Stadtlichter - Jenny Green - E-Book

Stadtlichter E-Book

Jenny Green

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Beschreibung

In dieser Fortsetzung der Romane "Über den Dächern der Stadt" und "In den Gassen der Stadt" wird die Beziehung zwischen Lisa und Emma auf eine harte Probe gestellt. Nach einem schweren Unfall leidet Lisa an Amnesie und kann sich weder an Emma noch an ihre Liebe zueinander erinnern. Emma gibt ihr Bestes, um Lisa und ihr Gedächtnis zurückzugewinnen, doch Lisa flüchtet schließlich aus Regensburg in die ihr vertraute Umgebung ihrer Kindheit. Die Beziehung zerbricht, beide entfernen sich mehr und mehr voneinander, stürzen sich in neue Abenteuer – eine gemeinsame Zukunft scheint immer aussichtsloser, es sei denn, Lisas Erinnerungen kehrten doch noch eines Tages zurück ...

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Jenny Green

STADTLICHTER

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-245-9

Coverfoto: © iStock.com/Jimmy1984

1

Es war nur ein Hintergrundrauschen, ein dissonanter Ton, der einfach nicht mit der Melodie harmonierte, die für das gemeinsame Leben geschrieben wurde. Die sie für ihr gemeinsames Leben geschrieben hatte. Es war vielmehr ein Herz-Kopf-Tinnitus, der einen bis aufs Mark erschütterte und fassungslos zurückließ.

Wie oft sprechen Menschen von diesem einen besonderen Moment? Der Moment, der alles verändern kann. Ein Moment, in dem ein Blick reicht und die Welt sich zu drehen beginnt. Ein Moment, der ein komplettes Leben umkrempeln kann.

Doch was, wenn der eine Moment, der alles veränderte, nicht der Moment war, der dieses Szenario zeichnete, sondern ein Moment, der ein bodenloses schwarzes Loch öffnete und alles darin verschluckte, von dem man dachte, man würde so etwas wie Sicherheit und Glück darin finden? Ein Moment, der alles zerstörte.

Ohne Vorwarnung.

Wie durch zersplittertes Glas sah Emma verschwommen auf den leblos wirkenden Körper vor ihr, während sie in beiden Händen Lisas warme Hand hielt.

Ihr Körper war überzogen von Schläuchen und ihr Anblick ließ Emmas Welt stillstehen. Sie war wie betäubt vom Schmerz, taub und blind. Hielt die Hilflosigkeit kaum aus, der sie seit Stunden ausgeliefert war.

Seit diesem Anruf, der alles verändert und ihre Welt aus den Fugen gebrochen hatte.

Nur das Piepen der Maschinen erfüllte das Zimmer, in das sie Lisa nach der Operation gebracht hatten. Ein schrilles Piepen, das Emma kaum mehr aushielt.

Immer wieder wischte sie sich Tränen aus den verquollenen Augen. Stundenlang hatte sie auf dem Gang ausgeharrt. Hatte den Minutenzeiger der Uhr verfolgt und war beinahe durchgedreht, weil sie nicht wusste, was hinter den Türen des OP-Saals passierte. Niemand hatte ihr sagen können, wie es Lisa ging, wie schwer ihre Verletzungen waren und was mit ihr passierte.

Als sich die Tür öffnete und der Arzt an das Bett von Lisa trat, nahm Emma dies nur verschwommen wahr. Selbst seine Worte wollten kaum zu ihr durchdringen. Erst als eine Schwester eine Hand auf ihre Schulter legte, blickte Emma endlich auf.

»Frau Kross, Ihre Partnerin hat die Operation gut überstanden. Mein Kollege hat Ihnen ja bereits erklärt, welche Eingriffe wir vornehmen mussten. Jetzt müssen wir jedoch abwarten. Mehr können wir im Moment leider nicht tun. Ich werde immer wieder nach ihr sehen. Wir werden sie die ganze Zeit beobachten.«

»Wann wird sie aufwachen?«, fragte Emma kraftlos und drückte Lisas Hand nur noch fester, als könnte sie so Einfluss darauf nehmen.

»Ihre Partnerin hat schwere Kopfverletzungen und Brüche davongetragen. Wir werden sie noch im künstlichen Koma halten, um nichts zu riskieren. Die Operation war nicht leicht. Wir müssen warten, bis die Schwellung des Gehirns zurückgeht und dann können wir sie langsam aufwachen lassen.« Der Arzt griff nach seiner Brille und nahm sie ab. Dann trat er einen Schritt näher an Emma heran. »Ich weiß, wie schwer dies für Sie sein muss. Aber jetzt im Moment können wir alle nichts anderes tun, außer abwarten und ihr die Zeit geben, die sie braucht. Vielleicht ruhen Sie sich selbst etwas aus? Ich denke, das würde Ihnen auch guttun.«

Emma schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann sie doch jetzt nicht einfach alleinlassen.«

Die Schwester, die Emma kurz zuvor die Hand auf die Schulter gelegt hatte, stand immer noch dicht hinter ihr, als wollte sie ihr Kraft spenden. »Gehen Sie eine Runde, holen Sie sich einen Kaffee. Draußen vor der Intensivstation warten Freunde auf Sie. Frische Luft wird Ihnen guttun und dann kommen Sie zurück. Sie weiß, dass Sie hier sind. Ganz sicher. Haben Sie keine Angst, sie ist hier in guten Händen.«

Emma atmete schwer aus und streichelte sanft über Lisas Schulter. Sie war wie erstarrt, konnte sich kaum bewegen. Wie in Trance stand sie schließlich auf, begleitet von der Schwester, die sie nach draußen brachte. Ein dumpfes Surren war jedoch alles, was Emma vernahm, was sie vollkommen umhüllte. Jeder Schritt, den sie sich von Lisa entfernte, schmerzte nur mehr, da die Hilflosigkeit ins Unermessliche zu wachsen schien.

