E-Book 51 - 60 - Rosa Lindberg - E-Book

E-Book 51 - 60 E-Book

Rosa Lindberg

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! E-Book 51 : Einer Mutter größtes Glück E-Book 52 : Tim macht das schon E-Book 53 : Nun habe ich nur noch euch E-Book 54 : In meinen Armen geborgen E-Book 55 : Vergessen ist das Leid E-Book 56 : Mein Kind Susanne E-Book 57 : Ein Kind begreift die Welt nicht mehr E-Book 58 : Lisa und ihre Kinder E-Book 59 : Auch ein Lausbub braucht viel Liebe E - Book 60: Die Mutter ließ sie alles vergessen E-Book 1: Einer Mutter größtes Glück E-Book 2: Tim macht das schon E-Book 3: Nun habe ich nur noch euch E-Book 4: Vergessen ist das Leid E-Book 5: Mein Kind Susanne E-Book 6: Ein Kind begreift die Welt nicht mehr E-Book 7: Lisa und ihre Kinder E-Book 8: Auch ein Lausbub braucht viel Liebe E-Book 9: Die Mutter ließ sie alles vergessen E-Book 10: In meinen Armen geborgen

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Inhalt

Einer Mutter größtes Glück

Tim macht das schon

Nun habe ich nur noch euch

Vergessen ist das Leid

Mein Kind Susanne

Ein Kind begreift die Welt nicht mehr

Lisa und ihre Kinder

Auch ein Lausbub braucht viel Liebe

Die Mutter ließ sie alles vergessen

In meinen Armen geborgen

Mami Bestseller – Staffel 6 –

E-Book 51 - 60

Rosa Lindberg Birke-May Bergen Gisela Heimburg Cornelia Waller Christiane von Torris Myra Myrenburg Gisela Reutling Corinna Volkner

Einer Mutter größtes Glück

Waltraud sehnt sich nach Kindern

Roman von Volkner, Corinna

Waltraud Böhm saß bei ihrer Mutter in der gemütlichen Küche und ließ sich ein verspätetes Mittagessen schmecken.

In diesem Augenblick ahnte die junge Hebamme nicht, was ihr der Tag noch Schreckliches bringen sollte.

»Nun erzähl doch mal, Kind«, drängte Frau Böhm und betrachtete ihre hübsche Tochter voller Stolz. Tüchtig war sie in ihrem Beruf, äußerst beliebt bei den werdenden Müttern, obwohl sie erst seit zwei Jahren als Hebamme in St. Blasien tätig war. Und nun hatte sogar der größte Bauer anstatt der alten Frau Speidel, eine erfahrene Frau, ihre Waltraud zur Geburt seines ersten Kindes auf den Hof geholt.

»Was ist es denn? Ein Junge? Hat die Veronika dem Bauern den ersehnten Erben geschenkt? So rede doch schon, Mädel«, bat sie ungeduldig.

Lächelnd nickte Waltraud. »Ja, Mama, es ist ein prachtvoller Junge, und die Veronika hat sich tapfer gehalten, obwohl es nicht leicht war für sie.«

»Wie schön! Da war wohl eitel Freude beim Grasegger.« Frau Böhm erhob sich vom Küchenstuhl, trat an den Herd, um für ihre abgekämpfte Tochter einen Kaffee aufzubrühen. Ihr Blick ging dabei aus dem Fenster, und seufzend mußte sie feststellen, daß der Sturm eher noch zugenommen hatte. Dabei wirbelten dicke Schneeflocken vom Himmel.

»Die Frau Speidel kann heilfroh sein, daß du ihr in diesem Winter einen Teil der Geburten abnimmst, Waltraud«, meinte sie und kehrte zurück an den Tisch, wo ihre Tochter schlaftrunken aufschreckte. Herrje! Die Ärmste schlief ja mit offenen Augen.

Doch nun reckte Waltraud ihre geschmeidigen Glieder, seufzte und gab zurück: »Ist wohl auch viel zu anstrengend für die alte Frau. Doch sie versorgt den Säugling der Veronika.«

Das fand Frau Böhm sehr gut. »Fein, Waltraud! So fühlt sich die Speidel nicht völlig übergangen. Doch du hast recht. Mit dem Fahrrad käme Frau Speidel jetzt kaum rechtzeitig zu den einzelnen Gehöften und Pensionen. Da hast du es doch mit dem Wagen um einiges besser.«

»Mein Wagen!« Besorgt runzelte Waltraud ihre Stirn. »Du, Mama, mit dem stimmt was nicht. Da war vorhin so ein komisches Geräusch am Motor. Den bringe ich morgen früh gleich in die Werkstatt.«

Frau Böhm goß ihrer Tochter Kaffee ein und meinte dabei: »Hoffentlich streikt er nicht, wenn du nun zu den Lorrimers hinausfährst, mein Kind.«

Erstaunt blickte Waltraud die Mutter an. »Zu Lorrimers? Mama! Willst du damit sagen, daß von dort schon wieder angerufen wurde wegen…?«

»Genau«, entgegnete Frau Böhm seelenruhig und schob Waltraud die Tasse zu. »Trinke erst mal in Ruhe, sonst schläfst du unterwegs ein. Ist sicher wieder falscher Alarm.«

Unruhig und leicht verärgert, leerte Waltraud rasch ihre Tasse, verbrannte sich ein wenig die Zunge, was ihre Stimmung nicht gerade hob. »Mutter«, sagte sie eindringlich, »wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du mir von diesen Anrufen sofort berichten mußt, wenn ich ins Haus komme. Nicht erst nach dem Essen oder einer halben Stunde Schlaf. Bitte, merke dir das doch endlich!«

Unwillig wehrte Frau Böhm ab. »Das ist wie bei einem Arzt. Dessen Frau muß auch darauf achten, daß da nicht Essen und Schlaf vergessen werden. Außerdem wurde nur wenige Minuten, bevor du todmüde und hungrig durch die Hausfür gewirbelt kamst, angerufen. Ja, der Sturm trieb dich so richtig vor sich her. Matt und erschöpft, wie du warst. Sollte ich dich da gleich wieder fortlassen?«

Frau Böhm folgte ihrer Tochter aus der Küche hinaus. Während ihrer Worte hatte Waltraud sich schon die Stiefel angezogen und in der Diele die Strickmütze aufgesetzt. Nun schlüpfte sie in die Lodenjacke und griff nach ihrer schweren Tasche.

»Hoffentlich streikt der Wagen nicht«, sagte sie noch einmal, dann riß ihr der Wind vor der Haustür das Wort von den Lippen.

»Falscher Alarm«, das hatte Frau Böhm gerade noch verstehen können, und in der Tat war es schon das dritte Mal, daß ihre Tochter sich zu den Lorrimers aufmachte.

Waltraud bahnte sich ihren Weg durch Sturm und Schneegestöber zu ihrem Wagen hin, der noch vor der Garage stand.

Ihre Gedanken eilten der Fahrt voraus zu dem schmucken, renovierten Schwarzwaldhaus der Familie Lorrimer. Frau Lorrimer erwartete ihr zweites Kind, ein zartes blondes Mädchen von acht Jahren hatten sie schon.

Lange wohnten die Lorrimers noch nicht in dem etwas abseits gelegenen kleinen Tal, in dem der Mann eine Forellenzucht betrieb. Die Familie kam aus Baden, das hatte Frau Lorrimer ihr einmal während einer Untersuchung erzählt. Verwandte besaßen sie hier in der Gegend nicht, und Frau Lorrimer litt unter Kontaktschwierigkeiten. Herrn Lorrimer schien die Abgeschiedenheit nichts auszumachen. Er war ein Mann, der hart arbeitete, seinen Betrieb ständig vergrößerte und nun schon viele Hotels in St. Blasien mit frischen Forellen belieferte.

Waltraud hatte ihn einige Male gesehen und fand ihn recht interessant, wenngleich etwas einsilbig. Er schien seine Frau sehr zu lieben und – nun ja, er wünschte sich gleich dem Bauern Grasegger auch einen Sohn.

Versonnen lächelte Waltraud, während sie langsam und unter großen Mühen – wegen der schlechten Sicht – über die verschneite Landstraße dem Mühltal entgegenfuhr.

Plötzlich begann der Motor des Wagens zu stottern und setzte dann ganz aus.

»Oh, nein! Ich hab’s doch geahnt!« rief Waltraud und versuchte den Motor erneut durchzustarten. Vergebens!

Langsam überkam die junge Hebamme ein Gefühl der Panik. Sie war allein hier mitten auf der Landstraße. Außer dem wirbelnden Schnee, dem Heulen des Windes und den kahlen Pappeln zu beiden Seiten der Straße war nichts zu sehen und zu hören. Sie war allein!

Mit unendlicher Mühe und Anstrengung gelang es ihr, das Auto von der Straße fort zwischen die Pappeln zu schieben. Zwischendurch hielt sie verzweifelt nach einem Wagen Ausschau, doch die Welt schien wie ausgestorben zu sein. Niemand kam und nahm sie ein Stück mit.

Hoffentlich war es nur falscher Alarm, dachte Waltraud und kämpfte sich mit ihrer schweren Tasche mühsam aufwärts, denn nun lag die schnurgerade Landstraße hinter ihr, und der Weg führte bergauf, dann wieder bergab ins Mühltal.

Hoffentlich kommt der Doktor auch diesmal wieder her, dachte Waltraud und blieb zunächst einen Moment vor der Haustür stehen, um ihren jagenden Atem ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Ein Blick über den von Schnee verwehten Hof ließ sie resigniert feststellen, daß vom Wagen des Doktors nichts zu sehen war.

