Geliebte Stiefmutter - Rosa Lindberg - E-Book

Geliebte Stiefmutter E-Book

Rosa Lindberg

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Marion Spilling stellte das Eierkörbchen auf den Tisch. Sie rückte die Vase mit den Himmelsschlüsseln ein wenig nach links, dorthin, wo das Gesteck auf Dietrich wartete. Es war gleich zehn. Der Kaffee duftete, und da die Sonne schon recht warm durch das Fenster schien und ihre Strahlen genau auf die Butter richtete, mußte auch das Butternäpfchen den Platz wechseln. Im Schatten war es besser aufgehoben. Nina, die vierjährige Tochter der Spillings, saß schon seit geraumer Zeit auf ihrem Stühlchen. Aufmerksam beobachtete sie jede Bewegung der Mutter. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen Seufzer aus. Es war nicht leicht einzusehen, warum sie immer noch nicht ihren Kakao bekam. Plötzlich stemmte sie die Ellbogen auf den Tisch. »Mami, warum kommt Papi nicht?« »Weil er etwas länger schläft, mein Schatz.« »Dann mußt du ihn wecken. Ich hab' Hunger. Oder soll ich mal anfangen?« Marion trug das bayerische Dirndl, das Dietrich ihr im letzten Herbst vom Münchener Oktoberfest mitgebracht hatte. An ein dunkelblaues Mieder reihte sich ein gestreifter Rock. Darüber war eine weinrote Schürze gebunden. Ein weißes Blüschen lugte an den Ärmeln und aus dem Ausschnitt hervor und unterstrich die gesunde Farbe von Marions Décolleté und ihrem feinen Gesicht. Da sie ihr mittelbraunes Haar zu einem Zopf geflochten hatte, sah die achtundzwanzigjährige Marion wie ein junges Mädchen aus.

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Mami Bestseller – 24–

Geliebte Stiefmutter

Die Freude kam erst nach vielen Tränen

Rosa Lindberg

Marion Spilling stellte das Eierkörbchen auf den Tisch. Sie rückte die Vase mit den Himmelsschlüsseln ein wenig nach links, dorthin, wo das Gesteck auf Dietrich wartete. Es war gleich zehn. Der Kaffee duftete, und da die Sonne schon recht warm durch das Fenster schien und ihre Strahlen genau auf die Butter richtete, mußte auch das Butternäpfchen den Platz wechseln. Im Schatten war es besser aufgehoben.

Nina, die vierjährige Tochter der Spillings, saß schon seit geraumer Zeit auf ihrem Stühlchen. Aufmerksam beobachtete sie jede Bewegung der Mutter. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen Seufzer aus. Es war nicht leicht einzusehen, warum sie immer noch nicht ihren Kakao bekam.

Plötzlich stemmte sie die Ellbogen auf den Tisch.

»Mami, warum kommt Papi nicht?«

»Weil er etwas länger schläft, mein Schatz.«

»Dann mußt du ihn wecken. Ich hab’ Hunger. Oder soll ich mal anfangen?«

Marion trug das bayerische Dirndl, das Dietrich ihr im letzten Herbst vom Münchener Oktoberfest mitgebracht hatte. An ein dunkelblaues Mieder reihte sich ein gestreifter Rock. Darüber war eine weinrote Schürze gebunden. Ein weißes Blüschen lugte an den Ärmeln und aus dem Ausschnitt hervor und unterstrich die gesunde Farbe von Marions Décolleté und ihrem feinen Gesicht. Da sie ihr mittelbraunes Haar zu einem Zopf geflochten hatte, sah die achtundzwanzigjährige Marion wie ein junges Mädchen aus.

Sie setzte sich neben ihre Tochter. »Heute ist Sonntag, Nina. Wir wollen doch zusammen frühstücken.«

»Aber ob Papi das auch will?« fragte Nina und richtete ihre blauen Kulleraugen auf Marion.

Marion zwang sich zu einem Lächeln. Nina wußte nicht, wie verletzend ihre naive Frage geklungen hatte. Und gerade darum fiel es der jungen Mutter besonders schwer, sie unbeantwortet zu lassen. Warum spielte sie ihrer Tochter etwas vor? Weil sie noch viel zu klein war, um das, was in diesem Haus vorging, zu verstehen? Oder weil sie selbst von tiefster Unsicherheit gequält wurde und lieber nicht daran rühren wollte?

