Die Heimat in uns - Jenny Green - E-Book

Die Heimat in uns E-Book

Jenny Green

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Beschreibung

Greta lebt in Kanada und kehrt nur nach Bayern zurück, weil ihre Großmutter gestorben ist. Als sie in ihrem Nachlass einen Holzkoffer findet, erfährt sie von einem großen Geheimnis: der Liebe ihrer Großmutter Hannelore zu Ilse, die sie im Krieg auf der Flucht aus Breslau kennengelernt hatte. Erst durch die Geschichte von Hannelore und Ilse, die sie in Briefen und Tagebüchern aus dem Koffer nach- und fast noch einmal miterleben kann, wird Greta sich ihrer Liebe zu Klara bewusst, deren Zuneigung sie bisher immer zurückgewiesen hat. Deshalb hat Klara sich nun einer anderen Frau zugewandt. Doch nach all dem, was die Geschichte ihrer Großmutter sie gelehrt hat, beschließt Greta, alles zu versuchen, um Klaras Herz zurückzugewinnen ...

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Jenny Green

DIE HEIMAT IN UNS

Roman

© 2020édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-318-0

Coverfotos: iStock.com/AnirutKhattirat

1 August 2019

Der Kaugummi in ihrem Mund schmeckte schal. Wie alles in diesem Moment. Ein leises Rauschen surrte durch die Luft, durch ihre Adern und Nervenbahnen.

Flattriges Herz.

Der leise Sonnenaufgang verdrängte nur allmählich die Geister der Nacht. Fehlende Gardinen gewährten dem Licht freie Bahn. Doch alles in ihr blieb schwarz.

Ein letzter Blick an die Wand, dann rollte sie sich mit letzter Kraft zur Seite, richtete sich auf, saß jetzt auf der einsamen Matratze im spärlich eingerichteten Raum und atmete Schwere aus.

Greta rieb sich die Augen, die Lider brannten. Alles schien noch so unwirklich. Das Leben und der Tod gleichermaßen. Dass sie heute hier sitzen würde, in der ihr nicht vertrauten Wohnung, in diesem Land, in dieser Stadt, erschien ihr genauso unbegreiflich wie der Grund, warum sie hier war.

Sie war hier, weil jemand anderes nicht mehr hier war. Hier in dieser Stadt, in diesem Land, auf dieser Welt.

Tränen sammelten sich erneut in ihren Augen, ihr Blick verschwamm.

Der Tod war bisher ein Thema gewesen, das sie wenig interessiert hatte. Das Leben und die Freiheit waren viel interessanter. Wir werden alle sterben, das war klar, doch dass der Tod so schnell Raum in ihrem Leben finden würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

Dass Oma Hannelore mit ihren sechsundneunzig Jahren wahrscheinlich keine vier oder fünf Amtszeiten amerikanischer Präsidenten mehr erleben würde, so gut oder schlecht sie auch sein mochten, war jedem mit gesundem Menschenverstand klar.

Doch dass sie nun nicht mehr da sein würde, traf Greta mit voller Wucht. Dass ein Mensch, der ging, eine Lücke hinterließ, hielt sie bisher für eine Floskel, doch diese Lücke hatte sich nun auch in ihr Leben gefressen, und Greta spürte mit einem Mal, dass dies alles andere als eine Floskel war.

Sie hatten sich in den letzten Jahren wenig gesehen, doch die Zeit, die sie gemeinsam hatten, war ihnen immer heilig gewesen. Sie waren Verbündete, egal wie groß die räumliche Distanz zwischen ihnen auch sein mochte.

So harsch Oma Hannelore zu ihrer eigenen Tochter und vielen anderen Menschen in ihrem Umfeld sein konnte und oftmals auch war, so innig war das Verhältnis zu ihrer einzigen Enkelin. Manche mochten sie eine eigenwillige, exzentrische alte Frau nennen, doch Greta kannte ihren weichen Kern.

•••

Leichenschmaus.

Was war das eigentlich für ein absurdes, morbides Wort? Jede Faser von Gretas Körper sträubte sich dagegen, das Gasthaus zu betreten, in dem die Trauergemeinde nach der Beerdigung zusammensaß, um sich die Bäuche vollzuschlagen und auf die Verstorbene zu trinken.

Sie lehnte mit dem Rücken an der Wand, zog an ihrer Zigarette und lies den Rauch wieder aus ihrem Körper strömen. Ein kleiner Rückfall nach vier Jahren Abstinenz. Wäre sie an allen anderen Tagen von sich selbst maßlos enttäuscht gewesen, in diesem Moment war es ihr völlig gleichgültig.

Ihr Blick schweifte über den vertrauten Dorfplatz hinüber zum alten Kastanienbaum, an dem sie als kleines Kind immer gestanden und einen Stock hoch in den Blätterwald geworfen hatte, um dann in Windeseile alle Kastanien, die zu Boden fielen und den Berg hinab zur Hauptstraße kullerten, einzusammeln. Stundenlang hatte sie dieses Spiel wiederholt.

Voller Stolz hatte sie anschließend taschenweise ihren Schatz nach Hause getragen, den ihre Mutter geduldig im Heizungsraum hatte trocknen lassen, wohlwissend, dass so viele Kastanienmännchen gar nicht gebaut werden konnten. Doch sie tat es, weil es Greta glücklich gemacht hatte.

Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt, die sie selbst mit zahlreichen Abenteuern gefüllt hatte. Sie war umhergezogen, hatte Hütten im Wald gebaut, hatte mit ihrer Fantasie aufregende Welten geschaffen und war abends glücklich und dreckverschmiert pünktlich zum Abendessen wieder nach Hause gekommen.

