Die letzte Tide - Kari Köster-Lösche - E-Book

Die letzte Tide E-Book

Kari Köster-Lösche

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Beschreibung

Ein toter Seemann hängt mit dem Fuß in der Takelage eines Handelsschiffs, offenbar ein Unfall. Doch als Sönke Hansen die Koje des Toten untersucht, entdeckt er einen Kalender aus einem seltsamen beinernen Material. Als es erneut einen merkwürdigen Todesfall auf dem Schiff gibt, nimmt der Wasserbauinspektor Ermittlungen auf … Der vierte Band der historischen Krimiserie um Wasserbauinspektor Hansen. Die letzte Tide von Kari Köster-Lösche: Spannung pur im eBook!

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Kari Köster-Lösche

Die letzte Tide

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Die handelnden Personen in der Reihenfolge ihrer ErwähnungKleines WortverzeichnisRövenmus mit Lungenwurst
[home]

Prolog

Ein Ulu! Er duckte sich unwillkürlich, ohne seinen Feind auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Eine Waffe der Eskimos! Urtümlich und tödlich.

Mit ihnen wurden Robben zerlegt, aber in der Faust eines bösartigen Mannes taugte die lanzettförmige Klinge auch, um eine menschliche Kehle durchzuschneiden. Und die geschliffene Spitze des knöchernen Griffs konnte grässliche Wunden reißen. Die Erinnerung an den wulstigen, eiternden, von der Schläfe bis zum Mundwinkel reichenden Schnitt im Gesicht eines Eingeborenen blitzte durch sein Gehirn.

Er konzentrierte sich wieder auf seinen Angreifer.

Der fette Kerl packte mit einer Hand das Tauwerk, das am Zwischenschott aufgereiht war, die Augen zum Schlitz geöffnet wie ein Raubtier vor dem Sprung. Die Schmack gierte furchterregend, aber der Mann kannte sein Schiff und hielt sich auf den Füßen.

Er selber, mitten im einzigen Raum des Vorschiffs, fand keinen Halt. In höchster Not tastete er hinter sich, griff ins Leere und stürzte auf die im harten Seegang auf dem Schiffsboden verstreuten Tausendbeine, die seinen Fall abfingen.

Der Mann griff an. Stürzte sich mit triumphierender Miene auf ihn und grub das Ulu nach seiner blitzschnellen Abwehrbewegung zum Glück nur durch das Hosenbein in die Planken. Er bäumte sich auf, trat mit dem anderen Bein um sich und schaffte es, sich loszureißen und sich auf den anderen zu werfen. Ein Wellental half ihm. Sein Gegner lag unversehens auf dem Rücken.

Er tastete nach seinem Takelmesser. Die Scheide war leer …

Panik griff nach ihm. Mit bloßen Händen ging er dem anderen an die Kehle: seine einzige Möglichkeit, ihn außer Gefecht zu setzen und an Deck zu flüchten. Inmitten der übrigen Schiffsbesatzung würde sein Feind nicht wagen, einen Mord zu begehen.

Oder doch? Würden sie ihm sogar helfen?

Im Nachhinein verfluchte er seine Neugierde. Er hatte zu viel gefragt und zu viel gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Sein größter Fehler aber war es gewesen, sich von den großen Handelsseglern mit ihren weltweiten Reisen zu verabschieden, um wieder zur Küstenschifffahrt zurückzukehren. Kleinkariertes Denken und Eifersüchteleien herrschten in der winzigen Zweckgemeinschaft von fünf Männern, und das vierundzwanzig Stunden jedes Tages. Dafür war einer wie er nicht mehr zu haben.

Während er zudrückte und sein bisheriges Leben mit der Geschwindigkeit eines Tropensturms an ihm vorbeijagte, lauschte er mit allen Sinnen. Von oben waren unbekannte und beunruhigende Geräusche zu hören. Rumpeln und Scharren von Holz, das sich an Holz rieb, schließlich ein donnerndes Krachen. Irgendetwas war von oben heruntergekommen, vermutlich der Baum des Gaffelsegels. Oder eine Rah.