»Weißt du was, Nina?« Sie erhob sich und streckte der Kleinen ihre Hand entgegen. »Wir gehen in den Garten und schauen nach, welche Bäumchen heute neue Blüten bekommen haben.«

Nina vergaß ihren Hunger. Als sie aber auf dem Weg ins Freie an der Treppe vorbeikamen, reckte sie sich plötzlich und schrie aus Leibeskräften nach oben: »Papi, komm mal runter! Ich hab’ Hunger. Und Mami auch!«

»Pst!« Marion war zusammengezuckt. Dietrich liebte es nicht, geweckt zu werden. Am letzten Abend war er sehr spät aus Hamburg zurückgekommen. Sein Chef erwartete von ihm überdurchschnittlichen Fleiß, und da die Spillings sich finanziell ein wenig übernommen hatten, mußte Dietrich jede Chance wahrnehmen. Bis tief in die Nacht arbeitete er jetzt oft in der Hamburger Firma. Und Marion fühlte sich ganz elend dabei.

Es war ihre Idee gewesen, hier draußen einen Bauplatz zu kaufen und einen Bungalow zu bauen. Sie hatte immer gehofft, das Leben im Grünen und die friedliche Stille würden Diet­rich wieder an sein altes Hobby, die Gärtnerei, zurückführen. Aber sie hatte sich geirrt. Dietrich arbeitete viel zu angestrengt. Den Garten nutzte er nur, um am Wochenende ein Nickerchen zu machen. Und daß es so gekommen war, daran war sie allein schuld. Darum sollte Dietrich wenigstens am Sonntagmorgen ungestört schlafen.

Marion drückte Ninas Hand, die sich warm und voller Vertrauen in die ihre schmiegte. Solange das Kind gesund und glücklich war, durften ihre Sorgen nicht überhand nehmen. Nina war das Pfand ihres Glücks. Dietrich hatte zwar kaum Zeit für das Kind, solange er in Hamburg arbeitete. Aber er liebte es gewiß. Diese Gewißheit war das einzige, was ihre Zweifel an seiner Liebe zu ihr bannen konnte. Wo ein strahlendes Kind zwischen zwei Menschen aufwuchs, mußte jede Krise vorübergehen. Auch diese, die ihre Ehe im Augenblick belastete.

Sie trat ins Freie. Die Sonne stand schon am blauen Himmel, es duftete nach feuchter Erde und frischem Grün. Der Rasen war frisch gesät worden, die ersten zarten Keime streckten sich dem Licht entgegen.

Im vergangenen Herbst hatten sie etwas leichtsinnig Obstbäumchen gekauft und gepflanzt. Tatsächlich hatte die Sonne an einigen von ihnen schon zarte weiße Blüten hervorgelockt. Es erschien Marion wie ein Wunder.

»Äpfel!« bestimmte Nina. »Da kommen dann bald Äpfel.«

Marion lachte. »Bald nicht, Nina-Schatz. Es wird Herbst sein, wenn wir die Äpfel ernten können.«

»Och! Warum muß ich denn immer auf alles so lange warten, Mami? Auf Papi und auf die Äpfel. Das ist doof.«

Sie stapfte voran und schaute das nächste Bäumchen an.

»Kirschen?« fragte sie.

Marion nickte. »Ja, das werden Süßkirschen. Auf die mußt du nicht so lange warten.«

»Und der da hinten?«

»Das müßten Pfirsiche werden. Aber versprechen kann ich nichts. Wenn es nicht warm genug ist, reifen sie kaum.«

Sie gingen um das Haus herum in den kleinen Vorgarten, wo die Sonne auch am Nachmittag lange scheinen würde. Dort hatten Dietrich und Marion den Platz für den Pfirsichbaum ausgesucht. Jetzt stand dort Dietrichs Wagen so knapp vor der Garage, daß er die Sicht auf das Bäumchen verbaute. Nina war neugierig. Sie quetschte sich an dem Auto vorbei. Marion blieb nachdenklich zurück. Ihr Blick ruhte auf dem knallroten Lack des Autos. Warum hatte Dietrich sich auch noch diesen neuen, viel zu teuren Wagen anschaffen müssen? Weil er damit schneller zu ihnen herauskam? Oder weil er Eindruck schinden wollte? Ihr imponierten keine großen Wagen. Und außerdem hätte das Geld besser fürs Haus verwendet werden sollen.