Schon damals hatte sie die Freiheit wie ein Schwamm in sich aufgesogen, hatte es kaum ausgehalten, länger als nötig zuhause zu sitzen. Immer hatte es sie nach draußen gezogen, raus in die Welt, die so viel für sie bereitzuhalten schien, und sie wollte jedes Wunder, jeden unbekannten Winkel entdecken, nichts versäumen.

Den Geschichten ihres Großvaters hatte sie gelauscht. Von fernen Ländern und fremden Kulturen, die er, als er noch zur See gefahren war, kennengelernt hatte. Seine Erzählungen hatten Greta so in den Bann gezogen, dass sie sich bereits als kleines Kind geschworen hatte, diese Länder eines Tages zu entdecken. Freiheit zu spüren, genau wie es ihr Großvater getan hatte. Vielleicht nicht auf einem Schiff, aber sie würde ihren eigenen Weg gehen.

Und genau dieser Drang nach Freiheit hatte sie schließlich von hier weggezogen. Raus aus dem kleinen, beengten Dorf in die große Stadt und schließlich in die weite Welt, als ihr selbst die Stadt zu klein wurde. Nur nicht gebunden sein an Konventionen oder in allzu engen Beziehungen, die sie hätten ausbremsen können.

Hierher zurückzukommen wirbelte in ihr natürlich einerseits schöne Gefühle auf, doch im anderen Moment hatte sie den Eindruck, dass diese Gefühle unter einem schweren Deckel immer wieder vergraben würden wie in einem schwelenden Kessel.

Die Trauer tat ihr Übriges, und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich einsam und verloren.

Greta kämpfte wie so oft an diesem Tag gegen den Kloß in ihrem Hals, gegen die aufsteigenden Tränen, als sich plötzlich eine Hand sanft auf ihre Schulter legte.

»Ich dachte, du könntest vielleicht jemanden zum Anlehnen brauchen.« Klaras sanfte und in diesem Moment doch leicht raue, belegte Stimme war wie Balsam auf Gretas Seele.

Greta wischte sich mit einer schnellen Handbewegung die Tränen aus den Augen. Sie versuchte ein Lächeln, als sie Klara ansah, doch sie merkte gleich, dass ihr das nicht wirklich gelang. »Woher wusstest du, dass . . .?« Ihre Stimme brach.

Klara sah sie fragend an. »Woher wusste ich was?«

Greta atmete immer noch unruhig. »Dass ich einfach nur hier weg will.«

»Ich hatte da so eine Ahnung«, lächelte Klara aufmunternd und zuckte die Schultern. »Der Fluchtwagen steht bereit.« Klara wies zur Straße, griff nach Gretas Hand und zog sie mit sich.

Der Lärm, der aus der Gastwirtschaft nach draußen drang, das wilde Durcheinander der vielen Gespräche, das Klirren und Scheppern von Geschirr, das Weinen eines kleinen Kindes verquoll zu einem dicken Brei, der mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, langsam leiser und gedämpfter wurde.

Doch das Rauschen in ihrem Kopf blieb.

2Breslau, 1. Weihnachtsfeiertag 1944

Hannelore hatte das Gefühl, als tauchte sich der Himmel in ein immer tieferes, dunkleres Grau. Die Wolken bäumten sich bedrohlich über ihnen auf und schienen die Stadt zu verschlingen. Es war bitterkalt geworden in den letzten Tagen. Der Schnee türmte sich mittlerweile meterhoch in den Straßen der Stadt.

Mit den letzten Resten Kohle und Holz, deren Vorrat erschreckend schnell zu Ende ging, konnten sie wenigstens noch den kleinen Kachelofen im Wohnzimmer heizen, um den sich nun alle in dicke Decken gehüllt drängten.

Tante Margot, die sonst so lebensfrohe und quirlige Schwester ihrer Mutter, saß zusammengekauert in der Ecke und sah Hannelores Mutter mit großen, angsterfüllten Augen an, während sie leise, sodass sie auch ja niemand außerhalb der Wohnungsmauern hören konnte, murmelte: »Angeblich stehen die russischen Truppen nicht einmal mehr zweihundert Kilometer vor Opeln. Der Gustav hat es mir gestern gesagt, und der wiederum hat es bereits von vielen seiner Kollegen gehört.«

Hannelore hörte ihrer Tante leise zu. Sie war in den letzten Tagen oft selbst durch die Stadt gelaufen, hatte überall die Ohren gespitzt, hatte jeden noch so kleinen Informationsfetzen aufgesaugt. Die Wehrmachtsberichte und Durchhalteparolen in den Zeitungen sagten ihnen nicht die Wahrheit, da war sie sich sicher. Die Wahrheit lag irgendwo zwischen den Gerüchten, die unter vorgehaltener Hand ausgetauscht wurden und die langsam wie ein dichtes Spinnennetz die Stadt überzogen.

Hannelore hatte auch gehört, dass man vor wenigen Tagen der Abschreckung wegen einen Mann erschossen hatte, weil er Gerüchte in der Stadt verbreitet hatte. Vor aller Öffentlichkeit, vor Frauen und Kindern.

Kaum einer wagte es mehr, öffentlich den Mund aufzumachen, doch hinter vorgehaltener Hand, in versteckten Ecken und Verschlagen, in Hausfluren und Hinterhöfen, bahnten sich die Geschichten doch ihren Weg, weil sie die Menschen innerlich zu zerfressen drohten.

Unterhielt man sich auf offener Straße für alle mithörbar, so beschränkten sich die Gespräche auf das Wetter oder darüber, was man aus den letzten Vorräten noch kochen könnte. Ahnungslosigkeit heucheln, als würde man sich für dumm verkaufen lassen.

