Nun habe ich nur noch euch - Rosa Lindberg - E-Book

Nun habe ich nur noch euch E-Book

Rosa Lindberg

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! In der Nacht vor ihrer Rückreise hatte Sonja Bertrand einen merkwürdigen, beunruhigenden Traum. Erschöpft und seltsam fassungslos tauchte sie daraus hervor. Sie hielt die Augen geschlossen, um den Traum festzuhalten. Doch er zerrann, wie milchige Nebelfelder sich auflösen in der Sonne, und ließ nur dieses Gefühl der Erschöpfung und der Fassungslosigkeit zurück, zu dem sich nun, nach dem Erwachen, Angst einstellte. Sie drehte den Kopf langsam zur Seite und öffnete die Augen. Kurt lag ruhig atmend neben ihr. Er schlief tief und fest. Eine Weile betrachtete sie sein geliebtes Gesicht und wartete darauf, daß sie ruhiger wurde. Aber im Gegensatz zu sonst verstärkte sich die Unruhe. Mit einem unterdrückten Aufstöhnen stand sie eilig auf und lief auf bloßen Füßen ins Nebenzimmer, sorgsam darauf bedacht, die anderen Gäste der Pension, in der sie ihren Urlaub verbracht hatte, nicht zu wecken. Behutsam drückte sie die Klinke herab und schloß die Tür hinter sich wieder. Und da lagen sie, ihre drei, friedlich und glücklich schlafend. Sandra, ihre Älteste, lag zusammengerollt auf der linken Seite, wie sie stets schlief. Jan hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt, sich der Zudecke entledigt und atmete mit leicht geöffnetem Mund kräftig und regelmäßig. Piet, ihr Jüngster, schlief wie Kurt, und er war auch, wie er dalag, eine perfekte Zweitausgabe seines Vaters. In dem stillen Frieden des Kinderzimmers atmete Sonja, immer noch Piet betrachtend, erleichtert auf. Der Knabe bewegte sich und schlug die Augen auf. »Musch?« murmelte er verwundert. »Pst!«

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Mami Bestseller – 53 –

Nun habe ich nur noch euch

Und ihr seid mein ganzes Glück

Rosa Lindberg

In der Nacht vor ihrer Rückreise hatte Sonja Bertrand einen merkwürdigen, beunruhigenden Traum. Erschöpft und seltsam fassungslos tauchte sie daraus hervor.

Sie hielt die Augen geschlossen, um den Traum festzuhalten. Doch er zerrann, wie milchige Nebelfelder sich auflösen in der Sonne, und ließ nur dieses Gefühl der Erschöpfung und der Fassungslosigkeit zurück, zu dem sich nun, nach dem Erwachen, Angst einstellte.

Sie drehte den Kopf langsam zur Seite und öffnete die Augen. Kurt lag ruhig atmend neben ihr. Er schlief tief und fest.

Eine Weile betrachtete sie sein geliebtes Gesicht und wartete darauf, daß sie ruhiger wurde. Aber im Gegensatz zu sonst verstärkte sich die Unruhe.

Mit einem unterdrückten Aufstöhnen stand sie eilig auf und lief auf bloßen Füßen ins Nebenzimmer, sorgsam darauf bedacht, die anderen Gäste der Pension, in der sie ihren Urlaub verbracht hatte, nicht zu wecken.

Behutsam drückte sie die Klinke herab und schloß die Tür hinter sich wieder.

Und da lagen sie, ihre drei, friedlich und glücklich schlafend.

Sandra, ihre Älteste, lag zusammengerollt auf der linken Seite, wie sie stets schlief. Jan hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt, sich der Zudecke entledigt und atmete mit leicht geöffnetem Mund kräftig und regelmäßig. Piet, ihr Jüngster, schlief wie Kurt, und er war auch, wie er dalag, eine perfekte Zweitausgabe seines Vaters.

