Die Leiche - Stephen King - E-Book

Die Leiche E-Book

Stephen King

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Beschreibung

»Liebe ist nicht, was diese Arschlöcher von Poeten einen glauben machen wollen. Die Liebe hat Zähne; sie beißen; die Wunden schließen sich nie.«

Die vier besten Freunde Gordon, Chris, Teddy und Vern aus Castle Rock hören von der Leiche eines gleichaltrigen Jungen, die in der Gegend an den Bahngleisen liegen soll. Sie wagen sich auf einer abenteuerlichen Suche tief in die Wälder Maines, wo sie bei Sonnenschein und Blitz und Donner mehr über die Liebe, den Tod und die eigene Sterblichkeit erfahren, als ihnen lieb ist.

»Herbst«-Geschichte aus dem Erzählband »Frühling, Sommer, Herbst und Tod«.

Großartig verfilmt unter dem Titel »Stand By Me« mit Kiefer Sutherland und River Phoenix.

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Seitenzahl: 284

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Das Buch

»Liebe ist nicht, was diese Arschlöcher von Poeten einen glauben machen wollen. Die Liebe hat Zähne; sie beißen; die Wunden schließen sich nie.«

Die vier besten Freunde Gordon, Chris, Teddy und Vern aus Castle Rock hören von der Leiche eines gleichaltrigen Jungen, die in der Gegend an den Bahngleisen liegen soll. Sie wagen sich auf einer abenteuerlichen Suche tief in die Wälder Maines, wo sie bei Sonnenschein und Blitz und Donner mehr über die Liebe, den Tod und die eigene Sterblichkeit erfahren, als ihnen lieb ist.

Verfilmt von Rob Reiner unter dem Titel Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers.

Der Autor

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt die Spiegel-Bestseller Erhebung und Das Institut.

Die Leiche

Aus dem Amerikanischenvon Harro Christensen

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE BODY

erstmals 1982 in der Sammlung Different Seasons.

Die vorliegende Fassung wurde der deutschen Ausgabe Frühling, Sommer, Herbst und Tod entnommen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Durchgesehene, erstmalige Einzelausgabe 06/2020

Copyright © 1982 by Stephen King

Copyright © 1992, 2020 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: bürosüd, München

Design: Akumimpi

Motive: Shutterstock (sittitap, teacept)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26353-9V001

1

Die wichtigsten Dinge lassen sich am schwersten sagen. Es sind die Dinge, deren man sich schämt. Sie lassen sich so schwer sagen, weil Worte sie kleiner machen. Sind sie einmal ausgesprochen, lassen Worte die Dinge, die dir in deinem Kopf grenzenlos vorkamen, zu ihrer wahren Bedeutung schrumpfen. Aber da ist irgendwie noch etwas anderes. Die wichtigsten Dinge sind deinen geheimsten Wünschen zu nahe, wie Zeichen in der Landschaft, die deinen Feinden zeigen, wo dein Schatz vergraben liegt. Du enthüllst vielleicht etwas, was dir schwerfällt, mit dem einzigen Erfolg, dass die Leute dich erstaunt ansehen und überhaupt nicht verstehen, was du gesagt hast oder warum du es für so wichtig hältst, dass du fast weinst, wenn du es aussprichst. Ich finde, das ist am schlimmsten: Wenn man ein Geheimnis für sich behalten muss, nicht weil man es nicht erzählen könnte, sondern weil niemand es verstehen würde.

Ich war fast dreizehn, als ich zum ersten Mal einen Toten sah. Das war 1960, schon lange her … nur dass es mir manchmal gar nicht so lange vorkommt. Besonders dann nicht, wenn ich nachts aus einem Traum aufwache, wo der Hagel in seine offenen Augen fällt.

2

Wir hatten ein Baumhaus in einer großen Ulme, die auf einem unbebauten Grundstück in Castle Rock stand. Heute befindet sich dort eine Spedition, und die Ulme ist verschwunden. Der Fortschritt halt. Es war eine Art geselliger Club, auch wenn er keinen Namen hatte. Fünf, vielleicht sechs Jungs kamen ständig, und ein paar Versager hingen gelegentlich auch dort herum. Wir ließen sie rauf, wenn wir Karten spielten und frisches Blut brauchten. Gewöhnlich spielten wir Blackjack, und es ging um Cents, fünf Cent waren die Obergrenze. Bei fünf blind gekauften Karten gab es doppeltes Geld … bei sechs dreifaches, aber Teddy war als Einziger so verrückt, sich darauf einzulassen.

Die Wände bestanden aus Brettern, die wir aus dem Abfallhaufen hinter Mackeys Holzhandlung und Baubedarf in der Carbine Road geholt hatten – sie waren voller Splitter und Astlöcher, in die wir Toilettenpapier oder Papierhandtücher stopften. Als Dach diente ein großes Stück Wellblech von der Mülldeponie. Wir mussten beim Wegschleppen ziemlich auf der Hut sein, der Aufseher galt nämlich als kinderfressendes Ungeheuer. Am selben Tag fanden wir dort auch eine Verandatür. Der Fliegendraht hielt zwar die Fliegen ab, aber er war wirklich verrostet – extrem verrostet. Ganz gleich, um welche Tageszeit man nach draußen sah, man dachte immer, es sei gerade Sonnenuntergang.