Vor dem Fenster zogen immer wieder Flüchtlinge mit ihren vollbeladenen Bauernwagen vorbei. Angeblich kamen sie aus der Gegend östlich von Ratibor. So sprach es sich zumindest herum.

»Gustav meinte, wir sollen uns möglichst bald überlegen, wohin wir gehen wollen«, flüsterte Tante Margot eindringlich weiter. »Er sagt, wir sind hier nicht mehr lange sicher.«

Hannelores Mutter sah erschrocken auf. »Wohin sollen wir denn gehen? Überall herrscht Krieg.« Sie drückte die kleine Elisabeth noch enger an sich. Das kaum ein paar Monate alte Kind wusste noch gar nicht, in welch schreckliche Welt es geboren worden war und welch schreckliches Schicksal es bereits auf seinen kleinen Schultern trug. »Das hier ist doch alles, was wir haben! Das ist unser Zuhause!«

Elisabeth war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Immer wenn Hannelore in das Gesicht ihrer Tochter sah, wurde sie schmerzlich daran erinnert, dass Elisabeth ihren Vater wahrscheinlich nie kennenlernen würde. Sie würde ohne Vater aufwachsen müssen.

Als sie die Nachricht erhalten hatte, dass Ernst vermisst werde, hatte sie fast ein Jahr lang inständig gehofft, doch noch Nachricht von ihm zu bekommen. Doch alles blieb still, und die Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen, starb jeden Tag ein Stück mehr.

Sie hatten nur noch sich. Drei Frauen und ein unschuldiges kleines Kind blickten dem Schrecken vor ihren Fenstern angstvoll entgegen und wussten, dass sie nun noch enger zusammenrücken mussten.

3August 2019

»Du kannst doch nicht so einfach von der Trauerfeier verschwinden. Was sollen die Leute denken? Ich habe dich überall gesucht.«

Greta schnaubte verächtlich. »Du meinst das scheinheilige Getue, den Klatsch und Tratsch, der ausgetauscht wird, über den lauthals gelacht wird, kurz nachdem die Verstorbene unter der Erde liegt? Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.«

Gretas Mutter legte das Geschirrtuch beiseite, stützte sich an die Küchenzeile und sah Greta an. »Deine Großmutter hätte sich gefreut.«

Greta schüttelte den Kopf. »Oma ist tot. Außerdem hätte sie es verstanden. Sie mochte diese komischen Traditionen doch selbst nicht.«

»Wie du meinst.« Gretas Mutter setzte ihre Arbeit fort, um sie kurz danach doch noch einmal zu unterbrechen. »Wir haben übrigens übermorgen einen Termin beim Nachlassgericht. Hannelores Testament wird eröffnet. Kannst du das bitte einrichten?«

Greta ließ sich schwer auf die alte, hölzerne Eckbank fallen, angelte über den Tisch nach der Kaffeekanne und goss ihre Tasse bis zum Rand voll.

Ihr Vater warf ihr einen flüchtigen Blick über den Zeitungsrand zu, ehe er sich wortlos in den nächsten Artikel vertiefte. Mehr als ein Brummen hier und da hatte er der aufgeladenen Stimmung zwischen den Frauen nicht hinzuzufügen. Er wusste, wann es besser war zu schweigen.

»Muss ich denn unbedingt dabei sein?«, seufzte Greta.

»Tu es nicht für mich, tu es für deine Großmutter«, erwiderte Gretas Mutter resigniert. Sie wirkte müde. Dunkle Augenringe zeichneten ihr Gesicht.

»Gut, schön, ich werde da sein«, gab Greta nach und leerte ihren Becher in Windeseile.

Als sie gerade nach ihrem Rucksack greifen und aufstehen wollte, trat ihre Mutter an den Tisch, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihrer Tochter. Dabei rieb sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hüfte, die ihr schon so lange Probleme bereitete. Doch einen Arzt aufzusuchen, hielt sie für völligen Humbug. Das eine Wehwehchen hie und da war schließlich bei einer fünfundsiebzigjährigen Frau nichts Ungewöhnliches und kein Grund zur Panik. Lieber biss sie die Zähne zusammen, bevor sie ihrem Stolz nachgab. Das bisschen Rückenschmerzen war doch nicht der Rede wert.

Eindringlich sah Elisabeth ihre Tochter an, was Greta dazu bewog, den Rucksack wieder loszulassen und sich, wenn auch widerwillig, noch einmal zu setzen. Fragend sah sie ihre Mutter an.

»Und danach?«

»Was meinst du?«

»Willst du danach gleich wieder weg?« In Elisabeths Augen spiegelte sich Kummer.

Greta benötigte etwas Zeit, ehe sie antworten konnte. Doch eine wirkliche Antwort hatte sie nicht. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, wie es weitergehen wird. Vielleicht, ja. Keine Ahnung.«

Sie hatte ihre Zelte überstürzt in Kanada abgebrochen, ihr weniges Hab und Gut gepackt und hatte sich hineingestürzt in den Strudel aus Ungewissheit, Trauer und Bodenlosigkeit, sodass jeglicher Gedanke an die Zukunft, sei es die nahe oder die ferne, bisher keinen Platz darin gehabt hatte.

»Willst du nicht etwas länger bleiben? Wir würden uns so freuen. Nicht wahr, Johann?«

Und in der Tat legte Gretas Vater jetzt doch die Zeitung zur Seite und nickte zustimmend. »Hier ist es doch auch schön. Woanders ist es doch auch nicht besser.«

»Hier in Winterberg?« Kaum hatte sie es ausgesprochen, baute sich erneut das Gefühl von Enge in Greta auf, das sie nur allzu gut kannte.