Waren sie manövrierunfähig? Würden sie auf Legerwall geraten? Furcht packte ihn erneut, jedoch eine andere als die vor einem Mörder. Schon Tausende von Seeleuten vor ihm waren mit ihren Schiffen vor der stürmischen Küste von Sylt in Seenot geraten und hatten den Tod durch Ertrinken vor Augen gehabt.

»Alle Mann an die Pumpen!«, gellte von Deck die von Angst verzerrte Stimme des Wachhabenden am Ruder.

Seenotfall!

Sein Feind hatte die Augen geschlossen und war offensichtlich ohne Bewusstsein. Er ließ den Hals los, dessen eisenharte Muskeln ihm erstaunlichen Widerstand geboten hatten, kam mühsam auf die Beine und wankte zum Aufgang.

Er schaffte es auf die dritte Sprosse der Leiter. Dann fuhr ihm ein scharfer Gegenstand in den Rücken und spaltete ihm mehrere Rippen. Er hörte ihr Knacken. Es war, als seien plötzlich alle seine Sinne geschärft.

Er wusste, dass er sterben würde.

Seine Hände rutschten vom Handlauf ab, und die nächste Welle schmetterte ihn rückwärts auf die Planken. Die Luft wurde ihm knapp.

Er lächelte. Während seiner vielen Jahre als Seemann hatte er keine einzige Schiffshavarie erlebt. Und dieser würde er durch den Tod entgehen.

[home]

Kapitel 1

Sönke Hansen, Deichbauinspektor des Wasserbauamtes in Husum, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und betrachtete die flache nordfriesische Landschaft, die gemächlich an ihm vorbeizog. Da er im ersten Wagen hinter der Lokomotive saß, versperrten ihm fette schwarze Rauchschwaden hin und wieder die Sicht, die über die grünen Weiden davontrieben und dort schnell zerrissen wurden. Dieser windige Maitag im Jahr 1897 ließ noch nichts vom Sommer ahnen.

Der Anblick der Schafe und Kühe lenkte seine Gedanken zur Hallig Langeness, wo seine zukünftige Frau Jorke lebte. Er musste endlich Ordnung in ihre gemeinsamen Zukunftspläne bringen.

Sein dienstlicher Auftrag in Munkmarsch auf Sylt, wo er die Hafenanlagen zu inspizieren hatte, war Routine, kein Anlass, sich darüber Gedanken zu machen, bevor er dort war.

Dafür bot die Hochzeit mit seiner geliebten Jorke genügend Anlass, sich Sorgen zu machen. Sie hatte diese, wie er fand, mit leichter Hand abgetan. Frei und selbständig in ihren Entscheidungen wie alle Frauen der nordfriesischen Halligen, war sie der Überzeugung, dass sie auch weiterhin sämtliche Probleme meistern würde, die auf sie zukamen.

Zwar war er selbst Friese, daneben aber auch Beamter in preußischen Diensten, zu dessen Aufgaben es gehörte, vorausschauend zu denken, sich Sorgen zu machen und Pläne zu ihrer Bewältigung zu fassen.

Würde Jorke es ertragen, mit ihm in Husum zu leben, während auf der Hallig Langeness ein bezahlter Knecht vom Festland ihren Hof bewirtschaftete? Einer, der seine vertraglich vereinbarte Pflicht tat, aber vielleicht nicht mehr? Konnte ein solches Dienstverhältnis überhaupt funktionieren? Würde Jorke sich nicht jeden Tag in Angst um den elterlichen Hof verzehren? Noch nie hatte es einen solchen Fall auf der Hallig gegeben, raten konnte ihr keiner.

Die Westküstenbahn verlangsamte das Tempo. Den Wald von Süderlügum hatte sie längst hinter sich gebracht, die Wiedau, deren Bett sich zu dieser Jahreszeit glücklicherweise nicht zu endlosen Wasserflächen geweitet hatte, auch. Der Zug lief in Tondern ein.

