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Cosy Crime im malerischen Setting der Provence: Die ersten drei Bände der »Lavendel-Morde« in einem eBook! Ein Fall von Wirtschaftskriminalität führt EU-Ermittlerin Molly Preston nach Südfrankreich, in ein beschauliches Dorf zwischen alten Olivenbäumen und den ewig singenden Zikaden. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf geheimnisvolle Zeichen an der Wand einer kleinen Kapelle. Mit der Unterstützung ihres Freundes Charles – seines Zeichens erfolgreicher Krimi-Autor – entschlüsselt sie die Botschaft und erfährt von einem nie geklärten Bankraub. Doch dann gibt es einen Toten, und auf einmal entwickelt sich die Jagd nach dem verschollenen Goldschatz zum Schlüssel für die Lösung ihres aktuellen Falls … Urlaubszeit ist Krimi-Zeit: Die Provence-Krimi-Reihe von Carine Bernard ist die perfekte Urlaubslektüre für alle Frankreich-Fans Die Autorin Carine Bernard hat ein Faible für Frankreich und erkundet Land und Leute am liebsten entlang kleiner Nebenstraßen mit dem Campingbus. In ihrer Provence-Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde« nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit in ihr liebstes Reiseziel: die Provence mit ihren malerischen Dörfern und der vorzüglichen Küche. Spannende Fälle zum Miträtseln, malerische Landschaften und provenzalische Köstlichkeiten machen die cosy Krimis um die Ermittlerin Molly Preston und die junge Kommissarin Lilou Braque zum Lesevergnügen. Dieses Krimi-Bundle enthält die Bände 1-3: »Lavendel-Tod«, »Lavendel-Gift« und »Lavendel-Fluch«. Die so spannenden wie entspannenden Provence-Krimis von Carine Bernard sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Lavendel-Tod - Lavendel-Gift - Lavendel-Fluch - Lavendel-Grab - Lavendel-Zorn - Lavendel-Sturm - Lavendel-Wut
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Seitenzahl: 989
Veröffentlichungsjahr: 2025
Carine Bernard
Die Lavendel-Morde Band 1-3Das Provence-Krimi-Bundle
Cosy Crime im malerischen Südfrankreich
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Lavendel-Tod
Die EU-Ermittlerin Molly Preston soll in einem beschaulichen Dorf in der Provence einen Fall von Wirtschaftskriminalität aufdecken. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf geheimnisvolle Zeichen an der Wand einer kleinen Kapelle, die scheinbar auf einen Goldschatz hinweisen. Gemeinsam mit ihrem Freund Charles – seines Zeichens erfolgreicher Krimiautor – begibt sie sich auf die Suche. Als es dann einen Toten gibt, stellt sich die Jagd nach dem nie gefundenen Gold als Schlüssel zur Lösung ihres Falls heraus …
Lavendel-Gift
Kaum hat sie ihr letztes Praktikum für die Ausbildung zur Commissaire begonnen, muss Lilou Braque im provenzalischen Städtchen Carpentras den Mordfall ihres Nachbarn Frédéric Benoit aufklären. Wer würde dem hilflosen alten Mann, für den Lilou oft gekocht hat, etwas antun? Gegen den Willen ihres Vorgesetzten Commissaire Demoireau verfolgt sie zusammen mit dem charmanten Simon die Spur eines alten Familienkochbuchs der Benoits. Doch kann sie Simon vertrauen? Dem Mörder jedenfalls geht es um weitaus mehr als alte Kochrezepte ...
Lavendel-Fluch
Ausgerechnet während eines romantischen Picknicks mit ihrem Freund Simon wird Lilou Braque zum Tatort eines Mordes gerufen: In einem Weinberg wurde ein Mann mit einer Schrotflinte erschossen. Während Lilou versucht, die Identität des Toten zu klären, entdeckt ihre Freundin Claire im Geheimfach eines antiken Schreibtischs die Besitzurkunde für ein Château aus dem Jahr 1933. Seltsamerweise existiert kein Besitz dieses Namens, und auch zu seinem angeblichen Eigentümer gibt es keinerlei Eintrag. Als Lilou herausfindet, wer der Tote im Weinberg ist, ahnt sie einen ungeheuerlichen Zusammenhang. Gemeinsam mit dem wahren Erben des Château begibt sie sich selbst in Gefahr, um den Mörder zu überführen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
LAVENDEL-TOD
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
LAVENDEL-GIFT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Danksagung
LAVENDEL-FLUCH
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Danksagung
Leseprobe »Lavendel-Grab«
Für Volker.
Ich wünschte, du hättest es noch erleben dürfen.
Molly Preston kniete auf den kühlen Steinfliesen der Kapelle und schabte geduldig mit einem Spachtel die weiße Farbe von der Wand. Sehr weit war sie heute nicht gekommen. Nach unten hin schienen die Schichten immer dicker zu werden, ganz so, als ob die Farbe über die Jahre nach unten geflossen wäre, wie das Glas einer alten Fensterscheibe.
Im mittleren Drittel der Wand war es Molly bereits gelungen, die darunter liegenden Fresken freizulegen. Schemenhaft ließen sich schon Gestalten und eine Bordüre erahnen. Das war der spannendere Teil ihrer Aufgabe, dennoch unterdrückte sie ihre Ungeduld und arbeitete sich systematisch nach unten vor.
Unter dem Druck ihres Spachtels löste sich ein größeres Stück Kalkfarbe im Ganzen von seinem Untergrund und fiel zu Boden. Molly stutzte und nahm die darunterliegende Stelle genauer in Augenschein. Eigentlich erwartete sie hier noch keine Wandmalereien, die Farbschicht war noch zu dick, trotzdem konnte sie deutlich dunkle Zeichen im hellen Kalk erkennen. Vorsichtig entfernte sie die Reste von Weiß und legte ein Muster aus Schlangenlinien und Strichen frei. Sie ließ sich auf die Fersen zurückfallen und betrachtete ihren Fund.
Mit den alten Fresken von weiter oben hatten diese Zeichen mit Sicherheit nichts zu tun, das konnte sogar sie als Laie sehen. Die Schicht, in der sie ihren Fund gemacht hatte, war viel oberflächlicher und jünger als die bunten Bilder, die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach überstrichen worden waren. Doch was hatte das zu bedeuten?
Molly beugte sich vor und untersuchte das schuppenförmige Stück weißer Farbe, das vor ihr auf dem Boden lag. Vorsichtig setzte sie das Werkzeug an und spaltete die oberste Schicht ab. Noch mehr Striche. Wie ein Puzzle passte das lose Teil zum Rest, der noch an der Wand haftete, und bildete eine Pfeilspitze, die nach rechts wies.
Sie legte es beiseite und begann, das Muster in der Wand mit ihrem Spachtel zu verfolgen. Zweimal löste sie dabei weitere große Farbbrocken ab, die sie sorgfältig zu dem ersten legte. Am Ende hatte sie eine Fläche von vielleicht zehn Zentimetern in der Höhe und vierzig Zentimetern in der Breite freigelegt. Hätte man zuvor noch eine zufällige Musterung oder die Reste einer Schmuckkante vermuten können, so war es jetzt eindeutig, dass hier jemand eine Botschaft hinterlassen hatte, denn am linken Ende des Zeichens waren einige Zahlen zu erkennen. Eine Zwei, eine Drei, eine Fünf konnte sie entziffern.
Doch was war das für eine geheime Schrift? Sie fotografierte die Stelle und die drei losen Teile mit der Kamera ihres Smartphones und verschob genauere Nachforschungen auf später. Schließlich war es ihre Aufgabe, die alten Farbschichten abzutragen, die das mittelalterliche Wandgemälde bedeckten. Die Feinarbeit und die professionelle Restaurierung der Fresken würden anschließend Spezialisten übernehmen. Sie sollte nur die grobe Vorarbeit leisten, dafür wurde sie bezahlt. Es war beileibe nicht die Art von Arbeit, die sie normalerweise verrichtete, doch vor zwei Wochen war ihr die Restaurierung der kleinen Kapelle als die einzige Möglichkeit erschienen, in angemessener Zeit Zutritt zur Groupe BFC zu bekommen und ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen.
Die Groupe BFC war ein privat geführtes Bankhaus, das ein weitverzweigtes Imperium von kleinen Privatbanken kontrollierte. Sehr konservativ und gediegen war der äußere Eindruck, das Vertrauen der Kunden war ihr größtes Kapital.
Und ausgerechnet diese renommierte Bank stand in Verdacht, sich durch einen florierenden Handel mit illegal erworbenem Wissen zu bereichern. Offenbar hatte die Groupe BFC Zugang zu Insiderwissen, das es ihr ermöglichte, im richtigen Moment Anlagen zu tätigen oder riskante Papiere zum bestmöglichen Zeitpunkt abzustoßen. Die investierten Beträge waren nicht hoch genug, um besonders aufzufallen, aber in der Summe waren die so erzielten Gewinne enorm. Die vielfach verflochtenen Strukturen innerhalb der Bankengruppe machten es jedoch unmöglich, die genaue Größenordnung der dunklen Geschäfte nachzuvollziehen.