Doch vielleicht würde er noch kommen. Bei diesem Wetter ging auch bei Dr. Maier sicher einiges nicht so wie geplant.

Gerade wollte die Hebamme klingeln, als die Tür aufgerissen wurde, und Herr Lorrimer einen Schritt auf sie zutrat.

»Da sind Sie ja endlich! Kommen Sie rasch, meiner Frau geht es nicht gut.«

Damit packte er die schwere Tasche, und Waltraud trat in die Diele ein. »In welchen Abständen kommen denn die Wehen?«

Ein erstaunter, fast zorniger Blick aus den hellen Männeraugen traf sie. »Wie soll ich das wissen? Ich war drüben in der Mühle, bis das Kind mich rief. Meine Frau liegt im Bett. Sie bringt vor Schmerzen kein Wort hervor. Warum hat das denn mit Ihnen so lange gedauert? Fast eine Stunde warten wir schon auf Sie.«

Lorrimers Gesicht war bleich, sah angstverzerrt aus. Waltraud kannte ihn so gar nicht, hielt ihn immer für einen nervenstarken Mann, den so leicht nichts erschüttern konnte.

»Meine Tasche! Schnell!« Fast riß sie ihm die Tasche aus der Hand und verschwand im Schlafzimmer der Eheleute, wo man die Betten schon vor Tagen auseinandergeschoben hatte. Vor dem Fenster stand die schöne buntbemalte Kinderwiege, etwas davon entfernt eine Wickelkommode. Alles liebevoll vorbereitet für den neuen Erdenbürger.

Doch von alledem sah Waltraud Böhm in dieser Sekunde nichts. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der jungen Frau, die mit bleicher, schmerzverzerrter Miene in den Kissen ruhte.

Ein Seufzer der Erleichterung drang über ihre Lippen. »Da sind Sie ja endlich! Gottlob! Das Baby muß bald kommen. Sie müssen mir gleich sagen, wie – wie es ihm geht. Hören Sie, Fräulein Böhm! Ich muß wissen, wie es dem Kind geht. Ob alles in Ordnung mit – mit…«

»Still, Frau Lorrimer! Sparen Sie Ihre Kräfte. O Gott!« Das letzte kam tonlos und in tiefer Besorgnis von Waltrauds Lippen. Sie erhob sich vom Bettrand, eilte zur Tür und rief nach Herrn Lorrimer, der sofort zur Stelle war.

»Verständigen Sie Dr. Maier! Rasch! Er soll sofort kommen«, flüsterte Waltraud ihm zu, ehe sie wieder ins Schlafzimmer zurücktrat und die Tür schloß.

»Frau Lorrimer! Was ist passiert?« Während sie diese Frage stellte, drängte das Kind schon ins Leben, ließ Waltraud kaum Zeit zum Nachdenken.

Es ging nun alles sehr schnell. Das Kind kam, wurde von ihr notdürftig versorgt, und während sein erster, kräftiger Schrei das Haus durchzog, lag seine Mutter sehr still und bleich in den Kissen.

»Ist – es gesund?« fragte sie leise, und Waltraud erklärte ihr, es sei ein gesunder, kräftiger Junge.

»Ein Prachtkerlchen, Frau Lorrimer«, sagte sie ruhig, obwohl sie innerlich vor Nervosität zitterte, denn der jungen Mutter ging es immer elender. Sie hatte einen starken Blutverlust erlitten, und der Kreislauf war äußerst labil.

So gut Waltraud vermochte, setzte sie ihre Kenntnisse ein, behalf sich mit den Medikamenten, die ihr zur Verfügung standen. Doch bei alledem wußte sie, daß schon ein Wettlauf mit dem Tod eingesetzt hatte.

Würde Dr. Maier früh genug kommen? Und konnte er überhaupt noch helfen?

Wieder eilte die junge Hebamme zur Tür, rief nach dem Mann und wies ihn an, einen Krankenwagen aus dem Marienhospital herbeizurufen.

Martin Lorrimer erstarrte. »So schlimm?« fragte er mit zusammengezogenen Brauen, und als Waltraud stumm nickte, fügte er gepreßt hinzu: »Das ist Ihre Schuld. Warum sind Sie nicht sofort gekommen?«

Damit wandte er sich brüsk um und eilte die Treppe hinunter. Waltrauds Herz pochte dumpf, und sie fühlte Schweißperlen auf ihre Stirn treten. Schuld? War es wirklich ihre Schuld, daß es der jungen Mutter so schlecht ging?

Wieder verabreichte Waltraud ihr ein kreislaufstärkendes Mittel, be­mühte sich, die Blutung zu stillen. Vergebens!

Dann war plötzlich Dr. Maier an ihrer Seite, ordnete leise und präzise einiges an, doch in seiner Miene las Waltraud Sorge.

»Wie konnte das nur passieren?« murmelte er einmal, wobei er sie scharf von der Seite her musterte.

Auch er gibt mir die Schuld, dachte Waltraud in aufkommender Panik. Habe ich etwas versäumt? Einen Fehler gemacht?

Doch nein! Sie war sich keines Fehlers bewußt, und das Kind in der Wiege zeugte davon, daß es eigentlich überhaupt keine Komplikationen hätte geben dürfen.

Was war überhaupt der Grund, daß Frau Lorrimer so überstürzt nach ihr gerufen hatte?

Bange Minuten vergingen noch. Dr. Maier hatte alles zum Transport vorbereitet, und als der Krankenwagen endlich kam, atmete Waltraud wie von einer drückenden Last befreit auf.

Herr Lorrimer wollte natürlich mit ins Hospital fahren, und Waltraud bot sich an, bei den Kindern zu bleiben.

»Aber der Säugling, Herr Lorrimer?« fragte sie erstickt. »Soll er nicht besser mit in die Klinik kommen? Dort würde er gut betreut werden.«

Martin Lorrimer blickte sie scharf an und fragte: »Ist das Kind gesund? Was – ist es überhaupt?«

Nun war die junge Hebamme fast den Tränen nahe. Meine Güte! Nach der glücklichen Geburt und der freudigen Stimmung drüben beim Grasegger-Bauer schien dies hier wirklich ein schlimmer Alptraum zu sein. Die junge Mutter wurde ins Krankenhaus getragen, war längst in eine Ohnmacht gefallen und war dem Tode näher als dem Leben. Der junge Vater wußte nicht einmal, ob er einen Sohn oder eine Tochter geschenkt bekommen hatte, weil er sich aus Sorge um das Leben seiner Frau noch gar nicht dafür interessiert hatte.

Unbewußt suchte Waltrauds umflorter Blick das blasse verschüchterte Kind, das da auf der untersten Treppenstufe hockte und zum Vater hin­übersah mit einem angstvollen Ausdruck im Gesichtchen.

Arme Liesel, dachte Waltraud, während sie nun zu Martin Lorrimer sagte: »Es ist ein Junge. Ein schönes, gesundes Kind.«

Da belebte sich die starre bleiche Miene des Mannes ein wenig.

»Nun gut! Das Kind bleibt im Haus, und Sie, Fräulein Hebamme, werden gut auf meinen Sohn achtgeben.«

Jäh zuckte sein Zeigefinger dabei vor, tippte kurz gegen Waltrauds Schulter, dann wandte Herr Lorrimer sich brüsk um und trat hinter Dr. Maier hinaus in das Schneegestöber.

Zögernd folgte Waltraud, sie wollte etwas antworten, doch jedes Wort schien ihr plötzlich sinnlos angesichts der Tragik dieser Stunde.

Dr. Maier hob eigenhändig die Trage mit ins Auto, lief dann zurück zu der jungen Hebamme und meinte: »Kopf hoch, Kindchen. Man wird die Frau schon durchbringen. Doch es ist schlimm für Sie, das kenne ich. Bei meinem ersten To…«

Er brach ab, schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, was Waltraud nicht verstand. Sie starrte mit tränenblinden Augen dem Krankenwagen hinterher.

Dann schritt auch Dr. Maier zu seinem Wagen. Seine letzten Worte brannten in Waltrauds Herzen.

»Den Mann wird es furchtbar treffen. Zwei Kinder und völlig allein. Dazu ein Säugling. Waltraud, kümmern Sie sich um den Säugling. Zum Glück sind ja im Moment keine weiteren Geburten in Aussicht. Wenigstens was unsere Gegend betrifft.«

Ja, das sagte Dr. Maier zu ihr, und eigentlich hätte er es gar nicht zu tun brauchen, denn Waltraud versorgte den kleinen neuen Erdenbürger selbstverständlich mit der gleichen Fürsorge, wie sie all ihre ins Leben geholten Kinderchen während der ersten Tage ihres jungen Lebens betreute.

Sie versorgte an diesem schrecklichen Tag auch die Liesel, bereitete ihr einen Pudding zu und wunderte sich dabei etwas über das kleine Mädchen, das völlig verängstigt schien. Dabei kannte Waltraud die Liesel als ein zwar stilles, so doch fröhliches Kind, das stets ohne Scheu mit ihr redete, wenn sie der jungen Frau Lorrimer mit ihrem Töchterchen begegnete. Oder hier im Haus aufsuchte. Aber an diesem Tag war das Mädchen völlig verändert.