Dietrich aber ließ sich nicht belehren. Sie hatte ihm schon zu oft gezeigt, daß er seinen Verdienst mit zu lockerer Hand ausgab.

»Mami, guck mal, ich bin schmutzig!« meldete Nina und tauchte hinter der Motorhaube auf. Der Straßenstaub auf dem Lack hatte sich auf ihren gelben Pullover abgesetzt. Sie rieb noch kräftig daran herum. »Nun kann ich auch mein Dirndl anziehen, nicht?«

Auch Nina hatte Dietrich vor einem halben Jahr ein Dirndl mitgebracht. Es war nur noch ein wenig zu groß.

»Es paßt dir noch nicht, Nina. Und außerdem ist es noch nicht warm genug. Du wirst nachher im Garten herumtoben und dann…«

»Aber dann darf ich den hellblauen Pulli anziehen!«

»Ja, mein kleiner Liebling.«

Marion streckte die Hand nach Nina aus. Als das Kind sie ergriff, wurde Marion von ihren Gefühlen übermannt. Sie hob Nina hoch, drückte sie an sich und küßte sie auf die runden roten Bäckchen. Da schlang Nina die Ärm­chen um ihren Hals und preßte ihr Gesicht an das ihre. Dann aber hatte sie etwas Besseres zu tun. Sie ließ sich auf den Boden gleiten und rannte um das Haus herum. Marion wollte ihr folgen. Da bemerkte sie, daß Dietrich seine Aktentasche im Auto gelassen hatte. Sie griff nach der Tür, und sie öffnete sich.

Mit der Tasche unter dem Arm betrat sie das Haus. Von oben hörte sie Ninas Stimme.

»Jaaa, Papi! Ich ziehe mich ja auch an. Nun mußt du aber schnell machen! Weil ich nämlich sooo einen Hunger hab’. Wer ist zuerst fertig? Iiich!«

Marion preßte die Tasche lächelnd an sich. Nina brachte ihren Papi schon in Schwung! Und Dietrich würde das gefallen. Als sie an ihren Mann dachte, überkam sie plötzlich und aus heiterem Himmel ein seltsames Gefühl. Warum hatte er die Aktentasche im Auto gelassen? Sonst nahm er sie immer mit ins Haus. Einen Augenblick zögerte sie, dann sah sie hinein.

In der Tasche befand sich ein Bündel Briefe, weiter nichts. Flüchtig sah Marion sie durch. Alle waren an Dietrich Spilling adressiert. Wie merkwürdig! Nirgends stand die Adresse drauf, nur die Nummer eines Postfachs war angegeben worden. Marion hatte keine Ahnung, daß sie und Dietrich ein Postfach besaßen.

In diesem Moment hörte sie Dietrich und Nina die Treppe herunterkommen. Sie überlegte nur einen Moment lang. Nein, sie würde ihrem Mann keine Fragen in Ninas Gegenwart stellen. Es war zwecklos. Mehr als Ausflüchte und Ausreden waren nicht von ihm zu erwarten.

»Nina hat mich geweckt«, sagte Diet­rich mit einem fröhlichen Lachen und strich Marion flüchtig über den Arm.

»Muß ich auch«, meinte Nina und krabbelte auf ihren Stuhl. »Du schläfst immer viel zuviel, Papi. Das macht mir keinen Spaß.«

»Ich arbeite ja auch viel«, erwiderte er mit erstarrtem Gesicht. Marion schenkte ihnen Kakao und Kaffee ein. Sie fühlte dieses Mißtrauen in sich stärker werden.

Und zum ersten Mal fragte sie sich, ob es eine andere Frau gab, die ihre Ehe bedrohte.

Wenig später klingelte es. Es waren Kinder aus der Nachbarschaft, die Nina zum nahegelegenen Spielplatz abholen wollten.

