Mami 1806 – Familienroman - Rosa Lindberg - E-Book

Mami 1806 – Familienroman E-Book

Rosa Lindberg

0,0

Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Annette hatte die Vorhänge aufgezogen, aber kein Stern drang durch die grauschwarze Wolkendecke. Es war kalt. Sie ging zurück zum Bett, rückte mit angewinkelten Knien an die Wand und raffte die Decke bis zu den Schultern hoch. "Er kann sich nicht scheiden lassen", hatte Katharina gesagt, und ihre kakaobraunen Augen waren beinahe schwarz geworden vor Kummer um die Freundin. "Aber Niklas will…" "Sie bestens versorgen, habe ich recht?" "Ja.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 102

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami –1806–

Das Vermächtnis einer großen Liebe

Roman von Rosa Lindberg

  Annette hatte die Vorhänge aufgezogen, aber kein Stern drang durch die grauschwarze Wolkendecke. Es war kalt. Sie ging zurück zum Bett, rückte mit angewinkelten Knien an die Wand und raffte die Decke bis zu den Schultern hoch.

  »Er kann sich nicht scheiden lassen«, hatte Katharina gesagt, und ihre kakaobraunen Augen waren beinahe schwarz geworden vor Kummer um die Freundin.

  »Aber Niklas will…«

  »Sie bestens versorgen, habe ich recht?«

  »Ja.«

  Sie waren in Katharinas Büro gewesen, das sie in der Kanzlei ihres Vaters hatte.

  »Weißt du eigentlich, daß Niklas den Wagen fuhr, mit dem der Unfall passierte?«

  Ja, das wußte Annette. Niklas hatte ihr nichts verheimlicht. Auch nicht, daß er sich deshalb schuldig fühlte daran, daß Stella, seine Frau, seitdem an den Rollstuhl gefesselt war. Obwohl er an dem Unfall nicht die geringste Schuld hatte. Das war einwandfrei erwiesen.

  »Weißt du«, Katharina hatte zweimal hintereinander trocken geschluckt, bevor sie weitersprach, »mir geht es gar nicht so sehr um Niklas. Männer verwalten ihre Gefühle letztlich doch mit dem Verstand, im Gegensatz zu uns Frauen. Nein, es geht mir um dich! Du wirst diejenige sein, die nicht verkraften wird, daß er Stella deinetwegen verließ.«

  Annette hatte einen großen Schluck Tee getrunken, ihre Kehle war glashart und heiß. Sie wußte nicht, wie sie fertig werden sollte mit ihrem inneren Zwiespalt. Es war so schwer. Nie in den achtundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie vor einer so peinigenden Entscheidung gestanden. Nie war ihr Herz so zerrissen gewesen. Und noch nie – hatte sie so geliebt…

  Ein paar Herzschläge lang hatte sie gezögert, dann die Frage doch gestellt: »Weißt du – ich meine – weißt du, ob – ob sie Niklas liebt?«

  In Katharinas Augen lag stets ihr ganzes Herz.

  Auch jetzt.

  »Er war und ist die große Liebe ihres Lebens.«

  Und ihr dunkler Blick sagte, was sie nicht aussprach: Stella Korff würde sterben, wenn Niklas sie verließe.

  Annette bemerkte, daß sie weinte. Immer noch stand einzig die dunkle Wolkenwand vor den Fensterscheiben, sternenlos und drohend. Eine freudlose Finsternis, wie die in ihrer Seele, ohne einen Hauch, der ein bißchen von der Unfaßbarkeit wegwehte.

  Langsam schob sie die Decke von sich und stand auf. Ihre Bewegungen waren schwer, als wäre Blei in ihren Gliedern. Die Gedanken bewegten sich nicht weniger bleiern. Es wäre schön, das Denken überhaupt abzuschalten, wenigstens für eine Weile. Doch was brachte das? Nichts! Sie ging in die Küche, machte einen Tee und ließ ihn lange ziehen. Den Gedanken an eine Schlaftablette verwarf sie. Während sie auf den Tee wartete, überlegte sie, ob Katharina auch in dieser Offenheit mit ihr gesprochen hätte, wenn sie von dem Kind wüßte, das sie erwartete. Vermutlich nicht. Selbst Katharina nicht.