»Du mußt nicht traurig sein, Liesel«, sagte sie dann mitleidig und zog das Kind sanft zu sich heran. »Deine Mama kommt bald zurück. Sie – mußte leider ins Hospital, weil doch nicht alles so gut verlaufen ist. Aber nun komm, ich zeige dir dein Brüderchen. Es ist ein süßes, hübsches Kerlchen, und du wirst es bestimmt sehr lieb gewinnen.«

Über das blasse Kindergesicht huschte ein Aufleuchten. »Mama und Papa wollten so gern einen Buben haben. Da bin ich aber froh!«

Hand in Hand gingen sie die Treppe hinauf, betraten den Raum, in dem Waltraud vorhin schon etwas Ordnung gemachte hatte.

Sie traten an die Wiege, blickten hinein und betrachteten lange Zeit schweigend das Neugeborene.

»So winzig habe ich mir die Babys aber nicht vorgestellt«, wisperte Liesel endlich voller Andacht. »Es hat ja ganz viele krause Haare wie Papa. Ganz dunkelbraune Haare und – so kleine Fäustchen. Da wird Papa sich aber freuen. Er wollte so gern einen Jungen haben, schon wegen der Hilfe. Bestimmt wird mein kleines Brüderchen dem Papa später draußen bei den Fischteichen helfen, so wie ich immer der Mama in der Küche helfe.«

Plötzlich schaute Liesel die Hebamme an, wobei sich ihre blauen Augen angstvoll weiteten: »Meine Mama kommt doch wieder? Ich meine, so schlimm war das doch nicht. Oder? Bitte, Fräulein Waltraud, sagen Sie doch was!«

Aber Waltraud konnte plötzlich nichts mehr sagen, sie schloß das Kind stumm in ihre Arme, drückte es fest an ihr Herz. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt, und die Furcht drohte sie zu überwältigen. Die heiße Furcht, dem Mann später in die Augen blicken zu müssen, seine zornig-rauhe Stimme zu hören, die ihr vorhin eine schreckliche Anklage entgegengeschleudert hatte. Sie sei schuld daran, daß es seiner Frau so schlecht gehe. Sie, die Hebamme! Weil sie nicht sofort gekommen sei.

»Liesel«, sagte Waltraud erstickt zu dem Kind. »Ich bringe dich jetzt in dein Bettchen. Du bist müde, Kleines, nicht wahr? Du schläfst nun ganz rasch ein, und morgen – morgen sieht die Welt wieder heiter aus.«

Verstohlen fuhr Liesels kleine Hand über die Wange, wischte eine Träne fort, wobei sie wisperte: »Glaubst du, das Brüderchen kann hier so ganz allein bleiben? Paßt du auf das Baby auf, bis mein Papa wieder da ist?«

Liesel hätte sich niemals eingestanden, daß auch sie leise Furcht empfand, weil ihre Eltern nun doch beide fort waren. Noch niemals war sie über Nacht allein gewesen.

In den hellen Kinderaugen las Waltraud Böhm wie in einem offenen Buch. Zärtlich streichelte sie Liesel über das blonde Haar und gab fest zurück: »Ich passe sehr gut auf dein Brüderchen auf, da hab’ gar keine Sorge, und auch auf dich gebe ich acht. Ja, Lieselchen, auch auf dich. Du kannst ganz ruhig schlafen, ich bleibe hier im Haus. Solange ihr beide, du und das Baby, mich braucht. Das verspreche ich dir, Kleines.«

Da ging ein Aufatmen durch die zarte Gestalt der achtjährigen Liesel Lorrimer. »Das finde ich gut, Waltraud. Dann ist auch bestimmt meine Mama beruhigt und – und ist nicht mehr so – so schrecklich nervös. Wenn sie doch bloß nicht auf…«

Da schwieg sie erschrocken und legte ihre kleine Hand über die Lippen.

»Was denn, Liesel? Was hätte deine Mama besser nicht getan?« fragte Waltraud in plötzlicher Erregung.

Doch das Kind schüttelte nur wild das Köpfchen, machte sich fast heftig von Waltrauds Armen frei und eilte hinaus.

Seufzend folgte diese ihr schließlich und fand Liesel schon im Badezimmer, wo sie sich für die Nacht emsig ihre Zähne bürstete.

Wenig später lag die Kleine in ihrem Bett.

Waltraud hielt sich noch eine Weile in dem Zimmer auf, das mit hübschen, buntbemalten Bauernmöbeln ausgestattet war. An den Fenstern hingen blau-rot karierte Vorhänge, und im Gebälk der Decke hockten einige Schelmfiguren.

»Du hast es sehr hübsch hier, Lieselchen«, sagte Waltraud, den Blick nachdenklich auf das Kind gerichtet. Warum schwieg es vorhin so hartnäckig? Und was verschwieg die kleine Liesel? Es mußte mit Frau Lorrimers überstürzter Geburt zu tun haben.

Der Sturm tobte unvermindert heftig ums Haus, als Waltraud das Kinderzimmer verließ, um sich wieder dem Neugeborenen zu widmen. Doch es ging ihm gut, und nun kam die Müdigkeit wie ein schwerer grauer Nebel über die junge Hebamme, die seit der ersten Morgenstunde auf den Beinen war und harte Arbeit geleistet hatte.

Quälende Gedanken, Überlegungen, Mutmaßungen. Doch dann verschwamm alles, verlor sich in einem kurzen, unruhigen Schlaf, zu dem Waltrauds Kopf einfach auf ihre verschränkten Arme sank, die sie auf die harte Tischplatte gelegt hatte. Sie war todmüde gewesen.

*

Irgend etwas schreckte die Schlummernde auf. Ein leises Geräusch von oberhalb der Treppe.

Es glich mehr einer vagen Ahnung, daß sich oben jemand im Schlafzimmer des Ehepaares befinden mußte.

Doch oben war ja auch der Säugling.

Hastig erhob Waltraud sich von der Ofenbank, strich ihr Haar aus dem Gesicht, taumelte noch schlaftrunken aus der offenstehenden Zimmertür hinaus in die erhellte Diele.

Nun herrschte oben Stille, so angestrengt Waltraud auch lauschte. Hatte sie sich getäuscht?

Leise schritt sie die Stufen hinauf. Es war besser, kurz nach dem Baby zu sehen, obwohl noch keine Stunde vergangen war, seit sie das Kind zum letztenmal frisch gebettet hatte.

Auch hier stand die Tür weit offen, so daß ihr Blick sofort auf den Mann fiel, der regungslos vor der Wiege stand. Im matten Lichtkegel des kleinen Bettlämpchens, das Waltraud vorhin angelassen, wirkte Herr Lorrimers Miene so erschöpft und leer, daß ihr Herz auszusetzen drohte.

»Herr Lorrimer«, flüsterte sie tonlos und innerlich geschüttelt von Grauen, »wie – geht es Ihrer Frau?«

Schon während sie dies sagte, schienen tausend Teufel ihr höhnisch zuzuflüstern: Du Närrin! Sieh dir doch den Mann an, dann weißt du, wie es der Frau geht. Warum willst du dich der Wahrheit verschließen? Ahnst du sie doch schon längst.

Herr Lorrimer wandte sich von der Wiege ab, kam auf sie zu und schien doch durch sie hindurchzusehen mit seinen hellen, kalt wirkenden Augen.

Er ging an ihr vorbei, trat auf den Gang und sagte brüchig: »Meine Frau ist tot. Bitte, kommen Sie mit in mein Büro, ich habe mit Ihnen zu reden.«

Einer Ohnmacht nahe, stolperte Waltraud hinter ihm die Treppe hinunter. Ihre Knie zitterten, und nur mit äußerster Mühe konnte sie einen Weinkrampf ersticken.

Das Büro lag am Ende der Diele und war ein nüchterner Raum, in dem Herr Lorrimer sich hinter seinem alten, mit Fachzeitschriften und Prospekten vollbepackten Schreibtisch auf einen Drehstuhl fallen ließ. Er stützte beide Ellbogen auf die Platte und barg flüchtig sein Gesicht in den Händen, fuhr sich schließlich mit allen zehn Fingern durch sein volles dunkelbraunes Haar, ehe er sich brüsk der jungen Hebamme zuwandte.

»Nun setzen Sie sich doch um Himmels willen irgendwo hin«, murmelte er tonlos, sie dabei zum ersten Mal voll anblickend.

Es gab nur zwei weitere Sitzmöglichkeiten in dem winzigen Raum. Ein alter Schemel vor dem Regal und ein Schalensessel in Fensternähe, der von dem harten Lichtkegel der Schreibtischlampe nicht so grell erfaßt wurde.

Dorthin rettete sich Waltraud nun. Fort von dem grausam-kalten Blick, der wie eine einzige Anklage auf ihr lastete.

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, stieß sie zitternd hervor und verschlang ihre unruhigen Finger krampfhaft ineinander.

»Mein Wagen streikte, und – ich hatte am Morgen schon eine…« Erschrocken verstummte sie, denn Martin Lorrimer warf höhnisch ein: »Hoffentlich hatte diese Frau mehr Glück, Fräulein Hebamme. Hoffentlich brauchte sie nicht so lange zu warten in – ihrer Not. Hören Sie gut zu, Fräulein Böhm, ich weiß nicht, wie groß Ihre Schuld am Tode meiner Frau ist, denn im Hospital sagte mir ja niemand etwas. Das kennt man doch! In – Ihrer Branche hält man fest zusammen. Nun, wie auch immer, meiner Frau ist doch nicht mehr zu helfen. Aber ich habe ihr ein Gelöbnis ablegen müssen in der Stunde ihres Todes, und daran werde ich mich halten. Genauer gesagt, daran werden Sie sich halten, Fräulein Böhm.«

Verwirrt und unruhig hatte Waltraud zugehört. Nun hielt sie es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie erhob sich und trat an den Schreibtisch, blickte den Mann aus ihren tiefblauen Augen bestürzt an. Das Licht fiel voll auf ihr blasses müdes Gesicht und ließ ihr helles Haar matt glänzen.