In dem stillen Frieden des Kinderzimmers atmete Sonja, immer noch Piet betrachtend, erleichtert auf. Der Knabe bewegte sich und schlug die Augen auf.

»Musch?« murmelte er verwundert.

»Pst!«

Sonja legte ihm den Zeigefinger gegen die warmen Lippen.

»Ist was?« flüsterte Piet und versuchte, in dem diffusen Mondlicht ihr Gesicht zu erkennen.

»Nein, nichts«, flüsterte Sonja. »Ich habe nur schlecht geträumt.«

Mit einer zärtlichen eckigen Be­wegung streichelte Piet über ihre Hand.

Ist es denn nun besser?«

Eine heiße Welle von Liebe überflutete Sonja und ließ sie die Unruhe, die ein nicht greifbarer Traum ihr verursacht hatte, vergessen.

»Viel besser«, sagte sie leise und liebevoll, »nun wollen wir weiterschlafen.«

»Ja, Musch.«

»Schlaf gut, mein Herz.«

»Du auch, Musch.«

*

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war der Platz neben ihr leer. Sie lauschte einen Moment und hörte dann Kurts warme volle Stimme im Nebenzimmer. Also war er schon bei den Kindern.

Sie ging eilig unter die Dusche und kleidete sich an. Während sie sich kämmte, brachte sie ihr Gesicht nahe an das Spiegelglas und lächelte ihrem Bild zu.

Man sieht mir meine vierunddreißig nicht an, dachte sie zufrieden. Sie freute sich darüber, obwohl sie alles andere als eitel war.

Vor der Tür entstand eine Bewegung.

»Vielleicht schläft sie noch!« hörte Sonja die Stimme ihrer Tochter Sandra.

»Aber Mama doch nicht!«

Das war Piet, und lächelnd dachte Sonja daran, daß er sie in der Nacht Musch genannt hatte. Nur im Schutze der Nacht oder in der Gewißheit absoluten Alleinseins nannte er sie so, niemals vor den anderen.

Piets Scheu, Beweise von Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung zur Schau zu stellen, war ein Charakterzug, den sie ihm vererbt hatte, nicht Kurt. Denn Kurt – wie beneidete sie ihn oft darum! – zeigte seine Gefühle so augenfällig, wie er beim Lachen seine makellosen Zähne zeigte. Jeder konnte sehen, wie sehr er seine Frau und seine Kinder liebte.

Kurt Bertrand war für seine Frau Sonja der Ritter, der sie mit eiserner Faust beschützte vor allem, was kam. Ohne ihn – Sonja wußte das und war glücklich dabei – war sie nichts. Er war für sie ein Bollwerk in der Brandung, das Leben hieß.

»Na, nun macht schon!« hörte sie ihn jetzt sagen, und allein der Klang seiner Stimme bewirkte eine selige Schwäche in ihren Pulsen.

»Und das«, sagte sie so leise zu ihrem Spiegelbild, »nach so vielen Ehejahren!«

Die Tür wurde aufgestoßen, und in ihrem Rahmen standen jene vier, die ihr Leben ausmachten: Kurt und die Kinder.

Sonjas Herz wurde weit, und in ihren Augen lag das Schönste, das diese Welt und dieses Leben geben können, und das einzige, das nicht zu kaufen ist um einen noch so hohen Preis: Glück und Liebe.

Kurt sah es, und die Kinder spürten es. Und während Sandra ihre rechte und linke Wange küßte, während Piet sein Gesicht in ihre Hand preßte, allmorgendlich wiederkehrende Beweise der Liebe, blickten Sonja und Kurt sich an.

Schweigend, doch verstehend in jeder Sekunde des Blickes, als hätten sie tausend Sätze gesprochen.

»Schade«, sagte Sandra, und ihr apartes herzförmiges Gesichtchen, das eines Tages dem von Sonja sehr ähnlich sein würde, verschattete sich, »daß wir schon nach Hause müssen!«

Jan sang lauthals ein paar Zeilen eines Schlagers, den er irgendwo aufgeschnappt haben mußte.

