehen, verstehst du, er liebt dich nicht. Dabei ist sie es, die dich auf Abstand zu ihm halten will. Ihr eigenes Kind, das andere als fröhlich und frech beschreiben, sie selbst aber als unausstehlich.

Sie kann nicht mehr, schafft es nicht mehr, kann ja kaum für sich selbst sorgen. Ständig sagt sie dir, du seist schwer erziehbar. Zu einer Amme will sie dich schicken, die wüsste wenigstens mit dir umzugehen, könnte dir die Benimmregeln einimpfen, dich erziehen, dich wieder auf Spur bringen. Du bist noch sehr klein, als sie dir eröffnet, dass sie dich zu einer »Dame« gibt. Ich stelle mir vor, wie du deine Tränen unterdrückst, lautlos weinst vor Wut und Schrecken. Du willst nicht dahin gehen, du willst nicht weggehen, möchtest bei deiner Mama und deinen Brüdern bleiben. Du sagst es lauter, weil man dich nicht hört, du schreist, du brüllst all die Worte, die dir in den Sinn kommen. Sie verlieren sich in der Leere, finden kein Gehör. Deine Mutter lässt dich zwei Jahre bei einer Fremden, über die du niemals ein Wort verlieren wirst.

Mit knapp zehn Jahren kehrst du wieder zu deiner Familie zurück. Das Sexleben deiner Mutter ist für dich kein Geheimnis, so wie das ihrer Mutter für sie keins war. Wir stammen aus einer Familie, in der man vor Kindern nichts verheimlicht, vor allem nicht das, was sie niemals erfahren sollten. Unter vorgehaltener Hand erzählt man sich bei uns die Geschichte, dass deine Mutter mit einem Mann im Bett war und wie immer, wenn sie etwas von dir wollte, in trockenem Befehlston deinen Namen ruft, der in den Fluren der Wohnung widerhallt. Du sollst ihr das Diaphragma bringen. Du gehorchst, hast keine andere Wahl, spürst es in ihrer Stimme. Aufgeregt gehst du ins Bad, kramst auf der Ablage über dem Waschbecken. Mit dem Ding fest in deinen kleinen, ungeschickten Händen läufst du zu ihr. Voller Angst, du könntest es kaputt machen. »Lass es bloß nicht fallen«, hat sie dir oft genug gesagt, »das kostet ein Vermögen.« Vorsichtig und langsam gehst du. Beeilen sollst du dich. Du gibst ihr das Diaphragma und rennst zurück in dein Zimmer.

Du bist vierzehn Jahre alt, hast immer noch kurze Haare, aber du wirst jeden Tag hübscher. Deine Brüste wachsen, dein kindlicher Körper entwickelt sich rasant und du schaust dabei zu. Jeder Tag ist eine Veränderung. Deine Nase bekommt eine neue Form, deine Hüften füllen deine Hosen anders aus, deine Haut stellt sich um, deine Augen erscheinen dir plötzlich zu groß, dein Unterleib spannt sich jeden Monat an und Blut fließt in deine Unterhosen.

Deine Formen versteckst du unter weiten Pullovern. Diese sich aufdrängende Weiblichkeit ist dir unangenehm. Doch du versteckst dich umsonst, die Jungs finden Gefallen an dir. Ihre Blicke heften sich an deine Figur, reife Männer drehen sich nach dir um. Deine Mutter bedrängt dich mit Fragen und eines Tages gibst du dich geschlagen. Du gestehst ihr, dass du einen Freund hast. Es ist das Letzte, was du ihr anvertrauen würdest, aber sie lässt nicht locker, und wenn du nichts erzählen würdest, hieße es einmal mehr, du seist kein artiges Mädchen. Nur eins interessiert sie: »Schläfst du mit ihm?« Du bist geschockt, wie kann sie so etwas denken? »Natürlich nicht, auf keinen Fall!« Sie seufzt, verdreht die Augen und blickt dich an: »Mein armes Mädchen. Was bist du nur für eine Memme!«

Du bist fünfzehn Jahre alt. So alt wie deine Mutter, als sie ihr erstes Kind bekam, so alt wie unsere Großmutter, als sie zwangsverheiratet wurde. In dem Alter wurden die Frauen unserer Familie brutal erwachsen, ohne Unterstützung ihrer Mütter. Deine hat dich vor die Tür gesetzt. Papa und Mama bieten dir an, bei ihnen zu wohnen, in ihrer Zweizimmerwohnung im 7. Arrondissement von Paris. Es gab diesen schrecklichen Streit bei dir zu Hause, niemand wollte Genaueres wissen. Man munkelt, dass deine Mutter deinen Stiefvater in deinem Bett erwischt hat. Ihr habt damals alle zusammengewohnt, mit deinen beiden Brüdern, in einer kleinen Wohnung in der Avenue de la Grande-Armée.