Molly arbeitete für eine streng geheime Abteilung der EU zur Aufklärung von Finanz- und Wirtschaftsspionage, und ihr Auftrag lautete, sich in das Firmennetzwerk der Groupe BFC einzuschleusen. Von dieser Position aus sollte sie nach Anhaltspunkten für diesen ungeheuerlichen Verdacht suchen und in Abstimmung mit ihrem Team die nötigen Beweise finden, um die Hintermänner der Bank zu überführen. Aber die Groupe BFC erwies sich als uneinnehmbares Bollwerk. Die Angestellten waren handverlesen, und erst nach Jahren bestand die Chance, in die höhere Führungsebene aufzusteigen. So viel Zeit hatte Molly nicht, und so hatte sie sich ein gemeinnütziges Projekt der Bank zunutze gemacht, auf das sie bei ihren Recherchen gestoßen war: die Restaurierung einer winzigen Kapelle mitten in den provenzalischen Bergen, ein paar Kilometer außerhalb eines kleinen Dorfes namens Mirocène. Wie viele Firmen in Frankreich unterhielt auch die Groupe BFC eine Stiftung zur Förderung der lokalen Kultur, und über diese Hintertür hoffte Molly auf einen Zugang.
Ausgestattet mit einem wasserdichten Lebenslauf als Marie Bonnieux, Studentin der Kunstgeschichte, hatte sich Molly um einen Praktikumsplatz bei der Groupe BFC beworben. Nach einem eingehenden Vorgespräch mit einer Vertreterin der Personalabteilung war sie angenommen worden, und wie erwartet hatte man sie zur Restaurierung der Kapelle abgestellt. Sie hatte sich in Mirocène einquartiert und mit Feuereifer auf die neue Aufgabe gestürzt.
Doch leider stellte sich diese Idee mit jedem Tag mehr als Sackgasse heraus – sie war in den letzten zwei Wochen um keinen Schritt weitergekommen.
Zwar war vor einigen Tagen tatsächlich ein Mitarbeiter der Groupe BFC hier gewesen, um sich über den Fortschritt der Arbeiten zu informieren: ein hochgewachsener Mann mit eisengrauem Haar, in grauem Nadelstreif und auf Hochglanz polierten Schuhen, der ihr jovial die Hand schüttelte und ihr versicherte, dass diese Tätigkeit für ihr Studium von großem Nutzen sein werde. Darüber hinaus schien er sich jedoch nicht weiter für sie zu interessieren. Er hatte eine Runde durch das Kirchenschiff gedreht, wohlwollend mit dem Kopf genickt und war wieder gefahren. Seitdem war niemand mehr aufgetaucht, und inzwischen bezweifelte Molly, auf diesem Weg etwas über die dunklen Machenschaften der Groupe BFC herausfinden zu können.
Dabei machte sie diese Art von verdeckter Ermittlung nicht zum ersten Mal. Ihre vielfältigen Fähigkeiten, ihre rasche Auffassungsgabe und ihr sicheres Auftreten ermöglichten es ihr, fast jede Stelle in einem Unternehmen zu besetzen und sich schnell genug hochzuarbeiten, um an verdächtige Informationen heranzukommen. Sie war in Deutschland groß geworden, doch ihre Vorfahren kamen aus England, Frankreich und Japan, weshalb sie auch Französisch und Englisch wie ihre Muttersprache beherrschte und sogar mit asiatischen Sprachen zurechtkam. Ihr japanischer Großvater hatte ihr darüber hinaus eine Art von unaufdringlicher Höflichkeit mitgegeben, mit der sie normalerweise sehr rasch das Vertrauen wildfremder Menschen gewann.
Aber hier hatte ihr all das nichts genutzt. Der feine Herr von der Bank hatte Marie Bonnieux noch nicht einmal als Person wahrgenommen. In ihren staubigen Jeans und mit dem Tuch über dem zurückgebundenen Haar, ungeschminkt, die Fingernägel schmutzig und abgebrochen, war es aber auch kein Wunder: Die Frauen, mit denen ein Mann wie er normalerweise zu tun hatte, sahen bestimmt anders aus. Langsam musste sie sich eingestehen, dass ihre Tarnung zu gut funktionierte – sie verhinderte sogar die Kontaktaufnahme mit den Vertretern der Bank. Molly war hier nur ein weiteres Paar Hände, das sich dem gemeinnützigen Projekt der Groupe BFC widmete, so wie die drei einheimischen Hilfsarbeiter, die in der Hauptkapelle den Fußboden freilegten, oder die Zimmerleute, die letzte Woche die Balken unter dem Steindach erneuert hatten.
Sie seufzte, nahm den Spachtel und kratzte weiter die Farbe von der Wand. Wenn sie ehrlich war, langweilte sie sich inzwischen zu Tode.
Molly fuhr zusammen, als ihr Matthieu auf die Schulter tippte und in seinem breitesten Provenzalisch »finido« sagte. Nichts und niemand hatte sie auf die Sprache vorbereitet, die die Menschen hier sprachen. Molly hatte zwar einige Jahre bei ihren Großeltern in Paris gelebt, doch das Provenzalische war eine eigene Sprache und es zu verstehen eine Kunst für sich.
Dem Verhältnis zu den drei Männern tat das keinen Abbruch. Matthieu und seine beiden Freunde behandelten sie mit der ausgesuchten Höflichkeit der älteren Landbevölkerung, und gleichzeitig war sie so etwas wie ihr Schützling, auf den es aufzupassen galt. Sie verbrachten die Pausen zusammen und teilten ihre Brotzeit mit ihr, die üblicherweise aus frischem Baguette, aromatischem Käse und rosafarbenem Wein bestand.
Und so wie eben machte Matthieu sie immer auf das Ende des Arbeitstages aufmerksam. Molly erhob sich und lächelte ihn an. Er war kaum größer als sie, hatte aber breite Schultern und kräftige Arme.
»Merci, Matthieu! Seid ihr heute gut vorangekommen?«
Er rückte die Mütze zurecht, unter der graue Strähnen hervorlugten. »Ja, wir haben die hintere Ecke fertig gemacht«, antwortete er. »Der Monsieur wird zufrieden sein.«
Molly nickte zustimmend. Sie konnte inzwischen immer besser erraten, was er sagte.
Sie folgte Matthieu nach draußen und bewegte ihre verspannten Schultern. Offenbar hatte sie länger auf dem Boden gekauert und über den geheimnisvollen Zeichen sinniert, als ihr guttat, und nun protestierten die schmerzenden Muskeln. Sie nahm einen tiefen Atemzug und roch das dürre staubige Gras, das in der spätsommerlichen Hitze verdorrte.
Die Sonne stand tief über den umgebenden Berghängen und tauchte die Natursteinwand der Kapelle in goldenes Licht. Molly schloss einen Moment die Augen und genoss die Wärme des Sonnenlichts auf ihrem Gesicht.
Neben dem trutzigen Gebäude befand sich eine kleine ebene Fläche, die an zwei Seiten von einer niedrigen Steinmauer umgeben war. Hinter der Mauer ging es steil in die Tiefe, in der Ecke führten grob gemauerte Stufen drei Meter nach unten in einen Olivenhain. In der Mitte der so entstandenen Terrasse wuchs ein windschiefer Olivenbaum, dessen gewundener Stamm sicherlich auch eine interessante Geschichte erzählen könnte. Einige niedrige Buchsbäume vervollständigten das Rund, und in ihrem Schatten stand eine gusseiserne Pumpe, die frisches Quellwasser spendete. Matthieu betätigte den Schwengel, und Molly wusch sich die Hände und das Gesicht mit dem klaren Wasser.
Direkt an der Wand der Kapelle befand sich ein Mauervorsprung, fast schon eine kleine Bank. Darauf saßen Pierre und Colombin, Matthieus Freunde und Arbeitskollegen, und warteten auf sie. Pierre hatte ein langes melancholisches Gesicht, und Molly hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Colombin war das genaue Gegenteil, er war klein und drahtig, und seine listigen kleinen Augen zwinkerten ständig.
Alle drei waren sie Bauern aus der Umgebung, mit wettergegerbten Gesichtern und knorrig wie alte Bäume. Normalerweise verdienten sie ihr Geld mit dem Anbau von Oliven, Feigen und Lavendel. Aber die Lavendelernte war schon lange vorbei, die Haupterntezeit der Feigen kam erst im Herbst, und die Oliven wuchsen ebenfalls von allein und brauchten außer zur Ernte im November nicht viel Aufmerksamkeit. So waren sie froh über jede Gelegenheitsarbeit, die ihnen zwischendurch angeboten wurde.
Pierre und Colombin erhoben sich und folgten ihr zu dem alten Land Rover, der im Schatten unter ein paar Bäumen parkte. Am Vortag hatte es kurz geregnet, und auf dem geschotterten Zufahrtsweg stand noch eine große flache Pfütze. Als Molly daran vorbeiging, erhob sich ein Meer von kleinen lilafarbenen Schmetterlingen, die sich hier am seichten Wasser versammelt hatten. Sie legte die letzten Meter zum Geländewagen in einer Schmetterlingswolke zurück und setzte sich auf den Beifahrersitz. Colombin schloss schwungvoll die Tür, die er für sie aufgehalten hatte, und stieg mit Pierre hinten ein, während Matthieu den Motor anließ.
Zwanzig Minuten und einige Serpentinen später erreichten sie das Dorf Mirocène. Unterwegs hatten sie am Hof von Colombin angehalten, um ihn dort abzusetzen, und als der Wagen auf den Marktplatz einbog, verschwand die Sonne gerade hinter dem Bergrücken.