»Jehedes Määärchen geht einmal zu Ende, doch dann bricht unser Herz nicht entzwei…«

Lachend legte Kurt ihm die Hand vor den Mund. »Hör auf, bitte! Du weckst sonst das ganze Dorf.«

»Na und, Papi? Es ist doch schon neun.«

»Lauser!«

Er sah noch einmal Sonja an, legte dann seinen Arm um ihre Schultern, und nur sie spürte, wie fest der Druck war, mit dem er sie umfing.

»Fertig zum Frühstücken?« fragte er und küßte wie beiläufig Sonjas Schläfe.

»Ja. Jaha!« war die übermütige dreifache Antwort.

Die Kinder waren lebhaft wie immer bei Tisch, benahmen sich jedoch tadellos. Sie machten Pläne, wie sie die fünfstündige Rückfahrt ausführen sollten, einigten sich jedoch nur schwer.

»Bist du auch soweit?« fragte Kurt Sonja. »Können wir in etwa einer Stunde fahren?«

»Ja, leicht. Ich muß nur noch die Schlafanzüge und Zahnbürsten und so weiter einsammeln. Alles andere steht fertig.«

»Fein. Dann mal so, alle mal hergehört! Abfahrt in einer Stunde. Alles klar?«

»Alles klar, Chef!«

Die Jungen salutierten militärisch im Sitzen, sich das Lachen verbeißend, während Sandra, ebenfalls im Sitzen, einen Knicks andeutete.

»Dürfen wir aufstehen?« fragte Jan und schob den Rest des dritten Brötchens noch rasch in den Mund.

»Ausnahmsweise«, lächelte Sonja, »damit ihr euch in aller Ruhe überall verabschieden könnt.«

Mit den Kindern verließen die letzten Gäste den Frühstücksraum. Sonja und Kurt waren allein.

»War’s schön?« fragte der Mann leise.

»Wunderbar!« versicherte Sonja. »Aber ich freue mich auch schon wieder auf zu Hause.«

»Mir geht’s genauso.« Er lachte leise und dunkel. »Wir sind eben richtige Familienmenschen.«

Jetzt lachte auch Sonja, ebenfalls leise, aber hell und klar.

»Und das sagst du! Ausgerechnet du, der einstmals so überzeugte Junggeselle!«

Das sonnengebräunte Gesicht Kurts verzog sich zu einer Grimasse.

»Mir heute unverständlich!« Er beugte sich ganz nahe zu Sonja, daß sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. »Man muß eben die richtige Frau finden.«

Ein fester warmer Mund berührte Sonjas Wange, wanderte langsam bis zu ihrem Mund. Und im selben Augenblick versank für Sonja Bertrand für Sekunden die Welt. Als sie wieder zurückkehrte aus ihrer Versunkenheit, seufzte sie verhalten auf.

»So viel Glück, mein Gott, laß es so bleiben.«

»Es wird so bleiben!« beruhigte Kurt sie heiter.

»Manchmal ist es unwirklich, so schön.«

Durch das angelehnte hohe Fenster drang Sandras weinerliche Stimme.

»Mami – o Mami!«

Gleichzeitig mit Kurt sprang Sonja auf. Sie zog den Fensterflügel zurück und beugte sich hinaus. Unter ihr, winzig und zart, aber unbeschreiblich schmutzig, selbst das Gesicht, durch das nur die Tränen helle Spuren zogen, stand Sandra.

»Mein Gott! Liebstes, was ist denn passiert? Warte, ich komme hinunter!«

Sandras Weinen wurde lauter, klagender und anklagender.

»Jan… Jan hat mich in den Mampeteich geschubst!« Für eine halbe Sekunde hob sich in der Stimme Empörung heraus. »Mit Absicht, Mami!«

Doch das alles hörte Sonja nicht mehr. Sie war hinausgelaufen und stand schon neben ihrer Tochter.