Im Club konnte man außer Karten spielen auch rauchen oder Hefte mit nackten Weibern angucken. Wir hatten ein halbes Dutzend zerbeulte Blechaschenbecher, auf denen unten CAMEL stand, zwanzig oder dreißig Kartenspiele mit Eselsohren, einen Satz Pokerchips aus Plastik und einen Haufen alte Master-Detective-Mord­geschichten, die wir durchblätterten, wenn sonst nichts lief. Die Kartenspiele hatte Teddy von seinem Onkel bekommen, der das Papierwarengeschäft von Castle Rock betrieb. Als Teddys Onkel ihn fragte, welche Kartenspiele wir spielten, sagte Teddy, wir hätten öfter Cribbage-Turniere, und das fand der Onkel gut. Wir bauten auch ein schuhkartongroßes Geheimfach in den Fußboden ein, um die Sachen verstecken zu können, falls irgendein Vater auf den Gedanken kam, uns mit der Wir-sind-doch-Kumpels-Masche zu beglücken. Wenn es regnete, hockte man im Club wie in einem Stahlfass aus Jamaika … aber in jenem Sommer hatte es keinen Regen gegeben.

Es war der trockenste und heißeste seit 1907 gewesen – das schrieben wenigstens die Zeitungen, und an dem Freitag vor dem Labor Day und dem Schuljahresbeginn sahen selbst die Goldrauten auf den Feldern und an den Gräben neben den Wegen vertrocknet und armselig aus. In keinem Garten war etwas Rechtes gewachsen, und die Einmachutensilien im Castle Rock Red & White standen immer noch in den Regalen und setzten Staub an. Niemand hatte etwas einzumachen, außer vielleicht Löwenzahnwein.

Teddy und Chris und ich saßen oben im Club und ärgerten uns gemeinsam darüber, dass die Schule schon so bald wieder anfangen sollte. Wir spielten Karten und erzählten uns die alten Handelsvertreter- und Franzosenwitze. Woran erkennst du, dass ein Franzose auf deinem Hof war? Ganz einfach: Der Abfalleimer ist leer und der Hund schwanger. Teddy gab sich dann immer gekränkt, war aber der Erste, der den Witz weitererzählte. Allerdings verwandelten sich Franzosenwitze dabei immer in Polackenwitze.

Die Ulme bot zwar Schatten, aber wir hatten uns trotzdem die Hemden ausgezogen, um sie nicht zu sehr durchzuschwitzen. Wir spielten Einunddreißig, das langweiligste Kartenspiel, das je erfunden wurde, aber es war zu heiß, an etwas Komplizierteres zu denken. Bis Mitte August hatten wir eine recht gute Baseballmannschaft gehabt, aber dann blieben immer mehr Jungs weg. Es war zu heiß.

Ich war an der Reihe und versuchte es mit Pik. Ich hatte mit dreizehn angefangen und eine Acht bekommen, sodass ich einundzwanzig hatte. Seitdem hatte sich nichts mehr getan. Chris winkte ab. Ich nahm meine letzte Karte, aber es war nichts Brauchbares.

»Neunundzwanzig«, sagte Chris und legte Karo hin.

»Zweiundzwanzig«, sagte Teddy angewidert.

»Leckt mich am Arsch«, sagte ich und warf meine Karten verdeckt auf den Tisch.

»Gordie ist tot, der alte Gordie hat voll in die Scheiße gegriffen«, trompetete Teddy und ließ sein patentiertes Teddy-Duchamp-Gelächter hören – iiii-iii-iii –, als ob ein rostiger Nagel ganz langsam aus einem verfaulten Brett gezogen würde. Na ja, er war halt ein bisschen komisch; das wussten wir alle. Er war fast dreizehn, wie wir anderen auch, aber seine dicken Brillengläser und das Hörgerät, das er trug, ließen ihn oft wie einen alten Mann aussehen. Die Jungs auf der Straße bettelten ihn oft um Zigaretten an, aber die Ausbuchtung in seinem Hemd war nur die Batterie für sein Hörgerät.

Trotz der Brille und dem fleischfarbenen Knopf, den er sich immer ins Ohr schrauben musste, konnte Teddy nicht gut sehen und verstand oft nicht, was man ihm sagte. Im Baseball musste er ganz außen spielen, weit hinter Chris im linken Feld und Billy Greer im rechten. Wir hofften immer, dass niemand so weit schlagen würde, weil Teddy einem Ball immer verbissen nachjagte, ganz gleich, ob er etwas sehen konnte oder nicht. Hin und wieder wurde er voll getroffen, und einmal kippte er voll aus den Latschen, weil er gegen den Zaun am Baumhaus gerannt war. Fast fünf Minuten lang hat er auf dem Rücken gelegen. In seinen Augen war nur das Weiße zu sehen, und ich bekam es mit der Angst. Doch dann kam er wieder zu sich und rappelte sich mit blutender Nase und einer riesigen Beule an der Stirn auf und schwor, der Ball sei ungültig gewesen.

