Die Heilung von Luzon - Karl-Heinz Ott - E-Book

Die Heilung von Luzon E-Book

Karl-Heinz Ott

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Beschreibung

Vier Lebensgeschichten, zwei Beziehungen, eine Diagnose – Karl-Heinz Otts neuer großer Roman Zwei deutsche Paare treffen in einem Resort auf den Philippinen aufeinander. Nicht die Lust, am Strand zu liegen, hat sie dorthin getrieben, sondern schiere Verzweiflung. »Unheilbar« war die ärztliche Diagnose für jeweils einen von ihnen. Sie suchen Rettung bei einem Wunderheiler, der in einem verlassenen Zoo Operationen ohne Skalpell vornimmt. Bock, einst ein berühmter Theaterregisseur, träumt von einer letzten großen Inszenierung. Gela, seine Frau, wollte ihn schon lange verlassen. Auch bei Tom und Rikka stellt sich die Frage, ob nur noch das Schicksal sie aneinanderkettet. Karl-Heinz Ott begegnet seinen Figuren und den Fragen nach den letzten Dingen mit einer Schonungslosigkeit, in der eine zutiefst menschliche Ironie mitschwingt.

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Die Heilung von Luzon« von Karl-Heinz Ott

Über das Buch

Zwei deutsche Paare treffen in einem Resort auf den Philippinen aufeinander. Nicht die Lust, am Strand zu liegen, hat sie dorthin getrieben, sondern schiere Verzweiflung. »Unheilbar« war die ärztliche Diagnose für jeweils einen von ihnen. Sie suchen Rettung bei einem Wunderheiler, der in einem verlassenen Zoo Operationen ohne Skalpell vornimmt. Bock, einst ein berühmter Theaterregisseur, träumt von einer letzten großen Inszenierung. Gela, seine Frau, wollte ihn schon lange verlassen. Auch bei Tom und Rikka stellt sich die Frage, ob nur noch das Schicksal sie aneinanderkettet. Karl-Heinz Ott begegnet seinen Figuren und den Fragen nach den letzten Dingen mit einer Schonungslosigkeit, in der eine zutiefst menschliche Ironie mitschwingt.

Karl-Heinz Ott

Die Heilung von Luzon

Roman

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Karl-Heinz Ott

Impressum

Inhalt

Die Hähne

Die Fahrt

Ocean Beach

Abendessen

Im Zoo

Energiefelder

Kreuzigungen

Das neue Leben

Die Fahrt nach San Fernando

Die Unterbrechung

Beim Leuchtturm

Frühstück

Das Erwachen

Träume

Die zweite Nacht

Letzte Bilder

Manila

Sonnenaufgang

Die Hähne

Nein, sie kamen nicht aus seinem Kopf, sie kamen tatsächlich von draußen. Es waren keine Traumreste, wie er gedacht hatte, vermischt mit Bildern aus der Kindheit: der einsame Baum im Garten, an dem jedes Jahr weniger Pflaumen hingen, der Hühnerstall nebenan, die Glucken im Strohkorb beim Brüten, so lange, bis ein leises Knacken zu hören war und erste Risse sich zeigten, dann ein Ruckeln und Zucken, bevor das Ei platzte und ein glitschiger, leuchtend gelber Knäuel aufs Stroh rollte, ein verklebtes Büschel mit geschlossenen Augen, völlig erschöpft. Auch die Großmutter war ins Bild gekommen, ganz in Schwarz und mit Hut, auf dem Weg zur Kirche, für den sie den Kiesweg hinterm Schuppen nahm, die Handtasche fest umklammert, darin das Gesangbuch, der Rosenkranz, ein paar Klammern fürs Haar und ein großes weißes, zusammengefaltetes Schnäuztuch, mit Spitzen umrandet, wie bei einer Tischdecke. Jeden Sommer, wenn er mit ihr, eine Schüssel in der einen Hand, eine Mistgabel zum Schütteln in der andern, auf diesen Pflaumenbaum zuschritt, sagte sie: Nächstes Jahr lohnt es sich nicht mehr! Als bloß noch sechs oder sieben Pflaumen an ihm hingen, fällten sie ihn. Die Nachbarn wollten nicht glauben, dass sie beide das ganz alleine geschafft hatten: er fast noch ein Knirps, sie jenseits der achtzig. Manchmal ist man zu Dingen fähig, die einen selbst verblüffen.

Einmal im Jahr war bei ihnen sonntags ein Hahn auf dem Tisch gestanden, gefüllt mit Brät, Kräutern, Gewürzen und weiß Gott was allem, jedes Mal ein Festessen, unvergesslich. Am Vortag schlug die Großmutter ihm den Kopf ab, mit dem Beil auf dem Hackklotz, worauf er noch eine Runde durch die Luft flatterte und Blut verspritzte, während der Kopf mit dem Kamm schon auf dem Boden lag. Der Hackklotz stand mitten im Hühnergarten, hauptsächlich zum Holzhacken. Die Hühner und dieser Klotz gehörten zusammen, wie Leben und Tod. Als Kind hatte er sich oft gefragt, ob die Hühner wussten, dass das Gleiche auch ihnen blühen würde, sie waren meist dabei, wenn ein Rumpf ohne Kopf durch die Luft flog. Aber sie schauten überhaupt nicht hin, als gäbe es Wichtigeres zu tun: Würmer aus dem Boden scharren, kleine Revierkämpfe ausfechten, das Gefieder putzen. Was die Großmutter tat, schienen ihre nervösen Knopfaugen auszublenden, als ginge es sie nichts an. Sie gackerten weiter, badeten im Sand, tranken aus Schalen schlückchenweise Wasser, in meditativer Versenkung. Das Geköpftwerden gehörte zu ihrem Leben wie die Körner, die sie pickten, und wie die Hühnerleiter und der Zaun um sie herum und der Himmel weit droben.

Diese Bilder kamen ihm in dem Zwischenzustand aus nachwehenden Träumen und einsetzendem Erwachen, kurz vor Einbruch der Wirklichkeit, in den Momenten, als man noch nicht genau wusste, was von draußen kam und was aus dem eigenen Innern, jedoch schon etwas von dem Licht ahnte, das einen beim Augenöffnen erwartet. Um den Andrang der Realität noch eine Weile hinauszuzögern, hätte er seine nächtlichen Filmbilder am liebsten noch einmal angekurbelt. Im Wachzustand musste man sich immer gleich wieder für dies und gegen jenes entscheiden und sich in irgendeiner Weise verhalten, während man sich im Halbschlaf den Dingen einfach überlassen und sie trotzdem schon ein wenig steuern konnte, ohne jede Verantwortung und ohne alle Folgen. Am liebsten hätte er weitergedöst und sich in diesen Erinnerungsgespinsten verloren, was immer sie heranschwemmen mochten.

Das Krähen wollte nicht aufhören, es wurde lauter, mächtiger, gebieterischer. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht Tausende, vielleicht Millionen. Zu Hause befand er sich jedenfalls nicht, so viel stand fest, schon gar nicht bei der Großmutter, die schon lange tot war. Dann aber tauchte dieses Bild auf: zerrupfte, halb nackte Hähne mit bloß noch spärlichem Gefieder, die Haut käsig, voller rötlicher Flecken, wie Pusteln oder Warzen, die Kämme herabhängende Lappen, wie angenagt und angefressen, um eines der Beine eine Schnur, festgebunden an Bäumen, direkt an der Straße, mit nur einer Armlänge Bewegungsfreiheit, auf Auspuffhöhe. Nichts Stolzes an ihnen, nichts Majestätisches, elendige Kreaturen. Es fehlte ihnen alles, was er aus seiner Kindheit kannte, vor allem die Misthaufen, auf denen sie am liebsten thronten. Sie lebten in einer Steinwüste.