  Stella Korff hatte keine Kinder. Auch das eine bittere Folge des Unfalls.

  Vor Annettes Augen verschwamm das Blau und das Weiß der Küchenfliesen, wurde zu einem kompakten Grau.

  Als sie diese Küche mit viel Liebe einrichtete, hatte sie Niklas Korff noch nicht gekannt. Da war Liebe für sie noch Spiel, Flirt, gehörte eben ein bißchen in das Leben einer jungen aufstrebenden Journalistin, die soeben ihr Studium abgeschlossen hatte.

  Wünschte sie diese Zeit zu-rück?

  Eine müßige Frage! Ob sie das tat oder nicht, keine Zeit kommt wieder zurück. Das macht sie ja so kostbar, vor Annettes Augen wurden die Fliesenfarben wieder klar, und trotzden gehen wir so sorglos mit ihr um! Als würde sie sich vervielfältigen und nicht verringern. Jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde…

  Auch diese! Annette straffte sich, goß Tee ein, nahm Zucker und Milch, trank einen Schluck, noch einen und wußte plötzlich, was sie zu tun hatte.

  »Es gibt solche«, behauptete Tante Charlotte immer, »die was anpacken, und solche, die sich treiben lassen!«

  Hinzugefügt hatte sie, stets mit diesem lächelnd-drohenden Unterton, den nur sie allein beherrschte: »Laß dich nie treiben! Nie!«

  Und Tante Charlotte mußte es wissen. Sie hatte nicht nur Annette aufgezogen, sondern auch ihr eigenes schweres Leben mit Bravour gemeistert. Ihre Lebensmaxime, daß Rückschläge und Widerstände stark machen, hatte sie in die Tat umsetzen müssen, weil es anders gar nicht gegangen wäre. Zugegeben hatte sie allerdings, daß das schlaflose Nächte und bittere Tränen nicht ganz ausschließe.

  Als sie all die ihr vom Leben, vom Schicksal und auch von einigen Menschen auferlegten Pflichten erledigt hatte, zog sie sich in das westfälische Dorf zu-rück, in dem sie geboren war. Sie hatte sich so nahtlos wieder in die Dorfgemeinschaft eingefügt, als wäre sie nie fortgewesen.

  Die Gedanken an Tante Charlotte stärkten Annette. Sie war nicht allein! Das zu wissen, tat gut, gab Kraft und Mut.

  Beides würde sie brauchen für ihren Weg.

  Sie trank den Tee aus, löschte die Lichter und ging zurück ins Schlafzimmer. Die dunkle Wolkenwand hatte sich leicht gelichtet, und drei, vier, fünf Sterne schimmerten auf. Annette ließ die Vorhänge geöffnet.

*

  Nie, im ganzen Leben nicht, würde Annette Niklas’ Blick vergessen, als sie ihm gesagt hatte, daß sie sich von ihm trennen wollte und müßte. Erst sehr viel später würde sie sich wieder erinnern, was sie in der Stunde der Trennung alles gesagt hatte.

  Eines jedoch hatte sie ihm nicht gesagt: Daß sie ein Kind von ihm trug, das sie auch bekommen würde. Er hätte sie nicht gehen lassen. Und wäre sie geflüchtet vor ihm, er hätte sie gefunden. Überall.

  So aber ließ er sie gehen, verbittert und enttäuscht. Daß er sie nicht vergessen würde, daß er leiden würde unter dieser für ihn gänzlich unverständlichen Trennung, wußte Annette. Sie konnte es ihm nicht ersparen. Aber ersparen konnte sie ihm die Scham, die unweigerlich gekommen wäre eines Tages, über sein Tun, eine rollstuhlabhängige Frau verlassen zu haben. Er haßte sie ja nicht, seine Frau Stella, vielleicht liebte er sie sogar noch auf eine bestimmte Art, die sich in dem einfachen Gernhaben äußerte. Er hatte sie seinerzeit wirklich aus Liebe geheiratet und nicht, wie gemunkelt wurde, wegen des Geldes.