Er konnte von Natur aus schlecht sehen, aber was mit seinen Ohren passiert war, hatte mit Natur nichts zu tun. Damals, als es Mode war, sich das Haar so schneiden zu lassen, dass die Ohren wie Topfhenkel vom Kopf abstanden, hatte Teddy den ersten Beatlehaarschnitt in ganz Castle Rock – vier Jahre bevor in Amerika überhaupt jemand was von den Beatles gehört hatte. Er hielt die Ohren bedeckt, weil sie wie zwei Klumpen heißes Wachs aussahen.

Eines Tages – Teddy war acht – wurde sein Vater wütend, weil Teddy einen Teller zerbrochen hatte. Seine Mutter arbeitete damals in der Schuhfabrik in South Paris, und als sie es erfuhr, war alles schon passiert.

Teddys Vater schleppte ihn zu dem großen Holzofen hinten in der Küche und drückte ihn mit dem Ohr auf eine der heißen Kochplatten. So hielt er ihn etwa zehn Sekunden fest. Dann riss er ihn an den Haaren hoch und schmorte die andere Seite. Anschließend rief er das Unfallkrankenhaus an und bat die Leute, seinen Jungen abzuholen. Nachdem er aufgelegt hatte, ging er an den Schrank, nahm seine .410er heraus und setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich mit der Flinte auf dem Schoß das Programm anzusehen. Als Mrs. Burroughs von nebenan rüberkam, um zu fragen, ob Teddy auch nichts passiert sei – sie hatte das Schreien gehört –, richtete Teddys Dad die Waffe auf sie, und Mrs. Burroughs verließ mit annähernd Lichtgeschwindigkeit das duchampsche Heim, schloss sich zu Hause ein und rief die Polizei an. Als der Krankenwagen kam, ließ Mr. Duchamp die Leute ein und ging dann nach hinten auf die Veranda, um Wache zu schieben, während Teddy auf einer Trage zu dem alten Buick-Krankenwagen mit den Bullaugen geschafft wurde.

Teddys Dad erklärte den Leuten, die verdammten Generäle hätten zwar gesagt, dass der Abschnitt gesäubert sei, aber überall lauerten noch deutsche Heckenschützen. Einer der Männer fragte Teddys Dad, ob er glaube, die Stellung noch eine Weile halten zu können. Teddys Dad lächelte knapp und sagte, er werde die Stellung halten, bis die Hölle ein Kühlhaus sei, wenn das nötig sein sollte. Die Männer grüßten militärisch, und Teddys Dad erwiderte zackig den Gruß. Ein paar Minuten nachdem der Krankenwagen abgefahren war, erschien die State Police und erlöste Norman Duchamp von seinem Posten.

Er hatte sich schon seit über einem Jahr seltsam verhalten. Er hatte auf Katzen geschossen und Feuer in Briefkästen gelegt. Nach der an seinem Sohn verübten Scheußlichkeit gab es eine kurze Anhörung, worauf er nach Togus gebracht wurde. Togus ist ein Ort für Leute, die dem Dienst nicht mehr gewachsen sind. Teddys Dad hatte den Strand in der Normandie erstürmt, wie Teddy sich immer ausdrückte. Obwohl der Alte ihm so Entsetzliches angetan hatte, war Teddy stolz auf ihn, und einmal in der Woche besuchte er ihn zusammen mit seiner Mutter.

Er war von unserer ganzen Bande irgendwie der Dümmste, und außerdem war er verrückt. Er riskierte die verrücktesten Dinge, die man sich vorstellen konnte, aber es ging trotzdem immer glimpflich ab. Sein größtes Ding nannte er »Truckerfoppen«. Er rannte auf der 196 vor den Lastwagen her und sprang erst im allerletzten Moment zur Seite. Manchmal verfehlten sie ihn nur um Zentimeter. Gott weiß, wie viele Herzanfälle er verursacht hat. Wenn der Fahrtwind des vorbeirauschenden Lastwagens an seiner Kleidung zerrte, dann lachte er. Wir hatten nackte Angst, weil er so schlecht sehen konnte, Flaschenbodenbrille hin oder her. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Geschwindigkeit eines der Wagen falsch einschätzte. Und man musste sehr vorsichtig sein, wenn man ihn zu irgendetwas herausfordern wollte; wenn er herausgefordert wurde, tat Teddy nämlich praktisch alles.

»Gordie ist tot, iiii-iii-iii!«

»Idiot«, sagte ich und nahm eines der Master-Detective-Hefte zur Hand, während die beiden das Spiel zu Ende spielten, und las: Er trampelte die hübsche Schülerin in einem stecken gebliebenen Fahrstuhl zu Tode.

Teddy nahm seine Karten auf, betrachtete sie kurz und sagte: »Ich hab genug.«

»Du vieräugiger Scheißhaufen!«, schrie Chris.

»Der Scheißhaufen hat tausend Augen«, sagte Teddy feierlich, und Chris und ich brüllten los. Teddy sah uns stirnrunzelnd an, als wüsste er nicht, worüber wir lachten. Auch das hatte er an sich – er kam oft mit so komischen Sachen raus wie »der Scheißhaufen hat tausend Augen«, und man wusste nie genau, ob er es auch scherzhaft meinte. Er sah die Leute, die lachten, dann immer mit so einem Stirnrunzeln an, als wollte er sagen: O Mann, was denn diesmal wieder?

