Ein Winzling versöhnt die ganze Welt - Rosa Lindberg - E-Book

Ein Winzling versöhnt die ganze Welt E-Book

Rosa Lindberg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Die Kinder, war Katharinas erster Gedanke gewesen, wie werden die Kinder es auffassen? Gut, war dann ihr zweiter, daß sie nicht zu Hause sind. Ihre Hände hatten automatisch begonnen, den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hielt inne und betrachtete diese Hände, die einer Frau gehörten, die sich bis vor einer knappen Stunde noch für eine glückliche gehalten hatte. Katharina stellte sich ans Fenster. Draußen lag dieses Versprechen von Frühling in der Luft, das sie schon beim Zeitungsholen beglückt wahrgenommen hatte. Hier in der Küche aber stand die Luft plötzlich, als wäre sie aus Rauhreif. Wie gelähmt sah Katharina zu, wie Joachim das Haus verließ. Mit geneigtem Kopf durchquerte er den Garten. Ein schlanker, eleganter Mann in den besten Jahren, fünfundvierzig, um genau zu sein, der entschieden hatte, noch einmal von vorn anzufangen. Allein natürlich! Man hatte sich ja auseinandergelebt. Katharina hätte eher angenommen, man hätte sich zueinandergelebt. Einundzwanzig Jahre Ehe, Liebe, Treue, Fleiß und Erfolg. Zwei Kinder, ein Haus, zwei Autos und ein floriendes Architekturbüro ließen diesen Schluß durchaus zu. Irrtum! »Eine kleine Frühlingsweise nimmt mein Herz mit auf die Reise…«, sang eine schöne Frauenstimme im Küchenradio. Katharinas kalte Hand schaltete sie ab. Joachim fuhr soeben aus der Garage.

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Mami – 2040 –

Ein Winzling versöhnt die ganze Welt

Benjamin wird der Sonnenschein in Katharinas Leben

Rosa Lindberg

Die Kinder, war Katharinas erster Gedanke gewesen, wie werden die Kinder es auffassen?

Gut, war dann ihr zweiter, daß sie nicht zu Hause sind.

Ihre Hände hatten automatisch begonnen, den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hielt inne und betrachtete diese Hände, die einer Frau gehörten, die sich bis vor einer knappen Stunde noch für eine glückliche gehalten hatte.

Katharina stellte sich ans Fenster.

Draußen lag dieses Versprechen von Frühling in der Luft, das sie schon beim Zeitungsholen beglückt wahrgenommen hatte. Hier in der Küche aber stand die Luft plötzlich, als wäre sie aus Rauhreif.

Wie gelähmt sah Katharina zu, wie Joachim das Haus verließ. Mit geneigtem Kopf durchquerte er den Garten. Ein schlanker, eleganter Mann in den besten Jahren, fünfundvierzig, um genau zu sein, der entschieden hatte, noch einmal von vorn anzufangen.

Allein natürlich!

Man hatte sich ja auseinandergelebt. Katharina hätte eher angenommen, man hätte sich zueinandergelebt. Einundzwanzig Jahre Ehe, Liebe, Treue, Fleiß und Erfolg. Zwei Kinder, ein Haus, zwei Autos und ein floriendes Architekturbüro ließen diesen Schluß durchaus zu.

Irrtum!

»Eine kleine Frühlingsweise nimmt mein Herz mit auf die Reise…«, sang eine schöne Frauenstimme im Küchenradio. Katharinas kalte Hand schaltete sie ab.

Joachim fuhr soeben aus der Garage. Sie konnte nicht ausmachen, ob er einen Blick zurückwarf. Vermutlich nicht.

Die Stille umwaberte sie, und Katharina hätte gerne geweint, geschimpft, getobt, oder irgend etwas gegen die Wand geschmettert. Statt dessen stand sie unbeweglich da und starrte die offene Garage an.

Als das Telefon klingelte, fuhr sie zusammen. Nach dem vierten Läuten nahm sie den Hörer auf. Menschen funktionieren einfach in allen Situationen, Frauen besonders.