Matthieu parkte den Landrover vor der Bar Lavande, die Hotel, Restaurant und Café in einem war. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Tische und Stühle auf dem breiten Bürgersteig und betraten den eigentlichen Gastraum. Während Matthieu und Pierre winkend und grüßend zu Jacques, dem Wirt, hinübergingen, der hinter der Theke stand, eilte Molly die dunkle Holztreppe nach oben. Vier Gästezimmer hatte Jacques zu bieten, nur für den Fall, dass sich doch einmal ein Tourist hierher verirren und ein Bett für die Nacht suchen sollte, und eines davon hatte sie für die Dauer ihres »Praktikums« belegt.
Trotz der Nähe zum Mont Ventoux war Mirocène noch nicht vom Tourismus vereinnahmt. Es lag zu weit entfernt von den größeren Städten der Region wie Carpentras oder Vaison la Romaine, und die schmale Straße nach Sault war zwar fast ebenso kurvenreich wie die Strecke durch die Gorges de la Nesque auf der anderen Seite des Tals, bot aber nicht die grandiosen Ausblicke und dramatischen Felsabstürze, für die diese berühmt war. Der Anfahrtsweg zum Mont Ventoux war selbst für motivierte Fahrradfahrer zu weit, und für einen Campingplatz schien es gar nicht genügend ebene Fläche zu geben.
Doch Molly war das ganz recht. Hier, unter den Einheimischen fühlte sie sich wohl, es gefiel ihr hier besser als in den großen touristischen Zentren der Provence.
Sie warf ihre Leinentasche aufs Bett, zog sich das staubige T-Shirt über den Kopf und verschwand unter der Dusche. Als sie fünfzehn Minuten später in eine karierte Bluse und frische Jeans schlüpfte, fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie musterte ihr Gesicht im Spiegel und zog die Nase kraus. Die zwei Wochen unter der südfranzösischen Sonne hatten tatsächlich ein paar Sommersprossen auf ihre Nase gezaubert, und ihr normalerweise tiefschwarzes Haar zeigte einen deutlichen rotbraunen Schimmer.
Molly hängte sich die Tasche um und lief wieder nach unten. Anstatt in den Gastraum zu gehen, der sich inzwischen mit den Männern aus dem Dorf gefüllt hatte, wollte sie lieber an die frische Luft. Der laue Sommerabend und das abendliche Treiben auf dem Hauptplatz des Dorfes luden zum Sitzen im Freien ein. Abgesehen davon waren die Tische vor der Bar Lavande einer der wenigen Punkte in Mirocène, an denen man mit dem Handy genügend Empfang für eine stabile Internetverbindung hatte.
Jacques’ Frau Margot brachte ihr unaufgefordert eine Karaffe mit gekühltem Rosé und eine Flasche Wasser.
»Bonsoir, Marie«, begrüßte sie sie. »Wir haben heute Soupe au Pistou, ist das in Ordnung?«
Molly begrüßte die Wirtin und nickte zustimmend. Es blieb ihr auch nicht viel anderes übrig; die Alternative wären Brot und Käse gewesen, was allerdings auch nicht zu verachten war. Doch Margot war eine hervorragende Köchin, und ihre Suppen waren im weiten Umkreis berühmt.
Molly zog ihr Smartphone aus der Tasche und schaltete es ein. Sie hielt ihr Gesicht in die Erfassung der Kamera und wartete auf die Verbindung zur Außenwelt. Ohne Netzverbindung machte es keinen Sinn, das Telefon tagsüber eingeschaltet zu lassen, und nun vibrierte es in ihrer Hand, als die verpassten Nachrichten eintrafen. Schnell ging sie die Liste durch, doch außer einer E-Mail von ihrem Freund Charles fand sie nichts Dringendes oder Wichtiges. Solange sie ihren Kollegen in Brüssel keine neuen Erkenntnisse mitteilen konnte, herrschte Funkstille.
Charles’ Nachricht begann mit »Ma chère Marie«, und Molly musste lächeln, während sie seine Zeilen las. Er schrieb so gut wie nie Privates oder Persönliches in seinen Mails oder Briefen, nur nichtssagende Floskeln, die zwischen ihnen so etwas wie einen nicht abgesprochenen Code darstellten. Übersetzt hieß das wohl, dass er sie vermisste, dass er sie liebte und dass er sich auf ein Wiedersehen freute.
Sie pflegten diese Art des Umgangs schon seit Mollys allererstem Auftrag, denn ein Abhören oder Ausspionieren ihrer Post war nie ganz auszuschließen. Zwar war ihr Telefon mit einem Custom-ROM ausgestattet, das von den Computerleuten ihrer Abteilung entwickelt worden war und das dafür sorgte, dass alle Daten nur verschlüsselt weitergeleitet wurden, doch schon die Mailadresse, an die Charles seine täglichen E-Mails schickte, war eine Schwachstelle. Die Domain gehörte der Universität von Paris, wo Marie Bonnieux ihrer Legende nach studierte, und der E-Mail-Verkehr konnte theoretisch von dort aus ausspioniert werden. Absolute Geheimhaltung war jedoch entscheidend für ihren Erfolg, deshalb war Molly dankbar für das Spiel.
Lilou, Margots Nichte, stellte einen Korb mit frischem Weißbrot sowie einen Teller mit Butter vor Molly ab und lächelte ihr zu. Sie war etwa im gleichen Alter wie Molly, und manchmal unterhielten sie sich über Paris, wo Lilou studierte. Doch heute nicht, Margot winkte energisch, und Lilou hob entschuldigend die Schultern, bevor sie zu ihr hinüberlief. Wenig später brachte Margot die duftende Suppe und ein Schälchen mit dem grünen Pesto.
Beim Essen war Molly trotz der vorzüglichen Soupe au Pistou nur halb bei der Sache. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zu ihrem Fund, zu den krausen Zeichen, die sie unter oder eher in der weißen Wandfarbe gefunden hatte. Sie legte den Löffel zur Seite, öffnete den Browser ihres Handys und lud das Foto der geheimnisvollen Kritzelei in die Bildersuche von Google hoch. Es dauerte ziemlich lange, denn die Netzverbindung war zwar vorhanden, aber nicht sehr schnell. Das Ergebnis war enttäuschend, moderne Kunst, Tuschezeichnungen, Fotos von Schriftstücken, aber nichts, was ihr weiterhalf. Dabei kamen ihr die Symbole des Zeichens irgendwie bekannt vor, sie konnte sie nur nicht zuordnen. Vielleicht lag es auch einfach an ihrer Müdigkeit und dem Glas Wein, das sie in der Zwischenzeit getrunken hatte, jedenfalls spürte sie, dass sie so nicht weiterkam.
Aber wozu hatte sie ihren Freund? Charles war ein unerschöpflicher Quell unnützen Wissens und hatte großen Spaß an solchen Rätseln. Sie öffnete ihren Messenger, wählte Charles’ Avatar und schickte ihm das Foto.
»Fällt dir dazu etwas ein? Das habe ich heute in der Kapelle gefunden«, schrieb sie darunter.
Der Versand des Bildes über die App dauerte noch länger, denn jede Kommunikation lief über den Server ihrer Abteilung in Brüssel, wo die Nachricht entschlüsselt und dann erst dem Empfänger zugestellt wurde.
Molly schob den leer gegessenen Teller von sich. Sie war satt, aber mit dem letzten Stück Brot wischte sie noch den Rest vom Pesto aus dem Schälchen. Müßig beobachtete sie das Treiben auf dem Platz. Es war erstaunlich, wie viele Menschen hier abends unterwegs waren, vor allem, wenn man berücksichtigte, wie klein das Dorf war. Am Brunnen hatten sich die Jugendlichen versammelt, schlaksige Jungen und schlanke Mädchen mit gebräunten Beinen, die auf der steinernen Brüstung hockten wie die Spatzen auf einem Dach und sich angeregt unterhielten.
Die Mitte des Platzes wurde von einem Boulodrome eingenommen, dem die umstehenden Platanen auch in der schlimmsten Mittagshitze ausreichend Schatten spendeten. Hier trafen sich jeden Abend und manchmal auch schon nachmittags die älteren Männer des Dorfes. Auch heute schallte das Klacken und Knallen der Metallkugeln durch die Dämmerung. Molly verfolgte mit müßigem Interesse den Fortgang des Pétanque-Spiels, der provenzalischen Variante des bekannteren Boule, bei der die Kugeln nicht mit Anlauf, sondern aus dem Stand gespielt wurden. Der alte Jules lag wie fast immer in Führung; er hatte in seiner Jugend quasi professionell gespielt und es immerhin bis in die Landesliga geschafft.
Ein Brummen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Es war die Antwort von Charles, der das geheimnisvolle Zeichen, das sie ihm zuvor geschickt hatte, offenbar besser zuordnen konnte: »Das sieht aus wie ein Gaunerzinken, links steht ein Datum, den Rest muss ich noch recherchieren!«
Molly studierte erneut das Foto. Wenn es stimmte, was Charles schrieb, dann musste das Zeichen am 23. Mai 1912 an die Wand gemalt worden sein. Was es wohl bedeutete?
Sie trank ihren Wein aus und beschloss, gleich zu Bett zu gehen. Morgen früh um acht würde sie Matthieu abholen, sie würden wieder zur Kapelle fahren und ihre Arbeit fortsetzen. Mit dem Gedanken an Charles, der gerade an einem Strand am Mittelmeer saß, und einem leisen Anflug von Neid schlief sie ein.
Am nächsten Morgen wurde Molly von den melodischen Klängen der Alarmfunktion ihres Smartphones geweckt. Sie wusch sich das Gesicht und band ihre Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, der sie sofort um fünf Jahre jünger aussehen ließ. Ein buntes Schaltuch darüber, um sie vor dem schlimmsten Staub zu schützen, alte Jeans und eine bunte Bluse vervollständigten ihre Arbeitskleidung.