Nun wusste er auch, wo er sich befand: in einem Hotel in einer fremden Welt, mit Rikka neben sich. Und er wusste auch, warum er die Augen noch nicht öffnen und weiterträumen wollte, wie aus Angst, unangenehm überrascht zu werden, ohne sagen zu können, worin dieses Unangenehme bestand. Es war nur ein Gefühl, ja sogar weniger als ein Gefühl, ohne alles Greifbare, gleich einem Nebel, von dem er nicht wollte, dass er sich lichtet. Früher war er gerne aufgewacht und gerne aufgestanden, vor allem, wenn ein heller Himmel ihn begrüßte, in letzter Zeit hing er oft seinen ausfransenden Träumen nach und wäre lieber liegen geblieben. Inzwischen hatte er gleich beim Aufwachen ein beklemmendes Gefühl, das ihn oft stunden-, ja manchmal tagelang nicht mehr loslassen wollte. Vor einiger Zeit war er noch gerne in die Schule gegangen und aus der Schule gerne zurück nach Hause, die tägliche Routine hatte etwas Beruhigendes, trotz aller Probleme in den Klassen und mit den Kollegen. Jetzt fühlte er sich manchmal schon beim Aufwachen erschöpft und fast schwermütig, obwohl er nie zu Schwermut geneigt hatte. Allerdings steckte hinter dieser Schwermut vermutlich etwas ganz anderes, viel Schlimmeres, woran er lieber nicht denken mochte. Dabei wusste er nur zu gut, was es war. Es war ein innerer Aufruhr, den er mit aller Kraft niederzuhalten suchte. Im Grunde wollte er einfach nur wieder der sein, der er einmal war.

Zurück vom Abendessen hatten sie noch eine Weile auf dem Balkon gestanden und in die Nacht geschaut, zur Linken das Meer, zur Rechten Berge in unbestimmter Ferne, vielleicht die Kordilleren, auch wenn sie erstaunlich niedrig aussahen und laut Karte erst weiter nördlich anfingen, dort, wo sie heute hinfuhren, in wenigen Stunden. Im Bett hatten sie noch ferngesehen, Unterhaltung und Werbung auf allen Kanälen, knallbunt und ziemlich retro, von Nachrichten keine Spur, aber sie hätten sowieso nichts verstanden. Nach einem schnellen Zappen schalteten sie ihn aus und gleich darauf auch das Licht, eine kalte Deckenröhre, deren Licht das Zimmer noch öder erscheinen ließ, als es eh schon war.

Rikka schlief noch, ruhig und tief, fast als könnte sie tot sein, friedlich und wie erlöst von allem. Er schlüpfte aus dem Bett, langsam und leise, tappte auf Zehenspitzen zum Balkon, schob die Tür sachte zur Seite und hinter sich zu. Immer noch traute er seinen Sinnen nicht, man konnte es kaum glauben. Nirgendwo hatte er von diesen Hähnen gehört oder gelesen, nicht einmal im Reiseführer, in dem alles Mögliche stand, von Prostituierten und dem Papamobil, das man für den polnischen Papst gebaut hatte und das wie eine Reliquie verehrt wurde, irgendwo in einer Kathedrale hier. Angenehm warm war es schon so früh, über dem Meer ein blassblaues Leuchten, am Horizont ein breiter gelber Streifen mit rötlichen Tönen, obwohl die Sonne noch gar nicht aufgetaucht war, aber ihre Strahlen vorausschickte. So stellte man sich den ersten Schöpfungstag vor, dachte er, in reinem Licht, das noch nie ein Unheil gesehen hat und schon zweimal nichts von dem, was sie gestern Abend zu Gesicht bekommen hatten, nicht nur die angepflockten Hähne und die Baumbewohner auf Brettern zwischen den Ästen und die riesigen Lagerhallen, aus deren Fensterlöchern Scharen von Gesichtern blickten, wie eingepfercht.

Auf der Suche nach einem Restaurant waren sie plötzlich vor zwei Leprakranken gestanden, wie aus dem Nichts, hinter einer Wegbiegung, Gespenstern gleich, an einen Zaun gelehnt, keine zwei Schritte von ihnen entfernt, am Eingang eines Parks, unweit der amerikanischen Botschaft, in einem Viertel, in dem man so etwas nie vermuten würde. Lepra, hatte er gedacht, gäbe es schon seit Ewigkeiten nicht mehr, eine biblische Krankheit bis ins Mittelalter, mythisch, wie nicht von dieser Welt, eine von Gott verhängte Strafe, zu Zeiten, als man noch an Gott geglaubt hat. Diese beiden aber streckten ihnen ihre verknoteten Hände entgegen, leibhaftig, aus Fleisch und Blut. Sie traten auf sie zu, vorsichtig, scheu, demütig, der kleinere mit einem glibberigen Auge ohne Pupille, rötlich weiß, tief in seiner Höhle versunken, sein Kopf voller Beulen, weißlich, gelblich, violett, so wie auch seine nackten Arme und Beine, die Haut tiefbraun, an manchen Stellen fast schwarz, wie verbrannt.

Nach einer Schrecksekunde war Rikka weggelaufen, was auch er am liebsten getan hätte, aus Angst, angesteckt zu werden, durch ihre bloße Nähe, ihr bloßes Dasein, ihren Pesthauch. Doch aus Scham, sie könnten sich wie Aussätzige behandelt fühlen, blieb er stehen, wie angewurzelt, unfähig, etwas zu tun, während Rikka rannte und schrie und fluchte. Als müsste er mit der ganzen Kraft seiner Blicke verhindern, dass die beiden ihm noch näher kamen, hatte er nicht einmal gewagt, ihr nachzuschauen. Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, griff er nach seinem Geldbeutel, zog blind ein Bündel Scheine heraus, legte es dem Größeren in die ausgestreckte Stummelhand, panisch darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, kein kleines bisschen.

Wie um sich zu entschuldigen, verbeugte er sich vor ihnen und eilte Rikka hinterher, die ihm mit abwehrenden Armen bedeutete, ihr keinen Schritt näher zu kommen. Wie von Sinnen schüttelte sie den Kopf und schrie: »Rühr mich nicht an! Bist du verrückt, du hast sie angefasst!« Sie rannte weiter, so schnell, wie er sie noch nie hatte rennen sehen, und das in ihrem Zustand, quer durch den Park, hinein in die Nacht. Er rannte ihr nach, sie rief: »Bleib weg!«, immer wieder, bis sie auf einmal stehen blieb, sich auf ihre Knie stützte, schwer atmete, zu weinen anfing, sich auf eine Bank setzte, völlig erschöpft.

»Nicht zu fassen! Soll ich jetzt auch noch Lepra kriegen!«, stöhnte sie, keuchend, zitternd, restlos am Ende. »Ich habe sie nicht angefasst«, beteuerte er. »Da reicht ein Atemhauch!«, rief sie. Ihr sei die Lust vergangen, noch essen zu gehen, sie wolle nach Hause, auf der Stelle, mit dem nächsten Flugzeug, sofort, noch in dieser Nacht. Am besten, er würde gleich das Gepäck aus dem Hotel holen, das noch so gut wie nicht ausgepackt war. Sie wollte nichts und niemanden mehr sehen. Nie und nimmer, sagte sie, wäre sie hierhergekommen, hätte ihr jemand gesagt, was sie hier erwartet.

Eine halbe Stunde später saßen sie, über eine Speisekarte gebeugt, auf einem überdachten Steg am Hafen, an der Flussmündung. Es hatte zu tröpfeln angefangen, der Kellner hatte eine Plastikplane von der Überdachung heruntergezogen, so verwittert und schmierig, dass man das Wasser und die Lichter nur noch verwischt sah. Rikka lächelte, sie warf ihm sogar einen Kuss zu und streckte ihm ihre Hände entgegen, alles schien wieder gut. Zuvor waren sie an einer Karaoke-Bar vorbeigekommen, in einer unbelebten Gasse, ein ganz gewöhnliches Haus, die Fenster offen, mit zwei Jungs drin. Der eine hatte sie hereingewinkt, der andere das La-la-la aus »Hey Jude« gegrölt, in einer schwarz gestrichenen Höhle, nicht größer als eine Stube, mit roter Deckenfunzel und einem Regal, auf dem ein paar Flaschen standen und ein Ghettoblaster.

Rikka hatte angefangen mitzusingen und mitzutanzen, draußen auf der Straße, mit wehendem Rock und einem Gefunkel in den Augen wie in den Tagen, als sie sich kennengelernt hatten, fast so, als könnte alles noch einmal von vorn beginnen. Sie wollte, dass er mit ihr tanzte, die Aussätzigen schienen vergessen, sie griff nach seiner Hand, versuchte, ihn um sich zu schleudern, mit erstaunlicher Wucht, hin und her, zur einen Seite und zur andern, so heftig, dass man hätte meinen können, sie seien nach Manila geflogen, um sich zu vergnügen. Mit einem Mal wusste er wieder, was an ihr so unwiderstehlich sein konnte: vor allem ihr Blick, mit dieser Mischung aus Provokation und Unsicherheit. Eine Unsicherheit, die vielleicht sogar das Reizvollere war. Aber auch das Bedenklichere.

