Die Kinder aus dem Waisenhaus - Rosa Lindberg - E-Book

Die Kinder aus dem Waisenhaus E-Book

Rosa Lindberg

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Jan sah den rasanten Sportwagen gleich, als er mit seinem Rennrad um die Ecke kam. Das war ein Auto! Einen anerkennenden Pfiff ausstoßend, bremste er genau neben der Wagentür, legte, ohne den Blick von dem Auto zu wenden, das Rad vorsichtig auf den Boden und begann, neugierig um den Wagen herumzugehen. Alle Wetter! Er blickte zum Haus. Ob das vielleicht Besuch bei Mami oder Omi-Pia war? Mensch! Das wäre ja… Er hob das Fahrrad auf, schob es zur Tür, stellte es vorschriftsmäßig ab und nahm seinen Schulranzen vom Gepäckträger. Im selben Moment ging die Haustür auf. Omi-Pia und ein fremder Mann, der unheimlich braungebrannt war, kamen heraus. Omi-Pia sah ernst aus, der Mann nicht so sehr. »Ich hoffe«, sagte Omi-Pia mit Nachdruck, »du hast mich verstanden! Mach nichts kaputt, Berthold! Ich bitte dich darum!« »Hallo!« rief Jan. Der Mann sah ihn an, schnell, scharf und sehr aufmerksam. »Hallo«, gab er zurück, »du bist Jan, wie?«

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Mami Bestseller – 30–

Die Kinder aus dem Waisenhaus

...müssen nicht mehr einsam sein

Rosa Lindberg

Jan sah den rasanten Sportwagen gleich, als er mit seinem Rennrad um die Ecke kam. Das war ein Auto! Einen anerkennenden Pfiff ausstoßend, bremste er genau neben der Wagentür, legte, ohne den Blick von dem Auto zu wenden, das Rad vorsichtig auf den Boden und begann, neugierig um den Wagen herumzugehen.

Alle Wetter!

Er blickte zum Haus. Ob das vielleicht Besuch bei Mami oder Omi-Pia war? Mensch! Das wäre ja… Er hob das Fahrrad auf, schob es zur Tür, stellte es vorschriftsmäßig ab und nahm seinen Schulranzen vom Gepäckträger.

Im selben Moment ging die Haustür auf. Omi-Pia und ein fremder Mann, der unheimlich braungebrannt war, kamen heraus. Omi-Pia sah ernst aus, der Mann nicht so sehr.

»Ich hoffe«, sagte Omi-Pia mit Nachdruck, »du hast mich verstanden! Mach nichts kaputt, Berthold! Ich bitte dich darum!«

»Hallo!« rief Jan.

Der Mann sah ihn an, schnell, scharf und sehr aufmerksam.

»Hallo«, gab er zurück, »du bist Jan, wie?«

»Geh sofort hinein, wir essen gleich!« befahl Omi-Pia, noch ehe Jan überhaupt einen Satz anbringen konnte. Trotzdem erwiderte er, während er provozierend langsam ins Haus ging, damit sie sah, daß er beleidigt war:

»Ja, das bin ich. Guten Tag.«

»Geh schon!« kommandierte Omi­Pia in einem Ton, den Jan von ihr noch nie gehört hatte. Der Mann blickte ihn immer noch an. Jan ging weiter.

»Er sieht aus wie Brigitte«, hörte er den Mann sagen. Dann machte Omi-Pia die Tür zu, und er hörte zwar noch die Stimmen, konnte aber leider nichts mehr verstehen.

Jetzt würde er sich erstmal bei Mami beschweren! Er war doch kein kleines Kind mehr, das man einfach so wegschickte. Schließlich war er elf, Pennäler seit kurzem!

»Mami?«

Das Haus war still, und es roch auch überhaupt kein bißchen nach Essen wie sonst, wenn er aus der Schule kam.

»Mami?« rief er noch einmal und begann, durch die Zimmer zu gehen.

Nichts. Mami war nicht da.