Als die schwere Tür aufschwang und den Blick freigab auf die Welt außerhalb dieser Hölle, schien Emma jegliche Fassung zu verlieren. Da stürzte jedoch Astrid bereits herbei und fing sie auf, zog sie an sich und hielt Emma fest. Lotta, die hinterhergeeilt war, warf einen ängstlichen Blick auf den Flur der Intensivstation, ehe die Tür ins Schloss fiel und nur sie drei zurückblieben.

Emma spürte Astrids heiße Tränen auf ihrem Hals. Auch Lotta rang um Fassung, was ihr jedoch keinen Augenblick lang gelang.

Erst nach einer Ewigkeit trocknete Astrid ihre Tränen, löste sich aus der Starre und zog Emma zu einer Stuhlreihe, auf die sie sich nebeneinandersetzten.

Wortlos.

Die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Und Angst. Blanke, schonungslose Angst.

»Lisas Mutter und ihr Bruder sind schon auf dem Weg. Sie müssten in spätestens einer Stunde hier sein«, sagte Lotta leise und lehnte den Kopf nach hinten an die Wand.

Emma nickte, war jedoch unfähig irgendetwas zu erwidern. Irgendwann jedoch brach es aus ihr heraus: »Was . . . was, wenn sie es nicht . . .«

»So etwas darfst du gar nicht erst denken«, unterbrach Astrid sie vehement mit aufgerissenen Augen. »Lisa ist tough. Sie wird das durchstehen. Sie wird das ganz sicher schaffen. Und wir müssen an sie glauben.«

Emma vergrub ihr Gesicht in den Händen. Das Schluchzen klang dumpf daraus hervor. »Aber, was wenn nicht? Was soll ich denn ohne sie machen?«

Lotta verknotete ihre Hände ineinander, bis die Knöchel weiß hervortraten. So stark sie sein wollte, aber auch ihr fiel das Sprechen schwer. »Sie hat die OP gut überstanden und sie wird auch alles andere überstehen.«

Emma sah auf und fuhr sich nervös durch die Haare. Hektisch blickte sie sich um. »Ich . . . ich, es tut mir leid, muss wieder zu ihr. Ich kann nicht einfach hier sitzen und sie liegt da so allein.«

Ehe Emma jedoch aufspringen konnte, griff Astrid nach ihrer Hand und zog sie zurück. »Gib mir deinen Wohnungsschlüssel, wir fahren zu dir und holen ein paar Sachen für dich. Und wenn wir zurück sind, gehen wir kurz an die frische Luft und du isst etwas, okay? Wir bleiben ganz in der Nähe, dass du sofort zurück zu Lisa kannst, wenn du das willst. Ich will nicht, dass du mir auch noch zusammenbrichst.«

Den Schlüssel aus der Hosentasche kramend, nickte Emma kaum merklich. Ihre Hände waren schweißnass, als sie Astrid den Schlüssel in die Hand drückte, aufstand und an der Klingel zur Intensivstation läutete. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie durch den ersten kleinen Spalt, den die Tür preisgab.

Sie musste die Übelkeit vehement unterdrücken, die die Angst in ihr verursachte. Bei ihr sein, das war alles, was sie jetzt wollte.

2

»Sie hat die Nacht gut überstanden, das ist doch ein gutes Zeichen!« Lotta saß neben Emma auf einer kleinen Parkbank vor dem Krankenhaus. Die schlaflose Nacht war ihnen beiden deutlich anzumerken.

»Es tut so weh, nichts tun zu können«, seufzte Emma. »Und ich hätte sie nicht allein fahren lassen sollen. Sie hat mich noch gebeten mitzukommen. Aber ich . . . verdammt, warum bin ich nicht mit ihr gekommen?«

Lotta legte einen Arm um Emma und zog sie an sich. »Du hast keine Schuld an dem Ganzen. Rede dir das ja nicht ein. Der Taxifahrer hat sie übersehen.« Lotta hielt für einen kurzen Moment die Luft an und presste die Lippen aufeinander, bis sie weiß wurden. »Dieses Schwein«, presste sie schließlich hervor und schlug mit der Faust auf ihren Oberschenkel, sodass Emma aufschreckte.

»Warum? Warum musste das passieren? Sie wollte doch nur kurz auf den Wochenmarkt.« Emmas Stimme bebte. »Und warum jetzt? Wir waren doch so glücklich, wir haben erst geheiratet.«

Lotta legte eine Hand auf Emmas Oberschenkel und sah sie eindringlich an. »Ihr werdet wieder glücklich, Emma. Weil alles wieder gut werden wird. Wir müssen jetzt stark sein. Für Lisa. Sie braucht uns.«

»Ich weiß«, erwiderte Emma und sah auf. Sah Lotta an, der die Entschlossenheit trotz aller Sorgen ins Gesicht geschrieben stand. »Ich bin so froh, dass ihr hier seid.«

»Wir lassen dich doch nicht allein, wir stehen das alle gemeinsam durch.« Ein kleines Lächeln huschte über Lottas Gesicht. Der erste kleine Lichtblick zwischen den grauen Wolken, die sich über den Tag gestülpt hatten. »So wie wir es immer tun.«

»Ich will nachher kurz nach Hause, sobald Lisas Mama wieder hier ist. Schnell duschen und umziehen. Und ich muss schnell nach Josy sehen. Zum Glück ist meine Nachbarin eingesprungen und hat sie erst mal zu sich genommen.«

»Soll ich dich fahren?«, fragte Lotta und schickte sich an, aufzustehen.