Waltraud wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick der Ratlosigkeit sehr hübsch und fraulich wirkte, doch Martin Lorrimer sah es nur zu gut, und seine Miene versteinerte sich noch.

Was hatte Inge sich eigentlich dabei gedacht, als sie ihm in ihrer letzten Stunde ein solches Versprechen abverlangte?

Doch Martin Lorrimer hütete sich, seine Gedankengänge fortzusetzen, sonst würde er vielleicht sein Inge gegebenes Wort brechen wollen, brechen müssen. Dabei hatte er den festen Vorsatz, es zu halten. Schon im Interesse seiner Kinder.

»Woran soll ich mich halten, Herr Lorrimer?« fragte Waltraud nun, immer noch den Blick auf sein Gesicht geheftet.

Nun verengten sich Lorrimers Augen etwas, wobei er ungerührt sagte: »Sie werden so lange hier in meinem Haus bleiben, bis ich jemanden gefunden habe, der meine Kinder gut versorgt. Das habe ich meiner Frau versprechen müssen.«

Da wich die schreckliche Anspannung von Waltraud, und erleichtert stieß sie hervor:

»Aber das ist doch selbstverständlich, Herr Lorrimer. Ich lasse doch den kleinen süßen Jungen nicht im Stich, und auch Liesel – ich meine, es wird dem Kind bestimmt schwerfallen, auf seine Mama…«

Da war es um ihre Beherrschung geschehen. Sie warf sich jäh herum und lief hinaus.

Sie taumelte in die Diele, blind von Tränen, mit wehem Herzen und einer tiefen quälenden Schuld, die sich nicht mehr zurückdrängen ließ.

Da war die Haustür! Waltraud riß sie auf, prallte etwas zurück von der Wucht des Schneesturms und der eisigen Kälte der frühen Nacht. Aber dann war der erste Schock überwunden, und sie stürzte hinaus in die Dunkelheit.

Wie lange sie lief, konnte sie später nicht mehr sagen. Sie rannte mit jagendem Atem, der wie spitzer Eiszapfen in die Lungen stieß. Sie trug nur einen leichten Wollpulli und den passenden Jerseyrock dazu, aber sie spürte die Kälte nicht. Ihren weißen Hebammenkittel hatte sie vorhin abgelegt. Doch sie trug noch ihre warmen Stiefel, die in dem frisch gefallenen Schnee einsackten.

Um sie herum herrschte Finsternis, und das Haus lag schon weit hinter ihr.

Eine dicke, winterkahle Eiche stand hier, an deren Stamm sich Waltraud mit dem Rücken anlehnte und ihr Gesicht zu den schwarzen Silhouetten der Äste aufhob. Von hier aus waren sie nackt und tot, doch wenn man sie nicht so nahe sah, trugen sie weiße Schneekuppen und sahen hell und freundlich aus.

Licht und Schatten, wie nahe alles beieinanderlag. Tod und Leben gleichfalls.

Flüchtig fuhr sie sich einmal über das Gesicht, als der Schnee zu sehr in ihre Augen trieb. Sonst stand sie da und rührte sich nicht, denn das grauenvolle Erlebnis raubte ihr alle Lebenskraft. Es war ihr, als sei sie selber durch den Tod der jungen Mutter gestorben.

Plötzlich stampfte durch den Schnee eine dunkle große Gestalt auf sie zu, und Herr Lorrimer sagte rauh und zornig: »Was soll dieser Unsinn? Kommen Sie sofort ins Haus, Sie können sich ja hier den Tod holen.«

Im gleichen Moment erkannte er den makabren Hohn, der in seinen Worten lag, und packte die stille Gestalt der jungen Hebamme hart beim Arm. »Leider kann ich Sie nicht gegen meine Frau eintauschen, und eine Tote genügt mir für heute. Meine Kinder haben nichts von Ihnen, wenn Sie hier zum Eiszapfen werden.«

Willenlos ließ sich Waltraud von ihm fortziehen, heraus aus dem hohen Schnee, ließ sich wie eine Marionette ins Haus führen und wünschte wirklich, daß sie tot sei und dafür Inge Lorrimer noch lebe.

*

Das Haus war groß und besaß ein gemütliches Gästezimmer, in das hinein Herr Lorrimer die junge Hebamme führte.

»Nebenan befindet sich eine Dusche mit Toilette«, sagte er kurz. »Sie haben hier Ihr Reich und können tun und lassen, was Sie wollen, wenn Sie die Kinder versorgt haben. Nennen Sie mir Ihr Gehalt als Hebamme, damit ich Ihnen den gleichen Betrag monatlich auf Ihr Konto überweisen kann. Das wäre es wohl fürs erste.«

Damit wandte Martin Lorrimer sich brüsk ab und schloß hinter sich die Tür. Waltraud stand wie betäubt mitten im Raum und fühlte sich wie vernichtet.

Wie ging dieser Mensch nur mit ihr um? Als sei sie eine üble Verbrecherin.

Als sie sich endlich dazu aufraffen konnte zu protestieren, war es zu spät und Martin Lorrimer schon aus dem Korridor verschwunden.

Waltraud blieb in der Tür stehen, die sie empört aufgerissen hatte, um den Mann zurückzurufen. »So geht es nicht, Herr Lorrimer«, wollte sie ihm entgegenschleudern. »Was denken Sie sich denn eigentlich? Mir den gleichen Betrag auf mein Konto überweisen?! Das klingt ja gerade so, als sei ich hier für längere Zeit zu Ihrer Haushälterin degradiert. Ich bin jedoch Hebamme. Verstehen Sie?!«

Doch dann brach ihre zornige Auflehnung in sich zusammen. Zitternd vor Kälte und seelisch völlig ausgebrannt, wankte sie zurück in den Raum, blickte auf das Bett und spürte nur noch den einen Wunsch, sich hinzulegen und zu schlafen.

Fast automatisch schnürte sie ihre Stiefel auf, streifte sie ab, den Rock und den Pulli auch, um sich dann mit klappernden Zähnen unter das warme Federbett zu kuscheln.

Kaum lag sie eingehüllt in Wärme und Dunkelheit, als ihr auch schon die Lider schwer über die Augen fielen.

Waltraud schlief sofort ein, bis ein energisches Klopfen an der Tür sie aufschreckte.

Verwirrt blickte sie sich zunächst in dem fremden Raum um, bis ihr jäh der gestrige Tag in Erinnerung kam.

Hastig schlug sie das Federbett zurück, sprang auf und griff schon zu ihren Kleidungsstücken.

»Ich komme sofort!« rief sie dabei.

»Der Junge schreit! Was – soll ich tun?« drang Martin Lorrimers Stimme eine Spur freundlicher an ihr Ohr.

»Gar nichts! Bin ja schon da!« Waltraud schnürte den Stiefel zu, blickte rasch auf ihre Armbanduhr. Die erste Mahlzeit für den Säugling war in einer halben Stunde fällig. Gut, daß der kleine Kerl sich schon meldete. Ein gutes Zeichen. Während sich die Schritte von Lorrimer im Korridor entfernten, betrat Waltraud das angrenzende kleine Duschbad, entdeckte dort eine Zahnbürste, außerdem Kamm und Seife.

Rasch machte sie oberflächlich Toilette und ging dann über den Korridor zum Elternschlafzimmer hinüber.

Dort stand die Tür offen, Martin Lorrimer war bei seinem Sohn. Er blickte nur auf, ehe er mit überaus zärtlichen, behutsamen Bewegungen die Wiege weiter schaukelte.

Als Waltraud an seine Seite trat und leise guten Morgen wünschte, erntete sie einen kühlen Blick und – Schweigen.

Seufzend hob sie die Schultern, nahm das Kind auf und trug es hinüber zur Wickelkommode, um es rasch und geschickt in frische Windeln zu hüllen. Später würde sie dem Jungen ein Bad herrichten. In der warmen Küche unten.

»Ich gehe in die Küche«, sagte Waltraud, »und mache dem Jungen sein Fläschchen fertig. Wo ist denn Liesel? Hatte sie schon ein Frühstück?«

Das Kind im Arm, schritt sie zur Tür, gefolgt von dem Mann, der heute etwas gefaßter wirkte.

»Wir haben schon gefrühstückt«, entgegnete er und blickte dabei angestrengt auf den Säugling, der immer noch schrie, was ihm anscheinend Sorgen bereitete. »Warum weint der Junge so? Fehlt ihm etwas?«

Da ging ein Lächeln über Waltrauds Gesicht, und unwillkürlich drückte sie das Kind ein wenig fester an ihre Brust. »Der kleine Bengel ist hungrig, und er sagt es uns mit seinem ganzen ungestümen Vokabular, das ihm mitgegeben wurde auf diese Welt. Ja, mein Süßer, du bekommst gleich eine erste Kostprobe dessen, was dir weiterhelfen wird, ein prächtiger Bub zu werden.«

All die Liebe und Fürsorge, die in Waltrauds Herzen für das mutterlose Baby war, konnte man ihrem Gesicht ablesen, und Martin Lorrimer, der die junge Hebamme scharf beobachtete, begriff in dieser Sekunde seine sterbende Frau, als sie ihn bat, dafür zu sorgen, daß Waltraud Böhm bei dem Kind bliebe, das sie das Leben gekostet hatte.