»Du musst ja nicht gleich zurück ins Dorf ziehen. Aber du hast doch jetzt die kleine Wohnung in der Stadt. Das wäre immerhin nicht so weit weg von uns.«

»Ich . . . ich weiß nicht«, stammelte Greta. »Ich muss erst einmal einen klaren Kopf bekommen, bevor ich entscheide, wie es weitergeht.«

»Lass dir Zeit«, brummte Gretas Vater. »Wenn du etwas brauchst, wenn wir dich unterstützen können, dann lass es uns wissen.«

Greta winkte ab. »Macht euch keine Sorgen, ich habe Ersparnisse, und ich will euch nicht zur Last fallen. Und ich kann euch nichts versprechen.« Doch seine Fürsorge rührte sie.

Elisabeth versuchte ein Lächeln, doch Greta sah ihr an, welche Sorgen ihre Mutter plagten.

»Wir sehen uns übermorgen«, schob Greta ihre Verabschiedung an. »Ich will jetzt einfach nur noch ins Bett. Seid mir nicht böse.«

4Breslau, 30. Dezember 1944

Gustav hatte die wenigen Habseligkeiten der Frauen auf seinen alten Karren gepackt, dem die Frauen nun schweigend hinterhereilten. Keine von ihnen wagte einen letzten Blick zurück. Zu schmerzhaft wäre der Blick auf ihr verlorenes Zuhause gewesen. Ein Blick zurück hätte sie vielleicht doch noch einmal zweifeln lassen.

Ihnen hatten sich zwei weitere Familien angeschlossen, die nun mit Gustavs Hilfe den Abschiedsmarsch zum nächsten Bahnhof antraten, von wo aus sie ein Zug über Prag ins sichere, aber unbekannte Bayern bringen sollte.

Die Angst war übermächtig, doch sie hatten keine andere Wahl. Sie glaubten Gustav, der in der Stadt gut vernetzt war, dass dies eine der letzten wenigen Chancen war, sich in Sicherheit zu bringen.

Während sie ihr Zuhause und die so vertraute Umgebung verließen, erstickte Angst und Kummer jegliches Wort. Nur das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen und das Quietschen der Wagenräder durchbrachen die Stille.

Trauermusik.

Erst als sie völlig erschöpft nach stundenlangem Marsch durch die Eiseskälte den rettenden Bahnsteig erreichten, wagte Hannelore, sich das erste Mal umzublicken. Elisabeth hatte sie dick eingewickelt eng an sich gedrückt, damit sie nicht fror.

Der Wind heulte über den Bahnsteig, auf dem sich vermummte Gestalten gegen das dichte Schneetreiben zu schützen versuchten. Gesichter waren kaum zu erkennen. Die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Mantelkrägen nach oben geschlagen.

In den vergangenen Stunden hatte sie lediglich funktioniert. Wie eine Maschine war sie stur nach vorn geschritten, hatte weder nach links noch rechts geblickt, und schon gar nicht hatte sie den anderen Menschen, die sich ihrem kleinen Tross angeschlossen hatten, Aufmerksamkeit geschenkt. Nur das Ziel zählte.

Sie wollte nicht daran denken, was sie zurückließ. Sie wollte nicht den kleinsten Gedanken daran verschwenden, dass sie ihre Heimat, so wie sie sie kannte, womöglich nie wiedersehen würde. Ihre einzigen Gedanken galten dem kleinen Geschöpf auf ihrem Arm, das es zu beschützen galt.

Nein, Hannelore hatte sich kein einziges Mal umgesehen.

Bis jetzt.

Die Gruppe, die sich ihrem Tross angeschlossen hatte, stand dichtgedrängt zusammen. Sie verschwammen zu einem schneebedeckten, zitternden Häufchen.

Doch plötzlich löste sich aus dem Gedränge eine kleine, zierliche Gestalt. Wirre blonde Locken umspielten das zarte, von der Kälte gerötete Gesicht.

Die Stimmen der Wartenden um Hannelore herum verschwammen. Und mit einem Mal war es still. Nur ihr wummernder Herzschlag pulsierte in ihren Ohren.

Genau wie damals.

Damals, als sie diese gleichzeitig zarte und wilde Frau auf einer Feier eines ehemaligen Schulkameraden das erste Mal gesehen hatte, wie sie auf den Holztreppen im Treppenhaus sitzend lässig an ihrer Zigarette gezogen und den Rauch in die flackernde Dämmerung geblasen hatte, während im Stockwerk über ihr hitzige Tanzmusik nach draußen dröhnte.

Damals, als sich ihr Herzschlag in einem Sekundenbruchteil mit dem Wummern der Musik vereint und sie dieses Gefühl, das sie noch nie zuvor verspürt hatte, verwirrt in die tanzende Menge getrieben hatte.

Die tanzende, aufgeheizte Menge hatte sie verschlungen. Aufforderungen zum Tanz ließ sie links liegen, klammerte sich an das Glas, das ihr ein attraktiver junger Mann in die Hand gedrückt hatte, während ihr Blick an der Eingangstür verweilte, durch die die schöne Unbekannte nun das Geschehen betrat.

Sie erweckte den Eindruck, zugleich unerreichbar und doch erreichbar zu sein. Die jungen Männer bedachte sie mit einem bezaubernden Lächeln, doch ihre Avancen, die ihr von allen Seiten zuteil wurden, erwiderte sie nicht weiter.

Dennoch schien sie die Aufmerksamkeit zu lieben, ließ sich geradezu von ihr tragen und lachte dabei das schönste Lachen, das Hannelore jemals zuvor gesehen hatte.

Sie konnte ihren Blick nicht von dieser wunderschönen Frau abwenden.

Und dann, als sich ihre Blicke trafen und verweilten, verlor Hannelore jegliches Gefühl für Zeit und Raum.