»Steinberg…«

Es war Elsa, Joachims Mutter. Eine großartige Frau und Schwiegermutter, ohne deren nie nachlassende Hilfs- und Einsatzbereitschaft Joachim und sie nie erreicht hätten, was sie heute nun besaßen. Ein Mutter- und Großmuttertier im allerschönsten Sinne dieses Wortes.

»Joachim schon weg?« erkundigte sie sich. Katharina nickte, bis ihr einfiel, daß Elsa das ja gar nicht sehen konnte.

»Ja.«

Besorgnis kam durch die Leitung.

»Bist du erkältet?«

»Nein.«

»Deine Stimme klingt aber so. Hör zu, mein Herz: Ich wollte nur fragen, ob du mir für Samstag die beiden Torten machst.«

Am Samstag hatte Elsa Geburtstag. Einundsiebzig wurde sie. Das Altsein fand sie schön.

»Hoffentlich bleibe ich es sehr, sehr lange!« war eines ihrer geflügelten Worte, und dabei konnte sie lachen wie ein junges Mädchen. Man mußte Elsa einfach lieben, sie brachte so viel kostbare Güte in die Welt. Mit Tatkraft, nie mit leeren Worten.

»Ich denke schon«, Katharina mußte sich räuspern, »wenn nichts dazwischenkommt.«

»Was soll denn schon?«

Mit Sicherheit konnte Elsa sich unter ›auseinandergelebt‹ nichts vorstellen. Jetzt erkundigte sie sich nach ihren Enkeln.

»Hoffentlich können sie es einrichten, daß sie am Samstag kommen. Haben sie schon was verlauten lassen?«

Das mußte Katharina verneinen. Ihre beiden Kinder studierten in Köln und waren damit beschäftigt, sich langsam aber sicher abzunabeln. Es war schwer zu sagen, wer mehr unter diesem Abnabelungs-Abenteuer litt, Katharina oder Elsa.

Elsa schickte ein nicht ganz ernstes Seufzen durch die Leitung, bevor sie Katharina noch einen wunderschönen Tag wünschte und sich verabschiedete.

Katharina ließ sich auf den Hocker fallen und betrachtete wieder ihre Hände, die auf den lebhaften Karos der Kittelschürze seltsam leblos wirkten. Hatten sie – diese Hände – sich zu sehr den Kindern gewidmet? Waren ihre Zuwendungen für Joachim zu kurz gekommen? Sie strich das ohnehin glatte Hauskleid glatt. Früher, als die Kinder noch klein waren, hatte sie diese ach so praktischen geblümten Hänger getragen, in deren Buntheit selbst Kakao-, Eigelb, sogar Kirschsaftspritzer beinahe verschwanden. Für die damals wie heute modernen Jeans und Overalls war sie nicht der Typ. Und, wichtiger noch, Joachim konnte Jeans und Overalls nicht ausstehen. Damals wie heute nicht. Daß seine bildhübsche Tochter sich bisweilen von Kopf bis Fuß in Jeans warf, freute ihn nicht eben.

Der Spiegel der gegenüberliegenden Wand zeigte eine Katharina mit ratlosen Augen und rundem Rücken.

»Und was jetzt?« fragte Katharina die Katharina.

Wieder das Telefon!

Diesmal war es Laura Marks, Joachims Sekretärin, die wissen wollte, ob der Chef heute später käme. Katharina versicherte, er sei zur selben Zeit wie immer abgefahren. Laura war beruhigt und wünschte ihr ebenfalls einen wunderschönen Tag.

Gab es für sie überhaupt noch wunderschöne Tage?

Erneut läutete das Telefon. Ka­tharina ließ es klingeln. Elfmal. Sie hatte den Anrufbeantworter nicht eingeschaltet. Nein, sie wollte mit niemandem sprechen. Wie ein Summen unter der Haut nahm sie wahr, wie ihre innere Anspannung langsam wich und etwas anderem Platz machte: Zorn, schlichtem, echtem Zorn. Er brodelte nicht, kochte nicht, war einfach nur da und ging nicht weg. Warum sollte er auch? Seine Daseinsberechtigung stand doch wohl außer Zweifel!