Im Hauptraum der Bar grüßte sie Jacques und nahm an einem Tisch am Fenster Platz. Margot brachte eine große Schale Café au Lait, zwei Croissants in einem Körbchen und einen kleinen Extra-Teller mit Butter und stellte alles vor ihr ab. Ein Glas Feigenmarmelade und ein Töpfchen mit Lavendelhonig standen schon auf dem Tisch.
Molly tunkte gerade das letzte Stück Croissant in den Kaffee, als Matthieu draußen hupte. Sie trank aus, winkte Margot und Jacques im Hinausgehen zu und stieg in den Wagen. Auf der Rückbank saß schon Pierre, sein langes Gesicht verzog sich zur Begrüßung. Hinten im Kofferraum rumpelten Werkzeug und Wasserflaschen, während sie die schmale Straße hoch zur Kapelle fuhren. Colombin kam heute nicht mit, so dauerte die Fahrt nicht einmal zehn Minuten.
Mollys Plan für heute war, den Bereich um ihren gestern gefundenen Gaunerzinken großflächig von Farbe zu befreien. Sie hoffte, weitere ähnlich geartete Zeichen zu entdecken, die das Entschlüsseln erleichtern würden. Die Arbeit erforderte noch mehr Sorgfalt als sonst, denn diese Zeichen befanden sich mitten zwischen den weißen Farbschichten. Wäre die Farbe gestern nicht in einem Stück abgeblättert, hätte sie das Gekritzel wahrscheinlich übersehen. Aber wenn sie schon mit ihrem eigentlichen Fall nicht weiterkam, konnte sie sich genauso gut mit ihrem Zufallsfund befassen.
Drei Stunden später hatte Molly den gesamten unteren Bereich bis auf den Verputz freigelegt und sah bereits die farbigen Fresken, die vor sechshundert Jahren direkt in den feuchten Kalkputz gemalt worden waren. Nur die Stelle mit »ihrem« Gaunerzinken war noch von weißer Farbe bedeckt. In der angrenzenden Fläche hatte sie keine weiteren Zeichen mehr gefunden, obwohl sie sich akribisch durch die einzelnen Schichten gearbeitet hatte.
Als nächster Schritt blieb ihr nur noch, auch den Gaunerzinken zu entfernen, denn ihre Aufgabe bestand natürlich immer noch darin, die Fresken freizulegen.
Vorsichtig klopfte sie also die restlichen Bruchstücke ab und legte sie zusammen mit den Teilen von gestern wie ein Puzzle auf dem Boden aus. Die Symbole waren nun besser zu erkennen, die Ziffern auf der linken Seite, ein lang gezogener Pfeil mit einer Schlangenlinie, dessen Spitze nach rechts in die Ecke der Seitenkapelle wies, unterbrochen von zwei diagonalen Strichen und darum herum angeordnete kleine Kreise.
Molly machte noch weitere Fotos von der kompletten Darstellung; sie wollte sie später genauer in Augenschein nehmen. Dann schaltete sie das Telefon wieder aus, steckte es weg und ging vor der Ecke, in die der Pfeil wies, auf die Knie. Auch dort trug sie die Farbschichten bis in den Winkel hinein ab. Doch falls der Pfeil eine Richtungsangabe darstellen sollte, konnte sie zumindest an dieser Stelle nichts entdecken. Die Farbe wurde zum Rand hin auch immer dünner, so als ob die Maler in den Ecken nachlässig gearbeitet hätten; dementsprechend stieß sie schnell auf die Schicht aus Feinkalk, die hier zum Rand der Wand hin aber keine Bemalung mehr aufwies.
Mollys Knie schmerzten von dem kalten Steinboden, sie stand auf und streckte sich. Das allgegenwärtige Zirpen der Zikaden war selbst hier drinnen zu hören. Aber die Geräusche aus dem Hauptschiff der Kapelle waren schon seit einiger Zeit verstummt, demnach hatten Matthieu und Pierre ihre Arbeit beendet. Es war Freitag, da machten sie bereits mittags Schluss, und die beiden waren wohl schon dabei, das Werkzeug zu reinigen, aufzuräumen und den Raum sauber zu machen.
Molly stand auf und suchte ihre Spachtel zusammen. Sie brachte sie nach draußen, wo die Sonne hoch und brennend am Himmel stand, und säuberte sie in dem kleinen Steintrog, der von der gusseisernen Pumpe gespeist wurde. Anschließend legte sie sie zum Trocknen auf die Steinbank und flüchtete schnell wieder in die dämmrige Kühle der Kapelle.
Sie nahm den Besen, der neben der Tür stand, und fegte die Farbreste in ihrem Arbeitsbereich auf einen Haufen. Sie war gerade fertig, als sie Matthieu und Pierre zurückkommen hörte. Pierre betrat das Seitenschiff mit einer Schaufel in der Hand, und sie half ihm, die Farbe und den Schmutz auf das Blech zu kehren.
Pierre nickte in Richtung der Bruchstücke des Gaunerzinkens, die noch dort lagen, wo Molly sie aufgereiht hatte. »Qu’est-ce que c’est?«, fragte er.
»Je ne sais pas«, antwortete Molly, »ich weiß es nicht. Das habe ich in der Wand unter der Farbe entdeckt.«
Pierre stellte die Schaufel zur Seite, hockte sich hin und betrachtete das Zeichen genauer. Mit dem Finger fuhr er den Pfeil und die Schlangenlinie entlang.
»Wo genau hast du das gefunden?«, wollte er wissen.
Molly deutete mit dem Finger auf den Wandabschnitt. Pierre zog die Brauen hoch, sein Blick folgte der Wand in die Richtung des Pfeils, dann zuckte er mit den Schultern.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Molly.
»Nein.« Pierre schüttelte den Kopf. »Es sieht aus, als hätte jemand etwas an die Wand gemalt. Vielleicht ein Maler oder ein Maurer?«
»Ja, vielleicht«, meinte Molly.
Pierre hatte offenbar das Interesse verloren. Er erhob sich und trug die Schaufel hinaus, Molly stellte den Besen zurück hinter die Tür. Pierre kippte den Schmutz in den großen Schuttsack, der hinten an der Wand stand, und folgte ihr nach draußen. Matthieu wartete schon auf sie. Er schloss die Tür mit einem großen altmodischen Bartschlüssel ab, den er hinter einen losen Stein in der Kirchenwand schob.
Gemeinsam gingen sie zum Auto. Molly holte noch eine Flasche Wasser aus dem Kofferraum, dann nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz und trank die halbe Flasche in einem Zug leer. Matthieu grinste ihr zu, startete den Motor und ließ den Wagen über den steilen Weg zur Straße rollen.
»Was hast du am Wochenende vor?«, fragte er, als er in die Straße Richtung Mirocène einbog.
»Ich werde nach Avignon fahren, ich möchte mal wieder in die Stadt!«, antwortete Molly mit einem Augenzwinkern.
»Das ist gut«, stimmte Matthieu ihr zu. »Ein junges Mädchen wie du langweilt sich bestimmt in unserem Dorf.«
Molly musste lachen. In ihrer Rolle war sie dreiundzwanzig Jahre alt, in Wahrheit jedoch vier Jahre älter, aber für Matthieu, der aussah, als hätte er noch den letzten Weltkrieg miterlebt, mochte jeder unter dreißig so jung erscheinen.
Molly freute sich schon auf das Wochenende in Avignon. Zwei Nächte in einem Hotel, ein Bummel durch die Altstadt, Straßenmusikanten und vielleicht ein Besuch im Theater – das hatte sie sich nach der staubigen Arbeit in der Kapelle verdient.
Vor der Bar Lavande stieg Molly aus dem Auto. Matthieu wendete schwungvoll und fuhr wieder in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Sie winkte noch hinterher, dann betrat sie das Bar-Restaurant-Hotel-Café und lief die Treppe hoch zu ihrem Zimmer. Eine schnelle Dusche, um den Staub loszuwerden, umziehen, ein paar Sachen packen, und schon eine halbe Stunde später saß sie in ihrem kleinen Peugeot und war auf dem Weg nach Avignon.
Der Feierabendverkehr wurde um Avignon herum immer dichter, und Molly brauchte geschlagene zwei Stunden für die knapp fünfzig Kilometer. Es war noch immer sehr heiß, als sie vor dem Hotel Le Corbert parkte und aus dem Auto stieg. Sie nahm ihre Reisetasche vom Beifahrersitz und betrat den klimatisierten Empfangsraum. Eine rundliche Dame kam aus dem hinteren Bereich des Hotels und begrüßte sie freundlich.
»Mademoiselle Henriche, n’est-ce pas?«
Molly lächelte zurück und holte ihren deutschen Pass aus der Handtasche. Er lautete auf Maria Heinrich, wohnhaft in Düsseldorf.
Das kleine Hotel direkt in der Altstadt war nicht gerade billig. In ihren Augen hätte es nicht zu ihrer Rolle als Studentin gepasst, weswegen sie auf die Identität von Maria Heinrich zurückgegriffen hatte, einer deutschen Touristin, die sich das leisten konnte.
Dabei hatte sie noch Glück gehabt, überhaupt ein Zimmer zu bekommen, als sie vor drei Tagen hier reserviert hatte – in der Hauptsaison war das Le Corbert normalerweise auf Monate hinaus ausgebucht, besonders zur Zeit des berühmten Theaterfestivals, das Avignon jedes Jahr mit Touristen überschwemmte.
