Die Farbe von Freiheit - Jenny Green - E-Book

Die Farbe von Freiheit E-Book

Jenny Green

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Beschreibung

Als ein Schneesturm sie für mehrere Tage in einem kleinen Ort im Nirgendwo von Ontario einschließt, ahnt die Musikerin Hannah Schwarz nicht, dass dies nicht nur ihre laufende Tour ins Wanken bringt, sondern auch zu einem Wendepunkt in ihrem Leben führen wird. Während Geister der Vergangenheit an ihr zerren und ihre Verlobte kurz vor der Hochzeit das gemeinsame Leben in tausend Scherben legt, zeigt sich jedoch, dass ihr unfreiwilliger Halt in Beaver Peak eine weitere Überraschung für sie bereithält, die sie zwischen Flucht und Neuanfang taumeln lässt.

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Jenny Green

DIE FARBE VON FREIHEIT

Roman

© 2023édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-366-1

Coverfoto:

1

»Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau beschreiben soll.«

»Versuchen Sie es.«

»Als würde man zwischen, hmm, zwischen zwei Welten wandeln, die Füße knöcheltief im Treibsand, immer die Angst im Nacken, es fehle nur ein Ruck und man würde in die Tiefe gerissen werden.«

Sie machte eine Pause, den Blick nach oben zu den mit den Jahren trüb gewordenen Fenstern gerichtet.

Ihr Nebenan sah sie nicht an.

»Und doch schafft man es immer, den Kopf oben zu halten, man schafft es, zu atmen, wenn auch schwer. Ganz so, als würde dich jemand von hinten umfassen und mit aller Macht auf deinen Brustkorb drücken«, fuhr sie fort.

Hannah bemerkte kaum, dass sie ihre Hände so sehr an ihr Glas presste, dass das Weiß der Knöchel hervortrat.

»Wie konnte man sich nur so gefangen fühlen, obwohl man doch eigentlich frei war?«

»Soll ich ehrlich sein?«

Hannah nickte, den Blick in ihr Glas gerichtet, während ein Schluck Whiskey auf ihrer Zunge zerging.

»So, wie Sie in diesem Moment neben mir sitzen, Ihre ganze Erscheinung, wirkt es, als würden Sie über eine völlig andere Person sprechen.«

Die Lippen zu einem Schmunzeln verzogen, antwortete Hannah: »Wer sind Sie? Psychologin?«

Die Frau neben ihr lachte auf. »Nein, nur jemand, der sehr genau beobachtet und zuhört. Mehr nicht.«

Die goldbraune Flüssigkeit schimmerte im kargen Licht der Bar, als Hannah das Glas hob und behutsam schwenkte. »Irgendwie haben Sie recht. Vielleicht keine andere Person, doch ein vergangenes Selbst. Nicht mehr man selbst, doch ein wichtiger Teil davon, der einen immer begleiten wird.«

Die Frau hob die Hand, als Hannah ihr Glas geleert hatte, um ihnen zwei neue Drinks zu bestellen.

Hannah winkte dankend ab. »Ich sollte nun wirklich gehen, ich habe Sie schon genug zugetextet.«

Und es hatte gutgetan! All die angestauten wirren Erinnerungen und Gedanken auf dem Bartresen abzuladen, wohlwissend, dass sie ihre zufällige Gesprächspartnerin nie wiedersehen würde.

Hin und wieder, so gut sie mit ihrer Vergangenheit, all den Narben und Wunden, auch umging, ja, hin und wieder tat es gut, ein Ventil zu öffnen. Manchmal mussten all die Gedanken in Worte gefasst werden, um wieder eine klare Struktur dahinter erkennen zu können.

Die Bar am Ende der Welt oder zumindest im Nirgendwo einer ihr fremden Gegend würde sie und ihre Geschichten genau in dem Moment vergessen, in dem sie durch die Tür ins Freie trat und in der kleinen Pension am anderen Ende des Ortes verschwand, in der sie zufällig gelandet war, weil an eine Weiterfahrt einfach nicht mehr zu denken war.

Zu oft hatte sie sich etliche hundert Kilometer durch die Nacht gekämpft, doch mittlerweile war ihr die Achtsamkeit gegenüber sich selbst zu wichtig, als dass sie weiter ihre Gesundheit mit Schlafmangel, zu viel Koffein und schlechtem Essen gefährden wollte.

»Nur noch dieser eine Drink, und ich werde Sie nicht mehr länger aufhalten.« Die Fremde schob Hannah den Drink entgegen, griff ihren eigenen und hob ihn zum Wohle.

Hannah zögerte, schielte auf die Uhr im hinteren Eck der Bar, als sie im selben Moment daran dachte, dass Zeit an diesem Abend relativ war. Es gab niemanden, der auf sie wartete.

Niemand, der sie herumscheuchte, ihr die nächsten Schritte aufzählte, den Ablauf vorbetete oder an ihr herumzuppelte. Niemand, der in diesem Moment auch nur einen Hauch von Kontrolle über ihre Abendgestaltung hatte.

Mit diesem Gedanken griff sie entschlossen nach ihrem Glas, hob es ebenfalls und nahm einen Schluck.

Die Frau lächelte. Hannah hatte nicht nach ihrem Namen gefragt, die Anonymität reizte sie. Auffordernd sah sie Hannah an. »Verraten Sie mir dann auch, wie Sie sich von den Dämonen der Vergangenheit befreit haben?«

»Das klingt nun sehr pathetisch. Warum reden wir nicht zur Abwechslung über Sie?« Hannah hatte einfach genug geredet. Müdigkeit kroch langsam in ihre Glieder, die Erschöpfung des Tages schien sie in Sekundenschnelle einzuholen wie ein bleierner Schatten.

»Ich bin nur eine Frau, die hin und wieder hierherkommt, um mit attraktiven Fremden Gespräche über den Sinn des Lebens zu führen.« Sie lachte auf. »Nein, ich bin einfach eine Frau, die heute hier gelandet ist und sich sehr über dieses interessante Gespräch und die Begegnung gefreut hat. Vielleicht musste es so sein.« Ihr Blick taxierte Hannah intensiv, fesselnd.