Nachdem sie in diesem sonderbar ruhigen, geradezu gelassenen Zorn den Anrufbeantworter eingeschaltet hatte, ging Katharina nach oben. Sie ließ Badewasser in die Wanne, stieg in das heiße, duftende Bad, streckte sich aus und schloß die Augen. Nachdenken. Sie mußte nachdenken.

Zunächst versuchte sie sich vorzustellen, was Joachim unter einem NEUEN ANFANG verstand. Näher erklärt hatte er das nicht. Der Gedanke an eine andere Frau flog Katharina an. Schon merkwürdig, daß er sie nicht nennenswert beunruhigte. Wieso nicht? Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung und wollte sie auch nicht haben!

Reihen anderer Gedanken kamen und gingen. Das Wasser kühlte aus, sie ließ heißes nachlaufen. Als sie sich nach vier weiteren Heißwasserströmen endlich frottierte, war sie so ruhig, als hätte sie nicht soeben die außergewöhnlichste Entscheidung ihres Lebens getroffen.

Für eine Frau wie sie, eine Nur-Hausfrau, Nur-Mutter, Nur-Ehefrau einer schier unvorstellbare Entscheidung. Es würde eine ganze Reihe von Leuten gelinde gesagt verblüffen. Den einen oder anderen würde es womöglich umwerfen.

Über die Halbgardine wanderte ihr Blick dabei über die vertrauten Wiesen, Äcker und Wälder. Ein so hübscher Anblick! Alles war so hübsch, die kleine Stadt, vor der sie wohnten, das Haus, in dem sie seit fünfzehn Jahren lebten, der mit viel Liebe und freudig erarbeiteter Sachkenntnis gepflegte Garten, die Straßen, die Nachbarn…

Mit einem entschiedenen Ruck zog Katharina den Stöpsel aus der Wanne.

Ihr Entschluß stand fest.

Nach kurzer Überlegung, einer rein organisatorischen Überlegung, ging sie ganz systematisch vor.

Sie packte eine Reisetasche mit dem nicht nur Allernötigsten. Und einen Koffer. Sie räumte auf, schloß alle Fenster und suchte nach dem Scheckheft. Der Umgang damit war ungewohnt, obwohl sie unterschriftsberechtigt war. Alle finanziellen Angelegenheiten regelte Joachim. Ein noch nicht abgehefteter Kontoauszug fiel ihr in die Hand, und der Kontostand verblüffte sie. Sekundenlang starrte sie auf den fünfstelligen Betrag, dann schrieb sie den Scheck über die gesamte Summe aus. Bereits an der Haustür, ging sie noch einmal zurück und besprach den Anrufbeantworter neu. Sie nahm die Wagenschlüssel und verließ das Haus.

Das Garagentor war immer noch offen. In ergebener Zuverlässigkeit stand das betagte alte Auto da, das Joachim ihr überlassen hatte, als er sich endlich den Wagen mit dem Stern leisten konnte. Inzwischen hatte er sich den nächsten geleistet. Katharina fuhr zur Bank, dann eine Tankstelle an und danach Richtung Autobahn. Der alte Wagen rollte, seine brummige Altersschwäche beiseite schiebend, gutmütig und willig über die Straßen.

Es war genau elf Minuten vor elf.

*

Um zehn Minuten nach elf kam Laura Marks in das Büro ihres Chefs Joachim Steinberg, der Order gegeben hatte: keine Störungen, keine Telefongespräche, absolut nichts.

»Tut mir leid«, in halbem Bedauern zuckte Laura die Achseln, »aber Ihre Mutter läßt sich nicht…«

Elsa folgte ihr auf dem Fuß.

»Schon gut, Frau Marks. Er weiß, daß Sie keine Schuld trifft.«

Sie rauschte förmlich auf ihren Sohn zu. Laura machte kehrt, ließ die Tür jedoch einen Spalt geöffnet. Sie kannte den feinen Duft, mit denen Sensationen sich ankündigten. Und in diesem Augenblick duftete es ziemlich stark.