Plötzlich war sie so munter und beschwingt wie lange nicht mehr. Davon, dass sie mit dem nächsten Flieger nach Hause wollte, war keine Rede mehr, sie war wie ausgewechselt, in null Komma nichts. »Eigentlich sieht hier fast nichts nach Asien aus«, hatte sie behauptet. Schon am Flughafen sei ihr das aufgefallen, gleich bei den Leuchttafeln mit ihrem Bienvenida, als wäre man in Südamerika, auch was die Werbung, die Schilder, die Plakate anging, vor allem aber die Schrift und auch die vielen Kirchen. Selbst die Leute sähen wie Latinos aus, ein bisschen jedenfalls, nur zarter und feiner, vor allem die Frauen, mit den Thais oder Japanern hätten sie wenig gemein, auch gebe es in den Straßen nirgends solche scharfen Gerüche wie in Bangkok, allenfalls die Stände mit den Bananen, Kokosnüssen, Ananas und den Töpfen voller Gewürze und Soßen hätten etwas von Asien, doch das gebe es überall in den Tropen, auch in Südamerika, nur dass dort die Regenzeit im Winter sei und hier im Sommer. »Wir hätten«, sagte sie, »genauso gut nach Brasilien fliegen können, zumal es auch dort solche Typen wie Bon Sato gibt.« Aber wir hätten Glück, hier sei es trocken, der Himmel blau und nicht tagaus, tagein diesig und feucht, jetzt sei die beste Zeit.

Er war neben ihr hergetrottet wie ein Tourist, der sich alles genau erklären ließ, nickend, schweigend, gelehrig. Fast hätte man meinen können, sie seien seinetwegen hier und nicht ihretwegen. Am liebsten hätte er sie gefragt, woher sie das alles so genau wisse, sie sei doch erst ein einziges Mal in Asien gewesen, vor zig Jahren in Thailand, als sie sich noch nicht gekannt hatten. Er selbst hatte nie große Lust verspürt, fünfzehn Stunden zu fliegen, nur um sich an einen Strand zu legen, wie es ihn auch in Italien oder Frankreich gab. Mit Clubs und Bars, Surfen und Schnorcheln hatte er noch nie viel am Hut, ein Teller Antipasti, ein Glas Wein und der Blick auf den Sonnenuntergang genügten ihm.

Und dann saßen sie in diesem Lokal am Hafen, auf einem Steg, unter ihnen eine trübe Brühe mit herumdümpelndem Müll. Gern hätten sie auf die Türme, Häuser, Schiffe, Hallen geschaut, mit ihren Lichtern, die sich im schwappenden Wasser spiegelten, voll wogender Farben, nur dass diese mit Schlieren verdreckten Planen alles verschwimmen ließen. Verglichen mit den Restaurants, an denen sie unterwegs vorbeigekommen waren, schien es sich sogar um ein besseres zu handeln, trotz der Resopaltische, Plastikstühle und abwaschbaren Speisekarten mit den verblichenen Fotos von Fleischspießen, Garnelentellern und Suppen. Lampions baumelten an den Seitenbalken, Lichterketten hingen von der Decke, auf der Theke stapelten sich Weinkühler, nur noch ein einziger Tisch war frei. Als der Regen stärker wurde, sah man die Lichter nur noch durch einen fettigen Schleier, der alles unwirklich werden ließ. Die Welt löste sich auf, man fühlte sich wie in einer vor Anker liegenden Arche, auf der man die letzten Plätze ergattert hatte. Wind kam auf, die Planen blähten sich, es wehte von allen Seiten, unter einem das schmatzende, um die Pfähle klatschende Wasser, mal stärker, mal schwächer, als wollte es keine Ruhe geben, bevor alles zu wanken anfing. Und doch hatte dieses Hin-und-her-Geschwappe auch etwas Beruhigendes, obwohl es an den Nerven zerrte.

Die Karte war auf Filipino, ihr Miniwörterbuch lag noch im Koffer, wie fast alles. Sie mussten sich an die Fotos halten, die höchstens die Hälfte der Gerichte abbildeten. Rikka konnte nichts finden, seit ein paar Monaten entsprach nichts mehr ihren früheren Essgewohnheiten. »Fleisch, Fleisch, Fleisch, Fisch, Pommes, Shrimps«, schimpfte sie. Für irgendetwas musste sie sich jedoch entscheiden, sie hatten zuletzt im Flugzeug eine Kleinigkeit gegessen, vor sechs, sieben Stunden. Auch eine Schale mit Erdnüssen war abgebildet, die sie sich an einem Kiosk hätten kaufen können, bestenfalls kamen noch die gebratenen Bananen infrage, eine Nachspeise. Sie wollten aber nicht im Regen nach einem anderen Restaurant suchen, dazu hätte Rikka auch die Kraft gefehlt, sie hatte sich beim Tanzen völlig verausgabt, woanders wäre es wohl eh nicht besser gewesen.

Als der Kellner kam, zeigte sie auf eine helle Tomatensuppe, aus der ein paar Pilze ragten, garniert mit einem Spinatblatt oder etwas Ähnlichem. Damit konnte man nichts falsch machen, schlimmstenfalls würde die Suppe zu scharf sein. Er nahm die King Prawns und dazu ein Bier. Kaum war die Bestellung aufgegeben, stand das Essen auf dem Tisch. Rikka rührte mit dem Löffel in ihrer Suppe, was zum Vorschein kam, waren aber keine Pilze. Sie nippte und spuckte sofort aus. Wieder kamen ihr die Tränen, ihre Lippen fingen an zu zittern, es waren Kutteln. Über ihnen ratterte ein Helikopter, er peitschte das Wasser auf, die Planen flatterten. Sie wollte nur weg, so schnell wie möglich. Er winkte dem Kellner, trank sein Bier in einem Zug leer, man musste am Ausgang bezahlen, auch er ließ sein Essen stehen, fast unberührt. Der Kassierer fragte nicht, warum sie schon wieder davoneilten.

So schnell, wie der Regen gekommen war, hatte er sich auch wieder verzogen. Der Mond brach durch die Wolken, die Nacht hellte sich auf. Sie nahmen den gleichen Weg zurück, mieden jedoch den Park bei der amerikanischen Botschaft. Von den Hähnen war keiner mehr zu sehen, dafür überall Katzen, nur Fell und Knochen. Aus der Karaoke-Bar dröhnte immer noch Musik, und immer noch war niemand drin außer den beiden, die sie wieder hereinwinkten. An einem Kiosk kauften sie Chips, vom Hafen drang Bumbum herüber, ihr Hotel lag in einer ruhigeren Straße, anziehend war die Umgebung nicht.

»Das ist mir alles zu viel«, sagte Rikka beim Warten auf den Aufzug, »aber wir wollten ja etwas von Manila sehen.« Sie standen noch eine Weile auf ihrem Balkon, hoch droben im zwanzigsten Stock, und fragten sich, ob die Berge, die in der Nacht versanken, wirklich die Kordilleren waren. Im Aufzug hatte er nachsehen wollen, ob man auch hier den dreizehnten Stock ausließ, wie es in Hotels nicht selten der Fall war, hatte es aber vergessen. Das Wort Unglück wollte er in diesen Tagen gegenüber Rikka vermeiden.

Und jetzt lag das Häusermeer ringsum in tiefstem Frieden, kein Windhauch, alles schien noch zu schlafen und zu schlummern, nichts regte sich, selbst auf dem Wasser nirgends ein Gekräusel, eine weithin glatte Fläche, keine Welle, keine Woge, zwischen Hafen und Horizont ein Dutzend Tanker, reglos, mächtig, still. Nichts von gestern Abend schien mehr zu existieren, es war eine andere Welt, am selben Ort, an derselben Stelle. Was sie beide erlebt hatten, schien ein nächtlicher Spuk. Nur diese Hähne krähten, unsichtbar, wie aus dem Nichts, ohne Unterlass, immer schriller, immer ungeduldiger, als müssten sie die Welt zu neuen Taten antreiben. Nur für eine kurze Weile sollten die Schlafenden vergessen dürfen, was ihr Leben ausmachte.