Dafür kam Omi-Pia zurück. Jan machte ein unnahbares Gesicht, doch Omi-Pia bemerkte das überhaupt nicht. Sie ging mit raschen kurzen Schritten ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. Richtig fallen. Eine Weile sah er sie an, wie sie da, den Kopf müde zurückgelehnt, die Arme auf beide Lehnen gelegt, mit geschlossenen Augen saß. Sein Zorn gegen sie verflog.

»Omi-Pia?«

Sie schlug die Augen auf, und er ging zu ihr. »Mein Schatz«, sagte sie leise und sehr, sehr zärtlich, und Jan verstand die Welt nicht mehr. Vorhin dieses Anraunzen, und jetzt…

»Ist Mami nicht da?«

»Nein. Sie ist mit Ulli in die Stadt gefahren«, erwiderte sie leise.

»Hm«

Omi-Pia begann, sein Haar zu streicheln. Richtig lange zu streicheln. Er hielt vor lauter Verblüffung ganz still. Denn das war etwas, was sie nie tat. Klar, manchmal fuhr sie ihm durch die Locken, so richtig liebevoll-kräftig. Aber streicheln!

Und dann so lange… Jan bewegte den Kopf, doch Omi-Pia streichelte weiter.

»Bist du krank?« fragte er endlich, als sie überhaupt kein Ende fand.

»Nein«, das Streicheln hörte auf, und sie erhob sich, »wie kommst du darauf?«

»Weil du so blaß bist.«

»Ich bin eine alte Frau, mein Herz!«

»Das warst du heute morgen auch schon, und da warst du nicht blaß.«

»Das Wetter…«

Sie ging hinaus, betrat die Küche, band sich eine Schürze um. Er hatte richtig getippt! Überhaupt kein Essen fertig!

»Wer war das?« fragte er, weil ihm der tolle Wagen wieder einfiel.

»Wer?«

»Der Mann eben.«

Jan schlenderte an den Küchenschränken vorbei, nahm im Vorübergehen eine Mandarine aus dem Korb und ein Stück Schokolade aus der Schale.

»Ach, der… Das war ein Bekannter von mir. Von – von früher.«

Jan schob die Schokolade in den Mund, pellte die Mandarine. Der intensive Duft der Frucht verbreitete sich in der Küche. Jan liebte diesen Duft. »Tolles Auto war das!«

»Ach ja? War es das?«

Mami hatte schon wenig Ahnung von Autos, aber Omi-Pia hatte – Gott sei’s geklagt! – überhaupt keine Ahnung!

»Na und ob! Der macht bestimmt seine zweihundertvierzig Sachen!«

Omi-Pia gab keine Antwort, sie hantierte eilig und, wie es Jan vorkam, nervös in der Küche. Vielleicht war sie doch krank! Der Gedanke machte ihm Angst, denn er liebte Omi-Pia sehr.

»Ich hab’ eigentlich überhaupt keinen Hunger, Omi-Pia«, behauptete er entgegenkommend.

Sie drehte sich um, immer noch war sie blaß, und sie sah so müde aus.

»Wirklich nicht?«

»Ehrenwort!«

»Dann könnten wir ja warten, bis Mami zurück ist, nicht wahr?«

»Na klar!«

»Fein. Weißt du – mir ist nicht ganz wohl, ich würde mich gern ein wenig hinlegen.«

»Kannst du ruhig machen! Ich wollte sowieso sofort mit meinen Schularbeiten anfangen, weil ich mich heute nachmittag mit Björn verabredet habe. Zum Tennisspielen, du weißt schon…«

Er sah ihr nach, wie sie langsam die Treppen hochstieg. Sein schmaler Brustkasten dehnte sich. Hoffentlich, dachte er, hoffentlich ist sie nicht wirklich krank!

Dann widmetet er sich seinen Schulaufgaben.

*

Brigitte Hollmann und ihre Tochter Ulrike, Ulli gerufen, machten Einkäufe.