Wie dieser Abend hätte verlaufen können, diese Frage hatte sie sich nicht nur einmal gestellt. Denn in jenem Moment, übermannt von einem Rausch an Gefühlen, der ihr vor allem Angst einflößte, hatte sie in Windeseile und kopflos den Ort des Geschehens verlassen und war allein in die laue Sommernacht verschwunden.

Weg von ihr.

Doch sie hatte sie eingeholt.

5August 2019

»Einen Espresso, bitte. Extra stark. Doppelt und tiefschwarz.« Ein sanfter Windstoß trug herrlich warmen Sommerduft in die kleine Küche. Raschelnde Blätter des Ahornbaums vor dem Fenster sangen eine leise Melodie. Das geöffnete Fenster mit seinem schönen alten Holzrahmen schaukelte von der Melodie getragen leicht auf und zu.

Greta hatte ihren Kopf seitlich auf die kühle Tischplatte gelegt, sie betrachtete die Welt in Schieflage. Und endlich passte das reale Bild zu ihrem inneren Bild des aktuellen Weltgeschehens.

Ein Stuhl wurde zurückgezogen, und Klara setzte sich zu ihr an den Tisch, den Kopf ebenfalls auf die Tischplatte legend, um ihrer Freundin in die Augen sehen zu können.

Sie mochten ein komisches Bild abgeben in diesem Moment, aber wen sollte es stören?

Greta forschte in ihren Erinnerungen nach Momenten, in denen sie sich genauso haltlos und schwermütig gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Doch sie konnte sich an keinen vergleichbaren Moment erinnern. Noch nie hatte etwas ihre Welt so aus den Angeln gehoben.

Sie hatte tagelang geweint, bis die Tränen versiegt und eine Leere die Trauer verdrängt hatte. Sie fühlte sich wie ausgekotzt.

»Deine Großmutter hat immer so von ihrer Enkelin geschwärmt, die hinaus in die Welt gezogen war und sich den Abenteuern des Lebens gestellt hatte. Sie war so stolz auf deinen Tatendrang und deine Neugierde. Durch deine Geschichten und Erzählungen hatte sie das Gefühl, selbst all die wunderbaren Orte bereist zu haben. Dich so zu sehen, würde ihr das Herz brechen.«

»Aber sie sieht mich nicht mehr. Es gibt kein Herz mehr, das ich brechen könnte.«

Ein harter Boxhieb traf Gretas Schulter, und sie zuckte zusammen.

»Glaubst du wirklich, Hannelore möchte, dass du dich so hängenlässt? Dass du deinen Tatendrang verlierst? Sie war es doch immer, die dich ermutigt hat, deinen Sehnsüchten nachzugehen. Nichts zu versäumen.«

Greta rieb sich die Schulter und richtete sich leise vor sich hingrummelnd auf. »In mir ist kein Tatendrang. Ich spüre keine Kraft, mich aufzuraffen. Ich will mich auch gar nicht aufraffen. Das bringt doch alles sowieso nichts.«

Klara richtete sich ebenfalls auf und stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Das ist völlig in Ordnung. Für jetzt. Für heute. Für die nächsten Tage. Aber dann musst du aufstehen, dich schütteln, nach vorn sehen. Dein Leben geht weiter, Greta!«

»Alles ist aus den Fugen geraten. Ich hatte ein Leben, in dem ich glücklich war. Ich habe mich endlich nach langer Zeit wohlgefühlt, hatte mir vorstellen können, an einem Ort endlich länger zu bleiben. Und jetzt? Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Ich bin hier und habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich habe überhaupt keinen Plan.«

Klaras Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich finde es sehr schön, dich nach der langen Zeit wieder hierzuhaben. Auch wenn ich weiß, dass das nicht von Dauer sein wird.«

»Meine Eltern haben mich auch schon gefragt, ob ich nicht länger bleiben will.«

Klara schob die noch volle Tasse Kaffee von sich. »Und was hast du ihnen gesagt?«

Greta zuckte die Schultern. »Das gleiche wie dir. Ich weiß es nicht. Es ist, als hätte ich den Faden verloren. Egal ob ich daran denke, hierzubleiben oder nach Kanada zurückzugehen, nichts scheint in diesem Moment plausibel. Ich kann gerade keine Entscheidung treffen.«

»Du kannst die Wohnung mindestens ein Jahr lang zur Untermiete haben, das weißt du. Vorher wird Helena nicht aus Australien zurückkehren. Was das angeht, musst du dir also keinen Druck machen.«

Greta nickte und versuchte ein Lächeln, als sie Klara ansah. »Fürs Erste bleibe ich hier. Ich versuche, nichts zu überstürzen und schaue einfach, wie sich die nächsten Wochen entwickeln.« Dann griff sie über den Tisch nach Klaras Hand. Sie lag warm und weich in ihrer, als sie sagte: »Ich freue mich doch auch, dich endlich wiederzusehen. Und ich bin sehr dankbar, dass du an meiner Seite bist. Dass du es die ganze Zeit warst und jetzt noch umso mehr.«

•••

Greta hielt den kleinen alten Holzkoffer fest an sich gedrückt, als sie im Wartezimmer des Notars auf ihre Eltern wartete. In ihr drehte sich alles. So sachlich der Notar auch aus dem Testament ihrer Großmutter zitiert hatte, so aufwühlend war jedes einzelne Wort für Greta gewesen.

Ein unangenehmer Termin.

Nachdem Greta im letzten Willen ihrer Großmutter bedacht worden war, wurde sie gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis alles Weitere, das lediglich ihre Eltern betraf, geregelt worden war.

Mit weichen Knien hatte sie den Raum zögernd verlassen.