Auf dem Hochhaus nebenan trat ein Mann aus einem Bretterverschlag, so rund wie groß, wie in einem Film mit dem noch jungen Marlon Brando auf einem Dach mit Taubenschlägen, nur dass Marlon Brando damals noch nicht so dick war wie dieser Glatzköpfige, der weder nach links schaute noch nach rechts, bekleidet mit nur einer kurzen Hose, über der ein Kugelbauch hervorquoll. Den Kopf aufrecht, den Blick geradeaus, die Arme leicht angewinkelt, legte er die Hände auf Brusthöhe aneinander wie zum Gebet, verneigte sich, vor Gott, vor dem Kosmos, vor wem auch immer, löste die Hände, trat einen Schritt vor, ging in die Knie, winkelte die Arme wieder an, diesmal energischer, richtete den Kopf geradeaus, einer Statue gleich, die zeigt, wie man kampfbereit und entspannt zugleich sein kann. Er fing an zu boxen, gegen einen unsichtbaren Gegner, gegen die Luft, gegen das Nichts, ein Schlag nach hier, ein Schlag nach da, mal nach vorn, mal zur Seite, mal mit den Armen, mal mit den Füßen, mal mit beiden zusammen. Dazwischen stand er still oder schüttelte die Beine aus, reckte einen Arm halb in die Höhe, mit weit offener Hand, als wollte er jemanden begrüßen oder vielleicht auch abwehren. Bevor er wieder in dem Bretterverschlag verschwand, verneigte er sich noch einmal, in ehrerbietiger Haltung, kurz und knapp.

»Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen«, diesen Satz hatte er aus seiner Ministrantenzeit behalten, vor allem aus den endlos sich hinziehenden Stunden der Karfreitagsliturgie mit ihren Großen Fürbitten, die der Pfarrer mit einem »Beuget die Knie!« eingeleitet hatte, jede einzelne, worauf die Kirchenbänke knarrten, durchs ganze Mittelschiff und auch droben auf der Empore, und der Großmutter die Knie wehtaten, was ihr im Jenseits zugutekommen sollte. Nur an diesem Tag trugen die Ministranten dunkelviolette Kutten und statt Schuhen schwarze Strümpfe. Alle Bilder, alle Statuen, alle Kreuze verhüllt, die Orgel verstummt, die Passion a cappella gesungen, mit dem Sattler, ihrem Nachbarn, als Evangelisten, immer ein bisschen betrunken, mit schwankenden Tönen, auf und nieder, ein unentwegtes »Und siehe«, »Da aber« und »Er aber sprach«, in endlosen Schleifen. Auch das Weihrauchfass durfte nicht geschwenkt werden und die Ministranten nicht mit ihren goldenen Glocken schellen, sie mussten mit hölzernen Ratschen rasseln und sich der Länge nach auf dem Steinboden ausstrecken und die Füße des Kruzifixes auf den Altarstufen küssen, wofür er sich immer schämte, weil alle zuschauten und die Hälse reckten, nicht nur in den vorderen Bänken und herab von den Seitenemporen, jedes Jahr, jedes Mal, wenn er seinen Mund den bleichen, kalkigen, von einem Nagel durchbohrten, blutig bemalten Füßen zuneigte, sie aber nie ganz berührte, aus Angst, sich eine Krankheit zu holen. Es waren die Füße des Herrn, unseres Erlösers, von dem unser aller Leben abhing, mitsamt der ganzen Ewigkeit. Was, hatte er sich gefragt, würde er am Jüngsten Tag antworten, wenn der Herr vor ihm stand und mit erhobenem Zeigefinger von ihm wissen wollte: »Warum hast du meine Füße nicht geküsst?« Es konnte für ihn das Ende bedeuten, das endgültige, ein Ende ohne Ende in der Hölle.

Das alles war großes Theater, nur dass er damals niemals zu denken gewagt hätte, dass es Theater war. Selbst wenn er es gedacht hätte, hätte er es nicht denken dürfen, er hätte dieses Wort aus seinem Kopf verscheuchen müssen, wie so viele Worte und Gedanken. Je mehr er sie aber zu verscheuchen suchte, desto mehr bohrten sie sich fest in seinem Kopf, gegen seinen Willen, wissend, dass es Sünde war. Karfreitag war der düsterste Tag des Jahres, selbst wenn die Sonne schien. Aber sie hatte nie geschienen, jedenfalls nicht in seiner Erinnerung, es hätte den Naturgesetzen widersprochen.

Dann aber, anderthalb Tage später, am Samstag Schlag Mitternacht: die Ostermette, die Auferstehung, das Lichtermeer, das Orgeldröhnen. Mit der Großmutter war er im Dunkeln zur Kirche marschiert, sie ganz in Schwarz und mit Hut, die Handtasche fest im Griff, dem Kirchenportal zu, weit offen, hell erleuchtet, mit tausend Kerzen, die in ihrem zitterigen Flammengewoge miteinander zu verschmelzen schienen. Und dann das Halleluja, auf das sie sehnlich gewartet hatten, wie auf nichts anderes, der Jubel, der Rausch, die Verzückung, so wie sie es in einer Woche sicher auch hier erleben würden, in diesem fremden Land mit seinen vielen Kirchen und Kathedralen und dem Papamobil. Sie hatten ja sonst nichts zu tun, sie mussten nur einmal am Tag zu dieser Behandlung, die offenbar im Laufe des Vormittags stattfand, dort oben in den Kordilleren.

Würde seine Großmutter ihn vom Himmel droben sehen, wüsste sie, dass er hier keine Ferien machte — was ihm ein Gefühl der Rechtfertigung verlieh, ein Gefühl, wie es auch seine Großmutter bei ihren Wallfahrten empfunden haben musste, die man ja auch nicht zum Vergnügen machte. Vielleicht hätten sie genauso nach Lourdes pilgern und dort die letzten tausend Meter auf den Knien zur Muttergottes kriechen können, über Schotter und Asphalt, voller Blut, aber auch voller Hoffnung im Herzen. Hier hingegen musste man sich nicht kasteien, obwohl auch hier Blut im Spiel zu sein schien. Nie hätte er sich vorstellen können, je mit solchen Dingen in Berührung zu kommen. Neugierig war er durchaus, mehr als nur neugierig. Wer konnte schon von sich behaupten, so etwas je erlebt zu haben, aus nächster Nähe? Allerdings wusste er nicht, ob er Rikka begleiten durfte. Aber allein so einen Mann mit eigenen Augen gesehen zu haben, würde unvergesslich sein.

Einer seiner Kollegen hatte ihn bereits für verrückt erklärt. Ihm, so hatte er gedacht, könnte er die Sache anvertrauen, ihm als einzigem. Besser, er hätte geschwiegen. »Du musst es ja nicht gleich allen weitererzählen«, hatte er ihn gebeten. Doch der hatte nur mit den Schultern gezuckt, ihn mitleidig angeschaut und im Weggehen höhnisch gesagt: »Na, dann viel Glück.« Fast als wollte er nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dabei musste ihm doch klar sein, dass er noch nie in seinem Leben auch nur die geringste Neigung zum Esoterischen hatte, ganz im Gegenteil, er hatte bloß Hohn und Spott dafür übrig. Aber was tat man nicht alles, wenn alles andere nichts mehr half?

Er war nicht unfroh, dass Rikka noch schlief.

Die Fahrt

Da waren sie nun, endlich angekommen, nach sechzehn Stunden, in denen sie beim Zwischenstopp in Hongkong außer dem Wartebereich nichts zu sehen bekommen hatten. Ihren Fahrer erkannten sie sofort, gleich am Ausgang zur Ankunftshalle, vorn an der Absperrung, mit seinem hochgereckten Schild Ocean Beach Resort, handgemalt, in roter Schrift, blau eingekreist, mit einer lachenden Sonne drauf. Er war ziemlich groß, dieser junge Mann, so groß wie Bock, vielleicht sogar noch größer, größer jedenfalls als die meisten hier. Gela winkte ihm zu, er lächelte zurück in seinem blütenweißen Shirt. Wie alt mochte er sein? Vielleicht noch keine zwanzig, vielleicht aber auch schon zehn Jahre älter? Ein freundliches Gesicht, noch mit ein bisschen Babyspeck, der ihm etwas Weiches, Gutmütiges gab.