Elektrisierend.

Für einen kurzen Moment hielt Hannah den Atem an. »Ich muss leider los.« Sie wusste, dass es besser war, genau jetzt aufzubrechen.

»Sehe ich Sie wieder?« Die fremde Vertraute wandte sich um, blieb aber sitzen und sah Hannah dabei zu, wie sie sich in ihren Mantel packte, einen Schein auf den Tresen legte und der Bedienung zunickte.

Hannah lächelte. »Nein, ich denke nicht. Aber danke für diesen interessanten Abend.« Sie griff nach ihrem Schal, betrachtete die Fremde ein letztes Mal. Zwei, drei Sekunden, vielleicht auch mehr, dann drehte sie sich um und verließ durch das warme Dämmerlicht den Ort, der all ihre Geheimnisse und Geschichten in sich verschlingen würde, sobald sie die Tür aufstieß und nie mehr zurückkehren würde.

Heftiges Schneetreiben empfing sie.

Nasse Flocken legten sich auf ihr Gesicht und verfingen sich in ihren Wimpern, einen feuchten Schleier bildend.

Hätte der Weg nicht geradeaus die Hauptstraße entlang Richtung Pension geführt, es wäre ihr schwergefallen, in diesem Treiben den richtigen Weg zu finden. Von Schnee bedeckt sah alles so gleich aus, eine seltsame Mischung aus friedlich und bedrohlich.

Ein sonores Kribbeln setzte in ihrer Magengegend ein. Der eiskalte Wind kroch durch jede noch so kleinste Öffnung ihrer Kleidung und ließ sie erschaudern.

Hannah beschleunigte ihren Schritt und musste höllisch aufpassen, in der Senkrechte zu bleiben. Immer wieder sackte sie unvermittelt ein. Kalter Schnee tränkte ihre Stiefel. Das unangenehme Gefühl nasser Socken trieb sie voran. Einen kräftezehrenden Schritt nach dem anderen, nur das Ziel vor Augen, das letzte Quäntchen Kraft und der verlockende Gedanke an eine warme Dusche trieben sie an.

Schwaches Licht aus den Fenstern der Pension empfing sie, als sie schweratmend die letzten Meter zurücklegte. Ihr VW-Bus, der vor der Tür parkte, war unter einer dicken, weißen Schicht fast gänzlich verschwunden.

Die Tür fiel schwer hinter ihr ins Schloss und sie zuckte unweigerlich zusammen. So viel zu ihrem Vorhaben, mitten in der Nacht auf leisen Sohlen, von anderen Gästen unbemerkt, auf ihr Zimmer zu gelangen.

Sich über sich selbst ärgernd zog sie mit einem Ruck die dicke Wollmütze vom Kopf und seufzte. Ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht.

»Keinen guten Abend gehabt?«

Erschrocken fuhr Hannah herum. Sarah, die gute Seele des Hauses, saß immer noch hinter ihrem kleinen Rezeptionstresen, die Lesebrille im krausen Haar, eine gestrickte Decke über den Schultern.

Hannah griff sich ans Herz. »Haben Sie mich erschreckt.«

Sarah lächelte. »Gäste von uns stecken draußen auf der Landstraße fest. Bob holt sie gerade ab. Ich halte hier die Stellung, bis alle wohlbehalten hier ankommen.«

Hannah sah durch das Fenster hinaus in das Schneetreiben, das sich immer mehr zu verstärken schien. Wie eine weiße Wand klammerte sich der Winter an die Häuser.

»Sehr klug, dass Sie heute Nacht nicht weitergefahren sind. Sie wären nicht weit gekommen. In der ganzen Gegend dasselbe Bild. Es ist kein Durchkommen mehr.«

Hannah nickte. »Morgen sieht es bestimmt besser aus.«

Sarah nahm die Brille vom Kopf und legte sie auf den Tresen. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber keine Sorge, Sie können das Zimmer gern länger bewohnen.«

»Länger bewohnen?« Hannah riss die Augen auf und war mit einem Mal wieder hellwach. »Ich muss morgen weiter, ich habe Termine, ich kann nicht länger bleiben.«

»Ihr jungen Leute und eure Termine«, entgegnete Sarah, stützte sich auf dem Tresen auf und stand auf. »Das Leben hier draußen schert sich oft wenig um Termine. Die Natur macht, was sie will, und der Mensch lebt am besten damit, wenn er sich diesem Takt fügt. So etwas kann wahrlich entspannend sein. Versuchen Sie es doch einfach mal.«

»Entspannend«, murmelte Hannah vor sich hin und vor ihrem inneren Auge drehten sich die kommenden Tourdaten und Promotermine wild im Kreis. Sie sah das Chaos bereits vor sich, und Andys bellende Stimme hallte ihr in den Ohren, wenn sie nur an seinen rasant steigenden Blutdruck dachte, den eine einzelne Terminverschiebung in seinem bis ins Letzte ausgeklügeltem System anrichten würde. Andy war vieles, aber nicht entspannt. Wie sollte sie also entspannt sein?

Hannah war wie erstarrt im Eingangsbereich der Pension stehengeblieben. Ihre nassen Stiefel hatten einen unschönen Fleck auf dem Teppich gebildet. Am liebsten wäre sie in eben dieser Pfütze versunken und erst wieder aufgetaucht, wenn dieser Albtraum vorbei war.