»Willst du nicht bei Papi bleiben?« fragte Marion ihr Töchterchen. Bevor Nina antworten konnte, deutete Diet­rich ein Kopfschütteln an.

»Laß sie gehen, Marion. Ich habe einiges zu erledigen.«

Marion sah sich schnell um. Sie hatte die Tasche noch gerade in die Küche stellen können. Wann würde Dietrich sie vermissen? Sie holte Ninas blauen Anorak und zog ihn ihr über. Als sie die Haustür für die Kinder öffnete, stand Dietrich hinter ihr. Er ergriff Ninas Hand.

»Ich bringe sie wenigstens zum Spielplatz.«

»Das brauchst du nicht«, wehrte Nina sich. »Sebastian und Knut passen auf mich auf. Die sind doch schon sieben.«

»Acht«, verbesserte der rothaarige Knut stolz. Marion und Dietrich wechselten einen Blick. Sie lächelten sich zu. Dann geleitete Dietrich die Kinder doch auf die Straße. Als Marion ihm nachsah, ahnte sie, daß dieses Lächeln zwischen ihnen das einzige des Tages bleiben würde.

Und so geschah es auch. Wenige Minuten später kehrte Dietrich in den Garten zurück. Er ging ans Auto und öffnete die Tür. Mit klopfendem Herzen sah Marion ihm vom Küchenfenster aus zu. Sie bemerkte, wie er das Auto in großer Hast durchschaute. Dann schritt er energisch auf das Haus zu.

Dietrich Spilling war ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit einem gutmütigen Gesicht. Unter ausdrucksvollen Augenbrauen sah ein warmherziger Blick hervor. Auf der Oberlippe hatte er sich seit einiger Zeit ein Bärtchen stehen lassen. Damit sah er ein wenig leichtsinnig aus. Wenn er lachte, wirkte er charmant. Und Marion ahnte, daß sie nicht die einzige Frau war, die dieses Lachen gern hatte.

»Warst du am Wagen?« fragte er sie barsch.

»Ja, Dietrich.« Sie nahm die Tasche und reichte sie ihm. »Ich habe sie mit hineingenommen, weil ich dachte, du hättest sie heute nacht vergessen.«

»Und? Ist etwas dabei? Bin ich ein kleines Kind, dem jeder Gegenstand nachgetragen werden muß?«

»Nein, Dietrich. Aber ich habe sie dir nicht nur nachgetragen, sondern auch hineingeschaut. Dabei stellte ich fest, daß wir ein Postfach gemietet haben. Warum?«

Er riß ihr die Tasche aus der Hand. »Weil ich dich nicht aufregen will, Marion. Wir haben Schulden, das weißt du. Wenn die Mahnungen kommen, mußt du sie nicht auch noch sehen. Ich tat es aus Liebe.«

»Ich glaube dir nicht, Dietrich. Wir sind sechs Jahre verheiratet, und du hast mich nie verschont, wenn wir knapp bei Kasse waren.«

Seine Augen funkelten sie dunkel an. »Ich arbeite jeden Tag bis in die Nacht hinein. Ich will mich nicht noch am Sonntag ärgern müssen.«

»Es ist unser gemeinsamer Ärger, Dietrich. Komm, wir zählen die Rechnungsbeträge zusammen. Es kann doch nicht mehr so schlimm sein. Vielleicht noch ein halbes Jahr, dann…«

Mit einem Aufstöhnen wandte er sich ab und öffnete die Tasche. Er holte das Bündel Briefe heraus und warf es auf den Frühstückstisch. Marion war den Tränen nahe. Sie hatte niemals glauben können, daß ausgerechnet Schulden ihre noch so engverbundenen Herzen trennen konnten. Sie schämte sich, weil sie diese häßliche Auseinandersetzung begonnen hatte, und wollte sich versöhnlich zeigen. Darum ging sie auf ihn zu und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter.

Aber Dietrich machte eine unwillige Bewegung, als wolle er sie abschütteln. Verdutzt sah Marion ihn an. Da bemerkte sie, daß diese Bewegung gar nicht ihr gegolten hatte. Dietrich hatte sich blitzschnell nach vorn gebeugt, um einen der Briefe aus dem Bündel an sich zu nehmen. Er steckte ihn in die Hosentasche und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen.