Molly nahm den Zimmerschlüssel in Empfang und stieg die Treppe hinauf. Das Zimmer war nicht groß, aber sehr gemütlich eingerichtet. Die Teppiche, Vorhänge und der Bettüberwurf waren im Rot und Gelb der Occitanie gehalten und gaben dem Raum ein südliches Flair.
Molly streckte sich kurz auf dem breiten Bett aus und genoss die weiche Matratze, doch es hielt sie nicht lange. Sie hatte noch etwas vor, und das duldete keinen Aufschub. Sie schulterte ihre Tasche, setzte die Sonnenbrille auf und verließ das Hotel.
Auf der Fahrt nach Avignon hatte Molly beschlossen, eine der dortigen Stadtbibliotheken aufzusuchen. Die Médiathèque Ceccano war nur ein paar Straßen vom Hotel entfernt – der perfekte Ort, um ohne die Einschränkungen einer miserablen Netzverbindung zu dem Datum zu recherchieren, das sie auf dem Zeichen in der Kapelle gefunden hatte.
Am Eingang zur Médiathèque zeigte sie ihren französischen Studentenausweis und bekam einen Computerarbeitsplatz zugewiesen. Die Verbindung zum Internet erforderte keine weiteren Zugangsdaten und war wahrscheinlich nicht verschlüsselt; das war Molly aber egal, sie hatte hierbei nichts zu verbergen.
Gespannt gab sie das Datum bei Google ein: »23 mai 1912«, zusammen mit »Carpentras«, dem Namen der Hauptstadt des gleichnamigen Arrondissements. In einer Sammlung von alten Zeitungsausschnitten wurde sie tatsächlich fündig. Hier gab es einen Hinweis auf einen Banküberfall, der an diesem Tag in Carpentras stattgefunden hatte, gerade einmal vierundzwanzig Kilometer von Mirocène entfernt.
Die winzigen Vorschaubilder der Zeitung Le Petit Journal waren im Internet jedoch nicht zu entziffern. Für achtzehn Euro hätte Molly zwar eine lesbare Version bestellen können, aber sie hatte eine bessere Idee. Sie notierte sich das Datum der Ausgabe und die Schlagzeile »Braquage de la Banque du Fondette«, fuhr den Rechner herunter und ging zurück in den großen Eingangsbereich.
»Où est l’archive du journal?«, fragte sie die Dame am Informationstresen nach dem Zeitungsarchiv.
»Là-bas, la porte à droite«, antwortete diese und deutete zu einer Tür auf der rechten Seite.
Molly betrat einen langen dunklen Saal mit zahllosen Schränken und Schubfächern. Kurz musste sie sich orientieren, dann folgte sie dem Gang nach hinten, bis sie zu der Beschriftung »1912« kam. Am richtigen Regal angekommen, zog sie das Fach vom 24. Mai auf. Auf Mikrofilm lagen hier die Ausgaben mehrerer Zeitungen, und sie nahm die zwei obersten an sich. Sie schloss das Schubfach wieder, ging zurück in den vorderen Bereich und setzte sich an eines der Lesegeräte.
Schon die erste Zeitung war ein Treffer. »Verwegener Überfall auf das Bankhaus Fondette« lautete die etwas reißerische Überschrift, in dicken altmodischen Lettern gesetzt.
Der Artikel berichtete von einem einzelnen maskierten Täter, der am späten Nachmittag des Vortages kurz vor der Schließung der Bank den Schalterraum betreten hatte. Mit vorgehaltener Waffe zwang er den Direktor der Bank, Jerôme du Fondette, ihn in sein Büro zu führen. Er drohte, ihn auf der Stelle zu erschießen, wenn er nicht den Wandtresor öffnete. So konnte der Räuber ungefähr zweihunderttausend Franc in Münzen erbeuten, die er in einer großen Rückentrage davontrug.
Molly zog die Brauen hoch. Zweihunderttausend Franc in Münzen in einer Rückentrage, wer kam denn auf so eine Idee?
Die andere Zeitung erwähnte den Überfall nur kurz und vertiefte sich mehr in die Geschichte des privaten Bankhauses Fondette, das im Jahr 1872 von Jerôme du Fondette gegründet worden war. Fondette war ein angesehener Bürger von Carpentras, und die einfachen Leute aus der Umgebung vertrauten ihr Geld lieber ihm als den staatlichen Geldinstituten an. Der Autor spekulierte wortreich über das untergrabene Vertrauen in Banken im Allgemeinen und das Bankhaus Fondette im Besonderen, falls das Geld nicht wieder auftauchen sollte.
Molly druckte die beiden Artikel aus, brachte die Mikrofilme zurück und sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, für weitere Recherchen war keine Zeit, die Médiathèque würde gleich schließen. Sie schob die Ausdrucke in ihre Tasche und verließ die Bibliothek.
Molly trat auf die Straße hinaus und atmete tief durch. Die grauen Fassaden der Häuser strahlten die Hitze des Tages ab, es roch nach abgestandenem Wasser und warmem Asphalt. Sie wandte sich nach rechts in Richtung Altstadt und bog in eine schmale Gasse ein. Zwei Häuserblocks weiter verbreiterte sich die Straße zu einem kleinen Platz, und sie fand, was sie suchte: ein kleines Bistro mit Tischen und Stühlen unter bunten Sonnenschirmen. Sie ergatterte einen freien Platz direkt an der Hauswand und ließ sich dankbar nieder, denn sie hatte kein Mittagessen gehabt und während der Fahrt lediglich einen Apfel gegessen.
Die Menüauswahl war übersichtlich, aber trotzdem vielfältig genug, um vor allem den Touristen gerecht zu werden. Molly bestellte Moules frites, in Gemüsebrühe gegarte Miesmuscheln mit Pommes frites, die nach zwanzig Minuten in einem dunkelblau emaillierten Topf serviert wurden. Die Pommes frites waren aus frischen Kartoffeln gemacht und schmeckten himmlisch, doch bald wandte sie sich dem Hauptgericht zu. Sie pulte die erste Muschel mit der Gabel aus ihrer Schale, dann legte sie das Besteck zur Seite und verwendete für die weiteren die Schale der ersten als Werkzeug, so wie die Franzosen es machten. Bald war sie auf dem Grund des Topfes angekommen. Sie nahm den Löffel zur Hand und aß den Rest der Suppe mit den Fenchel- und Möhrenstreifen. Mit einem Stück Baguette tunkte sie den würzigen Bodensatz auf und lehnte sich danach satt und zufrieden zurück. Sie war wirklich hungrig gewesen!
Während Molly an ihrem Weißwein nippte, beobachtete sie die Menschen, die an ihrem Tisch vorbeiflanierten. Die Gassen waren eng und belebt, aber wohl lange nicht so überfüllt wie im Juli zur Festivalzeit. Sie konnte Besucher aus aller Welt erkennen, blasse Briten, beschwipste Skandinavier, Studenten aus Japan mit Kameras um den Hals, amerikanische See-Europe-in-two-weeks-Touristen und immer wieder Franzosen, sowohl Einheimische als auch Touristen aus dem Norden.
Das Handy vibrierte in ihrer Tasche, und sie zog es heraus. Eine Messenger-Nachricht von Charles, eine von der Sorte: »Mir geht es gut, ich lebe noch«. Sie lächelte und dachte einen wehmütigen Augenblick lang, wie schön es wäre, hier mit ihm zusammenzusitzen. Sie sahen sich viel zu selten!
Charles Muller war ein höchst erfolgreicher Autor von Kriminalromanen, und seine Geschichten spielten an immer neuen Schauplätzen irgendwo in Europa. Zurzeit war er in Italien und steckte mitten in den Recherchen zu seinem nächsten Buch.
Molly gestattete sich einen Seufzer des Bedauerns, dann verdrängte sie den Gedanken. Stattdessen nahm sie die Ausdrucke von der Bibliothek aus ihrer Umhängetasche und las sich die Ergebnisse ihrer Recherche nochmals durch.
Ohne viel Hoffnung öffnete sie den Browser ihres Handys und gab »Banque du Fondette« in das Suchfeld ein. Fehlanzeige. Sie hatte nichts anderes erwartet, immerhin hatte der Überfall vor über hundert Jahren stattgefunden, und es wäre höchst erstaunlich gewesen, wenn die Bank noch existierte.
Molly holte das Mailprogramm auf den Bildschirm und tippte eine kurze Zusammenfassung der Informationen zu den Wandzeichen und dem Banküberfall, die sie an ihre Abteilung sandte. Die Sache hatte zwar nicht unmittelbar mit ihrem Auftrag zu tun, aber etwas anderes hatte sie nicht vorzuweisen. Erst jetzt stellte sie fest, dass direkt neben ihr an der Fensterscheibe des Bistros ein Aufkleber mit dem Wi-Fi-Symbol klebte. Sie fotografierte die ausgedruckten Seiten mit ihrer Handykamera in höchster Auflösung, dann verband sie sich mit dem WLAN-Netz des Bistros und lud die Fotos in den verschlüsselten Cloud-Ordner ihrer Abteilung hoch. Das dauerte etwas länger als erwartet, das WLAN des Bistros war offenbar nicht das schnellste. Vielleicht war es auch nur überlastet von den vielen Gästen, die drinnen und draußen saßen – fast an jedem Tisch hatte mindestens eine Person ein Smartphone oder ein Tablet oder sogar einen Laptop in Betrieb. Molly legte das Telefon zur Seite und bestellte noch ein Glas Wein. Als der Upload endlich fertig war, hatte sie es fast ausgetrunken.