»Did you have a good flight?«, fragte der junge Mann. »Yes, fine, we are a little tired«, sagte Gela. Sie hatte seinen Namen nicht verstanden, zweimal hatte sie nachgefragt, ein wenig ungläubig, als könnte, was sie gehört hatte, nicht stimmen. Aber sie hatte sich nicht verhört, er hieß tatsächlich Homer, nur eben englisch ausgesprochen, mit Betonung auf der ersten Silbe, als wäre es die Steigerung von home. Vielleicht war dieser Name hier sogar geläufig, mit seinen mythischen Dimensionen, die dem jungen Mann womöglich gar nicht bewusst waren. Oder hielt sie die Leute hier für dümmer? »Er heißt tatsächlich Homer«, sagte sie zu Bock, der nur mit einem kurzen »Oh« reagierte und nickte.

Homer griff nach ihrem Koffer, sie winkte ab und deutete mit einem Seitenblick auf Bock: »Take his, please!« Er nahm ihm das Gepäck aus der Hand und bahnte sich einen Weg durchs Gedränge, so schnell, dass Bock »Stopp!« rief, laut und aufgebracht, als fürchtete er, der Kerl würde sich davonmachen, auf Nimmerwiedersehen, mit all seinen Sachen. Gela war ihm nachgeeilt, hatte ihn am Ärmel gezupft und ihm erklärt, dass ihr Mann nicht so schnell laufen könne. »Sorry«, entschuldigte er sich, wartete auf ihn und ging dann langsam neben ihnen beiden her. Sie schlängelten sich durch die Menge, der Weg nach draußen war nicht weit. Es begrüßte sie ein sonniger Himmel mit ein paar flauschigen Wölkchen, schon im Anflug hatten sie gesehen, wie die Stadt in gleißendem Licht lag. Homer hatte seinen Wagen ganz in der Nähe geparkt, einen weißen Van, blitzblank, wie neu. Offenbar hatte er ihn kurz zuvor noch gewaschen, anders wäre es kaum möglich gewesen, dass er so makellos aussah, ganz anders als die unzähligen Autos ringsum, voller Staub und in einem Zustand, dass sich eine Wäsche längst nicht mehr zu lohnen schien. Selbst unter den noch neueren Taxis stachen nur wenige halbwegs saubere heraus.

Homer ließ die Heckklappe aufschwingen, verstaute ihr Gepäck, schob die Seitentür zurück und dirigierte sie mit großer Geste in den Wagen, wie ein Butler, der über sich selbst schmunzeln musste, wobei er, wie Gela beobachten konnte, Bock ein wenig verstohlen musterte, als fragte er sich, was es mit diesem Menschen wohl auf sich hat. »Halt, ich ziehe mich noch um, bei dieser Hitze, ich muss noch mal an meinen Koffer«, hielt Gela ihn zurück, bevor er die Heckklappe zufallen lassen wollte. »Du solltest dir auch was Leichteres anziehen«, riet sie Bock, der nur abwinkte. »Wir sitzen jetzt ewig hier drin, das hältst du nicht aus, dir läuft schon jetzt der Schweiß runter«, redete sie auf ihn ein. Er wehrte sich mit Händen und Füßen und ließ sich auf die hintere Bank fallen. »Ich schlafe einfach, und wenn wir da sind, weckst du mich«, grummelte er vor sich hin. »Willst du einen Herzkasper kriegen, Schnappatmung, bei dieser Sauna?«, fragte sie ihn und verkniff sich die Bemerkung: »Ich habe keine Lust, die Krankenschwester zu spielen.« Homer stand daneben und murmelte: »Air condition.« Offenbar wusste er, worum es zwischen ihnen ging. »This car has air condition«, erklärte er noch mal etwas lauter, worauf Bock wie im Triumph zu Gela meinte: »Siehst du!«

Bei offener Tür klappte sie ihren Koffer auf, fischte ein Kleid heraus und zwängte sich aus ihren Schuhen, nur mit den Füßen, ohne sie aufzuschnüren. Sie warf ihre Jacke ab, zog sich Pulli und Top über den Kopf und trug für einen Moment nur einen BH, bevor sie sich das Kleid überwarf, die Jeans darunter abstreifte und in ihre Flipflops schlüpfte. »Weißt du eigentlich, wo wir hier sind?«, kam es von hinten, als wüsste sie nicht, wie man sich in fremden Ländern benimmt. »Das hättest du auch drinnen im Flughafen machen können, auf der Toilette«, maulte er, »du weißt doch gar nicht, wie das hier ankommt bei diesen Leuten!« Auf einmal spielten für ihn die Leute eine Rolle — wie noch nie in seinem Leben. Plötzlich musste man größte Vorsicht walten lassen, als hätte er Angst, auf der Stelle verhaftet zu werden. Als hätte sie in aller Öffentlichkeit einen Striptease hingelegt.

Homer saß am Steuer, startbereit, zwei-, dreimal trafen sich ihre Blicke im Rückspiegel. Gela versuchte, sich zu beeilen, obwohl ihr nichts unangenehm war an dieser Situation, außer dass sie sich gehetzt fühlte. Auch Homer trug nur Shorts und Sandalen, niemand lief hier wie Bock in voller Montur herum. Aber wozu sich den Mund fusselig reden? Selbst im Sommer hatte man ihn noch nie anders als in dunklen Klamotten gesehen, etwas wirklich Helles besaß er überhaupt nicht. Sogar jetzt, in der Nähe des Äquators, wollte er nichts Leichtes anziehen, schon zweimal nicht auf einem Parkplatz, in der Lücke zwischen zwei Autos, obwohl er auf Sitte und Anstand noch nie etwas gegeben hatte, ganz im Gegenteil. Er wollte sich nicht umziehen, jedenfalls nicht an diesem Ort, lieber schwitzte er sich zu Tode. Eine kurze Hose hatte er ohnehin nicht, er hasste kurze Hosen. Als bei ihm einmal ein Schauspieler in kurzen Hosen zur Probe erschienen war, hatte er ihn hinausgeworfen. Noch Jahre später gab er diese Geschichte zum Besten, an allen möglichen Kantinentischen, unter mächtigem Gelächter.

Homers Wagen roch ganz neu, nach Gummi und Leder, viele Fahrgäste konnte er noch nicht befördert haben. Sie hatten mehr als genug Platz, richtig luxuriös, mit getönten Scheiben, die zusätzlich die Hitze zurückhielten, aber auch die Farben draußen abdämpften, als trüge man eine Sonnenbrille. Sie fuhren am Flughafen entlang, den sie übers Meer angeflogen hatten, weit und breit nur Wasser, selbst kurz vor dem Aufsetzen, als sie einen Moment Angst bekamen, im Ozean zu landen. Vor allem Bock war erschrocken, so etwas hatte er noch nie erlebt. Er war übermüdet und hatte erst im letzten Augenblick gemerkt, wie tief sie schon waren. Sie hatte ihm prophezeit, dass es ein anstrengender Tag würde. Nach dem Frühstück — Reisbrei, Speck, Rührei — hätte er am liebsten weitergeschlafen, so wie auch jetzt.

Keine fünfhundert Meter weiter standen sie im Stau, mit Blick auf eine ganze Flotte von Cathay Pacific, mit der sie gekommen waren und mit der sie in zwei Wochen wieder zurückfliegen würden, mit einem dreitägigen Zwischenstopp in Hongkong. Ein Wunsch von ihr. Sie wäre dort gerne noch länger geblieben, am liebsten eine ganze Woche oder noch länger. Wann würde sie je wieder in diese Ecke kommen? Bock aber hatte ihr erklärt: »Ich glaube, du vergisst, warum wir diese Reise machen!« Wäre es nach ihm gegangen, hätte es auf dem Rückflug keines Zwischenaufenthalts bedurft. »Denk dran«, hatte er sie ermahnt, »das alles strengt mich wahnsinnig an.« Nach einigem Hin und Her war er ihr entgegengekommen, schließlich könne es nicht schaden, meinte er, auch mal Hongkong gesehen zu haben. »Und wer weiß, vielleicht fühle ich mich dann ja so fit wie noch nie«, hatte er gewitzelt.

»Und jetzt dauert es vier Stunden?«, fragte sie Homer.

»Mindestens. Vielleicht auch fünf. Rushhour!«

»Mitten am Tag?«

»In Manila ist immer Rushhour«, sagte er und schlug vor, die Rückfahrt nachts zu machen, dann dauere es bis zu einer Stunde weniger und es sei nicht so heiß. »Am besten, wir würden um zwei Uhr morgens losfahren.«

»Hast du gehört«, wandte sie sich zu Bock um, »bei der Rückfahrt holt er uns nachts um zwei ab, dann dauert es eine Stunde weniger.«

»Und das bestimmt der einfach so?«

»Ist doch okay«, sagte sie.