Du bist in der zehnten Klasse auf dem Lycée Racine und eine gute Schülerin. Du bist glücklich, bei meinen Eltern zu wohnen. Ich bin noch nicht geboren. Es herrscht Boheme-Atmosphäre, du fühlst dich frei mit diesem Paar, diesen beiden jungen Erwachsenen, die du so sehr liebst. Mein Vater studiert noch, meine Mutter arbeitet als Buchhändlerin bei Maspero im Quartier Latin. Sie verkehrt mit den Leuten von den Cahiers du Cinéma und verbringt ihre freie Zeit in der Cinémathèque. Papa ist in linksextremen Kreisen unterwegs. Er bereitet die Revolution vor und ist drauf und dran, zu den Waffen zu greifen. Er liest Zeitungen, organisiert Demos, studiert Politik, Wirtschaft, Jura, mit konspirativer Miene geht er zu Versammlungen und kommt spätabends mit entrücktem Lächeln wieder. Du findest das alles lustig, bislang hast du keinen blassen Schimmer von Politik. Mitte der 60er-Jahre siehst du dich eher als Anhängerin de Gaulles. Auch wenn du es nicht begründen könntest, definierst du dich halt so.

Papa und Mama heirateten kirchlich, Place Saint-Germain-des-Prés, in dem Viertel, in dem sich ihr Leben abspielen sollte, nur an Gott glaubten sie nicht mehr. Jesus und die Jungfrau Maria hatten Platz gemacht für Mao und Freud. Du entdeckst, dass es die Psychoanalyse gibt, und findest sie genauso lustig wie die Revolution. Das Kino ist zu dieser Zeit dein Ein und Alles. Meine Eltern sollen dir von den neuesten Filmen erzählen, du treibst dich in Kinosälen herum, um die Premieren zu erleben. Mama meint, du solltest eine Probeaufnahme mitmachen. Ein Freund von ihr, angehender Regisseur, sucht ein junges Mädchen, das aussieht wie die Mouchette in dem gleichnamigen Film von Robert Bresson. Er dreht eine Szene mit dir, entscheidet sich aber schließlich gegen dich, weil du ihm zu schüchtern bist. Mama ist enttäuscht. Denn sie findet, dass du eine besonders starke Ausstrahlung hast, eine natürliche Wildheit. Wenn sie ihn auch nicht dazu bringen kann, die Rolle mit dir zu besetzen, so überredet sie ihn, dir den Filmstreifen zu geben. Ich weiß nicht, ob du ihn aufbewahrt hast.

Du bist noch keine sechzehn und kommst eines Tages mit hochroten Wangen nach Hause. Etwas ganz Besonderes hast du dem jungen Paar zu verkünden, bei dem du wohnst: »Ihr kommt nicht darauf, was ich heute gemacht habe!« Du jubelst jetzt schon über ihre Reaktion und die Sätze purzeln nur so aus dir heraus. Am Nachmittag hast du bei deinem Vater geklingelt, den du seit Jahren nicht gesehen hast. Er hat dich sehr nett empfangen. Von Danièle Delorme ist er geschieden. Nach einer kurzen Affäre mit Ursula Andress lebt er jetzt mit Sylvie Hirsch zusammen, Model bei Dior, mit der er zwei Kinder hat, Manuel und Fiona. Du kannst wiederkommen, hat er gesagt, wann immer du willst. Wirklich, wann immer du willst. Kurz darauf schwänzt du die Schule. Du begleitest stattdessen deinen Vater bei seinen Dreharbeiten. Er nimmt dich überall mit hin, präsentiert dich stolz als seine Tochter. Du bist ja auch bereits so schön, willst so viele Dinge wissen, hast künstlerisches Talent, kannst gut zeichnen. Und du streckst stolz die Brust heraus. Gélin hat eine Karriere hingelegt, bei der viele Schauspieler und Schauspielerinnen seiner Generation blass vor Neid werden. Als schöner, dunkler Jüngling spielte er in den 50er-Jahren bei den ganz Großen mit, von Sacha Guitry bis Jean Cocteau. Mit Alfred Hitchcock drehte er Der Mann, der zuviel wusste.

Abends kommst du in die kleine Wohnung zurück und erzählst ausführlich, was du bei den Dreharbeiten erlebt hast. Ohne Unterlass redest du von den Lampen und dem Licht, von der Kamera und dem Kabelsalat, dem Tanz der Techniker, den immer und immer wieder aufs Neue gedrehten Szenen. Ein Traum, den du in deinen Farben ausmalst, als ob du ihn dadurch festhalten könntest. Dort, in dieser Blase, zwischen all den Kulissen, macht man dir Komplimente, interessiert sich für dich. Das gefällt dir.