Ulli wuchs im Augenblick dermaßen schnell, daß alle acht Wochen irgend etwas, das zu kurz oder zu klein geworden war, durch neue Sachen ersetzt werden mußte.

Brigitte klemmte das Paket mit den Schuhen unter den Arm, nahm alle Tragetaschen in die linke Hand und suchte nach ihrem Einkaufszettel. Ulli stand neben ihr und leckte ihr Eis.

»Schuhe, T-Shirts, Söckchen,

Jeans«, murmelte sie, »das hätten wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Töffler zu kaufen. Oder möchtest du diesmal lieber Sandalen haben?«

Ulli schüttelte energisch den Kopf.

Sandalen! Töffler wollte Ulli haben, obwohl sie ständig damit umknickte und sie außerdem mehr in den Händen als an den Füßen hatte.

»Töffler«, sagte sie, ohne ihr Eislecken zu unterbrechen.

»In Sandalen«, versuchte Brigitte ihr die Anschaffung schmackhaft zu machen, »könntest du aber viel besser rennen!«

»Ich will nicht rennen!«

Ulli schickte ein schmelzendes Lächeln in die Höhe zu Mami.

»Gestern wolltest du aber noch…«

Ulli lächelte tiefer, weil ihre Zunge Erdbeereis-Geschmack unter der Vanille-Schicht erahnte. »Ja, gestern«, antwortete sie gedehnt.

Brigitte mußte lachen. Ulli in ihrer Beharrlichkeit brachte sie oft zum Lachen – und zum Nachgeben!

»Na gut. Dann laß uns weitergehen.«

Sie warf noch rasch einen Blick auf die Uhr. Gleich Mittag…

»Weißt du was? Wenn wir die Töffler gekauft haben, gehen wir zu Papi ins Büro. Vielleicht lädt er uns in der Kantine zum Essen ein. Wär’ das was?«

Essen war für Ulli immer etwas. Aber im Verwaltungsgebäude von Papis Firma in der Kantine essen, war etwas ganz Besonderes!

Ulli strahlte die Mutter begeistert an.

»Wär’ sogar Klasse!«

Die Töffler waren schnell gekauft. Im Gegensatz zu Jan, hatte Ulli einen ausgeprägten Geschmack und wußte immer ganz genau, was sie wollte. Diesmal wollte sie knallgelbe Lack­töff­ler mit einem feuerroten Paar Kirschen darauf. Sie wollte sie sofort anbehalten. Aber Brigitte schüttelte den Kopf, und Ulli fügte sich. Die Aussicht auf Essen machte sie immer friedlich.

Sie brachten die Pakete in Brigittes Volkswagen unter und gingen die paar Schritte bis zur Firma Hollmann zu Fuß.

Der Portier kannte sie, sie kamen häufig auf einen Sprung hierher, und er rief Fräulein Westphal, Peter Hollmanns Sekretärin an, während Brigitte mit Ulli im Aufzug in die zweite Etage fuhren. Immer noch, nach all den Jahren ihrer so glücklichen Ehe, wurde es Brigitte warm ums Herz, wenn sie in Peters Büro kamen und er aufblickte. Ernst erst, lächelnd dann und Freude über ihr überraschendes Kommen in den Augenwinkeln. So wie jetzt.

»Das nenne ich eine freudige Überraschung, Familie! Wo habt ihr denn den Herrn Sohn gelassen?« fragte er und erhob sich. Ulli sprang Peter an, als er um den riesigen Schreibtisch herumkam.

»Jan hat doch Schule!«

»Ah ja! Wie konnte ich das bloß vergessen!« erwiderte er mit gespielter Empörung. Mit Ulli auf dem Arm küßte er Brigitte lächelnd auf den Mund. Den Bruchteil einer Sekunde schlossen sie beide die Augen. Ihre Küsse, kleine, große, schnelle und ausgiebige, hatten nichts von ihrer Innigkeit verloren. Nichts! In all den Jahren!