»Mal abwarten, würde ich sagen.« Sie solle ihn aber fragen, ob das morgen klappt.

»Und morgen?«, fragte sie. »Fahren Sie uns dann … ich habe den Namen der Stadt vergessen …«

»Nach Baguio. Ja klar, morgen. Und danach wollten Sie dann den Bus nehmen, oder?«

»Was sagt er?«, fuhr Bock dazwischen.

»Dass er uns morgen fährt.«

»Und was noch?«

»Dass wir sonst den Bus nehmen.«

»Hat er gesagt, wie viel es kostet in dieses … wie heißt es noch?«

»Baguio«, sagte sie.

»Und wie viel?«

»Weiß ich nicht.«

»Dann frag doch!«

»Können wir doch morgen klären«, gab sie zurück und fragte Homer: »Ist Baguio schön?«

Ja, es sei die höchstgelegene Stadt auf Luzon, fast immer ein frisches Lüftchen, herrliche Aussicht auf die Berge, die Wälder, die Reisterrassen. Es sei die Sommerresidenz der Präsidentin.

Ob es dort gefährlich sei, wollte sie wissen.

Nein, nicht wie in Manila. Abends gehe er aber trotzdem nur mit Freunden dorthin.

Das mit der Sommerresidenz hatte sie schon im Reiseführer gelesen und auch, dass dort meist eine frische Brise weht.

Es ging kaum voran. Sie waren eingekeilt zwischen Lastwagen, Mopeds und knallbunten Kleinbussen, die, wie Homer erklärte, Jeepneys hießen: Kleine, niedrige Busse, wie lange Kombis, mit Platz für zehn bis zwanzig Leute, nur dass es meist doppelt so viele waren, zusammengepfercht, oft noch eine ganze Traube an der Karosserie, jeder mit einem halben Fuß auf dem Trittbrett, an die offenen Fenster, Stoßstangen, Gepäckträger geklammert, gar nicht zu reden von den manchmal zehn, zwölf Leuten auf dem Dachständer, zwischen Tüten, Taschen, Säcken, und auf der Schnauze saß oft auch noch einer, auf dem montierten Reserverad, man fragte sich, wie der Fahrer überhaupt etwas sehen konnte.

Von allen Seiten drängten sich knarrende Kisten, Karren, Pick-ups, auch quer zur Fahrtrichtung, alle ineinander verhakt, verschachtelt, verkeilt. Fahrspuren gab es offenbar keine, vermutlich nicht einmal einen Mittelstreifen. Wo die Straße links und rechts anfing und aufhörte, ließ sich bestenfalls erahnen. Und doch gab es kein Gedränge, trotz des Gewusels von Fußgängern und Radfahrern, die sich durch die Lücken zwängten. Auch das gelegentliche Gehupe schien wenig zu bedeuten, es gehörte dazu wie das Brummen der Busse und Laster. Hörte man ein Martinshorn aufjaulen, dachte man: Weit kann dieses Gefährt nicht kommen. Dass hier alles feststeckte, schien ganz normal, mit stoischer Gelassenheit wartete auch Homer darauf, dass es irgendwann vorwärtsging. Immerhin war es erst kurz nach Mittag, zum Abendessen würden sie auf jeden Fall da sein, meinte er. Er war die Ruhe selbst.

Über der Straße flimmerte die Luft, alles atmete Hitze, die meisten Autos hatten nicht einmal den Motor abgestellt, man sah es an den vibrierenden Auspuffrohren und ihren wabernden Qualmschwaden. Alles schien in einer Art Trance gefangen, in verlangsamter Zeit, in wuseligem Stillstand. Hier drinnen im Van konnten sie sich nicht beklagen, die Luft war angenehm kühl, zu kühl beinahe. Fast bereute Gela, dass sie nur ein leichtes Kleid angezogen hatte. Vielleicht würde sie Homer bald bitten müssen, die Klimaanlage weniger kalt zu stellen, allerdings hatte sie im Moment keine Lust auf entsprechende Kommentare von Bock. Vorsichtig schaute sie nach hinten, er hatte den Kopf ans Fenster gelehnt, halb dösend, halb auf die Straße starrend, den Mund ein wenig offen, es fehlte nur noch, dass die Zunge heraushing. Es drängte sich ihr das Bild einer müden Schmeißfliege auf, die den Tag nicht überlebt.

»Waren Sie schon einmal hier?«, fragte Homer.

»Nein, noch nie.«

»Was wissen Sie über die Philippinen?«

»Abu Sayyaf«, rief Bock von hinten, mit erstaunlich kräftiger Stimme, als wäre er völlig wach.

»Idioten«, rief Homer zurück, »totale Idioten.«

»Aber gefährlich«, sagte sie.

»Die sind nur auf der südlichen Insel, auf Mindanao, weit weg«, erklärte Homer. Das sei die südlichste der drei großen philippinischen Inseln, nur dort gebe es diese Typen und auf den kleineren Inseln drum herum. »Hier auf Luzon sind Sie sicher! Ich verspreche es Ihnen!«

»Wohnen Sie in … wie heißt dieser Ort noch mal …?«, fragte sie ihn.

»In Baguio? Nein. Ich lebe in San Fernando.«

Auf der Karte hatte sie gesehen, dass San Fernando ganz in der Nähe von ihrem Resort lag, vielleicht zehn Kilometer entfernt, die nächste Stadt. Sie hatte gelesen, dass sich dort jeden Karfreitag Leute ans Kreuz schlagen ließen, mit Nägeln, Blut, Dornenkronen, bekleidet nur mit einem Lendentuch. Bock war sofort ganz Ohr, als sie ihm das erzählte. »Da müssen wir hin!«, hatte er sofort gesagt: »Unbedingt!« Aber sie wollte Homer nicht gleich nach solchen Dingen fragen, er sollte nicht denken, dass sie glaubten, es gäbe hier nur Terroristen und Verrückte. Sie selbst wollte eine solche Kreuzigung sowieso nicht miterleben, es reichte ihr, was sie über die Behandlungen bei diesem Heiler gehört hatte, die morgen für Bock begannen. Am besten, sie hätte ihm kein Sterbenswörtchen gesagt von diesen Kreuzigungen.

Ihr war auch noch Imelda Marcos in den Sinn gekommen, die Frau des früheren Präsidenten, mit ihren Tausenden von Schuhen. Und auch dass vor zehn, zwanzig Jahren so mancher deutsche Mann plötzlich mit einer Filipina daherkam, wie bestellt aus dem Heiratskatalog. Und dass es hier immer wieder Vulkanausbrüche gab. Es rumorte auf diesen Inseln. Viel Schönes fiel ihr nicht ein. Es war auch noch nicht lange her, dass eine deutsche Familie als Geiseln genommen worden war, mitten im Busch, man konnte es im Fernsehen sehen, mit dieser völlig durchgedrehten Frau, daneben ihr Mann, wie sediert, als müsste er sich mit Gewalt zur Ruhe zwingen. Diese Frau war mit den Nerven am Ende, fast wurde man wütend auf sie, obwohl es einem selbst kein bisschen anders ergangen wäre in dieser Todesangst, ein ganzes halbes Jahr lang, und das auch noch vor laufenden Kameras, die sie bloßstellten vor aller Welt.

Was wusste sie schon über dieses Land, außer dass es Vulkane und Terroristen gab und dass eine Präsidentengattin Tausende Paar Schuhe besaß? Und dass Coppola, wie Bock ihr erzählte, hier Apocalypse Now gedreht hatte, über mehrere Jahre, wofür er nur mit Mühe berühmte Schauspieler bekommen konnte, weil keiner monatelang im Dschungel drehen wollte, unendlich weit weg von zu Hause. Zu Coppolas Geburtstag seien Unmengen von Hamburgern und Hotdogs eingeflogen worden, für eine Strandparty, direkt aus San Francisco. Das war alles, was sie über die Philippinen wusste.

»Ihr geht zum Heiler?«, fragte Homer.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Gela.

»Jeder, der aus Europa hierherkommt und im Ocean Beach wohnt, geht zum Heiler.«

Was bedeutete, dass man unter sich war und es vor allem mit seinesgleichen zu tun hatte. Was Bock bestimmt Freude machen würde.