Noch während Marion Kräfte sammelte, um ihm nacheilen und ihn um Worte der Erklärung bitten zu können, hörte sie die Autotür zuknallen. Der Motor heulte auf. Dietrich fuhr davon.

Sie setzte sich. Ihre Finger strichen über die geblümte Tischdecke, ihr Blick wanderte ruhelos über Teller und Tassen. Irgend etwas zerbrach in ihr wie feines Glas, aber sie wollte es nicht wahrhaben.

Scherben, dachte sie und schluckte tapfer die aufsteigenden Tränen hinunter, Scherben gibt es überall mal. Davon darf eine Ehe wie unsere nicht belastet werden.

*

Jeden Sonntag nach dem Mittagessen ging Marthe Petzold auf den Herrenkirchener Friedhof, um nach den Gräbern zu sehen. Dort lagen ihre Eltern und ihr Ehemann begraben, und solange es noch nicht so heiß war, konnte sie die Blumen um diese Tageszeit gießen. Sie liebte die ruhige Stunde auf dem Friedhof. Die meisten Leute in Herrenkirchen aßen jetzt noch oder gaben sich einem Schlummer auf dem Wohnzimmersofa hin. Darum mußte sie keine Fragen beantworten oder Gespräche führen. Davon hatte sie schon während der Woche genug.

Heute hatte sie sich zu früh auf die besinnliche Stunde gefreut. Aglaja, ihre kleine Pflegetochter, begleitete sie. Aglaja war ein entzückendes Kind. Lebhaft und aufgeweckt, dabei brav und zärtlich. Solange sie noch nicht zur Schule ging, wurde sie von der Witwe betreut. Am Wochenende bekam Aglaja dann Besuch von ihrer Mutter.

Corinna Sassen war eine berühmte und vielbeschäftigte Modefotografin. Vor einem halben Jahr hatte sie sich einen Bauernhof in Herrenkirchen gekauft und ihn als Wochenenddomizil umbauen lassen. Nur leider stand das Haus auch oft an den Sonntagen leer. Corinna Sassen war ständig unterwegs. und sie hatte, das war Frau Petzold schnell klargeworden, einen Freund, der sich nicht gern mit Kindern abgab.

Heute war Corinna Sassen ausnahmsweise in Herrenkirchen. Aglaja hatte bei ihr übernachtet und den Sonntagmorgen mit ihrer Mami verbracht. Aber schon mittags hatte es im Nachbarhaus von Frau Petzold ans Küchenfenster geklopft, und die Kleine war mit ihrer Puppe unter dem Arm zu der immer herzlichen und liebenswürdigen Tante Marthe ins Haus geschlüpft. Natürlich wollte sie auch mit auf den Friedhof. Und so kam es, daß Marthe Petzold doch eine Menge Fragen beantworten mußte.

»Liegt da dein Papi?« fragte Aglaja, als sie ein Grab mit einem schönen Marmorkreuz erreicht hatten.

»Ja, Aglaja. Und meine Mutter auch.«

»Daß denen nicht kalt ist!« wunderte Aglaja sich.

»Sie sind im Himmel, da ist es nicht kalt.« Marthe Petzold bückte sich, um einige verdorrte Zweige von den Tulpenknospen zu heben. In der letzten Woche war es stürmisch gewesen. Die Linden hatten ihre überflüssigen Zweiglein auf die Gräber abschütteln müssen.

»Aber im Winter ist es auch im Himmel kalt«, vermutete Aglaja.

Marthe Petzold antwortete diesmal nicht. Kinder sollten ihre Vorstellungen von dem Unfaßbaren solange wie möglich behalten. Das regte die Phantasie an.

»Deine Mutter und dein Papi tragen dann gewiß dicke Mäntel.«

»Ja, bestimmt.« Marthe schmunzelte. Aglaja wußte die Wirklichkeit in ihrer kindlichen Vorstellungswelt ins rechte Licht zu rücken. Wenn es im Himmel kalt war, trugen die Engel eben dicke Mäntel wie die Menschen auf der Erde. Gut so.

»Und hier liegt dein Papi auch noch«, meinte Aglaja, als sie beim Grab von Marthes verstorbenem Mann angekommen waren.