Seine düstere Miene hellte sich etwas auf, und als Waltraud später dem Kind das Fläschchen gab – und sein Sohn es genüßlich schmatzend leerte –, da glitt auch um seinen Mund ein flüchtiges Lächeln.

Er blickte auf das Kind in Waltrauds Arm und lächelte es an, wie wohl jeder stolze Vater seinen Sohn freudig anlächelte.

Die kleine Liesel stand dabei und betrachtete ihr Brüderchen angestrengt, wobei sein seltsamer Ernst das Kindergesicht beherrschte. »Es ist bestimmt ganz in Ordnung, Waltraud? Es fehlt ihm gar nichts? Das wird Mama aber freuen.«

Dabei hob ein befreiter Atemzug die schmale Kinderbrust. Martin Lorrimer starrte sein Töchterchen betroffen an. »Was redest du nur für dummes Zeug? Warum sollte der Kleine nicht – in Ordnung sein?«

Auch Waltraud fühlte sich wieder einmal von den Worten des Kindes tief betroffen, mehr noch davon, daß Liesel immer noch nichts vom Tod der Mutter ahnte.

Sie warf dem Mann einen fragenden Blick zu, und Lorrimer wußte genau, was er zu bedeuten hatte. Sein Mund preßte sich schmerzlich-hart zusammen, er trat brüsk von seinen Kindern fort zur Tür. Von dort fragte er: »Werden Sie nach St. Blasien hineinfahren und sich Ihre Sachen holen? Schließlich haben Sie bestimmt einiges zu regeln. Liesel geht heute nicht in die Schule, ich – habe sie schon telefonisch entschuldigt. Wir – haben noch einiges zu bereden, Spätzchen. Kommst du dann zu mir ins Büro? Ja, wenn das Brüderchen wieder in der Wiege schläft. Solange darfst du schon bei ihm sein.«

Waltraud hob das Kind etwas in die Höhe, sandte dem Mann einen Blick zu und meinte leise: »Ich rufe mir später eine Taxe, mein Wagen steht ja noch irgendwo zwischen den Pappeln auf der Landstraße.«

»Der ist längst in der Werkstatt«, gab Martin Lorrimer zurück. »Habe ihn ja gestern dort gesehen und heute in der Frühe die Werkstatt angerufen, damit man ihn abschleppt.«

Überrascht bedankte Waltraud sich, doch Martin Lorrimer wehrte unwirsch ab. »Fahren Sie also mit einer Taxe in die Stadt, ich passe indessen auf meinen Sohn auf. Und – ich rede mit meiner Tochter. Das – dürfte wohl noch schwieriger für mich sein.«

Er zögerte, blickte von dem kleinen zarten Mädchen auf die junge Frau, die nun das Baby wieder in seine Decke hüllte. Jede ihrer Gesten zeugte von behutsamer, ruhiger Mütterlichkeit.

»Kommen Sie zurück?« fragte er darum nun und konnte den Groll in seiner Stimme dennoch nicht gänzlich auslöschen. Nach wie vor gab er ihr die Schuld am Tod seiner Frau.

»Ich komme zurück«, hörte Waltraud sich dennoch ruhig antworten.

Er starrte sie mit unbewegter Miene an. »Gut! Ich erwarte, daß Sie Ihr Wort halten.«

Damit ging er hinaus.

Still saß Waltraud da und blickte auf das Kind in ihrem Schoß. Am liebsten hätte sie wieder geweint, doch da war ja noch die kleine Liesel mit ihren großen, immer noch angstvollen Augen. Sie stand dicht an ihrer Seite und legte nun eine Hand vorsichtig auf die Decke des Brüderchens. »Wie gut, daß du bei uns bleibst, Waltraud«, sagte sie dabei mit ernsthafter Stimme.

O Gott! Bestürzt legte Waltraud einen Arm um die schmalen Schultern des Kindes. Ob Liesel ahnte, daß ihre Mutter nicht wiederkommen würde?

»Komm, Kleines, bringen wir das Brüderchen hinauf in die Wiege. Wie soll es denn heißen, Liesel? Habt ihr schon einen Namen ausgesucht?«

»O ja!« Die Achtjährige nickte eifrig. »Er soll Felix heißen. Mama sagt immer, das bedeutet der Glückliche. Klingt das nicht schön? Der Glückliche! Ich will, daß mein Brüderchen immer glücklich ist.«

Nachdenklich betrachtete Waltraud den kleinen Jungen und überlegte, ob sein Vater auch jetzt noch mit diesem Namen einverstanden sein konnte. Felix, der Glückliche, der seine Mutter das Leben kostete.

*

»Das gefällt mir nicht, Waltraud«, erregte sich Frau Böhm zwei Monate später und sandte der Tochter einen scharfen Blick zu.

Auch heute wieder saß Waltraud bei ihr in der gemütlichen Küche, doch welch ein Unterschied bestand zwischen jenem stürmischen, schneereichen Tag und heute.

Heute schien eine strahlende Wintersonne durch die Scheiben des kleinen Fachwerkhauses, ohne jedoch die trüben Schatten vom Gesicht der jungen Hebamme fortzaubern zu können.

Waltraud blickte stumm vor sich auf den Teller, stocherte lustlos im Kuchen, den Frau Böhm ihr mit einer guten Tasse Kaffee vorgesetzt hatte.

»Es gefällt mir durchaus nicht«, wiederholte Frau Böhm energisch, »und Peter gefällt es noch viel weniger. Denke doch mal an Peter Maier, den netten Apotheker, von dem ich fest glaube, daß er dich mag. Mehr noch, daß er dich liebt, und du liebst ihn auch. Nun lebst du dort drüben im Mühltal bei diesem Witwer und seinen beiden Kindern. Schön! Die ersten Tage ging es an, war es Christenpflicht, dem Mann beizustehen, doch nun ist es genug. Inzwischen hätte er längst jemanden für den Buben ins Haus holen können. Eine tüchtige Haushälterin, keine Hebamme. Die braucht er längst nicht mehr, der kleine Ulrich. Aber du, Waltraud, du brauchst wieder Arbeit in deinem Beruf, und es ist genug da. Die alte Frau Speidel jammert und klagt, daß sie es allein nicht mehr schafft.«

Da schob Waltraud endgültig ihren Teller zurück, auf dem der Kuchen nahezu unberührt lag. »Mutter«, brach es gequält aus ihr heraus, »ich kann es doch gar nicht mehr. Verstehst du denn nicht? Ich kann keiner Wöchnerin mehr beistehen in ihrer schweren Stunde. Immer sehe ich Frau Lorrimer vor mir, erlebe die furchtbaren Minuten erneut. Es – ist wohl noch zu früh.«

Ihre Stimme war leise, doch Frau Böhm hatte gut zugehört. Obwohl sie sich um Verständnis bemühte, mußte sie ihren Ärger loswerden. Den Ärger, der zugleich tiefe Sorge um Waltraud beinhaltete. Sie zürnte ja auch mehr diesem Witwer als ihrem Kind.

»Ich finde, daß Martin Lorrimer dich ausnutzt, daß er deine Sympathie, die du seinen Kindern entgegenbringst, sehr klug für sich auszuwerten versteht. Eine bessere und billigere Kraft als dich findet er wohl auch nie. Das ist es, was mich so wurmt. Dazu kommt noch das Getuschel der Leute hier in der Stadt. Lorrimer ist ja ein Mann in den besten Jahren, dazu stattlich gewachsen und von angenehmem Äußeren. Da kommt ein junges Mädchen schnell in Verruf, auch wenn sie noch so zurückhaltend ist. Peter Maier wird genauso denken, wenn er es auch niemals zugeben würde.«

Waltraud erhob sich und ging in die Diele, gefolgt von ihrer aufgeregten Mutter. »Wenn Peter mir nicht vertraut, ist es vielleicht besser, unsere Freundschaft etwas zu – lockern«, meinte sie. »Ich kann im Augenblick noch nicht fort von oben, doch Herr Lorrimer hat mir versprochen, sich nun ernsthaft um jemand anderen zu bemühen. Er hat viel zu tun, und – der Junge braucht ja auch noch eine fachkundige Hand. Er ist ja erst acht Wochen alt, meine Güte! Ach, Mutter…«

Nun packte Waltraud echte Verzweiflung, und sie barg ihr Gesicht flüchtig an der Schulter der älteren Frau, die nun beide Arme um sie legte. »Mutter, als ob es so einfach für mich sei, dort im Mühltal bei dem schweigsamen, sonderbaren Menschen, der niemanden an sein Herz heranläßt. Nicht einmal seinen kleinen Sohn. Er meidet selbst den süßen kleinen Jungen, er kennt nur seine Arbeit, sonst nichts. Keine Freude, keine Stunde der Besinnung. Martin Lorrimer betäubt sich mit harter Arbeit, und oftmals frage ich mich, ob er nur den Schmerz um seine verstorbene Frau betäuben will oder noch anderes. Etwas, von dem ich nichts weiß, nichts wissen kann, denn er spricht ja kaum mit mir.«

Nun war Frau Böhm doch tief erschüttert über den Gefühlsausbruch ihrer Tochter, die sich sonst stets verschlossen zeigte während der wenigen Besuche, die sie aus dem Mühltal hierhergeführt hatten.

Waltraud schien sich demnach selber fortzusehnen von Martin Lorrimer, der allgemein als schwierig und wenig mitteilsam bekannt war. Gewiß hatte sich das eher vertieft seit dem Tode seiner Frau.

»Schon gut, Kindchen«, sagte Frau Böhm darum beschwichtigend und streichelte sanft über das hübsch frisierte Haar der Tochter. Weich und duftig fühlte es sich an.