  Stella Korff war Alleinerbin einer florierenden pharmazeutischen Fabrik gewesen. Inzwischen waren sie und Niklas die Besitzer. Der Unfall – er hatte die Träume von beiden zerstört, und sie versuchten, das Beste daraus zu machen. Sie hatten ja immer noch sich… liebten sich… Doch mit den zwangsläufig entstehenden Lebensveränderungen veränderte sich auch so manches andere.

  Die Begegnung mit Annette Brieger, die lebenssprühend und sorglos ihr Erwachsenenleben begann, traf Niklas Korff mitten ins Herz. Er verliebte sich so sehr in ihre Lebensfreude, daß er sie wirklich gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wollte.

  Er war bereit gewesen, alles, was sein einundvierzigjähriges Leben bisher ausgemacht hatte, für sie aufzugeben.

  Sogar Stella.

  Als er ihr später beim Abendessen gegenübersaß, dieser blassen, tapferen und doch so geschäftstüchtigen Schönheit, war er trotz des schlimmen Nachbebens in seinem Innern leise froh darüber, daß sie von dieser letzten Abirrung seines Herzens nichts erfahren hatte. Er wußte, daß sie ihn liebte und empfand eine so wehe Rührung, daß er sich kurz erhob, um ihre Wange zu küssen.

  Stella sah rasch auf, Verwunderung in den hellen Augen, in denen er vor tausend Ewigkeiten so oft ertrunken war.

  »Hat das einen besonderen Grund?« fragte sie.

  Niklas ging zurück zu seinem Platz.

  »Nein«, sagte er und zwang seinen Magen, das Essen anzunehmen, »einfach nur so…«

  »Danke. Das gefällt mir.«

  Stella lächelte dabei.

  Sie wußte um seinen Kummer. Sie wußte auch von Annette Brieger. Es würde vorübergehen. Vielleicht nicht ganz so leicht wie bei den zwei vorherigen Eskapaden, aber vorübergehen würde es. Fast verstand sie seine manchmal ausufernde Lebensgier. Bei Annette Brieger hatte es allerdings manchmal so ausgesehen, als ob es mehr wäre. Aber er hatte sie ja trotzdem fortgeschickt.

  Hatte er?

  Sie dachte an die Berichte der Detektei über Annette Brieger und ihren Lebensweg. Dachte daran, daß Niklas sich verändert hatte in den letzten Wochen, so als ob… als ob was?

  Irgendwann würde sie es erfahren.

  Manchmal schämte Stella Korff sich vor sich selbst, daß sie, wenn es um Niklas ging, zu Mitteln griff, die ihr im Grunde zutiefst zuwider waren. Aber was sollte sie denn tun? Sie war doch so – so hilflos, so angewiesen und abhängig von anderen. Wenn sie Niklas verlöre…

  Sie legte das Besteck auf den Teller und preßte ihre Hand gegen den Magen.

  Niklas sah sie an.

  »Irgend etwas nicht in Ordnung?« Seine Besorgnis war echt und wärmte Stellas Herz. Ein Rest Liebe ist immer noch da, vielleicht sogar mehr als er ahnte. Und Glück – ach, Glück – ist eine Frage der Bescheidenheit.

  »Es ist alles in Ordnung, danke. Nur – irgendwie habe ich heute keinen richtigen Appe-tit.«

  Als hätte Niklas nur darauf gewartet, schob auch er seinen Teller zurück.

  »Ich auch nicht«, gestand er, während er die Serviette beiseitelegte, aufstand und sich hinter ihren Rollstuhl stellte.

  »Gehen wir rüber und trinken einen Schluck. Was hältst du davon?«

  »Sehr viel«, sagte Stella und ließ sich von ihm in die Bibliothek schieben, wo das Kaminfeuer bereits brannte.

  Hier hielten sie sich am liebsten auf.

*

  Der Zusammenbruch Annettes war gewissermaßen eine Notwendigkeit. Als sie ihn mit Katharinas Hilfe überstanden hatte, fühlte sie sich weder traurig noch froh. Nur leer. Sie hatte ihr Maß an Gefühlen ausgeschöpft. Die Leere würde sich füllen, mußte sich füllen, denn sie erwartete das Kind. Ein Kind der Liebe. Es sollte glücklich werden, dafür wollte Annette nun leben.