2

Sie hörte, wie er sich zur Ruhe zwang. Die dezente Panik in seiner Stimme konnte er jedoch nicht kaschieren. Das nervöse Flattern war in jeder einzelnen Pause zu spüren, die er zwangsweise einlegen musste, um nach Luft zu schnappen. »Hannah, Darling, wie stellst du dir das denn bitte vor?«

»Ich kann ja nach dem nächsten Schlittenhundegespann Ausschau halten«, seufzte Hannah. Was dachte Andy denn? Dass sie sich abgesetzt hätte, um ein paar Tage Urlaub einzulegen? Wellness im Schnee bei wohligen minus fünfzehn Grad? Spüren Sie die Stiche der Eiskristalle auf der Haut und Sie werden sich wie neugeboren fühlen! Verdammt, sie wäre jetzt auch lieber in Toronto, in ihrer Wohnung, in ihrem Bett. In ihrer eigenen kleinen Höhle.

»Ginge das denn?«

»Andy!«, fuhr Hannah ihn schärfer an als beabsichtigt und nahm ihr Smartphone kurz vom Ohr, um durchzuatmen. Manchmal machte sie dieser Mann rasend.

»Bis wann kannst du zurück sein?«, fragte er nun etwas kleinlauter, wenn auch nicht weniger aufgebracht. »Ich versuchen, deine Termine zu verlegen, und hoffe, dass wir keine Probleme bekommen. Aber ich kann nicht zaubern.«

»Es ist ja nicht so, als würde ich die Termine nicht einhalten wollen. Aber im Winter durch Kanada zu touren, ist kein Garant dafür, dass alles reibungslos abläuft. Das war uns doch vorher klar. Früher oder später musste so etwas passieren. Das müsste doch auch den Veranstaltern klar sein, oder nicht?«

»Wie lange denkst du denn, dass du festsitzen wirst? Wo genau steckst du eigentlich?«

Hannah zuckte mit den Schultern, dann fiel ihr ein, dass Andy das ja gar nicht sehen konnte. Sie brauchte Schlaf, sofort! »Die Wetterprognosen sind leider nicht so eindeutig, aber aktuell alles andere als rosig. Ich denke ein paar Tage, bis zumindest die Straßen wieder sicher befahrbar sind und ich nicht im nächsten Ort und der nächsten Pension eine weitere Zwangspause einlegen muss. Ich schicke dir meinen Standort später durch. Es müssten in etwa noch vier, na ja eher fünf Stunden bis Toronto sein.«

»Also gut, ich rechne mit einer Woche, ich muss den Veranstaltern verlässliche Aussagen machen. Lieber plane ich einen Puffer ein. Und irgendwie bringen wir dich schon hierher, ehe die neue Woche anbricht.« Andy legte eine kurze Pause ein. »Manchmal hasse ich meinen Job, Hannah.«

»Tust du nicht«, lächelte Hannah versöhnlich, dann legte sie auf.

Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte, die nassen Klamotten klebten an ihr wie eine zweite Haut. Schnell schälte sie sich aus der beklemmenden Hülle, warf sie über die Heizung, die auf höchster Stufe bullerte, und verschwand im Bad. Sie hatte das Gefühl, sich diesen Tag vom Körper waschen zu müssen.

Wildes Stimmengemurmel drang durch das Treppenhaus nach oben, als Hannah sich nach kurzem, aber komatösem Schlaf auf den Weg zum Frühstück machte.

Als sie die Stufen nach unten stieg und um die Ecke spähte, sah sie, dass die kleine Lobby mit einer großen Gruppe Menschen gefüllt war, die aufgebracht durcheinanderredeten. Ein Hühnerhaufen schien nichts dagegen zu sein.

Mittendrin Sarah, immer noch ihre gestrickte Decke um die Schultern, als hätte sie die ganze Nacht ihren Wachposten hinter der Rezeption nicht aufgegeben. Obwohl um sie herum das reinste Chaos tobte, wirkte sie so tiefenentspannt und ruhig, dass es eine Wohltat war, sie zu sehen.

Hannah überlegte kurz, ob sie sich ins Getümmel stürzen oder lieber den Rückwärtsgang einlegen sollte, als sich ihr Magen lautstark zu Wort meldete.

»Nein, Ihr Bus kann heute nicht weiterfahren!«, hörte Hannah Sarah auf ein Grüppchen älterer Herrschaften einreden. »Ich habe gerade mit Ihrem Veranstalter gesprochen, Sie können hier in der Pension bleiben. Wir müssen alle abwarten.«

»Aber wir haben die Rundreise gebucht und haben dafür bezahlt, alles zu sehen, was auf dem Plan steht«, beschwerte sich einer der Herren, die Brust angriffslustig geschwellt, die Schultern gestrafft, seine Frau beschützend zur Seite genommen.

Hannah schüttelte innerlich den Kopf.

»Tja, mein Herr, dann bekommen Sie jetzt und exklusiv die wahre Erfahrung eines kanadischen Winters. So etwas finden Sie in keinem Reiseprospekt und es wird nur besonderen Menschen zuteil«, konterte Sarah und ließ den Mann, der um Fassung rang, stehen. Touché!

Hannah stand immer noch mehrere Stufen über dem Geschehen und betrachtete die Szenerie wie einen Film. Fehlte nur der Superheld, der just in diesem Moment durch die Tür trat und Frauen und Kinder zuerst rettete. Wobei sie ihre persönliche Superheldin bereits in Person von Sarah gefunden hatte.

Als sich Sarahs und Hannahs Blicke trafen, hob Sarah kurz die Hand zum Gruß und deutete lächelnd Richtung Frühstücksraum.

Hannah nickte, lächelte ebenfalls und warf sich dann wagemutig in die Menge, um sich zum Frühstücksraum durchzuschlagen.

Der Blick durch das Fenster war niederschmetternd. Schnee, Schnee, Schnee.

Hannah stellte sich ein kleines Frühstück am Buffet zusammen und setzte sich.

»Wissen Sie, was in einer solchen Situation das Wichtigste ist?«

Hannah sah auf und legte ihren Toast beiseite. Ein älterer Mann, vielleicht Mitte sechzig, mit grau melierten Haaren und weißen, buschigen Augenbrauen über gütigen Augen, lächelte sie mit einer silbernen Kanne in der Hand an.