Waltraud blickte die Mutter an, lächelte ihr eine Spur hilflos zu und entschuldigte sich nun: »Es tut mir leid, Mama, daß ich dir Sorgen mache, aber eigentlich sind die völlig überflüssig. Es geht mir – nicht schlecht bei Herrn Lorrimer. Bestimmt nicht! Ich kann tun und lassen, was mir Spaß macht, und gehe viel mit den Kindern spazieren. Ist ja sehr schön im Mühltal. Zumal es jetzt schon sonnig ist und wärmer.«

Ja, das mochte alles stimmen, und eigentlich sah Waltraud auch recht gut aus, hatte eine frische Hautfarbe und einen freien, klaren Blick.

Dennoch! Spazierengehen immer mit zwei Kindern im Schlepptau. Das war es, was Frau Böhm störte. Denn wußte man, was dem Witwer so – vorschwebte? Ob er diesen Zustand nicht immer so belassen wollte?

Daraus wird nichts, dachte Frau Böhm voller Entrüstung. Meine Waltraud und der nette Apotheker kennen sich schon von Kindesbeinen an und mögen sich von Herzen gern. Da kann jetzt wegen zwei armer mutterloser Kinder nicht alles umgekrempelt werden. Aber genau da sieht Herr Lorrimer eine schwache Stelle bei Waltraud und nutzt sie aus. Er ist ja nicht blind und sieht sehr gut, wie prächtig der Junge gedeiht. Wie meine Waltraud seine Kinder liebt und umhegt, das nutzt er aus, der kluge Mann, und Waltraud merkt es nicht einmal.

Seufzend betrachtete Frau Böhm ihre Tochter, die schon wieder einen nervösen Blick zur Wanduhr hinsandte und erklärte:

»Ich muß fort, Mama. Bitte, sei nicht böse, aber der Kleine gebärdet sich recht ungestüm, wenn er seine Mahlzeit nicht pünktlich bekommt.«

»Ja, ja! Das kenne ich mittlerweile«, entgegnete Frau Böhm leicht amüsiert. »Hoffen wir also, daß sich bald jemand findet für – den Forellenzüchter und seine lieben Kleinen. Vielleicht seine Schwägerin aus Baden. Ja, Waltraud, sieh mich nicht so bestürzt an. Habe beim Friseur ganz zufällig mit angehört, wie Resi es erzählte. Die verstorbene Frau Lorrimer habe in Baden eine Schwester, die in der ehemaligen Gaststätte des Herrn Lorrimer immer noch tätig sei. Als Serviererin. Die Verstorbene habe es ihr einmal erzählt. Es sei ihr wohl so herausgerutscht, und hinterher sei sie recht schweigsam geworden, als sei es ihr unangenehm, davon etwas erwähnt zu haben.«

Verwundert hatte Waltraud zugehört. Nun sagte sie nachdenklich: »Sonderbar, Mama! Da war aber keine Schwester auf der Beerdigung. Stimmt das auch? Herr Lorrimer sagte mir doch, es gebe niemanden, der sich um seine Kinder kümmern könne. Er müsse sich eine Fremde suchen. Darum sei es ja so schwierig.«

Frau Böhm hob eine Braue, betrachtete die Tochter skeptisch und meinte: »Ich glaube der Resi, daß es diese Schwester gibt. Doch mir kommen leise Zweifel, ob Lorrimer überhaupt eine Todesanzeige verschickt hat, damit du es nur weißt. Der Lorrimer ist ein ganz sonderbarer Mensch, und ich wünschte, du wärst nicht so allein mit ihm drüben im Mühltal.«

*

Vieles ging Waltraud durch den Kopf, während sie zum Mühltal zurückfuhr. Das Verhalten von Martin Lorrimer erschien ihr oftmals sehr seltsam. Obwohl sie doch beispielsweise schon über zwei Monate in seinem Haus lebte, war die Fremdheit zwischen ihnen um nichts gesunken. Im Gegenteil, der Mann kapselte sich immer mehr von ihr und somit auch von seinen Kindern ab.

Schon sehr früh am Morgen verließ er das Haus, bereitete sich sein Frühstück auch stets selber zu und war längst drüben in der alten Mühle und bei den angrenzenden Fischteichen, wenn Waltraud mit dem Jungen hinunter in die Küche kam, ihn badete, später Liesel aufweckte, um sie für die Schule fertig zu machen. Wenn dann der Schulbus auf den Hof fuhr, stand Martin Lorrimer allerdings meistens bereit und half seiner kleinen Tochter in den Bus.

Dann kam er kurz zu Waltraud in die Küche, betrachtete eine Weile schweigsam seinen Sohn, der nicht Felix getauft worden war, sondern den Namen Ulrich erhalten hatte.

Nach einer halben Stunde ungefähr, indem er sich den vergnügten und prächtig gedeihenden Jungen betrachtet hatte, besann Martin Lorrimer sich kurz auf die junge Frau, die so still und umsichtig in seinem Haus waltete und seinen Kindern wahrhaft voll die Mutter ersetzte. Er fragte Waltraud nach diesem und jenem, wollte wissen, ob sie alles im Hause habe oder etwas aus der Stadt benötige. Kurzum, er widmete ihr, wenn es hoch kam, eine Viertelstunde, mehr nicht. Dann verließ er wieder das Haus, und Waltraud bekam ihn für den Rest des Tages höchstens aus einiger Entfernung zu Gesicht. Wo er zu Mittag aß, wußte sie nicht. Als sie ihn am Anfang erstaunt gefragt hatte, warum er denn nicht zum Essen erscheine, hatte er ihr knapp geantwortet, dazu sei sie nicht da. Nicht für ihn. Für sein Wohl könne er selber sorgen. Sie sei ausschließlich für die Kinder da. Damit habe sie genug zu tun. So standen die Dinge zwischen ihnen, als ihre Mutter heute so ungehalten reagierte, und Waltraud mußte ihr insgeheim zustimmen. So konnte es nicht weitergehen. Kein Mensch ertrug auf die Dauer eine solche Nichtachtung, die ihr von Martin Lorrimer entgegengebracht wurde. Dabei…

Versonnen schüttelte Waltraud den Kopf, bog nun mit ihrem längst reparierten Wagen ins Mühltal ein. Dabei war Martin Lorrimer trotz alledem ein zärtlicher, fürsorglicher Vater und zeigte auch ihr gegenüber während der kurzen Zeit, da sie einander begegneten und redeten, eine, wenn auch kühle, Höflichkeit, die sie anfangs nicht von ihm erwartet hatte. Er sorgte auch dafür, daß ihr die Arbeit nicht zu viel wurde, fuhr regelmäßig zum Einkaufen, brachte die große Wäsche aus dem Haus und holte sie wieder ab. Dies alles tat er schweigend und mit großer Selbstverständlichkeit, und am Ersten jeden Monats entdeckte Waltraud auf ihrem Konto einen Betrag, der von Martin Lorrimer eingezahlt worden war und in etwa ihrem Gehalt als Hebamme entsprach. Woher er die Summe wußte, ahnte sie nicht, denn von ihr hatte er nichts darüber erfahren. Sie wollte kein Geld für das, was sie für die Kinder tat. Sie fühlte sich am Tod von Frau Lorrimer immer noch schuldig, obwohl ihr Gewissen sie freisprach von jedem Versagen.

Zum Glück hat Liesel sich wieder gefangen, dachte Waltraud nun und parkte ihren Wagen hinter dem Haus. Es dämmerte schon, doch sie wußte den Hausherrn bei den Kindern. Das hatte sie ihm klipp und klar gesagt. Hatte gesagt, einmal in der Woche müsse sie am Nachmittag ein paar Stunden frei haben, um ihre Mutter zu besuchen. Dann habe er bitte im Haus zu sein bei den Kindern. Das – sei selbst Hausangestellten vergönnt.

Waltraud lächelte in sich hinein, als ihr sein verdutztes Gesicht wieder einfiel, das er damals machte, als sie, eigentlich nur dieses eine Mal, so energisch zu ihm sprach. Doch er fügte sich widerstandslos, und so konnte sie beruhigt in die Stadt fahren, denn im Grunde war niemand zuverlässiger als Martin Lorrimer. Auch das wußte sie mittlerweile.

Ja, die kleine Liesel vermißte ihre Mutter am Anfang sehr, und oft mußte Waltraud das sensible Kind trösten. Doch nun war die schlimmste Zeit gottlob vorbei, und nun lachte die Kleine manchmal sogar wieder herzlich auf.

Ein paar Päckchen lagen auf dem Rücksitz des Wagens. Waltraud holte sie hervor, verschloß ihr Auto und begab sich ins Haus, das ihr eigentlich schon sehr vertraut geworden war. Aber es war ja auch ein sehr gemütliches Haus, und es war das Zuhause zweier Kinder.

Ein Haus, in dem Kinder leben, ist ein wirkliches Zuhause, dachte die junge Frau und horchte in der Diele amüsiert auf die Stimme des Mannes, der versuchte, den quengelnden Jungen zu beruhigen.

Ullis Eßzeit war gekommen, und er machte es seinem Vater unmißverständlich klar.

»Ja, Bub, ja! Sie kommt sicher gleich. Sie vergißt doch unseren Ulli nicht. Das Fräulein Hebamme mag sein, wie es will, doch dich vergißt es nicht. Still, mein Sohn!«

Dazwischen meldete sich nun Liesel: »Du hättest es längst schon lernen sollen, sein Fläschchen warm zu machen, Papi. Ist doch gar nicht schwer. Wenn nun die Waltraud mal krank wird?«

»Davor behüte uns der Himmel«, rief Martin Lorrimer aus, und vor Verwunderung vergaß Waltraud draußen in der Diele ihren Mantel auszuziehen. Wie verändert die Stimme des Mannes klang! Keine Spur mürrisch, sondern belustigt und herzlich.