»Mein Mann«, berichtigte Marthe jetzt. »Richards Papi.«

Richard war Marthes Sohn. Er hatte an der Göttinger Universität eine Professur und kam nur selten nach Herrenkirchen. Aber einmal hatte Aglaja ihn schon gesehen.

»Wenn Richards Papi tot ist, hat er ja keinen Papi mehr.«

»Das ist richtig. Aber er hat einen sehr guten Papi gehabt.«

Aglaja stand nachdenklich neben ihr. Sie trug einen modisch ausgefallenen, viel zu großen Mantel, den ihre Mutter in London auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Er hätte besser zu Sherlock Holmes gepaßt. Corinna war eine extravagante Frau und liebte es, auch ihre Tochter so zu kleiden. Und Aglaja war zufrieden. Sie vergrub die Hände in den Manteltaschen wie der große Detektiv und watschelte langsam davon.

Marthe hatte eine kleine Harke bei sich. Damit lockerte sie vorsichtig die Erde um die Pflanzen. Dann richtete sie sich auf. Sie war sechzig, und ihr Kreuz liebte solche Tätigkeiten nicht besonders. Aglaja winkte ihr zu.

»Komm mal, Marthe:«

Die Witwe klopfte die Hände an einem Stein ab, zog die alten Lederhandschuhe von den Fingern und tat beides in einen Beutel.

Aglaja stand vor einem Doppelgrab. Es war über die ganze Fläche mit Efeu bewachsen. Nirgends keimte ein Blümchen, und die beiden Kreuze waren aus schwarzem Eisen.

»Hier liegt mein Papi, Marthe.«

Der Arztwitwe verschlug es den Atem. Sie wollte Aglaja an die Hand nehmen und mit sich ziehen. Aber dann besann sie sich eines Besseren.

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach sie. »Dein Papi ist nicht gestorben.«

»Wenn er nicht gestorben ist, wo ist er dann?«

»Komm, Aglaja.«

Sie tat so, als wolle sie den anderen Ausgang des Friedhofs benutzen, und kümmerte sich nicht mehr um das Kind. Dabei wußte sie ganz genau, daß es der Wunsch nach einem Vater war, der Aglaja zu solchen Phantasien verführte. Keiner konnte ihr das übelnehmen. Aglajas Vater lebte noch, aber sie hatte ihn nie zu sehen bekommen. Mit vier Jahren kam ein Kind jedoch schon auf seltsame Gedanken!

»Marthe!« rief es hinter ihr. Frau Petzold atmete auf. Aglaja hatte wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden, und das mit dem Grab unter dem düsteren Efeu würde auch bald vergessen sein.

»Marthe, wenn mein Papi da liegt, besuche ich ihn auch jeden Sonntag.«

Marthe Petzold war in Herrenkirchen aufgewachsen und hatte nie viel von der Welt gesehen. Bei dem Grafen im Nachbardorf hatte sie solange als Haustochter gearbeitet, bis eines Tages der junge und fesche Dr. Petzold aufgetaucht war und sie vom Fleck weg geheiratet hatte. Sie hatten sich viele Kinder gewünscht, aber nur eins, den gelehrigen Richard, bekommen. So hatte Marthe immer viel Zeit für andere Menschen, krank oder nicht, aufbringen können. Darin hatte sie, als ihr Sohn fortgezogen und ihr Mann gestorben war, den Sinn ihres Lebens gesehen. Und nun entdeckte sie ausgerechnet an diesem hübschen und fröhlichen Kind Fähigkeiten, die weit über das Maß jugendlicher Phantasien hinausragten und ihr Angst einflößten. Sie mußte es Corinna Sassen noch heute erzählen.

»Er liegt nicht in einem Grab! Weil er noch lebt, Aglaja.«

»Ich will aber, daß er da liegt. Wie dein und Richards Papi. Alle Papis liegen irgendwo. Auch die Papis von den anderen Kindern im Dorf.«

Marthe schritt mächtig aus. Aglaja mußte zu laufen beginnen, um hinter ihr bleiben zu können.

»Die liegen gar nicht alle irgendwo! Sie laufen gesund auf zwei Beinen herum und gehen ihrer Arbeit nach.«

»Und mein Papi? Wo ist denn der?«