Perplex schüttelte Hannah den Kopf.

»Der Kaffee darf nicht versiegen«, lächelte der Mann und schwenkte die Kanne. »Darf ich Ihnen nachschenken?«

Hannah hielt ihm dankbar die Tasse hin. »Balsam für die Seele«, erwiderte sie ebenfalls lächelnd und wartete, bis der Mann die Tasse bis knapp unter den Rand gefüllt hatte.

»Hatten Sie denn vor, länger zu bleiben?«, fragte er und mit jedem Wort tanzten seine Augenbrauen.

»Nein, eigentlich wollte ich schon längst in meinem Bus Richtung Toronto sitzen.«

»Das tut mir leid, die Winter hier sind unberechenbar. Und bei diesen Schneeverwehungen ist man machtlos. Und doch ist es der schönste Ort, den ich mir vorstellen kann.« Er schmunzelte und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Hannah ihn aufhielt.

»Kann man denn irgendetwas tun, irgendwie helfen, oder . . . ich weiß auch nicht. Hier herumsitzen macht es jedenfalls auch nicht besser.«

Der Mann, dessen Name wohl Samuel lautete, Hannah tat sich schwer, das kleine Namensschild zu lesen, zuckte mit den Schultern. »Draußen braucht es schweres Gerät und ansonsten einfach viel Geduld, bis der Schneefall endlich leichter wird. Warum genießen Sie nicht einfach die Ruhe? Holen Sie sich ein Buch vorn aus dem Regal«, er deutete Richtung Lobby, »und legen Sie die Beine hoch. Nichtstun kann auch erfüllend sein.« Er zwinkerte und machte sich dann endgültig auf den Weg zum nächsten Tisch.

»Nichtstun«, seufzte Hannah. Allein der Gedanke daran ließ sie hibbelig werden. Nein, sie wollte nicht einfach nur herumsitzen und darauf hoffen, dass der Himmel endlich Erbarmen mit ihnen hatte.

Als sie wenig später wild entschlossen mit halbwegs trockenen Stiefeln, den Schal bis unter die Augen gezogen, erneut in der Lobby aufkreuzte, sah Sarah, die den morgendlichen Hurrikan unversehrt überstanden hatte, Hannah ungläubig und etwas belustigt an.

Hannah verlangsamte ihren Schritt und blieb an der Tür stehen. »Ich weiß schon, was Sie denken.«

»Ach ja?« Sarah lachte. »Was denke ich denn?«

»Dass diese irre Großstädterin endgültig den Verstand verloren hat, nachdem ihr die gestrige Nacht nicht genug in alle Knochen gefahren war.«

Sarah wiegte den Kopf hin und her. »Warum um alles in der Welt wollen Sie denn wieder hinaus in die Kälte?«

»Weil mir die Decke auf den Kopf fällt.«

»Nach einer Nacht?«

»Nach einer Nacht!«

Sarahs Augen weiteten sich ungläubig. »Was machen Sie noch mal beruflich?«

»Ich bin Musikerin, aber was tut das hier zur Sache?«

Sarah nickte und murmelte etwas.

Hannah verstand nicht und ging ein paar Schritte auf Sarah zu, die sich wieder hinter den Tresen zurückgezogen hatte. »Entschuldigung, können Sie das bitte wiederholen?«

»Sie sind eine rastlose Seele. Eine Künstlerseele.«

»Eine rastlose Seele?« Hannah wollte diese Behauptung mit einem Lachen von sich weisen, doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken.

»Meine Menschenkenntnis hat mich selten getäuscht«, fügte Sarah hinzu und setzte sich die Brille zurück auf die Nase, ehe sie in einem Papierstapel zu wühlen begann.

»Wirklich stillsitzen können Sie aber auch nicht«, konterte Hannah und deutete mit einem Nicken auf den etwas chaotischen Stapel.

Mit einer hastigen Handbewegung winkte Sarah ab. »Ich weiß, wann ich meine Ruhepausen brauche.«

Hannah nickte, war sich aber alles andere als sicher, ob sie dieser Aussage Glauben schenken sollte. Aber wahrscheinlich hielt Sarah es auch hier wie die Natur. Auf stürmische Zeiten folgten ruhige, auf eiskalte Tage warme und entspannte.

»Wo finde ich eine Schaufel oder einen Besen?«

»Fragen Sie Ted. Er räumt gerade hinter dem Haus einen kleinen Weg zum Lieferanteneingang frei. Als würde ausgerechnet jetzt jemand etwas liefern wollen.« Sarah schüttelte den Kopf, zog das gesuchte Blatt aus dem Stapel und verschwand durch die Tür in das kleine Hinterzimmer hinter der Rezeption.

Entschlossen zog Hannah den Reißverschluss ihrer Jacke die letzten Millimeter nach oben, schlang den Schal vors Gesicht und fasste mit der rechten Hand an den Türgriff. Also los, so schlimm konnte es nicht sein.

Mit einem Ruck riss Hannah die Tür auf, die hereinstürmende Schneefront tat dasselbe beinahe mit ihr, und für einen kurzen Augenblick konnte Hannah nicht atmen, der Wind peitschte in ihr Gesicht, Schneeflocken verschleierten die Sicht.

Sie brauchte einen Moment, um der Lage Herr zu werden, ehe sie festen Schrittes, dem Gegenwind trotzend, nach draußen auf die Straße trat und die Tür der Pension hinter sich zuzog. Die Winter in Deutschland waren ein Fliegenschiss gegen diese Naturgewalt. Warum war sie nicht an die Küste nach Vancouver gezogen?

Doch das Wetter, so scheußlich es auch war, schreckte sie weniger ab als der Gedanke daran, untätig in ihrem kleinen Pensionszimmer zu sitzen. Nichts gegen einen gemütlichen Abend mit einem guten Buch in die Laken gekuschelt, aber den ganzen Tag nichts Produktives zu bewerkstelligen, fühlte sich dann doch wie Lebenszeitverschwendung an.