Teddy hatte eine echte Dreißig – Kreuzbube, Kreuzdame, Kreuzkönig. Chris kam nur auf sechzehn und war praktisch pleite.

Teddy mischte die Karten auf seine unbeholfene Art, und ich las gerade den unheimlichen Teil der Mordgeschichte, wo der verrückte Seemann aus New Orleans auf der Schülerin aus Bryn Mawr herumtrampelte, weil er es in geschlossenen Räumen nicht aushielt, als wir jemand schnell die Leiter hochsteigen hörten, die wir an den Stamm der Ulme genagelt hatten. Gleich darauf wurde mit der Faust von unten gegen die Falltür geschlagen.

»Wer ist da?«, rief Chris.

»Vern!« Er hörte sich aufgeregt und ganz außer Atem an.

Ich ging an die Falltür und zog den Bolzen heraus. Die Luke flog krachend auf, und Vern Tessio, auch einer von den regelmäßigen Besuchern, stemmte sich in das Clubhaus hoch. Der Schweiß lief ihm in Strömen herab, und sein Haar, das er sonst immer in eine perfekte Imitation seines Rockidols Bobby Rydell hinfrisierte, klebte an seinem Kugelkopf.

»O Mann«, keuchte er. »Wartet, bis ihr das hört.«

»Was hört?«, fragte ich.

»Ich muss erst verschnaufen. Ich bin den ganzen Weg von zu Hause gerannt.«

»Ich bin den ganzen Weg nach Hause gerannt«, sang Teddy in dem fürchterlichen Falsett von Little Anthony. »Nur um zu sagen, wie leid es mir tut …«

»Fick deine Hand, Mann«, sagte Vern.

»Fall tot in den Kot, du Schlot«, gab Teddy gekonnt zurück.

»Du bist den ganzen Weg von zu Hause gerannt?«, fragte Chris ungläubig. »Mann, du bist verrückt.« Verns Haus lag zwei Meilen entfernt in der Grand Street. »Da draußen muss es über dreißig Grad sein.«

»Das war es wert«, sagte Vern. »O Mann, ihr werdet es nicht glauben. Ehrlich.« Er schlug sich mit der Hand an die schweißbedeckte Stirn, um uns zu zeigen, wie ehrlich es ihm war.

»Okay, was ist denn los?«, fragte Chris.

»Könnt ihr heute Nacht von zu Hause wegbleiben?« Vern sah uns genauso ernst wie aufgeregt an. »Ich meine, wenn ihr euren Leuten sagt, dass wir auf dem Feld hinter unserm Haus zelten wollen?«

»Ja, ich glaube schon«, sagte Chris, nahm seine neuen Karten auf und sah sie an. »Aber mein Dad hat wieder ’ne schlimme Periode. Saufen, ihr wisst ja.«

»Du musst kommen, Mann«, sagte Vern. »Ehrlich, ihr werdet es nicht glauben. Kannst du kommen, Gordie?«

»Wahrscheinlich.«

Ich durfte so etwas meistens – ich war schon den ganzen Sommer praktisch der Unsichtbare Junge gewesen. Im April war mein älterer Bruder Dennis in einem Jeep tödlich verunglückt. Das war in Fort Benning in Georgia, wo er seinen Grundwehrdienst ableistete. Er und ein Kamerad waren auf dem Weg zum PX-Laden, und ein Armeelastwagen fuhr ihnen in die Seite. Dennis war sofort tot, und der andere lag fortan im Koma. Dennis wäre noch in derselben Woche zweiundzwanzig geworden. Ich hatte ihm bei Dahlie’s drüben in Castle Green schon eine Geburtstagskarte ausgesucht.

Als ich es hörte, musste ich weinen, bei der Beerdigung dann erst recht. Ich konnte nicht glauben, dass Dennis nicht mehr da war, dass jemand, der mich an den Kopf geknufft und mit einer Gummispinne erschreckt hatte, bis ich losgeheult habe, der mir einen Kuss gegeben hatte, als ich gefallen war und mir die Knie aufgeschlagen hatte, und mir dann ins Ohr geflüstert hatte: »Hör auf zu heulen, du Baby!« – dass jemand, der mich angefasst hatte, tot sein konnte. Es schmerzte und ängstigte mich, dass er tot sein konnte … meinen Eltern hingegen schien es allen Mut genommen zu haben. Für mich war Dennis wenig mehr als ein Bekannter gewesen. Er war zehn Jahre älter als ich und hatte natürlich seine eigenen Freunde und Klassenkameraden. Wir haben jahrelang an einem Tisch gegessen, und manchmal war er mein Freund, und manchmal ärgerte er mich, aber meistens war er ganz einfach nur ein anderer Junge. Als er starb, war er, von dem einen oder anderen Urlaub abgesehen, schon ein Jahr fort gewesen. Wir sahen einander noch nicht einmal ähnlich. In jenem Sommer dauerte es ziemlich lange, bis mir klar wurde, dass meine Tränen hauptsächlich Mama und Dad galten. Aber sie nützten weder ihnen noch mir.

»Und wozu nun das ganze Gepisse und Gestöhne, Vern-O?«, fragte Teddy.

»Ich hab genug«, sagte Chris.