Bade- und Kurgäste, die wie Hansen nach Hoyerschleuse umsteigen mussten, um die Fähre nach Sylt zu erreichen, gab es nur wenige, zumeist kleine Familien, deren Ziel die Badeorte waren. Er war allein im Abteil, als das Pfeifsignal ertönte und der Zug sich für die kurze Strecke bedächtig in Bewegung setzte.

 

Nach einem siebenstündigen Reisetag landete Hansen endlich in Munkmarsch auf Sylt. Er war dankbar, den spuckenden Kleinkindern und den überbesorgten ängstlichen Müttern zu entrinnen. Die Fähre hatte im harten Westwind zweieinhalb Stunden vom Festland gebraucht, bedeutend länger als die übliche Fahrzeit von ein drei viertel Stunden.

Der kleine Hafen, der Schiffe mit einem Tiefgang von zwei Metern zuließ, war voll belegt. Vermutlich hatten sich etliche der kleinen Küstensegler vor dem Sturm an der Ostküste in Sicherheit gebracht. Hansen betrachtete mit Interesse die eng an eng im Päckchen liegenden Austernfischer und die Kohlenewer, die für England bestimmt waren, während sich die Familien mit ihren ermüdeten und brüllenden Kindern zur Inselbahn nach Westerland oder zu den bereitstehenden Kutschen aufmachten, in denen sie nach Wenningstedt oder Keitum gebracht werden würden. Die Rufe der Fuhrleute überboten einander: Nach »Hotel Stadt Hamburg«? – Nach »Strandhotel«? – Nach »Hotel Royal«? Über allen Lärm legten sich die Geräusche der Ostbahn von Sylt, die direkt neben dem Hafen auf ihre Fahrgäste wartete und bereits unter Dampf stand.

Hansen hatte keine Eile. Die Familienpension, in der er abzusteigen pflegte, die einzige im kleinen Dorf, hatte für ihn immer Platz. Das elegante »Fährhaus« am Hafen war für die Reichen gedacht, nicht für die Mitarbeiter des Wasserbauamtes.

Eine große Schmack mit dem hübschen Namen Flora fand Hansens besondere Aufmerksamkeit, weil sie offensichtlich in schweres Wetter geraten war. Am Besanmast flatterten Reste des flüchtig zusammengezurrten Segels, und Baum sowie Gaffel des Großsegels ruhten von Reling zu Reling über dem Deck, während sich die grob festgelaschte, zerrissene Leinwand über die Ladeluke ausbreitete. An Bord war kein Mensch zu sehen.

Hansen schauderte es ein wenig, als er an die Mannschaft dachte, die wahrscheinlich dem Tod gerade noch entkommen und jetzt in den Tiefschlaf der völlig Erschöpften gesunken war. Mit dem Meer war nicht zu spaßen, nicht bei Schlechtwetter und vor allem nicht mit den Rinnen im Wattenmeer, die nicht alle ausgeprickt waren, und in dem sich schnell mal Sände verlagern konnten. Er hatte hinreichend eigene Erfahrungen.

Die Mitreisenden waren inzwischen in den Kutschen abgefahren, das Schnaufen des kleinen Zuges verklang gerade hinter dem Mühlenberg.

Hansen machte sich mit gegen den Wind gebeugtem Kopf auf den Weg in seine Unterkunft in der Mitte des Dorfes. Aus den tief eingefahrenen Fahrspuren wirbelte Sand hoch und ihm in die Augen.

 

Am nächsten Morgen war Sönke Hansen früh auf den Beinen. Der Sturm war in der Nacht zu einem milden Lüftchen abgeflaut und hatte auf Südost gedreht, soweit er dies aus dem Fenster erkennen konnte. Der Himmel war blau, und nur über dem Festland erinnerten graue Wolkenwalzen an das vergangene Unwetter.

Die muntere Tochter des Hauses war schon an der Arbeit, deckte seinen Tisch mit einem blauen Leintuch ein und stellte ein Sträußchen mit Margeriten darauf. Hansen sah ihr wohlwollend zu, als sie Pflaumenmus und Sahne gefällig vor ihm arrangierte, und schwatzte launig mit ihr, bis der Duft von Kaffee sie in die Küche rief.