»Hast du dir weh getan?«

»Weh getan?« Sandra mußte überlegen. »Nein«, entschied sie dann mit bemerkenswerter Offenheit, »nein, weh getan hab’ ich mir nicht.«

»Dann ist es ja halb so schlimm.«

»Aber mein Kleid! Es ist das Gute, auch wenn man es nicht mehr erkennt.«

»Du darfst das neue Dirndl anziehen!« flüsterte Sonja begütigend. »Nun, was sagst du?«

Über das verschmutzte Gesicht zog ein Strahlen.

»Prima, Mami! Sofort?«

»Sofort! Komm, ich stell’ dich gleich unter die Dusche. In zehn Minuten ist alles vergessen.«

Kurt hatte die kleine Szene vom Fenster aus beobachtet und sah nun »seinen beiden Frauen« nach, wie sie Hand in Hand ins Haus gingen. Sie hatten den gleichen Gang, die gleiche Haltung der Schultern und des Kopfes, und sogar die Angewohnheit, ihre Füße um ein Winziges einwärts zu kehren, hatte Sandra mit ihrer Mutter gemeinsam.

Nachdem sie seinen Blicken entschwunden waren, zündete er sich eine Zigarette an. Er nahm den ersten langen Zug, während er noch einmal die bezaubernde Landschaft betrachtete.

Im nächsten Jahr, dachte er, bleiben wir länger hier. Vier Wochen, vielleicht sechs. Schon jetzt freute er sich darauf. Gleich würde er es Sonja sagen.

Kurt Bertrand ahnte nicht, daß dies nicht nur sein letzter Urlaub war, sondern auch der letzte Tag seines glücklichen, ausgefüllten Lebens.

*

Es geschah ganz plötzlich.

Sie waren bereits vier Stunden unterwegs und freuten sich darauf, in einer guten Stunde daheim zu sein, als ein schwerer, schneller schwarzer Citroen aus unerklärlichen Gründen – später stellte sich ein Versagen der Bremsen heraus – bei einem Tempo von 140 Stundenkilometern ins Schleudern geriet und Kurt Bertrands Wagen mit voller Kraft rammte, ihn meterweit mitzog und dann von der Fahrbahn schleuderte.

All das geschah in Sekunden, und in Bruchteilen dieser Sekunden streifte Sonjas verständnisloser Blick Kurts Profil. Es war hart, konzentriert und lehmfarben vor Blässe unter der Bräune.

»Kurt…«, flüsterte sie. Und dann, als ahne sie, daß sie nun fortgeschleudert wurden, drehte sie sich herum. Ein Stoß des Citroen bewirkte, daß sie über die Rückenlehne flog.

Sie breitete die Arme aus, und unter dem heftigen Schleudern des Wagens zog sie ihre Kinder in ihre Arme, zog sie unter sich, sie mit ihrem Leib deckend.

Sie duckte sich, den Schutz ihres Körpers vergrößernd, über die drei kleinen, zitternden stummen Kinderkörper, und als der letzte heftigste Stoß kam, der den Wagen von der Fahrbahn stieß, schrie sie noch einmal, wie in Todesangst: »Kurt, Kurt!«

Dann wurde Sonja, über ihren Kindern liegend, sie umklammernd und an sich pressend, mit beinahe tierischem Instinkt ihnen Deckung und Schutz vor dem Aufprall gewährend, ohnmächtig.

*

Als sie erwachte, lag sie in einem weißen unbekannten Bett, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie sich in einem Krankenhaus befand. Jäh und heftig sprang die Erinnerung sie an, und sie fuhr hoch.

»Die Kinder«, murmelte sie und erkannte ihre eigene Stimme nicht, »die Kinder… mein Mann…!«

Zwei kühle Hände schoben sie zurück, und eine beruhigende Frauenstimme redete begütigend auf sie ein.

»Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben, ganz, ganz ruhig.«

Sonja sah in das Gesicht über ihr. Es war ein alterloses, blasses, glattes Frauengesicht unter einer überdimensionalen spitzen, weißen Haube.

»Wo sind meine…?«

»Ruhig, ganz ruhig«, sagte die Stimme. »Der Arzt wird gleich kommen.«

Eine Tür öffnete sich, und Dr. Marhaupt trat ein. Mit zwei Schritten war er an Sonjas Bett. Wie von Sinnen starrte Sonja ihn an.

»Sagen Sie mir, wo meine Kinder sind, wo mein Mann ist! Bitte, Doktor, bitte!«

Marhaupt gab der Schwester ein Zeichen, und sie ging an einen kleinen Tisch hinter dem Bett. Instrumente klirrten leise. Dann kam sie mit einer gefüllten Spritze zurück, die sie dem Arzt reichte.

Während er die Spritze in Sonjas Vene setzte, sagte er: »Machen Sie sich keine Sorgen, schlafen Sie erst noch ein wenig. Ihre Kinder sind wohlauf, sie sind in guten Händen.«

Sonja wollte fragen: Und Kurt? Wie geht es meinem Mann? Ist ihm etwas passiert?

Doch die Wirkung der Spritze setzte sofort ein, und ihre Lider wurden schwer, senkten sich, obwohl sie sich dagegen wehrte.

Marhaupt sah auf ihr sonnenbraunes und doch so blasses Gesicht, in dem die noch leicht zitternden, langen schwarzen Wimpern das einzige Zeichen von Leben waren. Dann lagen auch sie still.

Marhaupt dachte einen Moment nach.

»Ich glaube, ich kenne sie.«

»Eine Patientin?« fragte die Schwester und nahm ihm die leere Spritze ab.

»Nein, wenn ich nicht irre, wohnt sie bei mir in der Nähe.«

»Sie heißt Betrand, Sonja Bertrand.«

»Der Name sagt mir nichts. Wissen Sie ihre Adresse?«

»Ja, warten Sie, Doktor. Ich hatte die Papiere doch hier… Ah ja, Uhlandsweg.«

»Sehen Sie. Ja, das ist nicht weit von mir. Ich wußte doch, daß ich sie schon einmal gesehen habe.«

Er schaute noch einmal auf Sonjas Gesicht, dessen Schönheit jetzt etwas sehr Rührendes und Blutjunges hatte.

»Wie alt ist sie?«

»Moment. Hier – vierunddreißig.«

»Sie sieht aus wie siebzehn.«

»Sie haben ihre Augen nicht gesehen, Doktor.«

»Doch. Nun, wie dem auch sei. Bleiben Sie bitte bei ihr, Schwester.«

»In Ordnung. Geht es den Kindern wirklich gut?«

»Ja, bis auf einen leichten Schock ganz ausgezeichnet. Wie durch ein Wunder ist ihnen nichts geschehen. Sie«, er machte eine leichte Kinnbewegung in Richtung Sonjas, »soll über ihnen gelegen haben. Weiß der Himmel, wie sie nach hinten in den Wagen gekommen ist. Oder vielleicht saß sie bei ihnen.«

»Das ist nicht anzunehmen.«

»Nein. Zeugen haben sie kurz vorher auch auf dem Beifahrersitz gesehen.«

»Sind die Untersuchungen bei ihrem Mann schon abgeschlossen?«

»Ja.«

»Und? Ist er…?«

»Er ist tot.«

»Mein Gott!«

»Ja«, sagte Dr. Marhaupt müde und fuhr mit der Hand durch sein graues übernächtigtes Gesicht. »Ja.«

Er dachte an ein anderes, nun für immer zugedecktes Männergesicht, an das Gesicht Kurt Bertrands. Ein kraftvolles, gutes, fast schönes Männerantlitz, dem man noch im Tod ansah, daß es gern gelacht hatte.