Und ja, sie wusste, dass das nicht unbedingt gesundheitsfördernd war. Nicht auf Dauer. Aber dauernd war nicht immer und alles hatte seine Phasen.

Mit einem Besen bewaffnet und einem eisernen Willen, der jeden kleinsten Muskel ihres Körpers anspannte, stand Hannah kurz darauf vor ihrem Tagwerk. Irgendwo unter diesem Berg musste ihr Bus stehen. Irgendwo darunter war ihr kleiner Rückzugsort mit einigen Annehmlichkeiten, die es nun freizulegen galt.

Mit einem innerlichen Kampfschrei riss Hannah den Besen in die Luft und begann übermütig, eine Schneeschicht nach der anderen vom Berg zu schaben. Ungeachtet dessen, dass ihr halbes Werk ohnehin in Minutenschnelle wieder zunichtegemacht werden würde. Aber sie hatte keine Lust aufzugeben, sie würde diesem Berg Herr werden.

Es dauerte nicht lange und sie kochte wie ein Teekessel unter all den Schichten Klamotten, die sie anhatte. Über ihrem Kopf schien eine Rauchwolke gen Himmel zu steigen. Egal. Weitermachen.

Einfach weitermachen.

Weiterschippen.

Weiterschaben.

Weiterkämpfen.

Atmen. Zweifeln.

Egal, weitermachen.

Dass Hannah mittlerweile Gesellschaft bekommen hatte, merkte sie gar nicht. Viel zu sehr hatte sie sich in ihrem Tunnel verloren.

Weiterschippen.

Weiterschaben.

Weiterkämpfen.

Erst als sich eine Hand auf ihre Hände legte und den nächsten Versuch, ein weiteres Stück des Busses freizulegen, verhinderte, blickte sie auf. Ihr Atem bildete dichte Wolken.

Die bis obenhin eingemummelte Person, offensichtlich weiblich, musterte sie eingehend. Die Augen verrieten sie.

Hannah ließ den Besen sinken und versuchte, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Sie bebte vor Anstrengung, während die Frau vor ihr so unglaublich gelassen wie ein Fels im Sturm wirkte, unumstößlich. Oder wäre eine Eisbergmetapher passender?

»Zumindest hat dieser Wintereinbruch einen Vorteil.«

Hannah sah sie fragend an.

»Sie konnten nicht so einfach die Stadt verlassen.« Die Frau lächelte und streckte Hannah die Hand entgegen.

Etwas ungelenk griff Hannah danach. Ihre Hände waren steif vor Kälte.

»Ich bin übrigens Elizabeth.«

»Hannah«, erwiderte Hannah, ihre Stimme zitterte immer noch vor Anstrengung.

»Warum um alles in der Welt willst du deinen Bus jetzt freischaufeln? Über Nacht wird deine ganze Arbeit wieder zunichtegemacht sein.«

»Ich wollte ein paar Dinge aus dem Bus holen.«

»Ein paar Dinge?«

»Meine Tasche mit Wechselklamotten zum Beispiel. Morgen werde ich wohl noch nicht losfahren können.«

Elizabeth lachte. »Wenn du Anfang der kommenden Woche starten kannst, würde ich sagen, hast du schon Glück.«

»Kommende Woche?« Hannahs Gesichtszüge schienen ihr endgültig zu entgleisen. Sofort sah sie Andys hochrotes Gesicht vor ihren Augen, in der Hand eine Papiertüte, hyperventilierend.

»Ich befürchte, ja, die aktuellen Prognosen sind leider nicht vielversprechend.«

Hannah konnte Elizabeths Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. Irgendwie schwenkte er zwischen Bedauern und Freude.

Resigniert ließ Hannah den Besen vor sich in den Schnee fallen. Ihr war gerade nach kindlichem Trotzverhalten zumute, auf den Boden werfen und wild um sich schreien, doch sie hielt sich gerade noch zurück. »Na, bravo.«

»Mit dem Bus würde ich warten, bis der Schneefall leichter wird. Wegen der Klamotten brauchst du dir keine Gedanken zu machen, dafür findet sich eine Lösung. Du kannst nachher gern bei mir im Laden vorbeikommen und wir finden etwas für dich.«

Laden?

Nicht weitermachen.

Etwas finden?

Nicht weiterschippen.

Keine Gedanken machen?

Tatenlos dastehen und nichts tun können.

Hannah spürte dieses dumpfe, dunkle Kribbeln, zentriert, wie ein aufbrausender, anlaufnehmender Hurrikan, der sich in der Magengegend auszubreiten drohte.

Sie kannte dieses Gefühl, auch wenn es ein entferntes, lange nicht angetroffenes Gefühl war. Nein, nein, nein! Nicht jetzt!

Es verhieß nichts Gutes. Ganz und gar nicht.

Hannah nahm beide Daumen in eine Faust und knetete sie fest. Sie versuchte, einen anderen, einen klaren Gedanken zu fassen, doch die schwelende Bedrohung in ihr, in ihrem eigenen Körper, tat alles, um die Oberhand zu gewinnen.

In Windeseile bückte sich Hannah nach dem Besen, fahrig fuhr sie herum, sie sah von Elizabeth zur Pensionstür, zurück zum Bus, noch einmal zu Elizabeth und nahm dann ihr Ziel ins Visier.

»Du, also, ich, also ich muss los«, stieß Hannah hervor, dann beschleunigte sie aus dem Stand, stürmte auf die Pensionstür zu, schaffte es gerade noch, den Besen an die Mauer neben der Tür zu lehnen, und riss die Tür auf, um in die erhoffte Sicherheit zu fliehen.

3

Den Kopf an den kühlen Beckenrand gelehnt starrte Hannah an die Badezimmerdecke, deren blasses Grau wie ein schwerer wolkenbehangener Himmel über ihr hing. Weniger aus melodramatischen Gründen als vielmehr der Praktikabilität eines funktionierenden Handyempfangs geschuldet, hatte sie in der leeren Badewanne Platz genommen. Im leeren Zustand nicht ganz so bequem wie erhofft, doch frei von nervigen Störungen in der Leitung.