»Wir haben einen Überfall vor!«

Brigitte lehnte sich gegen ihn. Ganz leicht, ganz sacht nur, und doch war es, als wäre sie in seinen Armen. Wir sind uns so sehr zugetan, durchfuhr es sie, daß es nie enden wird! Wie kam sie nur darauf? Enden… Sie wußten es doch. Ohne Worte wußten sie es, daß es nie enden würde. Beide wußten sie es.

»Aha! Laßt mich raten!«

Ulli wippte auf Papis Armen.

»Aber nur dreimal!«

»Okay! Also, ihr braucht noch ein bißchen Geld für Eis oder so!«

Ulli schüttelte sich vor Vergnügen.

»Eis hatte ich schon!«

»Soso. Dann weiter: Ihr – ihr habt das Auto kaputtgefahren und wollt jetzt meins nehmen!«

Ulli kicherte, und Brigitte sah mit stillen Augen auf Vater und Tochter. Ihr Mann, ihr Kind…, ihre Kinder! Die Liebe zwischen ihnen allen war so spürbar, als wäre sie eine farbige Wolke, die sie ständig umgab.

»Falsch! Falsch!«

»Ich glaube, ich rate es nie!« stöhnte Peter verzweifelt, und weidete sich an dem lebhaften, eifrigen Gesicht seiner Tochter. Er entdeckte beinahe täglich neue Ähnlichkeiten mit sich an ihr, wie er ebenso häufig Ähnlichkeiten an Jan mit Brigitte feststellte.

»Versuch’s doch noch mal, bitte bitte!«

Sie klatschte ihre Patschhände gegeneinander, die weich aussahen und babyhaft, aber hart und schnell sein konnten wie Dreschflegel. In dem Kindergarten, den sie seit zwei Jahren besuchte, konnten eine ganze Reihe Kinder ein Lied davon singen.

Peter machte ein Gesicht, als dächte er angestrengt nach. Dann musterte er kritisch Ullis Gesicht. »Du siehst hungrig aus«, stellte er fest, »und vielleicht wollt ihr, daß ich euch zum Essen einlade! Habe ich recht?«

»Richtig! Richtig! Aber sofort. Ich habe nämlich wirklich Hunger!«

Ulli zappelte auf seinem Arm.

»Wann mal nicht!« meinte Brigitte leise, doch Ulli hörte solche Sätze grundsätzlich nicht. Wozu!? Sie wären glatt imstande, ihr ihren gesegneten Appetit zu rauben. Und das wäre das Schlimmste, was Ulli passieren konnte.

»Also gut«, Peter warf einen Blick zurück auf seinen Schreibtisch, »in fünf Minuten. Ich muß nur noch ein paar Sachen unterschreiben.«

Brigitte setzte sich auf die niedrige Fensterbank und schaute zu ihrem Mann hinüber.

»Ich geh’ solange zu Fräulein Westphal«, beschloß Ulli und wanderte schon hinaus.

Peter, Brigitte zulächelnd, setzte sich an den Schreibtisch. Im selben Moment, dachte Brigitte liebevoll, ist er mir entglitten. Sie sah seinen geneigten Kopf an, mit dem festen Haar, wie es auch Ulli hatte. Ihr Blick wanderte zärtlich über sein fast strenges, markantes Profil zu seinen Händen. Es gibt nichts, dachte sie und fühlte, wie immer in Peters Nähe, Wohlbehagen in allen Fasern ihres Körpers, was ich an ihm nicht mag. Ich mag sogar die Art, wie er sich konzentriert. Sie lächelte.

Brigitte drehte den Kopf und blickte hinunter auf die Straße und auf den Firmenparkplatz, der mit den bunten, akkurat geparkten Autos aussah wie Jans oberes Regalfach mit all seinen Spielzeug-Autos.