Ihre Gedanken fuhren Karussell und überschlugen sich ein ums andere Mal. Hannelore hatte dem Notar kurz vor ihrem Tod einen kleinen Koffer anvertraut, der ihn nun an Greta übergeben hatte. Dazu hatte er ein paar Worte ihrer Großmutter verlesen, die ihr bedeuteten, dass sie den Inhalt des Koffers vertraulich und allein öffnen sollte. Mehrmals hatte Hannelore dies in der Nachricht an sie betont, sodass keine Zweifel an ihrem Willen aufkommen konnten.

Ihre Mutter schien bei jedem Wort ein Stückchen mehr in ihrem Stuhl zusammenzusinken. Die Farbe war langsam aus ihrem Gesicht gewichen.

Greta hatte das den vergangenen anstrengenden Tagen zugeschrieben. Zudem hatte der August zu einer erneuten Hitzewelle ausgeholt, die die Luft in den Räumen wie eine Wand stehen ließ. Hitze hatte ihre Mutter noch nie allzu gut vertragen.

Nach wenigen Minuten schien es ihrer Mutter auch wieder besser zu gehen, doch immer wieder warf sie einen prüfenden Blick auf den Koffer, den Greta auf ihrem Schoß abgelegt hatte. Ihre Hände lagen oben auf, um ihren Schatz, das letzte Geschenk ihrer Großmutter, zu hüten.

Als Greta schließlich das Zimmer verließ, folgte ihre Mutter ihr mit einem durchdringenden Blick, der Greta unweigerlich innerlich zusammenzucken ließ.

Nervös rutschte sie nun auf dem Stuhl hin und her. Sie saß allein in dem kleinen Wartebereich. Nur das Ticken der Wanduhr erfüllte den Raum.

Greta war kurz davor, ihrem Drang nachzugeben und aufzuspringen, als sich die Tür öffnete und ihre Eltern erschienen, die sie mit mattem Gesichtsausdruck ansahen.

Doch in Elisabeths Blick funkelte noch etwas anderes, das Greta nicht sofort greifen konnte. »Was ist los?«, fragte sie ihre Mutter umgehend, als ihre Eltern auf sie zu kamen. »Geht es dir wieder besser?«

»Lass uns jetzt einfach gehen«, entgegnete ihre Mutter kurzangebunden, schüttelte dem Notar ein letztes Mal mit versteinerter Miene die Hand und verschwand schnurstracks ins Treppenhaus.

Greta und ihr Vater folgten ihr wortlos.

Draußen angekommen hatte sich ihre Mutter auf die Bank vor dem Haus gesetzt und schien nach Luft zu japsen.

Schnell waren Johann und Greta bei ihr.

Greta kniete vor ihr nieder und sah sie sorgenvoll an. »Mama, was ist denn los? Brauchst du etwas?«

Elisabeth atmete schwer ein und aus, dann blieb ihr Blick erneut auf dem Koffer haften, den Greta neben sich auf dem Kopfsteinpflaster abgestellt hatte. »Willst du ihn wirklich allein aufmachen?«

»Es war Omas ausdrücklicher Wille«, entgegnete Greta. »Sie wird ihre Gründe gehabt haben.«

Elisabeth sah hoch in den blau-weißen Sommerhimmel. Dann verdunkelte sich ihre Miene schlagartig. »Das war sicher wieder eine ihrer Schnapsideen«, fauchte sie. »Nicht einmal jetzt kann sie Frieden geben.«

Johann und Greta sahen sie erschrocken an.

»Warum willst du denn in der Vergangenheit kramen?«, fügte Elisabeth noch hinzu, dann rappelte sie sich schwerfällig auf. »Hannelore ist tot, kann die Vergangenheit nicht endlich ruhen?« Mit jedem Wort wurde ihr Ton schärfer.

Greta schluckte schwer. Sie wusste nicht, was in ihre Mutter gefahren war.

»Komm, Johann, wir fahren, ich muss mich hinlegen.« Ohne eine Antwort abzuwarten stand Elisabeth auf und zog Johann am Oberarm mit sich.

Er schenkte seiner Tochter einen letzten entschuldigenden Blick, ehe sie ohne ein Wort des Abschiedes um die Ecke zum Parkplatz verschwanden und Greta allein und ratlos zurückließen.

Erst jetzt bemerkte Greta, dass sie anscheinend die Luft angehalten hatte. Sie atmete aus, um sogleich wieder nach Luft zu schnappen. Was sollte das eben? Warum war ihre Mutter so aufgebracht?

Und gleichzeitig regte sich neben dem Unverständnis auch Wut in ihr. Wut auf etwas, von dem sie anscheinend keine Ahnung zu haben schien. Etwas, das zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter geschehen sein mochte, als Greta nicht hier war.

Aber sie würde es herausfinden, ob ihre Mutter es wollte oder nicht. Nun war ihre Neugierde auf das im Koffer Verborgene erst recht geweckt.

Entschlossen griff sie nach dem Henkel, machte kehrt und marschierte in Richtung der nächsten Bushaltestelle, ohne sich noch einmal umzusehen.

6Zwischen den Grenzen

Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte die kleine Elisabeth, die in Margots Armen lag, langsam in einen sanften Schlaf gewogen. Sie wusste zum Glück nicht, was um sie herum passierte. Die Anstrengung des Tages hatte dennoch ihren Tribut gefordert und äußerte sich in langen Weinkrämpfen Elisabeths, die an den Nerven aller zerrten, so sehr man Rücksicht auf die Kleinsten unter ihnen nehmen wollte.

Hannelores Rücken schmerzte. Das lange Sitzen auf den Holzbänken, die jedes Holpern des Zuges in alle Winkel des Körpers übertrugen, machte sie mürbe.

Der Zug war bis auf den letzten Platz besetzt. Sogar auf dem Boden, zwischen all den Habseligkeiten, hatten sich die Menschen gedrängt. Hauptsache weg, egal wie, hatten sich viele gedacht und sich in den vollen Zug geschoben.