»Was?«, kreischte Teddy und vergaß Vern sofort. »Du verdammter Lügner! Du hast gar kein passendes Blatt. Ich habe dir keins gegeben.«

Chris lächelte hämisch. »Zieh deine Karten, du Scheiße­haufen«

Teddy griff nach der obersten Karte. Chris griff nach den Winstons, die hinter ihm lagen. Ich beugte mich vor und nahm meine Mordgeschichte wieder in die Hand.

»Wollt ihr Jungs eine Leiche sehen?«, sagte Vern Tessio.

Keiner bewegte sich mehr.

3

Wir hatten es natürlich alle im Radio gehört. Das Radio, ein Philco-Gerät mit einem lädierten Gehäuse, lief den ganzen Tag. Wir hatten es ebenfalls von der Deponie geholt. Wir hatten immer den WLAM in Lewiston eingeschaltet, weil der Sender meistens Super-Hits und gute Oldies brachte. »What in the World’s Come Over You« von Jack Scott und »This Time« von Troy Shondell und »King Creole« von Elvis Presley und »Only the Lonely« von Roy Orbison. Wenn die Nachrichten kamen, stellten wir gewöhnlich irgendeinen geistigen Schalter auf stumm. In den Nachrichten gab es eine Menge Quark über Kennedy und Nixon und Quemoy und Matsu und die Raketenlücke und darüber, dass Castro sich als ein großes Arschloch herausgestellt hatte. Aber Ray Browers Geschichte hatten wir alle mit etwas mehr Interesse verfolgt, weil er ein Junge in unserem Alter war.

Er stammte aus Chamberlain, einer Stadt ungefähr vierzig Meilen östlich von Castle Rock. Drei Tage bevor Vern nach seinem Zweimeilenlauf die Grand Street hinauf in unser Clubhaus gestürmt kam, hatte Ray Brower einen der Töpfe seiner Mutter genommen und war Blaubeeren pflücken gegangen. Als er bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück war, rief seine Mutter die Polizei an, worauf eine Suchaktion organisiert wurde. Zuerst in der Nähe seines Elternhauses, aber dann wurde die Suche auch auf die umliegenden Städte Motton, Durham und Pownal ausgedehnt. Alle halfen mit – Polizisten, Wildhüter und viele Freiwillige. Drei Tage später wurde das Kind immer noch vermisst. Wenn man die Nachrichten hörte, wusste man schon, dass man den armen Kerl nicht mehr lebend auffinden würde. Man würde die Suche allmählich abbrechen. Er könnte in einer Kiesgrube verschüttet worden oder in einem Bach ertrunken sein, und in zehn Jahren würde irgendein Jäger seine Knochen finden. Sie waren schon dabei, in den Seen um Chamberlain und im Motton-Reservoir den Grund abzusuchen.

Im südwestlichen Maine könnte so etwas heute kaum passieren; viele Gebiete sind jetzt eingemeindet, und die Schlafstädte um Portland und Lewiston herum haben sich ausgebreitet wie die Greifarme eines riesigen Polypen. Die Wälder sind noch da, und nach Westen zu den White Mountains hinüber werden sie ziemlich unzugänglich, aber wenn man heutzutage lange genug einen kühlen Kopf bewahrt und ständig in eine Richtung läuft, erreicht man spätestens nach fünf Meilen eine zweispurige asphaltierte Straße. 1960 war das ganze Gebiet zwischen Chamberlain und Castle Rock jedoch noch unterentwickelt, und weite Landstriche waren seit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht einmal mehr vermessen worden. Damals war es irgendwie leicht möglich, dass man in den Wald ging, sich verirrte und umkam.

4

Vern Tessio hatte an jenem Morgen unter seiner Veranda gegraben.

Wir verstanden das natürlich sofort, aber ich sollte es vielleicht kurz für andere erklären. Teddy Duchamp war wie gesagt ein Dummkopf, aber auch Vern Tessio gehörte nicht zu den Gescheitesten. Sein Bruder Billy war allerdings noch dümmer, wie wir noch sehen werden. Aber zuerst will ich erzählen, warum Vern unter der Veranda grub.

Vier Jahre zuvor – als er acht war – hatte Vern unter der langen vorderen Veranda der Tessios ein großes Glas mit Centstücken vergraben. Vern nannte den dunklen Raum unter der Veranda seine »Höhle«. Er spielte eine Art Piratenspiel, und die Münzen waren der vergrabene Schatz – wenn man aber mit Vern Seeräuber spielte, durfte man sie nicht den vergrabenen Schatz nennen, dann waren sie die »Beute«. Er vergrub das Glas mit den Münzen also ziemlich tief und bedeckte die frische Erde mit den Blättern, die im Lauf der Jahre unter die Veranda geweht waren. Er zeichnete eine Karte, um den Schatz wiederfinden zu können, und bewahrte sie zusammen mit seinen übrigen Sachen in seinem Zimmer auf. Etwa einen Monat lang dachte er gar nicht mehr an den Schatz. Dann, als er eines Tages ins Kino gehen wollte und kein Geld dafür hatte, erinnerte er sich an die Münzen und wollte seine Karte holen. Leider war seine Mama seitdem zwei-, dreimal zum Saubermachen in seinem Zimmer gewesen, wobei sie seine alten Hausarbeiten, einige Comics und Witzbücher und Einwickelpapier von Süßigkeiten mitgenommen hatte, um damit morgens das Feuer im Küchenherd anzuzünden. Zusammen mit dem anderen Papier wurde auch Verns Schatzkarte durch den Schornstein gejagt.