»Was soll das heißen«, hörte sie Elsas Stimme, »auf unbestimmte Zeit verreist?«

Elsa war während ihrer Einkäufe noch etwas eingefallen, was sie Katharina sagen mußte. Von einer Telefonzelle hatte sie versucht, sie zu erreichen. Sie erreichte die Nachricht auf dem Anrufbeantworter und war schnurstracks in das Büro von Joachim geeilt.

Joachim lehnte sich seufzend zurück. Er fühlte sich heute nicht besonders wohl in seiner Haut. Außerdem hatte er Ärger mit einer Baubehörde, den er sich fatalerweise auch noch selbst zuzuschreiben hatte.

»Mutter! Bitte, setz dich doch erst einmal. Und dann drück dich etwas deutlicher aus!«

Was die natürlich nicht tat. Einer der von ihr bekannten Vorteile des Alters war es nicht unbedingt das zu tun, was man von ihr erwartete.

Sie langte zu Joachims Telefon, wählte seine Privatnummer und hielt ihm den Hörer hin.

Joachim lauschte folgsam und mehr und mehr erstarrend.

»Sie sind…« hörte er Katharinas warme Stimme, in der heute ein sonderbarer Hauch von etwas Unbekanntem lag, »mit dem Anschluß Steinberg verbunden. Ich bin ab heute auf unbestimmte Zeit verreist. Wenden Sie sich bitte an meinen Mann…«, es folgte die Büronummer, »oder sprechen Sie nach dem…«

Joachim war wie vom Donner gerührt. Er sprang auf, wählte noch einmal und hörte dieselben Sätze.

»Nun«, erkundigte sich Elsa, »was heißt das?«

Joachim antwortete nicht sofort. Eine Weile starrte er böse den dunkelgrünen Apparat an, dann, unsicher, absolut nicht Erwartendes ahnend, seine Mutter.

»Komm!« sagte er.

Er fuhr viel zu schnell, doch Elsa sagte ausnahmsweise einmal nichts. Sie hatte plötzlich Ahnungen, die dunkel waren wie die flachen Wasser unten am Moor.

Der grüne Vorort lag in mittäglicher Vorfrühlingsruhe. Die Straße war menschenleer und das Garagentor ordentlich geschlossen. Joachim schob es hoch. Das alte Auto war nicht da. Mit langen Schritten überquerte er die Steinplatten. Elsa immer neben ihm. An dem noch nackten Kirschbaum verhielt er den Schritt.

»Den Schlüssel«, forderte Elsa und streckte die Hand aus.

Fünf Minuten später kamen sie beide zu demselben Ergebnis: Ka­tharina war weg. Und das nicht nur für ein Viertelstündchen. In Elsas Mutterherz zog Trauer ein. Sie wußte nicht, was passiert war, aber daß es keine kleine Kabbelei unter Eheleuten war, das hatte sie im Gefühl. Wie viele Frauen, insbesondere Mütter, konnte Elsa sich auf ihre Gefühle verlassen. Sie hatten sie selten getrogen.

Sie füllte zwei Gläser mit Cognac, reichte eins Joachim.

»Willst du mir jetzt erzählen, was los ist, oder später?«

Joachim trank erst einen Schluck und stellte das Glas zurück.

»Später.«

Er fuhr erst seine Mutter nach Hause, dann zurück ins Büro, das er spät am Abend mit einer Liste verließ, die Laura ihm mit unbewegtem Gesicht gereicht hatte.

Es waren Telefongespräche für Katharina.

1. Anruf: Onkel Willi. Wann zum Teufel Katharina mit ihm zur Fußpflege fahren wollte!

2. Anruf: Tante Lenchen. Ob ihre Wäsche fertig gebügelt wäre und wann Katharina mit ihr endlich die Kaffeefahrt mache.

3. Anruf: Firma Meierhoff. Die neuen Dachrinnen kommen am nächsten Mittwoch.

4. Anruf: Pastor Lüders. Mit dem Gebäck für den Senioren-Nachmittag, das geht doch in Ordnung?

5. Anruf: Großvater Ludwig. Er hat schon wieder das Reißen im Kreuz, nichts Gescheites zu essen im Haus, Flurwoche und nichts mehr zu lesen.