Hannelore konnte keine Sekunde länger sitzen. Sie stand auf, bot einem Mädchen, das neben ihr auf dem Boden kauerte, ihren Platz an und stieg über alle Hindernisse hinweg, bis sie einen kleinen freien Platz fand, auf dem sie ein paar Schritte hin und her gehen und sich strecken konnte.

Sie war erfüllt von grenzenloser Müdigkeit, doch das Adrenalin, das ständige Auf-der-Hut-Sein hielten sie in einem nervösen Wachzustand.

Hannelore hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs waren, noch, wie viele Stunden vor ihnen lagen, ehe sie ihr rettendes Ziel erreichten. Wie es danach weitergehen sollte, stand ohnehin in den Sternen.

Um die aufkeimende Angst vor dem Ungewissen zu unterdrücken, zwang Hannelore sich, einen Schritt nach dem anderen zu unternehmen. Sie würde alles auf sich zukommen lassen, und erst dann würde sie sich über den nächsten Schritt Gedanken machen. So hatte sie es sich zumindest vorgenommen. Aber was waren Pläne in diesen Zeiten schon wert? Es ging nur noch darum, zu überleben und sich so gut es ging nicht verrückt machen zu lassen.

Sie betrachtete all die Menschen um sich herum. Alte Großmütter, junge Frauen und deren Kinder. Die meisten Passagiere waren Frauen. Nur wenige Männer waren unter den Reisenden. Viele waren an der Front, viele vermisst oder gefallen.

All die Soldaten, die ihr Leben riskieren mussten, wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wohin ihre Frauen und Kinder flüchteten.

Hannelore dachte erneut an Ernst, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Und wenn er doch noch nach Hause zurückkehrte? Würde er nach ihnen suchen und sie finden?

»Darf ich?«

Hannelore schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Als sie aufsah, blieb ihr Blick an diesen tiefblauen, faszinierenden Augen hängen, die sie nicht zum ersten Mal aus dem Konzept brachten.

Auch wenn die Strapazen selbst an ihr nicht spurlos vorbeizugehen schienen, war der Glanz in ihren Augen doch geblieben.

Hannelore nickte und machte einen kleinen Schritt zur Seite, sodass die Frau sich neben sie stellen und sich ebenfalls an der Trennwand zwischen den Abteilen anlehnen konnte.

Sie folgte Hannelores Blick und ließ ihn über die Mitreisenden schweifen. »Sieh uns an. Wer hätte das vor einem halben Jahr noch gedacht? Wir dachten, uns würde nichts aus der Bahn werfen.« Ihre Stimme klang fest, beinahe unerschütterlich. »Ich bin übrigens Ilse«, fügte sie hinzu, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Hannelore ansah.

»Hannelore«, erwiderte sie knapp. Ihr Mund fühlte trocken an.

»Ich weiß«, sagte Ilse und zwinkerte.

Fragend sah Hannelore sie an.

»Damals, als ich dich auf der Feier bei Jakub das erste Mal gesehen habe, wollte ich wissen, wer dieses Mädchen ist, das so Hals über Kopf verschwand. Denk nicht, dass mir das nicht aufgefallen wäre.«

Hannelore wurde heiß. »Ich . . . ich war noch anderweitig verabredet.«

Ilse nickte. Doch ihr Lächeln verriet, dass sie Hannelore kein Wort glaubte.

Eine Weile standen sie nur nebeneinander und schwiegen. Die schneebedeckte Landschaft zog im Eiltempo an ihnen vorbei. Immer wieder durchbrachen lediglich kleine Dörfer die Tristesse.

»So schrecklich all das hier ist, alles, was uns und diesen Menschen hier passiert, so gibt es doch einen kleinen Lichtschimmer, der mich all das mit leiser Hoffnung ertragen lässt.« Ilse sprach so leise, dass Hannelore angestrengt hinhören musste, um jedes ihrer Worte zu verstehen.

Sie sah Ilse von der Seite an. Die Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Sie betrachtete ihre Lippen, während sie sprach, und die kleinen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichneten. Es bedurfte keiner ausgesprochenen Worte, nur eines Blickes, um Ilse zu zeigen, dass sie wissen wollte, was dieser Hoffnungsschimmer wäre.

Doch Ilse schenkte ihr nur ein letztes Lächeln. Und als sie sich von der Wand abstieß, um zu gehen, berührte ihre Hand kurz Hannelores und hinterließ ein sanftes Kribbeln, das noch anhielt, als Ilse bereits wieder in der Menge verschwunden war.

7

Der laue Sommerabend hüllte Greta in eine warme Umarmung. Letzte Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blättermeer des Baumes, unter dem sie Platz genommen hatte.

Sie hatte Glück. Der kleine Hinterhof, der von allen Bewohnern des Hauses, in dem vor allem Studenten wohnten, genutzt werden durfte, war heute ausnahmsweise friedlich leer. Keine andere Menschenseele hatte sich hierher verirrt. Heute war er ihre kleine Oase.

Der leise Singsang der Vögel, das Vibrieren der aufgeheizten Luft und der leichte Hauch kühlerer Luft, der sich dazumischte, schienen sie zu erden. Das erste Mal, seit sie hier angekommen war, hatte sie das Gefühl, frei atmen zu können.

Greta lehnte ihren Kopf gegen die Rinde des Baumes und schloss die Augen. Ihr Körper hatte förmlich nach Ruhe geschrien, als sie nach Hause gekommen und den Koffer in ihrem Zimmer abgestellt hatte. Entgegen ihrer fast überschäumenden Neugierde, den Inhalt des Koffers sofort und auf der Stelle zu erkunden, übertrumpfte das Gefühl, endlich den Pausenknopf zu drücken, jegliches andere Verlangen.