Das glaubte er wenigstens.

Er versuchte, die Stelle aus dem Gedächtnis wiederzufinden, und grub dort. Kein Glück. Er grub ein bisschen weiter links und ein bisschen weiter rechts. Kein Glück. Für den Tag gab er auf, aber seitdem hatte er es immer wieder versucht. Vier Jahre lang, Mann. Vier Jahre. Ist das nicht ein Pisser? Man wusste nicht, ob man lachen oder weinen sollte.

Zuletzt wurde es bei ihm zu einer Art Besessenheit. Die Veranda der Tessios zog sich am ganzen Haus entlang und war ungefähr zwölf Meter lang und über zwei Meter breit. Er hatte fast jeden verdammten Zoll der ganzen Fläche mindestens dreimal umgewühlt, aber immer noch keine Münzen. Die Anzahl der Münzen hatte sich inzwischen in seinem Geist erhöht. Am Anfang erzählte er Chris und mir, dass es ungefähr drei Dollar gewesen seien. Ein Jahr später war er schon bei fünf, und kürzlich handelte es sich um etwa zehn Dollar, mal mehr, mal weniger, je nachdem wie knapp bei Kasse er gerade war.

Immer wieder versuchten wir ihm klarzumachen, was uns schon völlig klar war – dass Billy von dem Glas gewusst und es selbst ausgegraben hatte. Vern wollte das einfach nicht glauben, obwohl er Billy hasste wie die Araber die Juden und wahrscheinlich mit Vergnügen für seinen Bruder wegen Diebstahl die Todesstrafe gefordert hätte, wenn sich je eine solche Möglichkeit ergeben hätte. Er weigerte sich auch, Billy direkt zu fragen. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass Billy lachen und sagen würde: Natürlich hab ich sie, du dumme Sau, und da waren für zwanzig Dollar Cents in dem Glas, und ich hab das ganze verdammte Geld ausgegeben. Stattdessen ging Vern unter die Veranda und grub nach den Münzen. Immer wenn er Lust dazu hatte und Billy nicht gerade in der Nähe war. Und jedes Mal kroch er mit dreckigen Jeans und Blättern im Haar und leeren Händen unter der Veranda hervor. Wir verspotteten ihn deshalb ziemlich bösartig und gaben ihm den Spitznamen Penny – Penny Tessio. Ich glaube, er kam mit seiner Neuigkeit nicht nur deshalb so schnell zum Club, weil er sie loswerden wollte, sondern weil ihm daran lag, uns zu beweisen, dass aus seiner Münzenjagd doch noch etwas Gutes herausgekommen war.

Er war an dem Morgen vor allen anderen aufgestanden, hatte seine Cornflakes gegessen und war nach draußen gegangen, wo er Körbe durch den an die Garage genagelten Reifen warf. Weil niemand in der Nähe war, mit dem er was hätte unternehmen können, wusste er nicht recht, was er tun sollte. Er beschloss deshalb, wieder nach den Münzen zu graben. Er war gerade unter die Veranda gekrochen, als über ihm die Tür aufging. Er erstarrte und gab keinen Laut von sich. Wenn es sein Dad war, würde er heraus­kriechen. War es Billy, würde er warten, bis Billy und sein Freund Charlie Hogan, einer von diesen halbstarken Angebern, verschwunden waren.

Jetzt hörte er ihre Schritte auf der Veranda, und dann sagte Charlie Hogan mit zitternder Stimme: »Mein Gott, Billy, was sollen wir nur tun?«

Vern sagte, dass er gleich die Ohren gespitzt habe, als er Hogan in diesem Ton reden hörte – Hogan war nämlich eigentlich ein verdammt zäher Bursche. Schließlich trieb sich Charlie ständig mit Ace Merrill und Eyeball Chambers herum, und wenn man es mit solchen Typen zu tun hatte, musste man schon ziemlich zäh sein.

»Nichts«, sagte Billy. »Wir tun genau nichts.«

»Wir müssen doch irgendetwas unternehmen«, sagte Charlie. Die beiden setzten sich ganz in Verns Nähe auf die Veranda. »Hast du ihn nicht gesehen?«

Vern kroch näher an die Treppe heran. In diesem Augenblick glaubte er, dass Charlie und Billy vielleicht in besoffenem Zustand jemand überfahren hatten. Vern passte auf, dass die Blätter nicht raschelten, wenn er sich bewegte. Wenn die beiden merkten, dass er hier unter der Veranda hockte und ihr Gespräch belauschte, könnte man dann das, was danach von ihm noch übrig bliebe, in eine Hundefutterdose packen.