»Das wäre wirklich lieb von dir«, nahm Emma dankend an, stand ebenfalls auf und folgte Lotta den kleinen Weg zurück Richtung Klinikeingang. »Ich frage Ben schnell, ob er auch mitfahren will, wenn das für dich okay ist? Er sitzt schon den ganzen Tag an ihrem Bett.«

»Klar, Astrid kann euch danach sicher wieder zurückfahren. Und ich komme dann abends wieder.«

»Es ist nicht leicht für dich, dass du nicht zu ihr ans Bett darfst, oder?« Emma blieb kurz stehen.

Lottas Schmerz war greifbar. Schließlich war Lisa ihre beste Freundin. Sie kannten sich ewig. Und jetzt durfte sie nicht einmal kurz zu ihr, weil sie kein Familienmitglied war. Obwohl sie all die Jahre wohl mehr Familie für Lisa war als alle anderen.

»Um ehrlich zu sein, es ist das beschissenste Gefühl, das ich je hatte. So habe ich das Gefühl, erst recht nichts für sie tun zu können. Aber sobald sie verlegt wird, werde ich bei ihr sein. Und bis dahin werde ich mein Bestes tun, dich zu unterstützen.«

»Sie weiß, dass du in der Nähe bist«, sagte Emma und ihre Stimme wurde sanft. »Das weiß sie ganz sicher. Ihr habt eine Verbindung, die diese Distanz überbrückt.«

Lotta nickte und atmete tief ein. »Gibst du ihr einen Kuss auf die Stirn von mir?«

»Aber natürlich«, erwiderte Emma und schloss zu Lotta auf, deren Lippen bereits wieder zu zittern begonnen hatten.

»Lauf schnell zu ihr, ich warte hier auf dich. Lass dir ruhig Zeit und dann fahre ich dich nach Hause, okay?«

»Willst du nicht mehr mit rein?«, fragte Emma noch einmal nach, doch sie wusste, dass Lotta gerade nur allein sein wollte.

Diese winkte auch prompt ab und deutete auf das kleine Café am Eck, das draußen seine Stühle in der doch sehr milden Augustsonne aufgestellt hatte. »Ich warte einfach dort auf dich.«

•••

»Hey Ben«, Emma legte eine Hand auf seine Schulter, als sie von hinten an ihn herantrat. Ben saß noch immer vor Lisas Bett, hielt noch immer ihre Hand, genau wie eine Stunde zuvor, als Emma das Zimmer verlassen hatte. Als hätte er sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt.

Er sah müde aus, blass, die Augen gerötet. Immer wieder fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht, um die Müdigkeit abzustreifen.

»Der Arzt war soeben hier«, sagte er leise, den Blick nicht von Lisa abwendend.

Emma zog einen weiteren Stuhl heran und setzte sich neben Ben. »Was hat er gesagt?«

Ben drehte seinen Kopf leicht zu Emma. »Wenn sie diese Nacht weiterhin ohne Komplikationen übersteht, ist das ein Grund aufzuatmen. Er wird nachher noch mal nach ihr sehen. Bisher sieht alles gut aus. Er meinte auch, dass sie dann damit beginnen könnten, sie aufwachen zu lassen. Sofern die Untersuchungen dies natürlich zulassen. Aber das wird sich alles morgen herausstellen.«

Emmas Herzschlag beschleunigte sich. Ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Stunden des Abwartens lagen vor ihnen, Stunden des Bangens und Hoffens, ehe sie vielleicht endlich aufatmen konnten. Stunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen würden.

»Ich wünsche mir nichts sehnlicher«, seufzte Emma. »Ich wünsche es mir so sehr.«

»Sie ist eine Kämpferin, das weißt du doch«, Ben versuchte ein Schmunzeln, versuchte ihnen beiden Mut zu machen, versuchte, die vermaledeite Angst beiseitezuschieben.

»Lotta bringt mich kurz nach Hause. Ich will ein paar frische Sachen einpacken und kurz nach Josy schauen. Willst du mitkommen, sobald deine Mama wieder hier ist?«

Ben sah flüchtig auf seine Armbanduhr. »Ich würde gern kurz duschen, wenn das okay ist«, nickte er dann. »Die Nacht über würde ich dann gern mit dir hierbleiben. Mama soll sich etwas hinlegen, ihr Kreislauf hat vorhin wieder verrückt gespielt. Ich weiß, sie wird sich weigern. Aber wir müssen sie dazu zwingen. Am Ende bricht sie noch zusammen und damit ist keinem geholfen. Sie wird sehr stur sein, aber sie braucht eine Pause.«

Emma nickte. »Astrid kann sie dann nachher sicher mitnehmen, dann muss sie nicht allein mit dem Bus durch die halbe Stadt tingeln.«

»Ihr braucht nicht so tun, als wäre ich alt und tattrig. Ich weiß schon, was ich mir zumuten kann«, erklang es tadelnd hinter Emma und Ben.

»Ähm, Mama, also wirklich, das haben wir doch gar nicht so gemeint«, versuchte sich Ben zu rechtfertigen. Er schien sich ebenfalls wie Emma zu fragen, wie sie geräuschlos ins Zimmer gelangen konnte.

»Doch, genau so habt ihr es gemeint.« Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. »Ihr habt ja recht«, seufzte sie. »Ich würde mich sehr gern heute Nacht etwas hinlegen. Aber sobald nur das Geringste passiert, ruft ihr mich an! Dann nehme ich mir ein Taxi und bin sofort zurück.«

Emma stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Eine lange, innige Umarmung. »Natürlich werden wir das.« Emma wiegte sie sanft hin und her. Sie war selbst froh um die Wärme, den Halt. »Es wird alles gut werden.«

3

»Ben! Ben!« Emma versetzte Ben, der gerade erst im Sitzen eingedöst war, ein paar heftige Schläge gegen den Oberarm. Erschrocken fuhr er auf und wollte gerade schlaftrunken losschimpfen, als er sah, wie aufgebracht Emma auf Lisa deutete. »Ben, war das gerade ein Blinzeln? Ben, schau doch, war das gerade ein Blinzeln?«

Ben musste seinen Körper, der zwischen angespanntem Innehalten und Aktionismus wankte, unter Kontrolle bringen, ehe er mit einem Satz neben Emma ans Bett stürzte und Lisa angespannt ansah.