Und so hatte sie den Koffer verschlossen und unangerührt in ihrem Zimmer zurückgelassen. Stattdessen versuchte sie, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

Freiheit ist das, was du selbst daraus machst. Das hatte ihre Großmutter ihr stets eingebläut.

Nun nahm Greta sich die Freiheit, die Gedanken an diesen denkwürdigen Nachmittag mit aller Kraft beiseitezuschieben und Schönes herbeizudenken. Sie wollte nicht mehr an das seltsame Verhalten ihrer Mutter denken. Zumindest für einen kurzen Augenblick.

Als sie so dem Zwitschern der Vögel lauschte, tauchten vor ihrem inneren Auge zunächst sehr zögerlich und dann immer mehr Bilder der vergangenen Monate auf, die sich tief in ihr Herz eingebrannt hatten, auch wenn sie in den letzten Tagen hatten in den Hintergrund treten müssen.

Das Zirpen der Grillen erinnerte sie an die Tage auf den Feldern, auf denen sie ihre Gastfamilie, auf deren Hof sie leben und arbeiten durfte, tatkräftig unterstützte. Das wohlige Gefühl abends, nach einem kräftezehrenden, aber produktiven Tag zurück zum Hof zu kommen, gemeinsam zu Abend zu essen und anschließend erschöpft aber glücklich ins Bett zu fallen, war unbezahlbar. Der Duft nach Heu hing immer noch in ihrer Nase.

Als sie vor drei Jahren aufgebrochen war, hatte sie sich geschworen, sich in keine engen Konventionen, keine engen Verpflichtungen drängen zu lassen. Sie wollte ihrem Herzen folgen, wenn nötig weiterziehen, wenn ihr danach war. Ohne vorgefertigten Plan in der Tasche wollte sie ihren Weg in der Welt finden.

Sie hatte schon lange davor immer wieder mit dem Gedanken gespielt, irgendwann waren ihre Recherchen konkreter geworden und die Entscheidung war gefallen. Sie hatte ihren Job gekündigt, all ihr Hab und Gut verkauft, das sie nicht bei sich tragen konnte, und hatte sich auf den Weg nach Kanada gemacht.

Im Rahmen eines Work-and-travel-Programms hatte sie erste Schritte gewagt, viele freundliche und vor allem hilfsbereite Menschen kennengelernt und so ihren Weg in den Westen des Landes in die Nähe von Banff gefunden.

Sie hatte sich verliebt. Verliebt in ein Land, dessen Landschaft wie gezeichnet, die Menschen so liebenswert waren, dass Greta anfangs völlig überwältigt war. Sie war diesem Land, das so viele wunderschöne Facetten offenbarte, Hals über Kopf verfallen.

Und von diesem Gefühl der Freiheit getragen, war sie in Gretas Leben gekommen. Gretas Herz beschleunigte seinen Takt. Eine Suchende wie sie, deren Weg sich eines Tages mit ihrem kreuzte. So zufällig wie unerwartet und doch mit einem Knall, als sie aufeinandertrafen.

Zwei Getriebene, die aufeinander zugesteuert waren, um in der Hast ihres Seins endlich ihren Schritt zu verlangsamen, wie ein Pendel, das nach heftigem Ausschlag in seine Mitte zurückfand.

Ein Halt und doch wie im Rausch. So hatte sich die Zeit mit ihr angefühlt. Die Wochen, in denen sie sich abends matt von der Arbeit, aber voller aufgeregter Sehnsucht trafen und die Nächte nur ihnen gehörten, vergingen wie im Flug. Katherine war die erste Frau seit langem gewesen, bei der Greta keine Enge, vielmehr Geborgenheit fühlte.

Sie hatten nie ausgesprochen, welchen Namen die Beziehung trug, die sie beide miteinander führten, noch hatten sie über die Zukunft, weder die nahe noch die ferne, gesprochen. Sie hatten im Moment gelebt, hatten sich genossen, ohne Fragen zu stellen.

Und dann war der Anruf aus Deutschland gekommen, und Greta hatte kopflos all ihre Sachen gepackt, hatte den nächsten freien Flug gebucht und war abgereist, ohne dass sie Katherine noch einmal gesehen hätte.

Lediglich einen kurzen Brief hatte sie für sie zurückgelassen und seitdem keinen Anruf, keine Nachricht von ihr beantwortet. Greta wusste nicht, was sie ihr hätte sagen sollen. Sie konnte noch nicht darüber sprechen, was geschehen war.

Bisher hatte es in ihr auch keinen Raum gegeben, der es zugelassen hätte, etwas anderes als Trauer zu verspüren. Der Anflug von Wut heute Nachmittag war das erste Gefühl, das sich langsam in diesen Raum gedrängt hatte.

In ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie kaum über ihre Familien gesprochen. Die Vergangenheit hatten sie beide so weit wie möglich ausgeklammert. Vielleicht hatte ihre gemeinsame Zeit daher den Anschein gehabt, als würden sie sich in eine Seifenblase flüchten, die sie schützte und nur die positiven Gefühle einschloss. Es gab nur das Jetzt, weder das War noch das Wird.

Wenn Greta ehrlich zu sich selbst war, vermisste sie Katherine. Sie vermisste die unbeschwerten Stunden. Wünschte sich dieses Gefühl herbei, gerade jetzt. Wollte endlich wieder loslassen, wie sie es bei ihr konnte.

Doch andererseits scheute sie sich, ihre Nachrichten zu beantworten. Etwas hielt sie davon ab, ihr von den vergangenen Tagen zu erzählen, von dem Gefühl, das seither in ihr wohnte.