Dies war eine Dienstreise nach Hansens Herzen. Im Hafenbereich erwartete er keine Überraschungen. Er würde ein Protokoll über seinen Zustand erstellen und am Nachmittag wieder zurückfahren.

Gestärkt durch kräftiges Schwarzbrot mit goldgelber Butter und ein weichgekochtes Möwenei, machte sich Hansen eine halbe Stunde später auf den Weg zum Mühlenberg, der das Dorf nach Süden hin schützte. Von dort aus konnte er sich erfahrungsgemäß den besten Überblick über die Watten der Ostküste verschaffen.

 

Der Turm von Sankt Severin in Keitum war von Hansens Position aus gut sichtbar, der alte Hafen hingegen lag unterhalb der Steilküste verborgen. Vor einem halben Jahrhundert war der Keitumer Hafen immer mehr versandet und deshalb durch den Hafen von Munkmarsch ersetzt worden. Derzeit gab es jedoch bei Keitum keinen weiteren Anwachs, vielmehr brach erneut Land weg. Mit der Hand über den Augen gegen die Morgensonne geschützt, konnte Hansen an der Steilwand unterhalb der Bäume jedoch davon nichts erkennen.

Eine neue Lahnung oder ein Buschwerk an anderer Stelle führte leicht zu gravierenden Änderungen der Strömungsverhältnisse, das war bekannt. Die Insel war eben äußerst empfindlich gegenüber Eingriffen in die Natur. Wegen der unabsehbaren Folgen war Sylt auch noch nicht landfest gemacht worden, obwohl schon seit der Mitte des Jahrhunderts über einen Damm von Morsumkliff quer durch die Watten nach Rodenäs in der Wiedingharde nachgedacht wurde.

Nach Hansens persönlicher Auffassung würde auch der Hafen von Munkmarsch verschlicken, wenn ein solcher Damm gebaut würde, denn er würde die Strömung zwischen Sylt und dem Festland stilllegen. Das wäre das Ende von Munkmarsch, doch da die Pläne mittlerweile stark vorangeschritten waren, war daran kaum mehr etwas zu ändern. Politiker würden den Damm gegen jede Vernunft durchsetzen, so wie sie alles durchsetzten, von dem sie nichts verstanden.

Aber wohin sollten in diesem Fall die Schiffe ausweichen, die Husum- und Englandfahrer, die Austernflotte, die Lustschiffe für die Seehundsjagd der Gäste? Es gab keinen weiteren Hafen auf Sylt.

Mit einem Achselzucken wandte sich Hansen ab und begann rutschend im feuchten Gras den Abstieg zum Dorf. So vieles änderte sich in letzter Zeit, es schien, als ob die Zeit immer schneller verginge.

Für einen Augenblick weckte ein Junge sein Interesse, der angaloppiert kam wie ein wilder Bulle. Musste der Knabe zu dieser Zeit nicht eigentlich auf der Schulbank sitzen? Aber ihn ging es schließlich nichts an.

Der Junge nahm Kurs auf Hansen, stoppte schlitternd und riss seine Mütze vom Kopf. »Moin, Herr, sind Sie der Deichbauinspektor aus Husum?«, schnaufte er.

»Bin ich. Sönke Hansen.«

»Sie möchten sofort zum Hafen kommen. Dort ist etwas passiert.«

»Was denn nun schon wieder?«, grummelte Hansen. Ungern wollte er seine Tagesplanung durcheinanderbringen lassen.

»Ich weiß es nicht«, bekannte der Junge. »Aber es muss etwas Schreckliches sein. Der Hafenmeister hat es dem Rektor ins Ohr geflüstert, und der wollte es vor der Klasse nicht sagen. Mich hat er ausgeguckt, weil ich der schnellste Läufer der Schule bin. Ich war zuerst im Gästehaus, und die haben mich hierhergeschickt.«

Hansen lächelte wider Willen. »Ach so. Dann danke ich dir für die Botschaft. Bestelle deinem Lehrer, dass ich mich sofort auf den Weg mache.«

Ein verschmitztes Grinsen wurde ihm zuteil, dann sauste der junge Munkmarscher wieder davon.