Für Sekunden, die einer Ewigkeit glichen, geschah nichts. Doch dann – eine winzig kleine, kaum merkbare Bewegung ihrer Augenlider. Kurze Zeit darauf erneut. Dann in immer kürzeren Abständen, ehe Lisa die Augen zum ersten Mal für einen kurzen Moment aufschlug.

Emma hielt den Atem an. Wagte sich kaum, zu bewegen, weil sie befürchtete, das kleine Wunder vor ihr damit zum Erlöschen zu bringen. Ben war der Erste, der es schaffte, einen klaren Gedanken zu fassen. Hastig drückte er den roten Rufknopf neben Lisas Bett.

Hatten die Tage des Wartens endlich ein Ende? Emma wagte es kaum, zu hoffen.

»Lisa?«, flüsterte Emma zaghaft. Und wieder: »Lisa?« Ganz vorsichtig, ganz sanft. So behutsam, um Lisa Geborgenheit zu geben.

Geborgenheit in einer Situation, deren Ausmaß nicht zu messen war.

Gerade in dem Moment, als Lisa erneut die Augen aufschlug, dieses Mal länger, intensiver, öffnete sich die Tür und der Arzt kam schnellen, aber sanften Schrittes herein und trat lächelnd an Lisas Bett.

»Willkommen zurück, Frau Kross!« Seine tiefe, sonore Stimme wirkte beruhigend. Jede seiner Bewegungen war, als würde er sie mit Bedacht wählen. Nichts, was Lisa aufschrecken oder in Panik versetzen konnte. Abgesehen von den Geräten und Schläuchen, die sie umgaben oder ihren Körper überzogen.

Lisas Blick folgte der Stimme des Arztes. Ihre trockenen Lippen blieben regungslos. Sie war noch nicht im Hier und Jetzt angekommen.

Schemenhaft musste die Umwelt um sie herum sein. An manchen Stellen grell und unangenehm. Mit Sicherheit angsteinflößend.

Der Arzt beugte sich zu ihr. »Können Sie diesem Licht hier folgen?«

Eine Art leiser Summton, angestrengt und kaum hörbar kam über Lisas trockene Lippen. Ein schwerer Atemzug folgte. Der Arzt legte seine Hand behutsam auf ihre Schulter. »Sie müssen nicht sprechen. Nicken Sie einfach. Sie brauchen sich nicht anstrengen.«

Lisa sah den Arzt lange an, dann sah sie zurück auf das Licht und nickte zaghaft. Emma hielt während dieser ganzen Prozedur den Atem an. Ben stand ebenso erstarrt neben ihr und drückte ihre Hand, von Minute zu Minute fester.

Der Arzt lächelte, warf einen kontrollierenden Blick auf die Geräte neben Lisas Bett und wandte sich dann wieder an sie. »Im Moment werden Sie alles als anstrengend empfinden. Das Sprechen, jede kleine Bewegung, ja sogar das Wachbleiben. Aber das ist völlig normal. Sie brauchen noch viel Ruhe. Sie hatten einen schweren Radunfall. Aber wir werden alles tun, damit es Ihnen bald bessergeht. Das Schlimmste haben Sie überstanden. Sie haben Menschen um sich, die keine Minute von Ihrer Seite gewichen sind und es sicher auch jetzt nicht tun werden. Sie sind also in jeder Hinsicht in guten Händen.« Nun warf der Arzt auch Emma und Ben einen lächelnden Blick zu. »Ruhen auch Sie sich bitte aus. Alles Weitere können wir getrost später besprechen. Jetzt ist es wichtig, dass Sie Kräfte sammeln, okay?«

Lisa sah sich die ganze Zeit über irritiert im Zimmer um, während der Arzt zu ihr sprach. Doch sie nickte erneut zaghaft. Im selben Augenblick wurden ihre Augenlider erneut schwerer und wenig später war sie wieder in den Schlaf geglitten.

Emma und Ben sahen sie sorgenvoll an. Sie erneut so hilflos vor sich liegen zu sehen, versetzte beiden einen herben Stich. Da trat der Arzt an beide heran und deutete zur Tür. »Kann ich Sie kurz draußen sprechen?«

Immer noch unter Strom folgten die beiden dem Arzt vor die Tür. Der Flur war wie leergefegt. Nur sie drei und eine Angst, die schier greifbar war.

»Frau Kross, Ihre Frau wird einen schweren Weg vor sich haben. Noch können wir nicht sagen, ob und mit welchen Folgebeschwerden sie rechnen muss. Es ist jedenfalls ein gutes Zeichen, dass sie so schnell aufgewacht ist. Aber wie ich bereits ihr gegenüber erwähnt habe, braucht sie absolute Ruhe und vor allem keinerlei Aufregung. Dann erst können wir Schritt für Schritt sehen, wie es ihr geht. Sie wird weiterhin intensiv überwacht, machen Sie sich keine Sorgen. Die Untersuchungen stimmen uns positiv, aber es werden noch weitere folgen müssen. Diese erkläre ich Ihnen natürlich, wenn es so weit ist. Wir lassen sie jetzt noch etwas schlafen und schauen später weiter. Wenn Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Zögern Sie bitte nicht. Und vor allem achten Sie auch auf sich selbst, gönnen Sie sich auch etwas Ruhe. Sie waren die ganze Zeit hier an ihrem Bett und erschöpft und müde können Sie ihr nicht helfen.«

Der Arzt streckte Emma eine Hand entgegen, die sie immer noch völlig überfordert ergriff. »Ich danke Ihnen«, stammelte sie mehr, als dass sie sprach.