Dazwischen jedoch wurde nun das Quengeln des Babys lauter. Rasch streifte Waltraud ihren Mantel ab und öffnete die Tür zur Küche.

Der Mann und das kleine Mädchen standen vor dem Stubenwagen, in dem das Baby kräftig strampelnd lag und mit beiden Fäustchen in der Luft umherwirbelte.

»Da sind Sie ja endlich«, sagte Martin Lorrimer und warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er sich abwandte und die Küche verlassen wollte.

Doch diesmal kam er nicht weit.

»Herr Lorrimer!« Waltraud nahm den Jungen auf, und ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte sie ruhig: »Ich muß später mit Ihnen reden. Bitte, bleiben Sie im Haus, sonst müßte ich Sie draußen in der alten Mühle suchen, und das gefällt mir nicht.«

Damit wandte sie ihm den Rücken zu, ging zum Tisch und legte das Baby auf die mitgenommene Unterlage. »Komm, Liesel, gib ein wenig mit acht aufs Brüderchen. Ich wasche mir nur schnell die Hände.«

»Reden? Was gibt es denn?« Martin Lorrimer kam zurück, stellte sich an den Tisch und nahm eines der kleinen Bubenhändchen in seine große kräftige Hand.

Er vermied es gleichfalls, Waltraud anzusehen, doch in seiner Stimme lag eine gewisse Spannung.

»Später«, sagte sie kurz und nahm die sterile Säuglingsflasche aus dem Glasbehälter, um sie mit der Babynahrung zu füllen.

Nun schaute Martin Lorrimer doch zu ihr hin, und ihre Blicke begegneten einander. Seine hellen Augen verengten sich flüchtig, ein Zeichen seiner konzentrierten Aufmerksamkeit, das kannte Waltraud schon an ihm. Sie kannte sein markantes Gesicht, den Mund, der oftmals zu einem seiner Kinder überraschend zärtliche Worte aussprechen konnte. Nicht zu ihr! O Gott! Da könnte sie wohl lange warten. War wohl auch zu viel verlangt. Aber eine Spur freundlicher könnte er schon sein. Da vergab er sich doch nichts. Oder wenigstens mal am Abend da sein, anstatt draußen in der alten Mühle bis in die Nacht hinein über irgendwelchen Verbesserungsplänen zu brüten. Er hatte sich sein Büro drüben eingerichtet, einen alten Ofen hineingestellt und neuerdings sogar ein Sofa. Wahrscheinlich würde er demnächst dort übernachten und überhaupt nicht mehr sein gemütliches Haus betreten. Nein, so ging es nicht weiter. Ihre Mutter hatte vollkommen recht, eine andere mußte her, und zwar schnell.

Martin Lorrimer hüllte sich in Schweigen, doch er verließ das Haus nicht, sondern begab sich mit einigen Zeitungen ins Wohnzimmer. Das geschah, während Waltraud später das Baby hinauf in ihr Zimmer brachte. Darauf hatte sie damals bestanden. Daß der Junge samt seiner Wiege zu ihr ins Zimmer kam. Denn sie mußte ja auch nachts nach ihm sehen, und in das Eheschlafzimmer hineinzugehen, mutete Martin Lorrimer ihr nicht zu. Doch gern hatte er die Wiege nicht von dort fortgetragen. Heute noch glaubte Waltraud sein starres bleiches Gesicht zu sehen, als er die hübsche buntbemalte Bauernwiege vom Fenster wegholte, um sie im Gästezimmer, das viel kleiner war, dicht neben Waltrauds Bett hinzustellen.

Sie stand noch immer dort, und Waltraud legte das Kind hinein, blickte auf die Wiege hinab und spürte einen wilden Schmerz im Herzen. Er kam so stark und überraschend, daß ihr die Knie plötzlich zu zittern begannen und sie sich auf der Kante ihres Bettes niederlassen mußte.

Dort saß sie und blickte das Kind in der Wiege an, bis alles vor ihren Augen verschwamm. Sie schloß und öffnete ein paarmal die Augen, und die Tränen rannen über ihre Wangen. Es war ein sonderbares, unwirkliches Spiel, das sie mit ihrem wehen Herzen und den tränenerfüllten Augen trieb. Die Tränen sollten verschwinden, ihr Blick mußte wieder klar werden und ihr Herz frei von Schmerzen, und dies alles sollte ohne ihr Dazutun geschehen. Nur so! Kraft ihres Verstandes. Aber es wollte ihr nicht gelingen.

Immer mehr Tränen strömten statt dessen aus ihren Augen, und der Schmerz in ihrem Herzen verstärkte sich noch.

Sie liebte den kleinen Jungen hier schon heiß und innig, und sie – liebte überhaupt. Oh, was alles in diesem Haus hatte sie liebengelernt in den Wochen ihres Hierseins! Nicht zu fassen!

Sie vergab ihr ganzes Herz und – erhielt doch nichts zurück. Sie ging wahrlich mit leeren Händen, doch sie mußte schnell gehen, denn jeder Tag würde sie ein bißchen mehr Herzblut kosten.

»Sagen Sie mal, was – ist denn mit Ihnen passiert?« Im Türrahmen stand Herr Lorrimer, Pantoffel an den Füßen, was Waltraud völlig neu war. Er starrte sie verwundert an und fügte besorgt hinzu: »Fehlt dem Jungen was?«

»Nein, nein!« Hastig wischte sich Waltraud mit dem Handrücken über die Wangen, erhob sich und löschte schnell das Licht auf dem Nachttisch. So drang jetzt nur noch die Korridorbeleuchtung zu ihr herein, und der Mann konnte ihre Tränen nicht sehen. »Wo ist Liesel?«

»Schon im Bett«, entgegnete Martin Lorrimer. »Mit geputzten Zähnen und gekämmtem Haar. Wußte gar nicht, daß es so schwierig ist, kleine Mädchen ins Bett zu komplimentieren. Werde wohl noch viel dazulernen müssen.«

»Allerdings«, gab Waltraud trocken zurück, die seine Worte passend als Einleitung für das kommende Gespräch fand. »Ich mache mich nur schnell etwas zurecht, dann komme ich zu Ihnen hinunter ins Wohnzimmer.«

Schweigend trat er tiefer in den dämmrigen Raum, trat an die Wiege und schaute hinein. »Ich kann mir denken, worüber Sie mit mir reden möchten, Waltraud«, sagte er unvermittelt.

Sie wunderte sich ein wenig über die Anrede, die er wählte. Zum ersten Mal hatte er sie mit ihrem Vornamen angesprochen. Und nun schien er es selber erst zu merken, hob den Blick zu ihr auf und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Der Kinder wegen sollten wir uns auf eine weniger steife Anrede einigen. Finden Sie nicht auch? Sagen Sie doch Martin zu mir. Ist ja auch kürzer.«

Na ja! Fast hätte Waltraud bitter aufgelacht. »Also gut, Martin, kommt zwar etwas spät, doch ich bin einverstanden.«

Nun hatte sie ihn anscheinend verärgert, denn er drehte sich abrupt um und schritt hinaus.

Waltraud begab sich in ihr kleines Bad und versuchte, die Tränenspuren zu tilgen, so gut sie es vermochte.

Sie kämmte sich flüchtig das Haar und fand es etwas zu lang geworden. Sie mußte unbedingt zum Friseur, doch eigentlich wirkte es sehr hübsch, wie es sich an den Spitzen etwas kringelte und bis auf die Schultern fiel. Ihre Augenlider waren noch leicht gerötet, aber Martin Lorrimer würde sie bestimmt nicht so genau anschauen. Im Grunde sah er ja immer noch durch sie hindurch.

Doch Waltraud irrte sich, denn Martin Lorrimer fragte als erstes ziemlich erstaunt: »Warum haben Sie vorhin geweint, Waltraud? Gibt es einen Grund?«

Er saß unmittelbar neben der Stehlampe, die über ihn hinweg ihr Licht in den gemütlichen Raum verströmte. Die Schiebetür zum Eßzimmer stand weit offen, dort strahlte der grüne Kachelofen seine Wärme bis zu ihnen herein ab.

Waltraud ließ sich in einem zweiten Sessel nieder, schlug die Beine über­einander und wappnete sich mit Nüchternheit. »Natürlich habe ich vorhin geweint, und das hat seinen Grund. Schließlich habe ich ein Herz im Leib und keinen Stein. Es – tut mir einfach leid, Ulli und Liesel verlassen zu müssen. Doch es muß ja einmal sein. Und darüber möchte ich mit Ihnen reden, Martin.«

Ruhig hatte er zugehört, und sein Gesicht wirkte unergründlich gelassen. Es regte Waltraud auf, machte sie fast zornig, vor allem, weil er so hartnäckig schwieg. Saß da und blickte sie an, als ginge ihn das alles gar nichts an.

So fauchte sie ihn fast zornig an: »Haben Sie sich endlich um – um eine Haushälterin bemüht? Nein, nicht wahr? Sie tun es nicht! Obwohl ich Ihnen schon so oft gesagt habe…«

»Das weiß ich«, warf er plötzlich leise ein. So leise, fast sanft, daß Waltrauds Zorn jählings verrauchte.