»Ich habe uns für Samstag einen Tisch im Green Bamboo reserviert. Tobi und Jason haben auch zugesagt. Weißt du, wie schwer es ist, dort einen Tisch zu bekommen?«

»Erst einmal muss ich es wieder zurück in die Stadt schaffen«, seufzte Hannah. »Gerade sieht es leider nicht so gut aus, wie erhofft.«

Die Anspannung, die vor wenigen Stunden überfallartig Besitz von ihrem Körper ergriffen und für völlig verkrampfte Muskeln gesorgt hatte, vom Pochen in den Schläfen ganz abgesehen, hatte zwar nachgelassen, doch wirklich weg war sie nicht. Sie schlummerte wie ein Tier auf der Lauer in einem dunklen Eck, bereit, erneut anzugreifen, wenn es nötig war.

Wie lange war es her, dass Hannah sich so gefühlt hat? Dass sie nichts gegen die Attacke tun konnte. Dass sie zwar die Anzeichen erkannte, versuchte, dagegenzusteuern, und doch dieses Mal, seit so langer Zeit, den Kampf verlor.

»Ich vermisse dich.«

Hannah musste lächeln. »Ich dich doch auch. Ich hasse es, hier festzusitzen.«

»Und nichts tun zu können«, ergänzte Lauren. Sie kannte Hannah einfach zu gut. »Kann ich denn irgendetwas für dich tun?«

»Den Privatheli schicken«, erwiderte Hannah und rieb sich mit einer Hand die müden Augen. »Nein, es tut gut, deine Stimme zu hören. Drück mir einfach die Daumen, dass dieses Wetter bald Erbarmen mit uns hat. Und dann komme ich so schnell ich kann nach Toronto. Vielleicht schaffe ich es ja bis Samstag. Und wenn nicht, genieße den Abend mit Jason und Tobi. Ich weiß doch, wie lange du schon in dieses Restaurant willst. Lass dir das nicht von mir oder den Umständen verderben.«

»Ich kann’s kaum erwarten, dich wieder hier zu haben«, sagte Lauren leise und fügte dann mit fester, heiterer Stimme hinzu: »Außerdem machen diese ganzen Vorbereitungen ohne dich keinen Spaß. Ich will mit dir gemeinsam Torten probieren, kitschige Deko aussuchen und die Musik wähle ich ganz sicher nicht allein aus, das wird sonst eine Katastrophe.«

Lauren wusste, wie sie Hannahs Anspannung zum Bröckeln bringen konnte. Langsam entspannten sich ihre Nackenmuskeln und das Ziehen in ihrem Kopf ließ nach. »Sobald ich zurück bin, nehmen wir das alles in Angriff. Du musstest schon so lange warten.«

»Deine Tour geht vor, darauf haben wir uns geeinigt, ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. Ich darf mich also nicht beschweren.«

»Ein paar Monate noch und dann nehme ich mir eine Weile eine Auszeit. Die letzten Jahre waren unglaublich anstrengend und kräftezehrend.«

»Umso wichtiger, dass du nach all den Jahren endlich die Chance bekommen hast, deine Tour zu starten. Ohne die Pandemie wärst du längst in aller Welt unterwegs. Also andererseits hatte die Sache auch etwas Gutes, ich hatte dich bei mir.«

Hannah nickte, auch wenn Lauren das nicht sehen konnte. »Woher nimmst du nur all das Verständnis für mich? Für meine Träume, meinen Dickkopf, für all die wenige Zeit, die ich erübrigen kann.«

»Weil es sich lohnt, auf etwas Gutes zu warten«, antwortete Lauren, doch plötzlich einsetzendes Stimmengewirr im Hintergrund ließ ihre Aussage halb untergehen. »Hannah, ich muss Schluss machen, Kundschaft. Ich melde mich bei dir.«

Aufgelegt.

Hannah ließ die Hand sinken und schloss die Augen. Das dunkle Grummeln in ihr war weg, dumpfe Leere füllte nun den Raum aus, den es zurückgelassen hatte. Nun gut, sie würde morgen Elizabeths Angebot annehmen. Sie hatte etwas Ablenkung dringend nötig und vor allem brauchte sie Wechselklamotten und eine Waschmaschine. Trockene Schuhe wären auch nicht die schlechteste Wahl. Keine Ahnung, was Elizabeth heute nach ihrem überstürzten Abgang von ihr zu halten schien, doch das alles musste sie erst morgen wieder interessieren.

Nicht heute. Nicht jetzt.

Kurz öffnete sie die Augen, startete das angefangene Hörbuch auf ihrem Smartphone, schob sich ein Handtuch unter den Kopf und beschloss, dass diese Badewanne ihr Ort für die nächsten fünf Kapitel bleiben sollte, während die angenehm sanfte und doch markante Frauenstimme der Sprecherin sie forttrug.

Adieu Welt. Bis morgen. Vielleicht.

Wie konnte sie nur so dämlich sein und in dieser unbequemen Wanne einschlafen? Sie war keine zwanzig mehr und selbst dann wäre diese Schüssel, die das halbe Badezimmer in Beschlag nahm, der unbequemste Ort, den man sich vorstellen konnte.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht knetete sie mit der rechten Hand den linken Schultermuskelstrang. Jede kleinste Bewegung war eine Qual. Stück für Stück versuchte Hannah, sich aus ihrem Übel zu befreien. Ihr Körper war stocksteif und das Aufstehen glich einer Zeitlupenaufnahme.

Die Haare standen ihr wirr ins Gesicht, als sie endlich beide Beine außerhalb der Wanne auf den Boden brachte und in den kleinen Wandspiegel starrte. Um Himmels willen, wer war diese Frau, die ihr da entgegensah?