Ehe er verschwand, lächelte der Arzt ihr ein letztes Mal aufmunternd zu. Ben atmete hörbar neben ihr aus. Dann legte er einen Arm um Emma, zog sie eng an sich und flüsterte: »Es kann nur noch bergauf gehen. Wir müssen nur fest daran glauben.«

Rasch nahm Emma auf einem der weichen Sessel in der kleinen Warteecke der Station Platz und versank in den riesigen Polstern, als würde sie in einen Watteberg fallen.

Behutsam fuhr sie mit den Fingern über den weichen, geblümten Stoff.

In einer bauchigen Tasse hielt sie mit der anderen Hand die dampfende heiße Schokolade, die Ben ihr aus der Cafeteria organisiert hatte. Sie löffelte die Sahnehaube, die mit feinen Schokoladenstreuseln garniert war, vorsichtig ab und ließ sie sich auf der Zunge zergehen. Die Schokolade knackte leise beim Zerbeißen und sie schmeckte ein leichtes Zartbitteraroma.

Eine bittersüße Auszeit.

Während der Arzt und sein Team weitere Untersuchungen durchführen mussten, waren sie und Ben gezwungen, die Zeit totzuschlagen, bevor sie wieder bei Lisa sein konnten und sie endlich neue Informationen darüber erhalten würden, wie es ihr wirklich ging.

Ben hatte sich daraufhin umgehend auf den Weg gemacht, seine Mutter abzuholen. Emma hingegen wollte in Lisas Nähe bleiben, schlafen konnte sie auch später. Sie hatte sofort Lotta und Astrid angerufen, die mit Sicherheit schon auf dem Weg zu ihr waren.

Emmas Kopf pulsierte, doch der Schmerz hielt sie am Leben. Die Müdigkeit wohnte in jeder Ecke ihres Körpers. Doch irgendwie schaffte sie es doch, weiterhin zu funktionieren. Das Grau der Krankenhauswände jedoch begann langsam und stetig, sie zu erdrücken und bei jedem hastigen Schritt der Krankenschwestern und Ärzten um sich herum zuckte sie zusammen.

Ein weiterer Schluck Schokolade. Eine weitere nur kurz andauernde Auszeit.

Der Geschmack von Leben, der wie sanfter Nebel vorbeizog. Immerhin füllte sie ihren leeren Körper für einen Moment mit Wärme.

Emma ließ sich noch tiefer in den Sessel sinken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Wie gut die Dunkelheit tat.

Die Tasse in ihrer Hand begann schwerer zu werden. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus. Ihr Atem beruhigte sich zusehends. Ihr Kopf fiel langsam zur Seite. Doch kurz bevor die Tasse endgültig aus Emmas Hand gleiten konnte, ließen sie hastige Schritte, die sich ihr näherten und immer lauter wurden, aufschrecken.

Emma schlug die Augen auf und sah, dass Lotta bereits vor ihr kniete, ihr die Hände auf den Schoß legte und sie fragend ansah. Astrid war Lotta gefolgt, stand dicht neben ihr. In ihrem Blick lag Sorge, Sorge um Emma, die wie ein Häufchen Elend aussehen musste.

Aber neben all der Sorge blitzte Hoffnung hervor. Zuversicht. Endlich Zuversicht.

Emma richtete sich auf, stellte die Tasse auf das kleine Tischchen neben sich und legte ihre Hände auf Lottas. Dann musste sie lächeln. Zwar kaum merklich, aber es war da. Der dicke Kloß aus Angst in ihrem Magen schien sich zu lösen. »Sie ist aufgewacht«, flüsterte sie und ihr Atem wurde vor Aufregung schneller. »Die Ärzte sind gerade bei ihr, um sie weiter zu untersuchen, dann wissen wir mehr. Aber das ist doch ein gutes Zeichen! Der Arzt meinte, sie hätte das Schlimmste überstanden.«

Lotta drehte sich zu Astrid und auch ihre Lippen formten ein Lächeln. Ein Lächeln nach all der Zeit, in der die trübsten Gedanken alles beherrschten, was sie taten. Astrid zog zwei Sessel heran, sodass Lotta und sie neben Emma Platz nehmen konnten.

Emmas Worte hingen im Raum und alle drei wussten, dass es in diesem Moment nicht mehr zu sagen gab. Nun galt es, einfach hier zu sein.

4

Emma hielt Lisas Ehering, den sie seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus bei sich trug, in der geballten, angstverschwitzten Faust.

Das Herz schlug ihr eindringlich bis zum Hals, als der Arzt sie bat, in Lisas Zimmer zu kommen. Erst allein, um Lisa nicht zu überfordern.

Emma sah ein letztes Mal zurück. Lotta und Astrid, Arm in Arm, Ben und Lisas Mutter, die sich gegenseitig festhielten. Alle vier sahen ihr nach. Hin- und hergerissen zwischen guter Hoffnung und Enttäuschung, Lisa nicht ebenso gleich sehen zu können. Emma wusste, dass sie genauso litten, wie sie selbst. Dass sie Lisa ebenfalls nah sein wollten und doch hilflos dastehen mussten.

Warten, immer wieder warten. Zermürbend. Angststeigernd.

Emma folgte dem Arzt und der ebenfalls anwesenden Schwester, die Emma die Tür aufhielt und nach ihr wieder leise schloss.