  Als sie zum ersten Mal wieder bewußt in den Spiegel blickte, sagte sie zu Katharina:

  »Ich sehe aus wie Buttermilch und Spucke.«

  »Was kein Wunder ist. Du hast einen Kraftakt vollbracht.«

  Annettes Blick verlor sich.

  »Er ist noch nicht zu Ende«, sagte sie.

  »Du hast jetzt zu tun«, Katharina zog Annettes Bett ab, zum ersten Mal war das Kopfkissen nicht durchnäßt von Tränen, »das wird helfen.«

  Sie sollte recht behalten.

  Annette kündigte ihren Posten in der Redaktion, um den sie so gekämpft und an dem sie sich so oft und viel gefreut hatte. Doch es mußte sein.

  Sie suchte einen Nachmieter für die Wohnung, der auch die Einrichtung übernehmen sollte. Das war nicht einfach, aber schließlich klappte es.

  »Keinen unnötigen Ballast«, sagte sie zu Katharina.

  »Willst du nicht lieber in eine große Stadt ziehen, als zu Tante Charlotte, da am Ende der Welt?«

  »Später«, sagte Annette.

  »Und wovon willst du in der Zwischenzeit leben?«

  »Ich habe morgen einen Termin bei Dr. Heller.«

  Dr. Robert Heller war der Chefredakteur der Zeitschrift. Annette wollte mit ihm über eine eventuelle freie Mitarbeit verhandeln. Gleichzeitig hatte sie Kontakt mit einer Agentur aufgenommen, die für sie die kleinen Geschichten und Romane, die sie schon als Studentin hin und wieder geschrieben hatte, an einschlägige Zeitschriften verkaufen wollte. Sie würde nicht viel brauchen, das Leben bei Tante Charlotte würde nicht teuer sein.

  Die Kollegen wußten nicht, warum Annette ihren Posten aufgab. Ihre diesbezüglichen Fragen beantwortete sie ausweichend, und prompt passierte, was meist in solchen Fällen passiert: es entstanden Gerüchte. Heidi Ausdemsiepen, die Dr. Heller zu Annettes Nachfolgerin gemacht hatte, erzählte sie ihr andeutungsweise, damit sie vielleicht das eine oder andere klarstellen konnte. Annette war nicht daran interessiert, aber innerlich erschrocken und entsetzt über die Bosheit und Wandelbarkeit der Menschen.

  Gestern freundschaftliche Kollegialität, heute nur noch Häme. Von Unfähigkeit, von falscher Recherche, sogar von einem Verhältnis mit dem Junior des Hauses war die Rede. Annette hat den Junior einmal kurz durch Katharina kennengelernt, durch die sie auch mit Niklas bekannt geworden war. Seither grüßte er sie in der Kantine wohl besonders freundlich. Freundlich genug jedenfalls, um jetzt die Gerüchteküche zum Brodeln zu bringen. Annette ahnte dumpf, daß sie noch eine Menge im Leben lernen mußte. Nur entsetzlich bedauerlich war, daß eine an sich ja schöne Zeit einen solch bitteren Abschluß fand. Natürlich hätte sie alles klarstellen können, doch sie sagte lediglich zu Heidi Ausdemsiepen:

  »Das stimmt alles überhaupt nicht. Ich gehe aus privaten, sehr privaten Gründen, über die ich aber nicht sprechen möchte. Es würde mich freuen, wenn wenigstens Sie mir das glaubten.«

  »Ich glaube Ihnen! Und so sehr ich mich über diesen Posten freue, so sehr bedauere ich, daß Sie gehen.«

  Es war die Wahrheit, Annette spürte das.

  »Danke«, sagte sie nur und bedauerte ihr Weggehen plötzlich gar nicht mehr. Es war eine unerhörte Lebenserfahrung, die ihr möglicherweise zukünftige Enttäuschungen ersparte. Von Tante Charlotte zu aufrechtem Gang und aufrechtem Geist erzogen, an der Uni mit guter Literatur gefüttert, erkannte sie in diesem Augenblick, daß jeder Alltag, vor allen Dingen der berufliche, seine eigenen Spielregeln hatte, Gesetze, die sie noch nicht kannte.