Ein Wagen fuhr langsam durch die Reihen, eine Parklücke suchend. Aber es war alles besetzt. Es war ein schnittiges Auto und blieb jetzt auf dem Platz stehen. Die Tür wurde aufgestoßen, ein Mann stieg aus, überblickte, stehend und die Hand auf der geöffneten Wagentür, den Platz, zuckte die Achseln und stieg wieder ein. Der Wagen fuhr ab, ordnete sich wieder in den Verkehr ein und war verschwunden. Brigittes Stirn krauste sich. Er war ihr irgendwie bekannt vorgekommen, der Mann. Sie dachte angestrengt nach und suchte in den Fächern ihres Gedächtnisses, an wen er sie erinnerte.

»Fertig!« sagte Peter, klappte die Mappe zu und stand auf. Er schob seinen Arm durch Brigittes, und so gingen sie hinaus. Im Vorbeigehen legte er die Mappe zu Fräulein Westphal auf den Tisch, die sich gerade ausschütten wollte vor Lachen über eine ulkige Bemerkung von Ulli.

»Wir sind in der Kantine«, sagte er, »waren Sie schon zu Tisch?«

Fräulein Westphal lächelte ihren Chef an. Es war ein vertrauliches, verbundenes Lächeln, entstanden in acht Jahren fabelhafter Zusammenarbeit. »Ich hab’ heute meinen Obsttag, Chef!«

»Wie kann man nur!« Peter lächelte zurück, Brigitte und Ulli verabschiedeten sich.

»Ach, bitte!« An der Tür blieb Brigitte stehen, wandte sich zu Fräulein Westphal um. »Würden Sie so lieb sein und für mich zu Hause anrufen und Bescheid sagen, daß wir hier essen und eine Stunde später nach Hause kommen?«

»Aber gern, Frau Hollmann! Mach’ ich sofort«, antwortete sie freundlich. Und noch während des Sprechens wählte Fräulein Westphal die Nummer.

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

Draußen meinte Brigitte, daß Fräulein Westphal eine Perle sei.

»Richtig«, bestätigte Peter, »aber leider nicht mehr lange.«

»Warum nicht?«

Sie schlenderten, Peter und Brigitte Arm in Arm, Ulli an Peters Hand, tänzelnd vor Vorfreude auf das Mahl, durch die Gänge des Bürohauses, als gingen sie durch einen Kurpark. Peter machte keinen Hehl daraus, daß er glücklich ist. Zu Anfang hatte man die ›Zur-Schau-Stellung‹ seiner Zufriedenheit und seines familiären Glücks im Hause belächelt. Jetzt nicht mehr.

»Die Unglückliche will doch tatsächlich heiraten! Das stelle man sich vor!«

»Ach! Das freut mich aber für sie!«

Peter warf ihr einen verschmitzten Blick zu.

»An mich denkst du dabei gar nicht, wie?«

»Nein. Ausnahmsweise nicht. Weil Sekretärinnen zu ersetzen sind, liebende Ehefrauen aber nicht.« Sie blickte ihn schräg von unten herauf an, und er sah die Zartheit ihrer Schläfen unter dem locker wippenden, vollen Haar.

»Sich mich an!«

Er lachte. Er hatte es gern, wenn sie auf die Vergangenheit anspielte. Richtig, sie hatte in der Firma gearbeitet, aber nicht lange, denn er hatte sie vom Fleck weg geheiratet. Es hatte »gefunkt« zwischen ihnen, in der ersten Minute. Und es hatte nie aufgehört. Es funkte immer noch.

»Ausnahmen«, näselte er gutgelaunt, »bestätigen die Regel lediglich!«

Sie grüßten in verschiedene Richtungen, als sie zu dem Tisch gingen, den Fräulein Westphal hellseherisch sofort nach Brigittes Erscheinen hatte reservieren lassen. Es war voll in der Kantine, die Brigitte damals noch mit eingerichtet hatte. Sie hatte nordisches Mobiliar gewählt, mit Trennstäben in Teakholz, die von Grünpflanzen umrandet wurden und so eine intime Atmosphäre schufen. Man hatte, wo man auch saß, das Gefühl, in einer Nische zu sitzen. Genau den Effekt hatte sie erreichen wollen. Und das, wie Peter damals gesagt hatte: mit sparsamsten Mitteln.