Lisa hatte die Augen geöffnet und starrte an die Zimmerdecke, als Emma neben den Arzt ans Bett trat. Als müsste sie ihn um Erlaubnis bitten, sah Emma ihn fragend an, ehe sie sich auf den Stuhl neben Lisas Bett setzte und nach ihrer Hand griff. Lisa wach zu sehen, brachte zumindest ein kleines bisschen Erleichterung mit sich.

Als Lisa jedoch erschrocken ihre Hand zurückzog, Emma dabei irritiert ansah und sich erst wieder beruhigte, als der Arzt näher an ihr Bett trat, wusste Emma nicht, wie ihr geschah. Als hätte ihr jemand mit voller Wucht in die Magengegend geschlagen, taumelte Emma innerlich. Lisa schien so distanziert, ganz so, als wäre sie immer noch nicht ganz hier. Nicht hier bei ihr.

Weil sie nicht wusste, was sie machen sollte, stand Emma erneut auf. Den Stuhl schob sie dabei mit ihren Kniekehlen quietschend von sich »Wie. . . wie geht es ihr? Was haben die Untersuchungen ergeben?«

»Frau Kross, wir haben . . .«, begann der Arzt, doch ein heftiger Atemzug von Lisa ließ ihn stocken.

Diese sah nun vom Arzt zu Emma und starrte sie einfach nur an, als würde sie sie mit ihren Blicken durchbohren wollen. »Was wollen Sie hier?«

»Sie? Lisa, ich bin es! Emma!« In Emma stieg Panik auf.

Lisa betrachtete sie wie eine Fremde, ihr Blick verriet Abwehr.

»Frau Kross«, begann der Arzt erneut, doch Emma war wie betäubt, vernahm seine Worte nur in Bruchstücken. Regungslos sah sie Lisa an. »Die Brüche und Schnittwunden verheilen gut. Auch die Schwellung im Gehirn ist zurückgegangen. Aber natürlich kann es sein, dass auch eine leichte, noch verbleibende Schwellung Beeinträchtigungen mit sich bringt. Beeinträchtigungen, die aber mit der Zeit verschwinden können.«

»Können?« Emmas Stimme zitterte. »Das heißt, Sie sind sich nicht sicher?«

»Derartige Beeinträchtigungen sind normal, das ist keine Ausnahme. Wir sind wirklich bester Hoffnung. Aber natürlich können wir nicht sagen, wie viel Zeit die Heilung benötigt. Ihre Partnerin braucht weiterhin viel Ruhe, damit die Genesung nicht gefährdet wird.«

»Partnerin? Ich kenne diese Frau nicht. Was will sie hier? Was will eine fremde Frau in meinem Zimmer? Warum erzählen Sie ihr, wie es mir geht?« Lisas Blick verriet Irritation. Und immer häufiger begann sie die Augen fest zusammenzukneifen.

»Lisa, hey, erkennst du mich nicht? Ich bin es, Emma! Wir sind seit Jahren zusammen. Vor wenigen Monaten erst haben wir geheiratet. Warte. Hier!« Hastig fischte Emma den Ehering aus ihrer Hosentasche und hielt ihn Lisa entgegen, doch diese machte keine Anstalten, den Ring an sich zu nehmen.

»Aber ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie noch nie gesehen!« Lisa versuchte, sich in ihrem Bett aufzusetzen, doch sie war noch zu schwach und schaffte es kaum.

Immer größere Panik machte sich in Emma breit. »Sie? Lass doch das Sie!« Emmas Stimme wurde schrill, sodass die nebenstehende Krankenschwester schließlich einschritt und Emma eine Hand auf die Schulter legte, die Emma jedoch im Affekt vehement abschüttelte. »Wir lieben uns Lisa. Du bist meine Frau!«

Je größer Emmas Verzweiflung wurde, desto mehr wandte sich Lisa ab. »Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen, können Sie mich bitte alleinlassen? Können Sie bitte einfach das Zimmer verlassen?«

Der Arzt nickte verständnisvoll. Wahrscheinlich erlebte er eine derartige Situation nicht zum ersten Mal. Wie oft hatte er wohl derlei Momente schon miterlebt?

Mit all seiner Ruhe, die er in diesem Augenblick aufbringen konnte, bat er Emma, zusammen mit ihm das Zimmer zu verlassen. Er zögerte keine Minute, als Lisa ihren Wunsch geäußert hatte.

Emma hatte das Gefühl, innerlich zu zerbrechen. Übelkeit stieg auf, die sie nur mühevoll unterdrücken konnte. Noch einmal versuchte ihr der Arzt zu erklären, dass eine derartige Amnesie sich vollkommen zurückbilden konnte. Geduldig und mit sanfter Stimme, versuchte er, Emma zu beruhigen. Vergebens.

Immer wieder schoss Emma durch den Kopf, was passieren würde, wenn Lisa sich nie wieder an Emma erinnern konnte? Wenn alles, was sie jemals hatten, in einem schwarzen Loch für immer verschwand?

Wie in Trance wandte sich Emma ab, obwohl der Arzt noch immer mit ihr sprach, und sie schwankte den Flur entlang, der unter ihren Füßen zu beben schien.

Als hätte jemand unaufgefordert den Pause-Knopf gedrückt und stattdessen einen schrill piependen Ton angeschaltet, schien alles unaufhaltsam aus den Fugen zu brechen. All die vergangenen Jahre wurden unausweichlich aus ihren doch so perfekt laufenden Bahnen katapultiert.

Sie war immer da gewesen. Immer wenn Emma sie brauchte. Wenn die Tage nicht so gelaufen waren, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert ist. Etwas, das sie zweifeln ließ. Oft an sich selbst zweifeln ließ. Sie war da, wenn sie sich über etwas ärgerte, wenn sie Dampf ablassen musste. Wenn sie einfach nur jemanden zum Reden brauchte. Oder nicht mal zum Reden. Vielleicht einfach nur zum Anlehnen, zum Nahe sein. Sie war immer da, egal was geschah.