»Es geht uns nichts an«, sagte Billy Tessio. »Und der Junge ist tot. Den interessiert das auch nicht mehr. Wen kümmert es auch nur einen Scheißdreck, ob sie ihn finden? Mich jedenfalls nicht.«

»Das war der Junge, über den sie im Radio gesprochen haben«, sagte Charlie. »Ich bin mir ganz sicher, dass er das war. Brocker, Brower, Flowers oder wie er noch hieß. Ein Scheißzug muss ihn erwischt haben.«

»Ja«, sagte Billy. Dann das Geräusch, mit dem ein Streichholz angerissen wurde. Vern sah, wie es in den Kies geschnippt wurde. Er roch Zigarettenrauch. »Ich wäre fast über ihn gestolpert. Und du hast gekotzt.«

Schweigen, aber Vern spürte geradezu, dass Charlie Hogan sich schämte.

»Wenigstens haben die Mädchen nichts gesehen«, sagte Billy nach einer Weile. Nach dem Geräusch zu urteilen, klopfte er Charlie auf die Schulter, um ihn aufzumuntern. »Sie würden von hier bis Portland darüber quatschen. Jedenfalls sind wir schnell von da weggekommen. Glaubst du, die haben gemerkt, dass was nicht gestimmt hat?«

»Nein«, sagte Charlie. »Die Harlow Street hinten am Friedhof vorbei mag Marie sowieso nicht. Sie hat Angst vor Gespenstern.« Dann wieder in diesem verängstigten weinerlichen Ton: »Mein Gott, wenn wir doch nur gestern Abend kein Auto geklaut hätten, sondern ins Kino gegangen wären, wie wir eigentlich wollten!«

Charlie und Billy gingen mit ein paar Weibern namens Marie Dougherty und Beverly Thomas; außerhalb von Jahrmärkten hat man so krasse Tussis noch nie gesehen – Pickel, Haare auf der Oberlippe, alles Drum und Dran. Manchmal klauten die vier – gelegentlich waren es auch sechs oder acht, wenn Fuzzy Bracowicz oder Ace Merrill mit ihren Mädchen dabei waren – auf irgendeinem Parkplatz in Lewiston einen Wagen und machten eine Spritztour. Dabei nahmen sie ein paar Flaschen Wein der Marke Wild Irish Rose und einen Sechserpack Ginger Ale mit. Dann parkten sie irgendwo in Castle View oder Harlow oder Shiloh, mixten sich ihr Gesöff zurecht und fummelten rum. Billiger Spaß im Affenhaus, wie Chris manchmal sagte. Anschließend ließen sie den Wagen nicht allzu weit von zu Hause entfernt irgendwo stehen. Sie waren noch nie erwischt worden, aber Vern hoffte weiterhin darauf. Der Gedanke, Billy eines Sonntags in einem Erziehungsheim zu besuchen, gefiel ihm außer­ordentlich.

»Wenn wir es den Bullen sagen, wollen die wissen, wie wir denn bis nach Harlow gekommen sind«, sagte Billy. »Wir haben beide keinen Wagen. Es ist besser, wenn wir das Maul halten. Dann können sie uns nichts anhaben.«

»Was ist mit einem anonymen Anruf?«, fragte Charlie.

»Die kriegen immer raus, wer angerufen hat«, sagte Billy finster. »Das hab ich im Fernsehen in Streifenwagen 2150 gesehen. Und in Polizeibericht.«

»Stimmt«, sagte Charlie trübsinnig. »O Mann, wenn doch nur Ace dabei gewesen wäre. Wir hätten den Bullen gesagt, dass wir in seinem Wagen hingefahren sind.«

»Aber er war nun mal nicht dabei.«

»Genau«, sagte Charlie. Er seufzte. »Da hast du irgendwie recht.« Eine Zigarettenkippe flog in die Einfahrt. »Zu blöd, dass wir zum Pissen rauf zu den Gleisen mussten. Woanders hätten wir das ja schlecht machen können, oder? Und ich hab auch noch auf meine neuen Turnschuhe gekotzt.« Seine Stimme wurde leiser. »O Mann, sah der Junge aus. Hast du den Hurensohn gesehen, Billy?«

»Hab ich«, sagte Billy, und eine zweite Kippe flog in die Einfahrt. »Komm, wir sehen mal nach, ob Ace schon auf ist. Ich brauche ein bisschen Saft.«

»Sollen wir es ihm erzählen?«

»Charlie, wir sagen es keinem. Keinem! Hast du kapiert?«

»Kapiert«, sagte Charlie. »O Mann, wenn wir doch bloß den verdammten Dodge nicht geklaut hätten.«

»Ach, halt die Fresse und komm mit.«

Zwei Paar in verwaschene Jeans gekleidete Beine, zwei Paar Füße in schwarzen Stiefeln mit Seitenschnallen kamen die Treppe herunter. Wie erstarrt hockte Vern auf allen vieren da. (»Meine Eier sind so weit raufgerutscht, dass ich schon dachte, die wollen ganz in den Bauch rein«, sagte er uns später.) Er war sich sicher, dass sein Bruder ihn unter der Veranda entdecken würde. Er würde ihn rausholen und umbringen – er und Charlie würden ihm das bisschen Gehirn, das ihm der Herr in seiner Güte zugeteilt hatte, aus den Henkelohren raustreten und ihn anschließend tottrampeln. Aber sie gingen einfach weiter, und als Vern merkte, dass sie wirklich verschwunden waren, kroch er unter der Veranda hervor und rannte zu uns.