Mit der rechten Hand wuschelte Hannah durch ihre Haare, der Dutt rutschte endgültig ins Nirwana. Sie drehte den Wasserhahn auf und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der anschließende Blick auf ihr Smartphone verriet, was sie bereits ahnte: halb fünf Uhr morgens. Die letzten Tage hatten sie so geschlaucht, dass sie Stunden geschlafen haben musste, ohne auch nur einmal zu zucken.

Mehr als die Uhrzeit war dann selbst ihr Telefon nicht mehr gewillt zu geben.

Akku tot.

Die Powerbank für Notreserven ebenso.

Das Kabel – na klar – im Bus.

Hannah holte tief Luft. Sie war irgendwo im Nirgendwo gelandet, sie war nicht mehr erreichbar und niemand würde sie finden. Halt, doch, Andy. Und der würde sie schneller hier rausholen, als dass er noch weiter auf sie warten würde. Also gut, sie würde hier nicht einsam und allein für immer enden.

Erleichtert ob dieses Gedankens ließ sie sich in das himmlisch weiche Bett fallen, zog die Decke über den Kopf und der nur kurz unterbrochene Schlaf holte sie im Nu wieder ein.

»Kann ich den Kaffee und das Sandwich einfach mitnehmen?«, fragte Hannah eine junge Angestellte, die gerade die letzten Tische abräumte, als sie kurz vor Ende der Frühstückszeit in den kleinen Speiseraum gerauscht kam.

Die Frau sah sie etwas ungläubig an. »Also eigentlich . . .«, begann sie, als Sarah just in diesem Moment um die Ecke bog und sich zu ihnen gesellte.

»Also eigentlich ist die Frühstückszeit ohnehin um, von daher nimm dir gern von dem, was noch da ist. Da vorn stehen Becher«, sagte Sarah und deutete ihrer Angestellten an, weiterzumachen. »Das Frühstück heute verschlafen?«, wandte sie sich dann wieder an Hannah. Ihre unverblümte, direkte Art gefiel Hannah irgendwie.

»Sozusagen ja, aber ich will gleich los in den Ort und brauche nur kurz etwas Starthilfe in Form von Koffein.«

»Starthilfe hat dir auch jemand anderes schon gegeben«, fügte Sarah hinzu und deutete mit einem verschwörerischen Lächeln Richtung Ausgang.

Hannah sah sie verwirrt an. »Welche Starthilfe?«

»Oder hast du etwa selbst die ganze Nacht durchgeackert? Wundern würde es mich nicht.«

»Durchgeackert?« Nun war Hannah endgültig verwirrt. »Was meinst du denn?«

»Lass dich überraschen«, grinste Sarah, drückte Hannah noch den letzten Apfel in die Hand, ehe sie das leere Körbchen an sich nahm und gen Küche verschwand.

Das eingepackte Sandwich unter den Arm geklemmt, links den Kaffee, rechts den Apfel, steuerte Hannah auf den Eingang zu. Als ein anderer Gast gerade von draußen die Tür aufschwang, schlüpfte sie mit einem beherzten Satz nach draußen in die Kälte, die ihr immer wieder aufs Neue für einen kurzen Moment den Atem abschnitt.

Das, was sich dann vor ihren Augen auftat, erschien ihr im ersten Moment wie ein Trugbild. Mehrmals zwinkerte sie, doch das Bild, das sich ihr darbot, veränderte sich kein Stück.

Mit feinen letzten Schneeresten, die von seinem kleinen Winterschlaf zeugten, stand ihr Bus in all seiner Pracht vor ihr, als wäre er wie Phoenix aus der Asche auferstanden.

Ganz automatisch sah Hannah die Straße rauf und runter, doch niemand, der für dieses Wunder gesorgt haben könnte, war zu sehen, sie war allein.

Immer noch etwas ungläubig begann sie, den Bus zu umrunden, ließ ihre Augen über jeden Zentimeter des dunkelgrünen Lacks gleiten und spähte durch die Scheiben ins Innere. Nein, sie träumte nicht, er war frei!

Sie war frei!

Am liebsten hätte Hannah einen Freudensprung gemacht. Doch angesichts der immer noch spiegelglatten Straße und des heißen Kaffees in ihrer Hand rief sie sich zur Vernunft. Doch innerlich sprang sie wie ein fünfjähriges Kind auf und ab und schlug Pirouetten.

Der Blick nach oben in den Himmel verriet das zweite Wunder. Kein Schnee, keine neuen Flocken, halbwegs blauer, leicht wolkenverhangener Himmel. Oh Winter, du zeigst dich von deiner schöneren Seite. Licht erschien am Ende des Tunnels. Vielleicht hatten sich alle Vorhersagen geirrt und sie war schneller frei, als gedacht.

Sie würde schon bald hinter das Steuer klettern und mit quietschenden Reifen davonfahren können. Allein der Gedanke daran entfachte in ihr ein Feuer der Aufruhr.

Bald, wenn die Straßen Richtung Toronto vom Schnee und den umgefallenen Bäumen befreit waren, würde sie diesen Ort hinter sich lassen und nicht zurückschauen. Wie lange sollte das schon dauern?

Von neuem Mut erfüllt machte Hannah auf dem Absatz kehrt und tippelte in kleinen vorsichtigen Schritten Richtung Ortskern. Wer auch immer dieser Engel war, danke, danke, danke!

Wenige Menschen hatten sich in die Ortsmitte verirrt und watschelten wie Pinguine vorsichtig die Gehsteige entlang. Irgendwie romantisch, dachte Hannah bei sich, als der Schnee in der Sonne schimmerte und der Duft heißer Schokolade aus dem Café, an dem sie gerade vorbeiging, in ihre Nase stieg.

Suchend sah sie sich um. Eine Fremde inmitten all der Gestalten, die einem bestimmten Ziel folgten, niemand, der sich ratlos umsah. Gelassenheit in ihrer Haltung, Entschlossenheit in den Blicken, so glitten sie an Hannah vorbei, um die nächste Ecke verschwindend.