Und jetzt? Jetzt geschah etwas mit ihnen, das an Grausamkeit kaum zu überbieten war. Etwas, bei dem sie nicht für Emma da sein konnte. Im Gegenteil. Etwas, bei dem sie Emma nicht einmal in ihrer Nähe haben wollte. Nein, eigentlich etwas, bei dem sie Emma nicht brauchte. Eine Fremde nicht brauchte. Sie einfach nicht mehr kannte. Sie, die ihr in den letzten Jahren am nächsten stand, wurde nun von ihr weggeschleudert, als hätte es das Wir nie gegeben.

Sie war nicht mehr da, um Emma zu sagen, was sie tun sollte. Die Person, die immer die erste war, die sie anrief, wenn etwas Aufwühlendes geschehen war, war weg.

Und plötzlich konnte ihr niemand mehr sagen, was sie tun sollte.

»Emma?« Die Stimme von Lisas Mutter drang leise zu Emma durch, als sie gedankenverloren in der Kantine des Krankenhauses saß und in ihrer Suppe rührte.

»Hanni, wie geht es ihr?« In jedem Wort, das über Emmas Lippen kam, schwang Traurigkeit mit.

Traurigkeit, hier sitzen zu müssen und sich nutzlos und abgelehnt zu fühlen.

»Ganz gut. So gut, dass sie endlich auf die normale Station verlegt werden konnte. Sie haben sie gerade nach oben gebracht.«

»Ganz gut«, seufzte Emma und sah hinaus in den wolkenverhangenen Himmel.

Hanni strich liebevoll über Emmas Arm. »Ich weiß, wie schwer das gerade alles für dich sein muss. Aber der Arzt sagt . . .«

Emma hob eine Hand und winkte ab. »Ich weiß, was der Arzt gesagt hat. Aber er ist nicht Gott.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Hanni, »aber du darfst jetzt nicht aufgeben.«

»Nicht aufgeben?« Emmas Ton klang schärfer als beabsichtigt. »Gerade kann ich einfach gar nichts tun.«

»Lotta und Astrid sind gerade bei Lisa. Sie kann sich an Lotta erinnern, Astrid war ihr völlig fremd. Offenbar fehlen ihr genau die Jahre, in denen sie euch kennengelernt hat. Es hilft ihr gerade sehr, dass sie neben mir und Ben auch Lotta an ihrer Seite hat.«

Emma sog die Luft scharf ein. Ihre Augen wurden glasig.

Hanni rückte sofort ein Stück näher und nahm Emma in den Arm. »Das, was ihr hattet und immer noch habt, ist etwas Besonderes. Es wird ganz sicher zurückkommen. Tief in ihr ist alles noch vorhanden. Vielleicht braucht sie einfach nur Stützen, die ihr dabei helfen, langsam die Erinnerungen zurückzuholen.«

»Stützen?«, schluchzte Emma und wischte die hervorquellenden Tränen beiseite. »Welche Stützen denn?«

»Ich bin kein Arzt, ich bin nur eine Mutter und verlasse mich auf mein Gefühl. Aber vielleicht hilft es ihr, vertraute Dinge zu sehen. Oder schon bald die vertraute Umgebung wieder zu haben.«

»Du meinst, es hilft ihr, zu Hause zu sein? Aber sie sieht mich als völlig Fremde an, denkst du wirklich, sie fühlt sich dabei sicher, bei einer völlig Fremden zu sein? Bei einer völlig Fremden zu wohnen? Ich weiß gerade nicht, wie das funktionieren soll.«

»Du bist keine völlig Fremde. Geh später noch einmal zu ihr. Rede mit ihr. Erkläre ihr in Ruhe, wer du bist und erzähle ihr von eurem gemeinsamen Leben. Ich habe ihr das Gleiche gesagt. Und warum sollte ihre Mutter sie anlügen?«

»Ich weiß nicht, ob das etwas nützt.« Emma vergrub überfordert das Gesicht in ihren Händen, während Hanni sanft über ihren Rücken streichelte.

»Ich weiß es auch nicht«, gab Lisas Mutter zu. »Aber was bleibt uns Liebes? Was bleibt uns? Wir müssen ihr die Sicherheit geben, dass sie bei uns allen gut aufgehoben ist, dass wir diejenigen sind, die ihr immer am nächsten standen. Dass sie nichts zu befürchten hat.«

5

»Darf ich?« Emma hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und steckte den Kopf ins Zimmer.

Die Vorhänge waren mittlerweile zur Seite geschoben, sodass das noch schwache Sonnenlicht des Tages sich seinen Weg ins Zimmer bahnen konnte.

Der Fernseher lief sehr leise im Hintergrund und die Reste des Abendessens lagen auf dem Tablett, das auf dem kleinen Tisch in der Ecke des Raumes stand.

Lisa hatte die Kopfstütze ihres Bettes hochgestellt und saß fast aufrecht in ihrem Bett. Als sie Emma sah, deutete sie mit einer leichten Handbewegung an, dass sie eintreten sollte.

Die Müdigkeit, die Emma mit sich trug, nachdem sie die halbe Nacht zu Hause im Bett gelegen war, ohne ein Auge zutun zu können, war in diesem Moment wie weggefegt.

Etwas unentschlossen stand sie am Fußende von Lisas Bett. Lisas Gesichtszüge waren weit weniger hart und abwehrend als beim letzten Mal.

»Wie geht es dir?«, fragte Emma zaghaft. Mit den Händen hielt sie sich am Bettende fest. Der Boden unter ihr schien zu wanken.