Sie öffnete den Messenger, um Charles zu antworten, und nach kurzem Nachdenken schickte sie ihm die Bilder der Zeitungsartikel ebenfalls zu. Er war ja immer noch dabei, den Gaunerzinken zu entschlüsseln, und diese Hintergrundinformationen mochten ihm dabei helfen.
In der Zwischenzeit hatte sich das Publikum im Bistro verändert. Wo zuvor Leute unterschiedlichen Alters allein oder zu zweit beim Abendessen gesessen hatten, waren nun alle Tische von schnell anwachsenden Gruppen junger Leute besetzt, die sich lautstark unterhielten. Auch die bis jetzt leise Hintergrundmusik war lauter und aggressiver geworden, und Molly winkte den Kellner heran, um zu bezahlen.
Als sie aufstand und ihre Tasche schulterte, pfiff ihr einer der jungen Männer hinterher. Sie grinste, wandte sich aber nicht um, sondern ging mit schnellen Schritten die Gasse hinunter.
Zurück im Hotel, stieg Molly die Treppe hinauf und ging den mit dicken Teppichen belegten Flur entlang. In ihrem Zimmer angekommen, warf sie die Tasche aufs Bett und öffnete das Fenster. Das Nachtleben von Avignon war selbst hier noch zu hören. Die dumpfe Mischung aus Stimmen, Musik und undefinierbaren Geräuschen erzeugte eine Symphonie, die Molly schon immer mit den Sommernächten in den Städten Südfrankreichs verband. Dazu kam der süße Duft von Sommerblüten, der über allem schwebte und von den unzähligen Kübelpflanzen in dem kleinen Hinterhof kam. Tief atmete sie die warme Nachtluft ein und freute sich auf den morgigen Tag: Ausschlafen, Abstand gewinnen von dem Kalk- und Modergeruch ihrer Kapelle, durch die Einkaufsstraßen Avignons bummeln, abends ins Theater gehen mit elegant gekleideten Menschen …
Sie legte keinen übertriebenen Wert auf ihr Aussehen. Charles hätte wahrscheinlich gesagt, dass sie sowieso immer gut aussah, egal was sie trug. Aber nach zwei Wochen in staubiger Arbeitskleidung freute sie sich ehrlich auf das Kontrastprogramm in Form eines Seidenkleides und zierlicher Sandalen.
Und vielleicht hatte Charles bis morgen auch schon etwas herausgefunden, denn wie sie ihn kannte, ließ ihm der Gaunerzinken ebenfalls keine Ruhe. Die Geschichte mit dem Bankraub hatte ihrer Entdeckung eine neue Ernsthaftigkeit verliehen. Bis jetzt war es ein Spaß gewesen, ein Zufallsfund, der alles oder nichts bedeuten konnte, und wenn ihr Pierre heute Morgen erzählt hätte, dass hier jemand seine Verlobung verewigt habe, hätte sie das bereitwillig geglaubt. Der Raubüberfall aber warf ein anderes Licht auf die Sache, und sie hatte das Gefühl, dass es sich lohnte, dem Rätsel noch weiter nachzugehen.
Schließlich schloss sie das Fenster und schob die Spekulationen beiseite. Es war zu früh, sie befand sich noch im Recherchestadium, und solange sie keine weiteren Hinweise hatte, konnte sie auch nicht viel tun. Mit diesem Gedanken ging sie zu Bett und schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen.
Der Montagmorgen begann frisch und klar und versprach einen weiteren sonnigen Tag. Noch vor dem Frühstück rief Molly ihre E-Mails ab und las Charles’ Nachricht, während sie ihr Croissant in den Kaffee tunkte. Sie freute sich, weil er an sie dachte, doch zu dem Gaunerzinken wusste er nichts Neues zu berichten. Auch in Italien seien die Bibliotheken am Wochenende geschlossen, schrieb er, und die Internetrecherche habe ihn bis jetzt nicht weitergebracht. Er sei sicher, so ein ähnliches Zeichen schon einmal gesehen zu haben, aber er könne es nicht festmachen. Gleich heute wolle er einen befreundeten Bibliothekar treffen und ihm Mollys Foto zeigen, und er hoffe, dass sie dies weiterbringen würde.
Draußen ertönte die Hupe von Matthieus Land Rover. Molly wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, ergriff ihre Umhängetasche und lief hinaus.
»Bonjour, Matthieu!«, rief sie ihm zu, während er den Motor des Geländewagens aufheulen ließ. Sie ließ sich neben ihm in den Sitz fallen, und er brauste los, während sie noch nach dem Sicherheitsgurt tastete.
»Bonjour, Marie!«, antwortete er. »Hattest du ein schönes Wochenende in Avignon?«
»Oh ja, das hatte ich wirklich!«
Ein wenig störte es sie, dass er über ihren Ausflug Bescheid wusste, und sie bereute fast, ihm davon erzählt zu haben. Nicht, dass sie ein Geheimnis daraus hätte machen müssen, denn von der Übernachtung in dem etwas zu teuren Hotel wusste er nichts, und darüber hinaus hatte sie nichts getan, was nicht ihrer Rolle entsprach. Aber dieser Bankraub, von dem sie in der Médiathèque Ceccano erfahren hatte, ließ ihr keine Ruhe. Es schien zwar keine Verbindung zu ihrem aktuellen Fall zu geben, dennoch durfte sie ihre Tarnung keinesfalls gefährden, indem sie zu offensichtlich in dieser alten Sache ermittelte.
»Où est Pierre?«, fragte sie und hielt sich fest, als Matthieu schwungvoll in den holprigen Weg zu Colombins kleinem Gehöft einbog.
Matthieu hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, er ist nicht zum Treffpunkt gekommen«, antwortete er.
Offenbar war Pierres Fernbleiben für ihn aber kein Anlass zur Sorge, denn er schmunzelte, rollte vielsagend mit den Augen und zwinkerte ihr zu. Molly musste lachen. Dass der alte Pierre auf Abwegen war und deshalb morgens nicht zur Arbeit kam, erschien ihr eher unwahrscheinlich, aber wer konnte das schon wissen. Vielleicht hatte er am Wochenende ein wenig zu viel Rotwein getrunken oder ein bisschen zu lange Pétanque gespielt?
Colombin riss die Tür auf und grinste ein zahnloses Lächeln in die Runde. »Bonjour!«, rief er und ließ sich auf die Rückbank fallen. Die Autotür krachte ins Schloss, als Matthieu den Wagen mit durchdrehenden Reifen wendete und in einer Staubwolke auf die Straße zur Kapelle einbog.
Das Gebäude lag still in der Morgensonne, die lilafarbenen Schmetterlinge waren wieder da und umflatterten die Pfütze, und nichts bereitete Molly auf den Anblick vor, der sie erwartete, als Matthieu das Tor der Kapelle aufschloss.
In der Mitte des Altarraums lag rücklings ausgestreckt ein Mann auf dem Boden, den Kopf in einer dunklen Blutlache, die weit aufgerissenen Augen zur Decke gerichtet. Seine Beine ragten rechts in das kleine Seitenschiff hinein, in dem Molly normalerweise ihre Arbeit verrichtete, während der Körper mit ausgebreiteten Armen auf den Steinfliesen lag. Molly trat näher, sah das verzerrte Gesicht und die matten, gebrochenen Augen, und holte erschrocken Luft. Das zischende Geräusch alarmierte auch Matthieu, der den Schlüssel zurückgelegt hatte und gerade den Stein an seinen Platz schob.
»Zut«, entfuhr es ihm. »Das ist Pierre!« Er riss die Augen auf und wollte nach vorne stürmen.
Molly wandte sich rasch zu ihm um und hielt ihn auf. »Nicht, Matthieu. Wir müssen die Polizei rufen.«
Matthieu erstarrte mitten in der Bewegung. »Die Polizei? Warum das denn? Lass mich vorbei, wir müssen ihm helfen!«
»Ich fürchte, es ist zu spät. Pierre ist tot, wir können nichts mehr für ihn tun.« Sie sah ihn mitleidsvoll an. »Es tut mir so leid«, setzte sie hinzu und meinte es wirklich so. Der alte Bauer war in seiner einsilbigen Art immer nett zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, wo er nur konnte.
»Aber warum die Polizei?«, fragte Matthieu nochmals.
»Er ist keines natürlichen Todes gestorben«, antwortete Molly und deutete mit der Hand auf den Toten. »Schau nur, das viele Blut um seinen Kopf!«
»Meinst du, es war ein Unfall? Warum war er überhaupt hier?« Matthieu war mit der Situation sichtlich überfordert.
Nun kam auch Colombin herein. »Mon Dieu, was ist passiert?«
»Wir wissen es doch auch nicht.« Molly streckte die Hand aus, um zu verhindern, dass er die Kapelle betrat. »Jemand muss die Polizei rufen.«
Matthieu starrte noch immer seinen Freund an, als ob er ungeschehen machen könnte, was da passiert war.
Colombin fing sich als Erster. »Hast du ein portable?«, fragte er.
»Ja, aber das hat hier oben keinen Empfang.«
»Dann fahre ich ins Dorf.« Colombin stieß seinen Freund in die Seite. »Matthieu, gib mir den Autoschlüssel!«
Matthieu tastete nach dem Schlüssel und drückte ihn Colombin in die Hand, ohne die Augen von Pierre zu lassen.