Allmählich ging es ein wenig voran, ruckweise nur, aber immerhin. Sie hatten alle Zeit der Welt, um das abenteuerliche Gewirr von Kabeln, Drähten und Leitungen zu bestaunen, überall entlang der Straßen und über sie hinweg, kreuz und quer, das reinste Wirrwarr, bei dem man sich nur wundern konnte, dass es nicht ständig zu Kurzschlüssen, Stromschlägen, Bränden, Zündfunken kam, so chaotisch, wie das alles herumhing, notdürftig zusammengehalten, nur lose miteinander verdrahtet, das Elektrische, die Verkehrssignale, das Telefonnetz und was sonst noch. Alles lag offen da, hing neben den Gebäuden herab, schwebte frei über dem Verkehr, über den Läden, den Garküchen, den Streetfood-Ständen, ohne jede Verkleidung, abgesehen von ein paar Plastik- oder Gummihüllen, die hier und da herumgeklebt waren, nichts abgedichtet oder in einem Mast versteckt oder unterirdisch — ein Schauspiel für sich, das allein schon die Reise wert war.

An Kreuzungen und Plätzen riesige Gerüste aus wackeligen, krummen, erstaunlich dünnen Holzgestängen, auf denen Arbeiter herumkletterten, mit Seilen, Haken, Gurten, wie Akrobaten, nur ohne Auffangnetz, um alte Plakate abzuhängen und neue aufzuspannen, mächtige Flächen, handbemalt wie vor hundert Jahren, als das berühmte Foto vom Gerüst eines New Yorker Wolkenkratzers entstand, auf dem Bauarbeiter ihre Beine baumeln ließen und sich ihr Mittagessen und eine Kippe gönnten. Die Plakate hatten etwas Rührendes, wie in alten Kinderbüchern, mit erdigen, satten Pastellfarben, ohne künstlichen Glanz. Auch fühlte man sich an Segel und Schiffe erinnert, alles aus Holz und Stoff, Wind und Wetter, Stürmen und Hitze ausgesetzt und vor allem dem Smog.

Es wurde nicht nur für Filme geworben, es blickten einem auch die immer gleichen Gesichter entgegen, meist auf hellblauem Grund, alles Männer, bis auf eine einzige Frau, die herausstach.

»Ist gerade Wahlkampf?«, fragte Gela.

»Ja.«

»Und wer gewinnt?«

Homer zuckte mit den Schultern und zeigte auf die Frau: »Das ist unsere Präsidentin Arroyo.«

Wo immer ihr Gesicht auftauchte, war es umgeben von einem Wald aus Wimpeln, Postern, Plakaten, kunterbunt, voller Konfetti. Ihr Gesicht hatte noch etwas fast Mädchenhaftes, mit leichter Stupsnase und schulterlangen, kastanienbraunen Haaren, die Lippen so rot wie ihr Kostüm. Allein durch ihren Namen trug sie Ruhm und Sieg davon: Gloria — wie der Song von den Doors, den Bock früher oft zehn-, fünfzehnmal hintereinander gehört hatte. Bei ihrer einzigen gemeinsamen Reise nach Paris wollte er als Erstes zum Père Lachaise, ans Grab von Jim Morrison, mit all den Blumen, Flaschen, Joints, alles zertrampelt und vermüllt drum herum, zum Leidwesen der benachbarten Toten.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Gela, warum in Ländern wie den Philippinen öfter Frauen an der Spitze des Staates standen als bei ihnen zu Hause. Zwar hätte sie auf Anhieb nicht viele aufzählen können, aber es fielen ihr Indira Gandhi und Evita Perón ein und auch die Frau aus Sri Lanka mit dem langen Namen, den sie in ihrer Jugend immer wieder laut vor sich hin gesagt hatte, wie ein Mantra: Ban-da-ra-nai-ke. Sie hätte selbst gern so geheißen, damals jedenfalls, es klang wie Musik.

»Wenn das so weitergeht, sind wir morgen noch nicht da«, stöhnte Bock.

»Und deshalb fahren wir auf dem Rückweg nachts.«

»Hast du Wasser dabei?«, wollte er wissen.

»Haben wir vergessen.«

»Wieso vergessen?«

»Du hast auch nicht dran gedacht«, sagte sie.

»Hab’s tausendmal gesagt.«

»Haben Sie Wasser?«, fragte Gela Homer.

»Ich kann an der nächsten Tankstelle halten.«

»Sie sprechen sehr gut Englisch«, sagte sie. »Haben Sie es in der Schule gelernt?«

»Hier sprechen alle Englisch«, sagte er.

»Was redet ihr?«, wollte Bock wissen.

»Er hält an der nächsten Tankstelle.«

Seine Jacke hatte er inzwischen ausgezogen und auch seine Schuhe. Er schien keine Ruhe zu finden, wusste nicht, wie sitzen oder liegen, obwohl er die ganze Bank für sich allein hatte. Ständig knirschte vom Hin-und-her-Rutschen sein Sitzpolster, vermischt mit leisem Gestöhn und Gejammer und mühsam unterdrücktem Gähnen. Sie hatte es ihm prophezeit, er wollte nicht hören.

»Warum sind wir nicht eine Nacht in Manila geblieben?«, klagte er.

»Weil wir dann einen Tag früher hätten fliegen müssen. Was du aber nicht wolltest.«

Inzwischen floss der Verkehr ein wenig, vorbei an Betonklötzen, ohne jeden Verputz, ohne alles Dekorative, wie Lagerhallen, nur dass es sich offenbar um Büros handelte oder Firmen, wie hier und da Schilder vermuten ließen, vielleicht waren es aber auch Wohnungen. Dazwischen ältere Häuser mit verblassten Farben, vergitterten Fenstern, schmalen Balkonen, auf den meisten hing Wäsche. In Manila hatte man noch ab und zu einen Blick aufs Meer erhascht, durch Seitengassen, die sich über zwei, drei Blocks bis zum Wasser erstreckten und — dem vielen Wellblech nach zu schließen — zum größten Teil aus Slums bestanden. Überall zwängten sich dreirädrige Gefährte in den Hauptverkehr, beladen mit Bergen von Plastiksäcken, doppelt so hoch wie sie selbst. Es dauerte und dauerte, bis der Verkehr sich ein wenig lichtete, mehr Autos in die Ausfallstraßen abbogen, die Häuser weniger wurden, freies Land in Sicht kam, Brachflächen mit Gestrüpp und Gesträuch, hie und da ein Schuppen oder eine Bauruine zwischen Äckern, Wiesen, Feldern, alles in kläglichem Zustand, das Gras verdorrt, das Gestrüpp meterhoch, verwildert und zerzaust. Immer noch herrschte eine Menge Verkehr, doch es lief einigermaßen, nur nahmen, je weiter man sich von Manila entfernte, die Schlaglöcher zu und das Geholper. Kam man durch ein größeres Wohngebiet, tauchte bei einer Tankstelle meist auch ein McDonald’s auf, am Anfang oder Ende des Orts.

Nie und nimmer wäre Bock aus freien Stücken hierhergeflogen, Asien hatte ihn nie interessiert, was sollte man dort? Am Strand liegen konnte man auch am Schlachtensee oder an der Krummen Lanke. Aber wann lag Bock je am Strand? Seine Welt hatte sich auf das Dreieck zwischen Berlin, Zürich und Wien beschränkt, jedenfalls bis vor zehn, fünfzehn Jahren, inzwischen war sein Wirkungskreis deutlich kleiner. Hätte er in der Nazizeit gelebt, wäre er wohl nie emigriert; Theater in einer anderen Sprache zu machen, wäre für ihn undenkbar gewesen. Natürlich hätte sie nie gewagt, ihm das offen ins Gesicht zu sagen, aber sie dachte es oft. Er schämte sich für sein Englisch, auch wenn Scham und Schuld in seinem Gefühlshaushalt wenig Platz hatten. Gleichzeitig ertrug er es nur schwer, wenn jemand anderes für ihn das Reden übernehmen musste — so wie sie jetzt, seit ihrem Abflug aus Frankfurt. Alles, was nach Abhängigkeit roch, hielt er kaum aus, obwohl man sich keinen abhängigeren Menschen vorstellen konnte — was er natürlich vollkommen geleugnet hätte. Ständig brauchte er jemanden als Auffangbecken oder Verstärker für seine Stimmungen und Launen. Zu Hause musste sie es sein, draußen immer ein ganzes Theater.