Lisa richtete sich noch ein Stück weit mehr auf, ehe sie antwortete: »Die Kopfschmerzen sind etwas besser geworden. An sich fühle ich mich heute ganz gut, na ja, bis auf . . . du weißt schon.«

Emma nickte und sah zu Boden. Sah auf ihre Schuhe, den immer noch wankenden Boden unter ihr und holte tief Luft. »Es muss dir Angst machen«, sagte sie dann leise und sah verstohlen wieder auf, suchte Lisas Blick, die aber mittlerweile aus dem Fenster sah.

Eine fast unerträgliche kleine Ewigkeit des Schweigens folgte, dann nickte Lisa. »Plötzlich stehst du da und behauptest, du bist meine Frau. Und ich versuche, mich zu erinnern, aber da ist nichts, nichts, das mir einen Anhaltspunkt darauf gibt, dass es wirklich so ist.«

Emma schluckte schwer.

»Offensichtlich weiß ich nichts mehr aus den letzten Jahren. Ich habe meine Mutter erkannt und Ben und Lotta. Aber sie haben sich verändert, sie wirken anders, als in meinen Erinnerungen. Älter und reifer. Vor allem meine Mutter wirkt älter. Nichts, das irgendwie mit den Erinnerungen vereinbar ist, die ich habe.«

Lisas Worte kamen immer stockender. Am liebsten hätte Emma sie auf der Stelle in den Arm genommen. Was wahrscheinlich genau die gegenteilige Reaktion dessen ausgelöst hätte, was sie sich dabei erhofft hätte. Also blieb sie einfach nur stehen.

»Ich fühle mich total hilflos«, murmelte Emma kaum hörbar, doch die Worte ließen Lisa aufblicken.

»Ich würde dir so gern glauben«, entgegnete sie, »aber du musst mich verstehen. Du stehst da, behauptest, wir zwei wären verheiratet, wir leben in einer Wohnung in der Stadt, mit Hund und allem Drum und Dran und dabei sehe ich dich an und kenne dich nicht.«

Wieder stiegen Tränen in Emmas Augen auf. Sie konnte sie kaum zurückhalten. »Kann ich dir irgendwie beweisen, dass meine Worte wahr sind? Dass uns etwas verbindet. Etwas, an das du dich gerade nicht erinnerst, aber dich hoffentlich bald wieder erinnern wirst?«

Lisa hielt einen kurzen Moment inne, dann sprach sie: »Du wolltest mir letztens einen Ring zeigen. War das unser Ehering?«

Jetzt endlich konnte Emma sich aus ihrer Starre lösen, bückte sich nach ihrer Tasche und kramte darin, bis sie ihr Portemonnaie und den darin aufbewahrten Ring fand.

Mit leicht zittrigen Fingern reichte sie ihn Lisa, die ihn zwischen ihren Fingern drehte und wendete und schließlich innehielt, als sie die Gravur in der Innenseite des Ringes entdeckte.

Immer – E&L – 30.03.16

»Welches Datum haben wir heute?«

»Heute ist der dreizehnte August«, erwiderte Emma.

»Das heißt, wir haben gerade einmal vor wenigen Monaten geheiratet?«, versicherte sich Lisa ohne den Blick vom Ring abzuwenden.

»Ja, haben wir. Es war eine kleine Feier, nur Familie und enge Freunde.«

»Also unsere Eltern, Lotta, ihre Freundin?«

»Deine Mama war da. Meine Eltern sind tot«, sagte Emma leise und versuchte den Stich zu ignorieren, der ihr wie ein Blitz durch den Körper jagte.

Lisas Blick verriet Entsetzen. »Das tut mir leid, ich wusste nicht . . .«

Emma unterbrach sie hastig: »Schon gut, du, ach . . . egal, lassen wir das.«

Erneutes Schweigen legte sich über die beiden. Die Luft war zum Zerreißen gespannt.

»Darf ich ihn behalten?«

»Es ist deiner«, antwortete Emma. »Natürlich.«

»Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, wie hart es für dich sein muss«, sagte Lisa, als sie den Ring anlegte. Emma sah ihr gebannt dabei zu.

Lisa den Ehering tragen zu sehen, obwohl diese sich nicht einmal an die Hochzeit erinnern konnte, war ein komisches Gefühl.

»Wenn du magst, bringe ich dir Fotos der Hochzeit und aus den letzten Jahren mit?«

Lisa nickte und versuchte ein kleines Lächeln. »Warum eigentlich nicht. Es wäre schön, zu sehen, welches Leben ich führe.«

»Okay«, Emma lächelte erleichtert. Dass Lisa ihre Idee nicht als schwachsinnig ansah und somit einen kleinen Schritt auf Emma zuging, war ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Ein Hoffnungsschimmer in einem breiten Feld aus grauem Beton, aber etwas, an dem sie sich endlich festhalten konnte. Etwas, das sie endlich zum Handeln brachte, etwas, das sie nicht einfach nur warten ließ. Nun hatte sie eine Aufgabe. Auch wenn die Ungewissheit alles beherrschte, war dies doch ein Schritt zurück auf den Weg, von dem sie geschleudert wurden.

»Ich will dich gar nicht rauswerfen oder so. Aber ich brauche etwas Ruhe. Ich hoffe, das ist okay für dich?« Lisa griff nach der Decke, die am Fußende lag und zog sie über ihre Beine, dann ließ sie sich zurück aufs Bett fallen und fuhr sich durch die Haare. Sie sah wirklich matt aus.

»Soll ich morgen wiederkommen?«, fragte Emma unsicher, als sie ihre Tasche umhängte.

Ein kleines Lächeln huschte über Lisas Gesicht. Nur kurz, kaum merklich, aber es war da. »Gern.«

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