Colombin wandte sich nach draußen. »Ich bin so schnell wie möglich zurück«, versicherte er ihnen.
Molly hörte, wie er den Motor anließ und der Wagen davonrumpelte. »Komm, Matthieu. Wir können hier nichts tun.«
Sie nahm Matthieu am Arm, und er ließ sich willenlos nach draußen zu der Steinbank führen. Die Mauer lag noch im Schatten und war kühl, die Sonne stieg gerade erst über die Hügelkuppe und beschien die gegenüberliegende Seite der Kapelle. Molly fröstelte, als sie sich neben Matthieu setzte.
»Weißt du, was Pierre hier oben wollte?«, fragte sie ihn.
Der schüttelte nur den Kopf. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Wir waren am Samstag alle in Carpentras beim Stadtfest und haben ganz schön gebechert. Als er heute Morgen nicht kam, dachte ich, er wäre noch immer verkatert und hätte verschlafen. Ich habe mir weiter keine Gedanken gemacht. Wenn ich das gewusst hätte …«
»Dann hättest du auch nichts tun können«, unterbrach ihn Molly. »Pierre ist schon seit Stunden tot.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Das Blut auf dem Boden«, erklärte sie. »Es ist schon völlig eingetrocknet.«
Matthieu sah sie zweifelnd an und schüttelte nur den Kopf.
Molly brannte darauf, wieder hineinzugehen und sich umzusehen. Vielleicht gab es Spuren einer zweiten Person? Eines Kampfes? Sie rief ihre Gedanken zur Ordnung. Keine Spekulationen, immer bei den Tatsachen bleiben.
Pierre war tot, und er war eines gewaltsamen Todes gestorben. Ob durch einen Unfall oder ob jemand nachgeholfen hatte, konnte sie nach dem kurzen Rundumblick in der Kapelle nicht sagen. Offensichtliche Hinweise auf einen Kampf hatte sie nicht bemerkt, und an Pierre waren keinerlei Verletzungen zu sehen gewesen, außer der großen Blutlache am Boden natürlich, die offenbar von einer Kopfwunde herrührte. Das hieß aber nicht, dass es nicht weitere Spuren unter der Kleidung geben mochte oder auf dem Boden in der Seitenkapelle, wo das Unglück wohl passiert war.
Doch es half alles nichts. In ihrer Rolle hatte sie keinen plausiblen Grund, den Ort des Geschehens oder gar die Leiche genauer zu untersuchen. Außerdem wollte sie nicht, dass Matthieu die Kapelle nochmals betrat, er sollte seinen Freund Pierre nicht noch einmal in diesem Zustand sehen. Sie musste bei ihm bleiben und auf die Polizei warten.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Molly endlich Motorengeräusche vernahm, die schnell lauter wurden. Zuerst bog Matthieus Land Rover um die Kurve, Molly erkannte Colombin am Steuer und neben ihm einen weiteren Mann mit ausladendem Schnurrbart und einer deutlichen Glatze. Direkt dahinter folgte ein blau-weißer Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem Dach.
Die beiden Autos näherten sich auf dem Schotterweg, der zur Kirche führte, und blieben hintereinander stehen. Ein junger Polizist in der dunkelblauen Uniform der Police municipale sprang aus dem Polizeiwagen und eilte auf sie zu. Er war etwas blass um die Nase, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab vor Aufregung.
»Wo ist der Tote?«, fragte er und sah sich hektisch um.
Molly stand auf und deutete auf das Tor der Kapelle. »Da drin«, antwortete sie und machte Anstalten vorauszugehen.
»Sie bleiben hier«, blaffte der Polizist sie an. »Ich komme zu Ihnen, wenn ich Fragen habe.«
Brüsk wandte er sich ab und betrat die Kapelle. Inzwischen war Colombin ebenfalls ausgestiegen. Er umrundete den Geländewagen und öffnete die Beifahrertür für den glatzköpfigen Mann, der eine große Tasche bei sich trug. Das musste der Arzt sein.
»Bonjour, Mademoiselle, bonjour, Matthieu«, begrüßte dieser die Anwesenden. »Ich bin Dr. Girardi«, stellte er sich Molly vor und schüttelte ihr die Hand. »Ich sehe am besten …«
In diesem Augenblick stürzte der junge Polizist aus der Kirche und verschwand hinter der Mauerecke. Man hörte ihn husten und würgen, und der Arzt hob eine buschige Augenbraue.
»Der junge Mann hat in seinem Leben wohl noch nicht so viele Tote gesehen«, meinte er lakonisch und folgte dem Beamten um die Ecke.
Diesen Augenblick nutzte Molly, um die Kapelle zu betreten. Rasch eilte sie nach vorn zum Altar, wo der Tote lag. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse und versuchte, so viel wie möglich von der Situation zu erfassen.
In der Ecke hinter der Tür stand der große Eimer mit dem Schutt neben einem Sandhaufen und mehreren Säcken Zement. Das Werkzeug lehnte ein Stück weiter an der Wand. Konzentriert musterte sie die stille Gestalt am Boden und prägte sich die Einzelheiten ein: die mit getrocknetem Blut verklebten Haare, die schreckgeweiteten Augen, die in grausamer Starre glanzlos zur Decke blickten, die verkrümmten Finger, die das Leben bis zuletzt hatten festhalten wollen, die Sonntagskleidung, die Pierre trug. Warum war er nur in der Kapelle gewesen? Was war hier passiert?
Ihr Blick fiel in das Seitenschiff, in dem sie normalerweise arbeitete, und sie sog scharf die Luft ein: Die Bruchstücke des Kalkputzes mit den geheimnisvollen Zeichen darauf, die sie bei ihrem Weggang am Freitag säuberlich geordnet am Fuß der Wand zurückgelassen hatte, waren verschwunden. Auf dem Boden, von dem sie den Kalkstaub nur grob weggefegt hatte, waren deutliche Fußspuren zu sehen, doch das hatte nicht viel zu sagen. Sie selbst war hier noch hin und her gelaufen, Pierre war bei ihr gewesen und Matthieu ebenfalls.
Von draußen waren Stimmen zu hören, und rasch trat sie ein paar Schritte zurück. Der junge Polizist stand im Eingang und blinzelte wie eine Eule, um seine Augen an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Als er sie erblickte, setzte er zu einer Schimpftirade an, doch Dr. Girardi nahm sie am Arm und führte sie sanft, aber nachdrücklich nach draußen vor die Tür.
»Mademoiselle, Sie sollten nicht hier sein«, sagte er laut und sah sie aufmerksam an. Der junge Polizist war eifersüchtig darauf bedacht, seine Position als leitender Ermittler nicht infrage stellen zu lassen, aber der Arzt schien zu spüren, dass es ihr nicht um die schnöde Befriedigung ihrer Neugier ging.
»Sébastian, hast du schon die Police nationale in Carpentras verständigt?«, wandte er sich an den Polizisten.
»Ja, sie wollten gleich jemanden schicken«, antwortete der. »Bis dahin soll ich hierbleiben und darauf achten, dass niemand die Kapelle betritt. Diese junge Frau eben …«
»… ist von Pierres Tod genauso betroffen wie wir alle«, fiel ihm Dr. Girardi ins Wort. »Den Toten zu betrachten kann helfen, sich mit dem Tod abzufinden«, fügte er hinzu.
Der Polizist sah ihn unsicher an, dann zuckte er mit den Schultern. »Gehen Sie schon rein«, sagte er und deutete mit einer Handbewegung auf Pierres Leiche. »Tun Sie, was immer Sie jetzt tun müssen.«
Der Arzt betrat die Kapelle und schaute sich im Raum um, ehe er sich dem Toten zuwandte. »Ich werde nur eine oberflächliche Untersuchung vornehmen, um den Tod festzustellen. Den Rest übernimmt dann mein Kollege von der Médecin légale.«
»Ja, ja, schon gut«, antwortete der Polizist, und Molly sah, dass er sich krampfhaft bemühte, die Augen nicht auf die Leiche zu richten.
»Warum befragen Sie nicht schon mal die Leute, die ihn gefunden haben?«, schlug Dr. Girardi vor.
Der Polizist wirkte erleichtert. Er verließ seinen Platz am Eingang der Kapelle und ging zu Colombin und Matthieu hinüber, nicht ohne Molly noch einen misstrauischen Blick zuzuwerfen. Matthieu saß noch immer auf der Steinbank an der Außenwand der Kapelle, während Colombin neben ihm an der niedrigen Mauer lehnte, die den kleinen Garten mit dem einsamen Olivenbaum umgab. Molly folgte dem Beamten und hörte zu, wie Matthieu, der sich offenbar ein wenig gefangen hatte, dem Polizisten erklärte, warum sie hier in der Kapelle waren.
Dass die Groupe BFC diese Renovierungsarbeiten als gemeinnütziges Projekt durchführte, hatte sie natürlich gewusst. Doch dass es einen Mann gab, der persönlich hinter den Plänen zur Restaurierung der Kapelle stand, dessen Vorfahren aus Mirocène stammten und der ausgerechnet Claude du Fondette hieß, ließ sie aufhorchen. Der Name der Bank, von der sie am Freitag in der Médiathèque gelesen hatte, lautete Banque du Fondette; das war bestimmt kein Zufall.
Der Polizist vermied es, ihr Fragen zu stellen, und ließ sich dafür von Colombin erzählen, wo er, Matthieu und Pierre am Samstagabend gewesen waren. Als erneut Motorengeräusch von der Straße zu hören war, nickte er Colombin zu und trat auf den Schotterweg. Ein silbergrauer Renault bog in den Zufahrtsweg ein, und der junge Polizist hob die Arme, um den Wagen einzuweisen.