Aus den Papieren hatte er ersehen, daß Bertrand gleichaltrig mit ihm war, und das hatte ihm einen gelinden Schock versetzt. Noch keine vierzig! Wie schnell es gehen konnte, wie schnell!

*

Sonja schlug die Augen auf und blickte mitten hinein in das ruhige Gesicht der Nonne.

Schwester Mathilde versuchte, ihr zuzulächeln, doch ihr Lächeln erstarrte, als sie die Augen Sonjas sah. Die beiden Frauen sahen sich an. Sonjas Mund zuckte einmal, bevor sie in der Lage war, ihre Frage zu formulieren.

»Er ist tot, nicht wahr, Schwester?«

Und Schwester Mathilde ließ ihre Hand in die Tasche gleiten, umklammerte den Rosenkranz, ließ die Perlen durch ihre Finger gleiten und nickte. Sie nickte stumm. Dann wartete sie. Worauf wartete sie? Auf Tränen, auf Weinen, auf ein Aufbäumen der jungen Frau oder auf irgendeine nur allzu natürliche Reaktion?

Doch nichts geschah. Nur die Augen, diese dunklen, riesigen tiefen Augen schlossen sich.

Gleich, dachte Schwester Mathilde, werden unter den dichten schwarzen Wimpern Tränen hervorsickern. Doch auch das geschah nicht. Nicht einmal der Mund zuckte.

Sonja Bertrand lag starr, wie zu Stein geworden, in den Kissen und rührte sich nicht.

Eine erneute Ohnmacht! Die Nonne umfaßte Sonjas Handgelenk und fühlte den Puls.

»Bitte«, sagten die Lippen, die nun gänzlich ohne Farbe waren, »bitte, lassen Sie mich allein.«

Schwester Mathilde setzte zu einem behutsamen Protest an, unterließ ihn aber nach einem langen Blick in das erloschene Gesicht und ging leise hinaus.

Sie ließ Sonja eine Viertelstunde Zeit, bevor sie Dr. Marhaupt rief und ihm meldete, daß die Patientin aus ihrem Schlaf erwacht sei.

Dr. Marhaupt kam herein und setzte sich zu ihr an das Bett.

»Wie fühlen Sie sich?«

Sonja wollte antworten, doch ihre Stimme gehorchte ihr noch nicht. So sah sie den Arzt nur an.

»Lassen Sie nur«, bemerkte Marhaupt, »ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«

Schwester Mathilde hatte ihm gesagt, die Patientin wüßte, daß ihr Mann tot sei.

»Ihren Kindern geht es gut. Machen Sie sich bitte keine Sorgen – darum.«

Marhaupt, erfahren im Umgang mit Kranken und Trostsuchenden, erkannte mit einem Gefühlsgemisch aus Verwunderung und Trauer, wie mager Worte waren, um auszudrücken, was man empfand.

»Die Kinder«, murmelte die Frau verloren, doch wie erwachend, »die Kinder!«

»Es ist ihnen nichts geschehen. Nur Sandra hat eine leichte Hautabschürfung am rechten Unterarm.«

In Sonjas Augen stand riesengroß, wie mit Lettern geschrieben, eine Frage.

Marhaupt senkte den Kopf und nahm ihre eiskalte Hand zwischen seine warmen festen Hände.

»Nein«, beantwortete er die stumme Frage, »nein, sie wissen es noch nicht.«

Die Hand vibrierte leicht, zuckte wie im Krampf. Marhaupt hielt sie fest, bis sie sich beruhigte.

Endlich kam Sonjas Stimme. Sie klang hell, zu hell, zitterte aber nicht. Nur leise war sie, leise und wie klagend.

»Wie lange…?«

»Wie lange man es ihnen verschweigen kann? Meinen Sie das?«

Sonja nickte.

»Das liegt bei Ihnen.«

»Ja…«

Das Ja war nur ein verwehender Hauch.