Erschöpft wie nach einer schwierigen Arbeit, lehnte sie sich im Sessel zurück, blickte in das kühle Männergesicht und wußte auf einmal nichts mehr zu sagen.

Die Minuten verrannen, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Martin Lorrimer saß lässig da und blickte fast interessiert zu ihr herüber, als erwarte er, daß sie weiterreden würde.

Als sie jedoch schwieg, von ihm fort an den angrenzenden dunklen Eß­raum blickte, fragte er plötzlich: »Stimmt es, was man sich in St. Bla­sien erzählt? Daß Sie – den Apotheker zu heiraten beabsichtigen, Waltraud? Ich traf den Doktor, und er machte eine Anspielung dieser Art. Ist ja sein Neffe, der Peter Maier. Nun wird Ihnen angst und bange, Ihr – guter Ruf könnte durch mich in Mitleidenschaft gezogen werden. So ist es doch, nicht wahr? Obschon ich Sie eigentlich anders eingeschätzt habe.«

Zum Schluß klang seine Stimme außerordentlich belustigt, als habe er einen guten Witz erzählt.

Waltraud erblaßte, spürte im nächsten Moment ihr Blut heiß in die Wangen zurückströmen. »So! Nun werde ich Ihnen mal sagen, was man sich noch in St. Blasien erzählt, Martin Lorrimer.«

Sie stieß zornig die Luft aus, holte erneut Atem und berichtete von jener Schwester seiner verstorbenen Frau.

»Und alle Leute finden es seltsam, daß sich diese Frau nicht einmal auf der Beerdigung blicken ließ«, fügte sie hinzu. »Haben Sie ihr etwa überhaupt keine Todesanzeige geschickt? Das würde mich nicht wundern.«

Fast war Waltraud über sich selber bestürzt. Meine Güte, sie stellte da eine ungeheuerliche Behauptung auf.

Ehe sie jedoch mit ihrem Gedanken zu Ende gekommen war, trafen sie die gelassenen Worte des Mannes wie ein kalter Wasserstrahl.

»Richtig, Waltraud! Ich habe Rita keine Nachricht zukommen lassen. Sie weiß es überhaupt noch nicht. Weiß nicht, daß ihre Schwester nicht mehr lebt.«

Fassungslos schüttelte Waltraud den Kopf. »Aber das verstehe ich nicht. Lebten die Schwestern denn in – Feindschaft? Haßten sie einander?«

Martin seufzte, erhob sich und trat ans Fenster. Er schob die Gardine beiseite und blickte hinaus in die Dunkelheit. »Nein, das würde ich nicht sagen. Nein, sie haßten sich nicht. Dennoch – schien es mir besser, daß Rita nicht zum Begräbnis käme. Na, ist ja jetzt auch unwichtig.«

Seine Stimme drückte unendliche Resignation aus, die Waltraud auf den Tod seiner Frau bezog. Martin Lorrimer würde wohl nie überwinden, daß seine Frau nicht mehr lebte.

Nun kam er zurück, trat vor ihren Sessel hin und stützte beide Hände rechts und links auf dessen Lehne, so daß er ihr ganz nahe war. »Aber das ist nicht der Grund, warum Sie heute mit mir reden wollten, Waltraud. Außerdem haben Sie mir meine Frage noch nicht beantwortet. Heiraten Sie Peter Maier? Wollen Sie mir sagen, daß Sie bald fortgehen aus meinem Haus, von – meinen Kindern?« Seine Augen kamen den ihren etwas näher, und Waltrauds Verwirrung steigerte sich noch. Nach den Wochen der kalten Höflichkeit wirkte er heute zum ersten Mal freundlich und – sanft. Ja, ein besserer Ausdruck fiel ihr nicht ein. Martin wirkte sanft und freundlich, wie er sie so aus der Nähe betrachtete und ihren Blick nicht freigab.

»Ich muß doch endlich fortgehen«, flüsterte sie tonlos. »Verstehen Sie das denn nicht? Ich gewinne den Kleinen doch immer lieber, und – Liesel auch.«

Ihre Hände hoben sich unbewußt zu einer bittenden Geste. »Quälen Sie mich nicht, Martin Lorrimer, indem Sie mir nun sagen, es sei Egoismus von mir, daß ich auf das Gerede der Leute höre oder heiraten möchte. Nichts von alledem ist wahr. Doch fortgehen muß ich! Es geschieht nur zum Besten Ihrer Kinder, wenn Sie jemanden finden, der länger bleiben kann als ich. Am besten für immer hierbleiben würde.«

Schweigend stand er vor dem Sessel, mit vorgeneigtem Oberkörper, und blickte in ihre Augen. Kein Muskel in seinem Gesicht regte sich, es war undurchdringlich wie stets. Aber in seinen Augen stand ein sonderbarer Ausdruck, den Waltraud nicht enträtseln konnte.

So versuchte sie es mit trockenem Mund noch einmal: »Sehen Sie es doch bitte richtig. Da ist Ihr Sohn, ein Baby, der in mir seine feste Bezugsperson hat. Je länger ich hierbleibe, umso schwieriger wird es später für den Jungen, sich einer anderen Frau zuzuwenden.«

»Warum wollen Sie fort, Waltraud?« kam es plötzlich scharf von Martins Lippen. Er richtete sich brüsk auf und blickte kühl auf sie hinab.

Sie biß sich schmerzhaft in die Unterlippe, ehe sie fast hochmütig entgegnete: »Weil ich keine Haushälterin bin, sondern Hebamme. Und weil ich einfach keine Lust mehr habe, von Ihnen wie Luft behandelt zu werden. Schreiben Sie Ihrer Schwägerin endlich die Wahrheit. Bitten Sie die Tante Ihrer Kinder um Hilfe. Mag es Ihnen auch aus einem mir unbekannten Grund schwerfallen.«

Nachdenklich wandte er sich ab, vergrub beide Hände in den Taschen seiner saloppen Hausjacke und durchschritt den Raum.

»Nun ja! Das muß ich Ihnen wohl abnehmen, das mit der Haushälterin spielen. Wer versorgt schon gern zwei Kinder? Sie sind Hebamme! Sehr richtig!«

Nun drehte er sich jählings zu ihr herum, und seine hellen Augen blitzten unheilverkündend auf. »Dennoch bereue ich keine Minute, das Fräulein Hebamme für einige Zeit aus dem – Verkehr gezogen zu haben.«

Das war zuviel! Waltraud erhob sich und schritt ohne ein Wort der Entgegnung zur Tür. Wieder drängten sich heiße Tränen in ihre Augen, denn ihr Herz wurde schmerzhaft berührt von den vorwurfsvollen Worten. Konnte er denn wirklich so ungerecht empfinden? Er selber hatte doch an jenem Abend ihren streikenden Wagen bei der Pappelallee entdeckt und die Werkstatt angerufen.

Schon griff sie zur Türklinke, als seine Stimme hinter ihr aufklang: »Es tut mir leid, ich weiß, das hätte ich nicht sagen sollen.«

Nun war er bei ihr, legte eine Hand auf ihre Schulter und zwang sie, ihn anzusehen.

Sie tat es erst nach einigem Zögern, stand mit halb abgewandtem Gesicht da und sagte leise: »Bitte, versuchen Sie es mit Ihrer Schwägerin. Ich kann nicht länger hierbleiben. Doch es wäre sicherlich besser festzustellen, ob die Tante mit den Kindern zurechtkommt. Würde sie diese Aufgabe überhaupt übernehmen wollen?«

Sie standen sich nun dicht gegenüber, und seine Hand ruhte immer noch auf ihrer Schulter. Sie fühlte die Wärme seiner Finger bis auf ihre Haut und war bemüht, sich nicht zu rühren.

Er blickte sie schweigend an, ehe er ruhig entgegnete: »Ja, ich glaube schon, daß Rita hierherkäme. Ich bin mir ziemlich sicher. Doch ich halte es immer noch nicht für gut, Waltraud.«

»Warum nicht? Ist Ihre Schwägerin keine – warmherzige Frau? Oder was befürchten Sie?«

Seine Finger regten sich, gruben sich einen Moment in ihre Schulter ein, ehe Martin Lorrimer zurücktrat und seine Hand von ihr abnahm. »Was sollte ich schon befürchten«, sagte er rauh und mit sich verengenden Augen. »Rita ist eine patente Frau, darüber besteht kein Zweifel. Doch sie war immer unabhängig, ist unverheiratet und mit Kindern… Du meine Güte, ich weiß nicht, ob Rita Römer mit Kindern umgehen kann. Aber warten wir es ab. Ich kann ja mal schreiben und hören, was sie dazu meint. Zufrieden, Fräulein Hebamme?«

Seine Mundwinkel zuckten verhalten. Er schien sich über etwas zu amüsieren, und Waltraud brauchte ein paar Augenblicke, um zu erraten, was Martin Lorrimer so belustigte.

Es war ihre besorgte Miene, die sie unbewußt aufgesetzt hatte, als er mit einigen Zweifeln in der Stimme meinte, er wüßte nicht, ob Rita Römer mit Kindern umgehen könne.

»Also muß ich sie unter allen Umständen vorher in ihre Pflichten einführen«, sagte sie darum energisch, »denn schließlich ist Ulli noch ein Baby und braucht seine Pflege. Schreiben Sie schnell, Herr – Martin, damit endlich eine geeignete Person gefunden wird.« Martin Lorrimer grinste immer noch und meinte: »Eigentlich habe ich bisher angenommen, die geeignete Frau für meine Kinder schon gefunden zu haben. Aber bitte – kümmern wir uns um eine bessere.«