Als sie beide vor sechs, sieben Jahren das erste und einzige Mal zusammen in Paris waren, stolzierte er wie ein kleines Kind über die Boulevards, nachdem er es geschafft hatte, sich in einer Bäckerei ganz allein ein Baguette zu kaufen. Wie eine Trophäe hatte er es unter den Arm geklemmt, im Gesicht ein bübisches Grinsen. Dabei konnte er durchaus Englisch und auch ein bisschen Französisch, nur lag beides seit der Schulzeit brach. Bis heute prahlte er damit, die Schule abgebrochen zu haben, als wäre das eine Auszeichnung. Zu denen, die brav einen vorgestanzten Weg gehen, wollte er nie gehören — mit der Folge, dass er lieber so gut wie nie ins Ausland fuhr, als durch radebrechendes Gestotter aufzufallen.

Wo kein Deutsch gesprochen wurde, verstummte Bock. Ausgerechnet er, der sonst immer das Wort führte und nur demonstrativ schwieg, wenn ihm die Leute nicht passten. Im Grunde war er ein kleines Kind geblieben, mit allem, was kleine Kinder ausmacht an Ungeduld und herrischem Gebaren. Schwäche war seine Sache nicht, und wenn sie doch einmal zum Vorschein kam, mussten die anderen dafür büßen. Je mehr er auf jemanden angewiesen war, desto unerträglicher konnte er werden. Nur im letzten Jahr hatte sich das geändert, er war weicher geworden, duldsamer, verträglicher. Ihm war auch nicht viel anderes geblieben. Eine Spur von Demut hatte ihn heimgesucht, der Name Bock schien fast nicht mehr zu ihm zu passen. Er war auch ganz anders auf sie angewiesen als früher. Ohne sie hätte er diese Reise niemals angetreten, jemand anderer wäre dazu auch gar nicht bereit gewesen. Zwar hatte man am Theater Freunde wie Sand am Meer, allerdings würde ihr niemand einfallen, der sich ihm bereitwillig angeboten hätte. Ganz zu schweigen davon, dass man am Theater meist nur Freunde hatte, solange man etwas darstellte.

Gestern, gleich bei ihrem Wiedersehen, hatte sie zu spüren bekommen, wie wenig sich in Wahrheit bei ihm geändert hatte. Sofort nach der ersten Umarmung, dem ersten Küsschen, der ersten Freude hatte er sie angepflaumt: »Wozu habe ich dich dabei?« Und das nur, weil sie beim Betreten der Eingangshalle kurz vor den Anzeigetafeln stehen geblieben war, um zu sehen, wo es zum Einchecken ging. »Ich dachte, du kennst dich aus!«, hatte er sie angefahren, als müsste sie blind funktionieren und automatisch wissen, wo welcher Schalter war und an welchem Gate sie abflogen. Als müsste sie alle Wege kennen, gleich einem Schutzengel, der ihn über Stock und Stein geleitet, mit unendlicher Geduld und ohne jeden Dank. Ihr Vater hätte gesagt: »Dem geht’s zu gut.«

Dass sie sich kurz orientieren musste, bedeutete für ihn, dass kein Verlass auf sie war. Wie damals, als sie einen Fiat Panda gekauft hatten und er bei der ersten Fahrt durchdrehte, weil sie den falschen Gang eingelegt und den Motor abgewürgt hatte. Sie hatten an der Ampel gestanden, hinter ihnen Gehupe, neben ihr der brüllende Bock. Keine vier Wochen später hatten sie den Fiat wieder verkauft, weil er es nicht aushielt, dass sie alles falsch machte. Und tatsächlich ging alles schief, wenn er neben ihr saß. Auf die Idee, selbst den Führerschein zu machen, war er nie gekommen. Und nun war wieder sie es, die diesem großen Kind, das zum ersten Mal in die weite Welt hinausfuhr, das Gefühl geben musste, alles im Griff zu haben. Dabei wusste er so gut wie sie, dass der Frankfurter Flughafen kein Kleinstadtbahnhof war. Für ihn aber musste alles wie am Schnürchen laufen, alles andere ertrug er nicht.

Zuerst war die Freude groß, man hatte sich — wie seit Ewigkeiten nicht mehr — eine ganze Woche nicht gesehen. Und keine zwei Minuten später war alles wie vor einem Jahr. Sofort wusste sie wieder: Du hast verloren. Wusste es mit einem Schlag. Den letzten Beweis hatte er im Flugzeug erbracht, als er nicht aufhören wollte zu trinken, sie ihn aber auch nicht bremsen durfte. Sie hatte es versucht, so vorsichtig wie möglich, um keinen Ausbruch zu riskieren. Hatte ihn darauf hingewiesen, dass der morgige Tag furchtbar anstrengend werden würde, zumal bei dieser tropischen Hitze: »Wir müssen schlafen, sonst stehen wir das nicht durch, noch einmal ganze vier Stunden Fahrt, bei über dreißig Grad, völlig übermüdet!« Was ihn nur wütend machte, als wollte sie ihm nichts gönnen, kein einziges Schlückchen, nicht einmal nach so einem schlimmen Jahr. Alles war sofort wieder da: die alte Wucht, das alte Aufbrausen, die alte Gereiztheit. Als hätte es die Krankheit nie gegeben.

Die Fensterblenden waren schon seit einer guten Stunde heruntergezogen, fast alle um sie herum schliefen, die Bordküche war längst geschlossen. Nur er wollte keine Ruhe geben. Immer wieder lief er zu den Stewardessen und bettelte um einen weiteren Wein, am liebsten eine ganze Flasche. Anfangs hatten sie ihm noch zwei, drei Becher gegeben, hinter seinem Rücken aber bereits Blicke getauscht. Als sie ihm erklärten, nun sei endgültig Schluss, war er pampig geworden und wollte noch einen. Er war auf Krawall aus, wie immer, wenn er seinen Willen nicht bekam. Zwar war er noch nie handgreiflich geworden, rabiat konnte er aber durchaus werden. Sie befürchtete schon, dass die Crew eine Zwischenlandung plante, um ihn am nächstbesten Flughafen hinauszuwerfen. Nichts von all dem, was ihn ausmachte, war im letzten Jahr wirklich verschwunden, es hatte nur geschlummert und darauf gelauert, von Neuem hervorzubrechen. Sie hätte heulen können. Zum Glück hatten zwei Stewardessen einen so entschiedenen Ton angeschlagen, dass er sich nach kurzem Gemecker geschlagen gab, mit einem ostentativen Kopfschütteln, das nicht mehr aufhören wollte, als würden alle hier spinnen. Aber immerhin, er hielt den Mund. Selten schaffte das jemand bei ihm, sie war den beiden mehr als dankbar.

Sie kannte das alles nur zu gut, seit Jahren, ja Jahrzehnten. Sie fühlte sich wie eingeschnürt in solchen Situationen, als würde alles in ihr zusammengedrückt, der Magen, die Brust, die Kehle, wie mit einem Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nahm und eine Beklemmung erzeugte voller Verzagtheit und Schwere, sodass sie nicht mehr den geringsten Funken Mut besaß, aufzumucken und eine eigene Meinung oder gar einen eigenen Willen zu haben. Hinzu kam ein diffuses Schuldgefühl, als hätte sie vielleicht doch etwas falsch gemacht, auch wenn sie wusste, dass das nicht der Fall war — was ihren inneren Nebel nur noch undurchdringlicher machte, so sehr, dass sie sich wie gelähmt fühlte und nicht die geringste Kraft mehr hatte, sich aufzubäumen oder gar aufzuschreien. Was ihr einzig noch blieb, war Normalität vorzutäuschen, mit größter Selbstüberwindung.

Als er krank wurde und wie nie zuvor auf Hilfe angewiesen war, hatte sie nicht nur Mitgefühl verspürt, sondern noch etwas ganz anderes, gleich in den ersten Schrecksekunden nach der Diagnose. Sicher, es war ein Schock, doch es mischten sich fast augenblicklich auch andere Gefühle mit hinein. Fast so, als würde sie von etwas befreit. Natürlich schämte sie sich sofort dafür, als dürfte man dieses Andere nicht empfinden, nicht einmal ansatzweise. Insgeheim aber hatte sie es genossen, dass er endlich einmal erfahren musste, was Schwäche war, und dass er Dankbarkeit zeigen musste. Es hatte ihr gutgetan, mit anzusehen, wie wenig er noch auftrumpfen konnte.