Insgesamt waren es elf Anrufe.

Die Stille des Hauses zerrte an Joachims Nerven. Außerstande einen klaren Gedanken zu fassen, öffnete er eine Flasche Rotwein. Er wußte nicht, welche Reaktion er bei Katharina erwartet hatte, diese aber bestimmt nicht.

Als sich in der Flasche nur noch ein Bodensatz befand, rief Joachim in abgrundtiefen Selbstmitleid bei seinen Kindern an.

Jill und Dominik bewohnten gemeinsam eine Wohnung, die Joachim günstig von einem Kollegen erworben hatte, um sie nach dem Studium der Kinder noch günstiger zu vermieten.

Jill meldete sich. Es kam Joachim vor, als klänge sie leicht ungehalten.

»Eure Mutter…«, sagte er statt einer Begrüßung, »hat mich heute verlassen.«

Jills sattes Lachen wurde dem ihrer Mutter immer ähnlicher.

»Jo, der Witzbold!« sagte sie.

»Nix Witzbold. Es ist so. Sie ist weg.«

»Altenheim, Kirchenvorstand, Opa, Tante Lenchen oder vielleicht Elsa?«

»Nein. Sie ist mit schwerem Gepäck im alten Auto weggefahren.«

»Da schweres Gepäck – bei dir schwere Zunge! Jo, Paps, sei nicht böse, ich bin auf dem Sprung zur Ballettschule. Ich gebe dich mal weiter an Dominik.«

Jo hörte, wie sie rief: »Nicki, komm doch mal her, Jo ist dran, er hat einen sitzen.«

Dominik kam und lachte ebenfalls. Allerdings nicht lange.

»Einfach so?« erkundigte er sich, nachem Jo sein Klagelied zu Ende gesungen hatte. Er hatte plötzlich das stramme Jungmännergesicht seines Sohnes vor sich: ernst, mitfühlend und mißtrauisch.

»Einfach so!« antwortete er trotzdem und fühlte sich gekränkt.

»Und wohin ist sie?«

»Das weiß ich doch nicht!«

Sekundenlang schwiegen beide. Jo fühlte, wie Müdigkeit sich um ihn legte wie eine Decke.

»Und du bist sicher«, fragte Dominik nach der Pause, »daß du sonst nichts dazu zu sagen hast?«

Kinder, dachte Jo fast böse, sollten immer kleine Kinder bleiben. Denen, den Kleinen, konnte man wunderschöne Märchen erzählen, denen sie hingerissen lauschten und nichts davon in Zweifel zogen. Sobald sie auch nur ein bißchen größer wurden…

»Ganz sicher!« donnerte Jo und knallte den Hörer in das Kunststoffbett. Ein Wunder, daß das nicht zersplitterte.

*

Katharina war langsam gefahren, unschlüssig, wohin sie eigentlich wollte. Die Autobahn hatte sie nach einigen Kilometern schon verlassen, fuhr jetzt über Landstraßen, durch Vororte und Dörfer. Je weiter sie sich von zu Hause entfernte, desto spürbarer war der nahende Frühling. In der Eifel kam er immer etwas später. Aber dann mit fast barbarischer Buntheit. Im letzten Frühjahr hatte alles auf einmal geblüht. Vor dem Haus die Osterglocken, die Tulpen und die gläsernen Narzissen; dazwischen Tuffs von Vergißmeinnicht, Himmelsschlüsseln und Primeln. Der Geruch von Erde und jungem Laub war betörend gewesen. Und die Kräuter- und Gemüsebeete hinter dem Haus…

Katharina stellte die Scheibenwischer an, bis sie erkannte, daß es kein Regen war, der die Sicht trübte, sondern Tränen. Sie fuhr rechts ran und stand genau vor einem Gasthof in einem Dorf in der rheinischen Ebene. Eines jener typischen Gemüsedörfer. Hinter den Gemüsereihen reichten die Felder bis zumm Horizont. Überlandleitungen zerstörten den Eindruck von einsamer Weite.