Hannah hielt kurz inne. Das Café im Rücken, eine kleine Poststelle zu ihrer linken, ein Obst- und Gemüseladen geradeaus. Ein Schild, das den Weg zu einem kleinen Kino wies, eine Buchhandlung neben einem Modegeschäft.

Endlich fand Hannah, was sie gesucht hatte. Das kleine Schild über dem Laden quietschte im Wind hin und her.

Sie straffte die Schultern, nahm die Hände aus den Manteltaschen und tapste, die Balance mit Mühe haltend, über die Eisfläche zur Ladentür. Schnell huschte sie in die Wärme, die sie förmlich anzog.

Ein leises Klingeln kündigte sie an. Niemand außer Hannah hatte sich hierher verirrt. Wahrscheinlich saßen alle mit der Familie zu Hause beim Mittagessen und sperrten den Winter für eine Weile aus.

Es roch angenehm nach Orangen und etwas Zimt. Der Laden war hell und gleichzeitig so gemütlich, dass Hannah sich am liebsten auf das Sofa in der Ecke gelegt hätte, um die nächsten Stunden einfach nur zu verweilen. Bücher reihten sich an handgemachte Keramik, die an wunderschöne Karten, kleine Feinkostschätze teilten sich das Regal mit Weinen aus Ontario. Kerzen, Seifen, Mützen, Pullis . . . Hannah wusste gar nicht, wohin sie als Erstes blicken sollte.

Als sie ein Rascheln neben sich vernahm, hielt sie inne. Kurz darauf erschien Elizabeths Lockenkopf aus dem Nebenraum und mit ihm ein breites Lächeln, das Hannah empfing. »Welch schöner Besuch«, begrüßte sie Hannah und legte das Tuch, das sie gerade noch in den Händen hielt, auf die Theke. »Wie geht es dir heute?«

Hannah merkte, wie ihr prompt die Wärme ins Gesicht stieg. »Entschuldige, gestern . . .«

Doch weiter kam sie nicht. Elizabeth winkte vehement ab. »Du bist mir keine Erklärung schuldig«, lächelte sie. »Ich hoffe, dir geht es heute besser.«

Hannah nickte. Elizabeths Lächeln war ansteckend. Sie spürte, wie ihre eigenen Mundwinkel es ihr unweigerlich gleichtaten. »Du hast einen wundervollen Laden.« Um ihre Worte zu unterstreichen, breitete Hannah ihre Arme aus und drehte sich einmal im Kreis.

»Mein Lebenstraum«, erwiderte Elizabeth. »Seit zwei Jahren gehört dieses Schmuckstück mir.«

»Und all die Produkte kommen aus der Gegend?«

Elizabeth wog den Kopf hin und her. »Vieles ja, manches habe ich von meinen Reisen mitgebracht. Die meisten Produkte sind jedoch handgemacht aus Ontario oder Kanada. Die Menschen hier lieben ihr Handwerk und jedes Produkt ist einzigartig.«

»Ich könnte mich hier wahrscheinlich stundenlang aufhalten«, sagte Hannah und wurde nachdenklich. »In meiner alten Heimat gab es auch so einen Laden, wie gern war ich dort!«

»Alte Heimat?« Elizabeth war nähergekommen. Sie hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um Hannah an der Schulter zu berühren, doch sie behielt den Abstand bei.

Ging Hannah einen Schritt zurück, folgte sie ihr, ging Hannah einen Schritt auf sie zu, trat sie zurück. Sie gab ihr nahbaren Raum und ihre Anwesenheit war von so einer warmen Aura umgeben, dass Hannah die Anspannung der letzten Tage für einen Moment völlig vergaß.

»In Bayern, also Deutschland. Aber das ist eine Weile her«, erklärte Hannah und Wehmut klopfte an ihr Herz, als sie daran dachte.

Elizabeth sah sie schweigend an, ihr Blick hielt Hannah fest. Sie ließ ihre Worte im Raum verweilen, bis sie langsam verklangen. »Was meinst du, trinkst du einen Kaffee mit mir dort drüben bei Joe? Ich wollte ohnehin Mittagspause machen.«

»Das Café dort drüben?« Hannah deutete aus dem Schaufenster und als Elizabeth nickte, lächelte sie. »Wenn die heiße Schokolade dort so himmlisch schmeckt, wie sie duftet, dann nichts wie hin!«

Ein paar Minuten später sog Hannah den Duft der feinen Schokolade in sich auf und betrachtete verträumt das Sahnehäubchen. Wann hatte sie zuletzt in einem Café gesessen? Ohne Hetzerei, ohne Meeting, ohne Zeitdruck? Sie konnte sich kaum daran erinnern. Irgendwie hatte diese Zwangspause doch etwas Gutes.

Das Stimmengemurmel der anderen Gäste war wie Musik in Hannahs Ohren. So oft hatte sie früher einfach nur im Café gesessen, ein gutes Buch in den Händen, während sie immer wieder innegehalten und die Menschen um sie herum beobachtet hatte. Wie viele Ideen für neue Songs hatte sie an diesen Orten bekommen, an denen es vor Menschlichkeit in all ihren Facetten nur so wimmelte? Es war eine Zeit, die vielleicht kurz, aber dennoch von so intensiver Zufriedenheit war, die sie zuvor selten erlebt hatte. Sie war bei sich, so sehr, dass sie endlich spürte, wer sie war und wer sie sein konnte, auch wenn das knapp über dreißig Jahre gedauert hatte. Sie hatte sich nicht gänzlich verloren.

»Woran denkst du?«, unterbrach Elizabeth ihr Gedankenkarussell.

»Alte Erinnerungen«, sagte Hannah sanft und begann, die Sahne von der Schokolade zu löffeln. »Heute habe ich das Gefühl, als hätte ich endlich den Pausenknopf gefunden.«

»Pause wovon?«, hakte Elizabeth nach und nahm einen Schluck ihres Kaffees.