»Bonjour, Monsieur Demoireau!«, begrüßte er den Ankömmling.
Molly musterte den Mann unauffällig, während er aus dem Auto stieg und Sébastian begrüßte. Demoireau war ein kräftig gebauter Mann in den Fünfzigern mit wettergegerbtem Gesicht und ergrautem Haar. Er trug ein kurzärmeliges Uniformhemd mit Schulterklappen, die ihn als Commissaire auswiesen, doch bis auf dieses Detail wirkte er eher wie einer der Weinbauern aus der Umgebung und nicht wie ein leitender Beamter der Nationalpolizei.
Der Eindruck mochte täuschen, denn im Organigramm der örtlichen Zuständigkeiten stand Commissaire Georges Demoireau ganz oben auf ihrer Liste. Sollte sie bei ihren Ermittlungen die Unterstützung der lokalen Behörden benötigen, wäre er ihr Ansprechpartner, und es kostete sie nur einen Anruf, damit sie über ihn und seine Ressourcen verfügen konnte.
Trotzdem hatte sie nicht vor, ihn um Hilfe zu bitten, nicht, wenn es nicht unbedingt sein musste. Denn das bedeutete nicht nur, ihre Tarnung aufzugeben, sondern auch, nicht mehr unabhängig agieren zu können. Nein, sie arbeitete lieber allein.
Nun kam ein zweites Fahrzeug den Berg hoch, ein weißer Kleinbus mit geschlossenen Seiten. Türen knallten, Stimmen wurden laut, drei Männer und eine Frau mittleren Alters stiegen in weiße Ganzkörperanzüge und schleppten Gerätschaften in die Kapelle: Die Beamten der Police scientifique waren angekommen.
Commissaire Demoireau schüttelte in der Zwischenzeit dem Arzt die Hand und hörte dem jungen Polizisten aufmerksam zu, als dieser ihn wortreich ins Bild setzte. Dann wandte er sich um und kam auf Molly und die beiden alten Bauern zu.
»Bonjour, Messieurs, Mademoiselle, danke, dass Sie gewartet haben«, sagte er. »Ich bin sofort bei Ihnen!« Mit diesen Worten bog er um die Ecke und verschwand in der Kapelle.
Nach erstaunlich kurzer Zeit kam er wieder zurück; offenbar hatte ihm ein erster Eindruck der Situation genügt, und nun überließ er den Profis vom Untersuchungsteam das Feld.
Doktor Girardi folgte ihm und fragte: »Brauchen Sie mich noch?«
»Nein, danke, ich glaube, Sie können hier nichts mehr tun. Wenn Sie nur bitte eine Kopie des Totenscheins an uns schicken würden?«
»Selbstverständlich, Monsieur le Commissaire, ich erledige das gleich heute Nachmittag.«
Der Arzt wandte sich an Colombin. »Bringst du mich wieder zurück?«
»Nein, das soll Sébastian machen«, widersprach der Kommissar. »Mit Monsieur Colombin möchte ich noch sprechen.«
Er rief nach dem jungen Polizisten der Police municipale, der im Kircheneingang lehnte und den Leuten von der Kriminaltechnik bei der Arbeit zusah. »Sébastian, bitte bringen Sie Monsieur le Docteur nach Hause. Sie können dann zurück zu Ihrer Wache fahren, ich brauche Sie hier nicht mehr. Ich komme bei Ihnen vorbei, sobald ich hier fertig bin.«
Nun endlich wandte sich Commissaire Demoireau den dreien zu. Automatisch sprach er Matthieu an, der so etwas wie der Leiter ihres kleinen Renovierungstrupps war.
»Monsieur Salucci, wollen Sie mir einfach erzählen, was heute Morgen passiert ist?«, fragte er.
Molly stutzte, sie hörte Matthieus Nachnamen zum ersten Mal. Der Commissaire dagegen schien hier jeden zu kennen.
»Oui, mon commissaire. Wir sind wie jeden Morgen zur Kapelle gefahren …«, begann Matthieu.
»Nicht wie immer«, fiel ihm Colombin ins Wort. »Pierre war ja nicht dabei!«
»Ja, das stimmt«, gab Matthieu ihm recht. »Aber das weiß der Commissaire doch.«
Colombin nickte. »Mais oui!«
Matthieu begann von Neuem. »Normalerweise wartet Pierre vor seinem Haus auf mich, aber heute Morgen war er nicht da. Ich habe geläutet und geklopft, aber als sich nichts rührte, bin ich ohne ihn gefahren. Ich musste ja Mademoiselle abholen!« Damit deutete er auf Molly.
»Und Sie sind?«, fragte der Commissaire und blickte Molly zum ersten Mal richtig an.
»Marie Bonnieux«, erwiderte Molly und sah ihm geradewegs in die Augen, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich studiere Kunstgeschichte in Paris.«
Der Kommissar nickte und wandte sich gleich wieder Matthieu zu. »Sie sind also allein losgefahren.«
»Ja«, antwortete Matthieu. »Was hätte ich denn machen sollen?«
Hilfesuchend schaute er zu Molly und Colombin, als ob es etwas geändert hätte, wenn er zehn Minuten länger gewartet hätte.
»Und dann?« Der Commissaire hatte eine Engelsgeduld mit Matthieu.
»Dann bin ich zum Marktplatz gefahren und habe Mademoiselle Marie von ihrem Hotel abgeholt. Ich habe mir nichts dabei gedacht, falls Sie das meinen.«
»Nein, das meine ich nicht«, beruhigte ihn Demoireau. »Kam das öfter vor, dass Pierre nicht auftauchte?«
»Hm, nein, normalerweise nicht. Aber wir waren am Samstagabend bis spät in die Nacht unterwegs, und da dachte ich …« Matthieu stockte und warf Colombin einen Seitenblick zu. »Ich meine …«
Molly unterdrückte ein Schmunzeln und wandte sich ab.
»Schon gut«, unterbrach ihn Demoireau. »Erzählen Sie weiter.«
»Na ja, ich habe Mademoiselle abgeholt, dann sind wir gemeinsam zu Colombin gefahren. Und danach zur Kapelle. Und als ich die Tür aufschloss, da …« Er holte tief Luft.
»Da haben Sie Pierre gefunden«, vervollständigte der Kommissar den Satz. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Haben Sie auf dem Weg hierher jemanden gesehen?«
»Nein, gar nichts.« Matthieu schüttelte vehement den Kopf.
»Wir haben aber auch nicht extra darauf geachtet«, warf Colombin ein. »Wir wussten da ja noch nicht, dass etwas passiert ist.«
Dieser messerscharfen Logik hatte der Commissaire nichts entgegenzusetzen. »Wer von Ihnen hat denn heute Morgen die Kapelle betreten?«
»Wir alle drei«, antwortete Matthieu und blickte vorwurfsvoll zu Molly.
»Ich habe nachgesehen, ob Pierre noch lebt«, erklärte sie.
Die braunen Augen des Commissaires glommen auf und richteten sich wie Scheinwerfer auf sie. »Haben Sie dabei etwas angefasst?«, wollte er wissen.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Molly und unterdrückte ein Schaudern. Commissaire Demoireau schien das als die natürliche Abneigung junger Menschen gegen den Tod zu interpretieren, was Molly nur recht war.
»Wir brauchen von Ihnen allen die Fußabdrücke zum Abgleich. Und am besten auch die Fingerabdrücke«, teilte er ihnen mit. »Sie haben doch nichts dagegen?«
Molly und Matthieu schüttelten den Kopf.
Colombin kniff die Augen zusammen und fixierte Demoireau mit misstrauischem Blick. »Wozu soll das denn gut sein?«, fragte er.
»Wir müssen die Spuren abgleichen, die wir in der Kapelle finden«, erwiderte der Kommissar und sah Colombin scharf an. »Haben Sie ein Problem damit, Monsieur Grasse?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, murmelte Colombin.
Demoireau wandte sich wieder Matthieu zu. »Monsieur Salucci, wollen Sie mir noch kurz erzählen, was Sie eigentlich hier tun?«
»Wir renovieren die Kapelle«, antwortete Matthieu.
»Ja, das habe ich schon gehört«, sagte der Commissaire und blickte ihn fragend an.
»Monsieur du Fondette ist der Auftraggeber«, sprach Matthieu weiter. »Seine Vorfahren stammen aus Mirocène, und er möchte die alte Kapelle restaurieren lassen.«
Jetzt erst wandte sich der Kommissar Molly zu.
»Und wie kommen Sie ins Spiel?«, fragte er.
»Bei den Restaurierungsarbeiten wurden alte Fresken entdeckt«, erklärte Molly. »Sie wurden später übermalt, und ich soll sie freilegen.«
»Eine Studentin?« Demoireau zog eine buschige Augenbraue hoch, was ihm das Aussehen eines alten Terriers gab.
»Die Fresken sind nicht wirklich bedeutend oder so«, antwortete Molly schnell, gab ihm im Grunde ihres Herzens aber recht. Normalerweise wäre das die Aufgabe für ein Team von sachkundigen Restauratoren gewesen, doch offenbar wollte man Geld sparen und hatte deshalb eine Studentin engagiert. »Die Kapelle stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert und ist architektonisch nichts Besonderes. Sie ist einfach nur sehr alt, und man möchte sie möglichst originalgetreu wiederherstellen.«