5

»Du hast verdammt Glück gehabt«, sagte ich. »Sie hätten dich umgebracht.«

»Ich kenne die Back Harlow Road«, sagte Teddy. »Am Fluss endet sie in einer Sackgasse. Früher haben wir da immer geangelt.«

Chris nickte. »Früher gab es da eine Brücke, aber die wurde von einer Flut weggerissen. Das ist schon lange her. Jetzt sind da nur noch die Bahngleise.«

»Hätte ein Junge denn den ganzen Weg von Chamberlain nach Harlow überhaupt geschafft?«, fragte Chris. »Das sind doch zwanzig oder dreißig Meilen.«

»Ich glaube schon. Wahrscheinlich ist er irgendwie auf die Gleise gestoßen und dann einfach auf ihnen weitergegangen. Vielleicht dachte er, sie würden ihn da rausführen, oder vielleicht auch, dass er einen Zug anhalten könnte. Nur dass da nur noch Güterzüge fahren – die GS & WM fährt nach Derry und Brownsville – und auch davon nicht mehr viele. Um rauszukommen, hätte er ganz bis nach Castle Rock gehen müssen. Im Dunkeln muss dann halt ein Zug gekommen sein … und rums.«

Chris schlug sich mit der Faust in die Handfläche, dass es klatschte. Teddy, alterfahren im Ausweichen vor den Lastwagen auf der 196, schien sich zu freuen. Mir war ein bisschen mulmig. Ich stellte mir den Jungen vor, wie er, so weit von zu Hause entfernt, in Todesangst, aber verbissen die Gleise der GS & WM entlanglief, gehetzt von den unheimlichen nächtlichen Geräuschen aus den überhängenden Bäumen und Büschen … vielleicht sogar aus den Abflussrohren unter dem Bahndamm. Und dann kommt der Zug, und vielleicht hat ihn der große Scheinwerfer hypnotisiert, bis er nicht mehr zur Seite springen konnte. Oder vielleicht lag er, als der Zug kam, vor Hunger zusammengebrochen auf den Gleisen. Wie auch immer, Chris hatte es richtig ausgedrückt: Rums, und aus war’s. Der Junge war tot.

»Was ist jetzt, gehen wir hin?«, fragte Vern. Er krümmte sich und rutschte hin und her, als ob er dringend mal müsste, so aufgeregt war er.

Wir sahen ihn lange an, und niemand sagte etwas. Dann warf Chris die Karten hin und sagte: »Klar! Und ich wette, unser Bild kommt in die Zeitung!«

»Hä?«, sagte Vern.

»Echt?«, sagte Teddy und lachte so verrückt, wie wenn er eben vor einem Lastwagen zur Seite gesprungen wäre.

»Hört zu«, sagte Chris und beugte sich über den wackligen Kartentisch. »Wir finden die Leiche und melden es der Polizei. Dann stehen wir in der Zeitung.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Vern zögerlich. »Billy wird wissen, wo ich es erfahren habe. Der schlägt mich zu Brei.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Wir haben dann nämlich den Jungen gefunden, nicht Billy und Charlie Hogan in einem geklauten Wagen. Dann brauchen sie sich um die Sache keine Sorgen mehr zu machen. Wahrscheinlich geben sie dir sogar einen Orden, Penny.«

»Ehrlich?« Vern grinste und zeigte seine schlechten Zähne. Es war eine Art betäubtes Lächeln, als wirkte der Gedanke, Billy könne sich über irgendetwas an ihm freuen, auf Vern wie ein Faustschlag ans Kinn. »Echt jetzt? Meinst du wirklich?«

Auch Teddy grinste. Dann zog er die Stirn in Falten und sagte: »Oh-oh.«

»Was ist?«, fragte Vern. Wieder rutschte er nervös hin und her. Er fürchtete, dass Teddy soeben ein wirklich grundsätzlicher Einwand gegen das Vorhaben durch den Kopf geschossen war … beziehungsweise durch das, was bei Teddy als Kopf galt.

»Unsere Eltern«, sagte Teddy. »Wenn wir morgen drüben in South Harlow die Leiche von dem Jungen finden, glauben sie uns nicht mehr, dass wir in der Nacht auf Verns Feld gezeltet haben.«

»Stimmt«, sagte Chris. »Dann wissen sie, dass wir nach dem Jungen gesucht haben.«

»Nein, das wissen sie nicht«, sagte ich. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl – ich war aufgeregt, und gleichzeitig hatte ich Angst, weil ich wusste, dass wir unseren Plan durchführen konnten, ohne dass uns etwas passieren würde. Das ganze Durcheinander der Gefühle machte mir Kopfschmerzen. Ich nahm die Karten auf, damit meine Hände etwas zu tun hatten, und fing an sie zu mischen. Ich wandte dabei eine besondere Technik an, die ich von Dennis gelernt hatte. Viel mehr hatte mein großer Bruder mir nicht beigebracht, aber um meine Mischtechnik beneideten mich alle anderen Jungs, und fast jeder, den ich kannte, hatte mich schon mal gebeten, ihm zu zeigen, wie es ging … alle außer Chris. Wahrscheinlich wusste nur Chris, dass das bedeuten würde, ein Stück von Dennis wegzugeben, und so viel hatte ich von Dennis nicht, als dass ich es mir leisten konnte, etwas davon zu verschenken.