Die Bedienung brachte die Karte. Es gab täglich vier Gerichte zur Auswahl, und die Kantine war im Laufe der Jahre ein beliebter Mittelpunkt des Hauses geworden.

»Was ist denn heute besonders gut?« fragte Peter und wurde von Ulli unterbrochen:

»Was gibt es denn überhaupt, Papi?«

»Wir melden uns wieder«, sagte Peter erst zu dem bedienenden Mädchen, denn an den meisten Tischen wartete man noch auf das Essen. Und wie er seine Tochter kannte, würde die Qual der Wahl eine Weile dauern.

»Wirsingrouladen mit Salzkartoffeln und…«

Ullis Augen wurden groß.

»Keine Suppe!?«

»Natürlich Suppe! Suppe und Nachtisch bei allen Gerichten gleich.«

»Ach so. Und was noch?«

Wirsingrouladen waren nicht Ullis Fall. Zu wenig richtiges Fleisch.

»Spaghetti mit Sugo ala Milanese, dazu grüner Salat…«

»Ist das mit Fleisch?«

»Nicht direkt.«

»Dann weiter.«

»Bitte sehr, gnädiges Fräulein! Also: Wiener Schnitzel mit Röstkartoffeln und Salat. Und als viertes und letztes: Hirschragout mit Preißelbeeren und Spätzle. Das werde ich nehmen.«

»Und ich Wiener Schnitzel!« rief Ulli.

Brigitte entschied sich für die Wirsingrouladen, die es zu Hause so selten gab, weil Omi-Pia den Kohlgeruch beim Kochen unausstehlich fand. Und was Omi-Pia unausstehlich fand, gab es nicht, denn die Küche war ihr Ressort.

Peter winkte, gab die Bestellung auf, und Ulli bemerkte laut und vernehmlich: »Hoffentlich dauert es nicht so lange, ich bin nämlich schon fast verhungert…«

»O Gott!« entfuhr es Brigitte, und man wußte nicht, ob sie den Sinn der Bemerkung oder ihre Formulierung meinte.

Die Bedienung war ein fröhliches, weizenblondes, rotbäckiges junges Mädchen aus Niederbayern, das hier arbeitete, um ihren studierenden Verlobten zu unterstützen.

»Schon recht!« sagte sie, »Dein Essen kommt zuerst, wenn’s der Papa erlaubt!«

Peter hob beide Hände, ließ sie resignierend wieder flach auf die Tischplatte fallen.

»Was soll ich machen? – Ich erlaube!«

Zwei Minuten später kam die Suppe.

»Ist ja sofort für alle!« brummelte Ulli, sich bereits die Serviette in den Ausschnitt stopfend. »Das Hauptgericht meinte ich, Fräulein!«

»Ach so…«

»Guten Appetit allerseits.«

Und dann war Schweigen am Tisch, weil eine Hollmannsche Familientradition besagte: Suppe muß heiß gegessen werden. Eine Tradition, die Ullis natürlicher Auffassung vom Essen sehr entgegenkam. Und ihr Schnitzel kam dann tatsächlich, als sie noch beim vorletzten Löffel Suppe war.

»Sie sind nett!« sagte sie freudig, denn das Schnitzel war besonders groß, und vielleicht hatte das nette junge Mädchen das extra für sie veranlaßt. Ulli wußte bereits in ihrem zarten Alter von noch nicht sechs Jahren um den nichtbezahlbaren Wert lobender Worte.

»Du auch, Mädle!«

Damit war sie schon wieder an der Ausgabe und ging mit einem großen Tablett zum nächsten Tisch. Brigitte betrachtete das Schnitzel.

»Soll ich dir’s klein schneiden?«

»Nein! Ich kann allein…«

Und wenn sie was konnte, dann war es Fleisch schneiden!

»Gut, gut! War nur eine Frage.«