 

Hansen fiel es nicht schwer, schon von weitem zu erkennen, worum es sich handelte. Ein Großteil der Schiffe, die gestern Schutz gesucht hatten, hatte den Hafen bereits verlassen, er sah leer aus. Die Flora war das einzige fremde Schiff, das hier noch lag.

Eine Traube von Menschen drängte sich neben ihr am Kai. Männer und Frauen starrten zur Rah des Toppsegels hoch, und Hansen folgte ihren Blicken. Entsetzt blieb er stehen. Nicht im Traum hätte er sich ausgemalt, zu einem Unglücksfall dieser schrecklichen Art gerufen zu werden.

Unter der Rah hing ein Seemann mit einem Fuß in einer Tauwerksschlinge. Er kreiste sacht im Wind. Mal zeigte sein Rücken zum Kai, dann wieder sein Gesicht, das blaurot angelaufen war. Ohne Zweifel war der Mann tot.

 

Die Flora lag längsseits am Kai und war an ziemlich langer Bug- und Heckleine vertäut. Baum und Gaffel des Großsegels waren inzwischen mittschiffs gelascht worden. Neben ihnen standen zwei Seeleute und schauten abwechselnd nach oben und über den Kai. Einer entdeckte Hansen und raunte seinem Nachbarn, der offensichtlich der Kapitän war, etwas zu.

Die Menge wich zurück, um eine Gasse freizumachen, und Hansen folgte wohl oder übel der Aufforderung. Unterwegs schloss sich ihm ein auffallend blasser Mann an, der nervös mit den Armen schlenkerte und aufgeregt vor sich hin brabbelte.

Hansen blieb stehen, als er endlich verstanden hatte, dass der Mann der neue Hafenmeister war, und hörte ihm einigermaßen geduldig zu, während der sich vorstellte und sich dafür entschuldigte, dass er Hansen hatte holen lassen. Es sei seine erste berufliche Leiche, und er wolle doch nichts verkehrt machen, und Hansen sei der am schnellsten erreichbare Vertreter einer Behörde gewesen, auch wenn er sich nach seiner Ankunft nicht bei ihm gemeldet habe. Die Polizei in Westerland sei leider …

»Ja«, seufzte Hansen verdrossen. Seine eigenen Erfahrungen mit der Polizei in Wyk ließen in ihm ein gewisses Verständnis für den Hafenmeister aufkommen. Er verzichtete auf die Erklärung, wie lange es gedauert hätte, die Westerländer Polizei zu holen, und schritt der Flora entgegen. Auf den ersten Blick erkannte er, dass der Kapitän liebend gerne auf einen Vertreter jeglicher Obrigkeit verzichtet hätte, und wenn er auch nur ein Deichbauinspektor war.

Der Mann war klein und rundlich, um die Mitte zusammengeschnürt durch einen Gürtel, so dass seine Ähnlichkeit mit einem Stundenglas nicht zu verkennen war. Insgesamt wirkte er wie ein Ringer vom Jahrmarkt. Unter den buschigen Augenbrauen schoss er wütende Blicke ab, die sich gleichmäßig über den Hafenmeister und Hansen ergossen.

Hansen konnte seiner verschlagenen Miene keine Sympathie abgewinnen. Der Seemann neben dem Kapitän wirkte kaum freundlicher, allerdings so, als ob ihn die Sache gleichgültig ließe. Der erste Eindruck von der Mannschaft, in der sich ein solch tragischer Unglücksfall ereignet hatte, war jedenfalls eigenartig.

An Bord machte keiner Anstalten, die Festmacher der Flora, die in einer Entfernung von mehr als Mannslänge am Kai dümpelte, zu verkürzen. Wenigstens begriff der Hafenmeister, dass er gefordert war. Gemeinsam holten sie die Bugleine dichter, so dass Hansen an Deck steigen konnte.

Es war das erste Mal, dass er ein Schiff betrat, ohne eingeladen worden zu sein. Von Beginn an als Gegner betrachtet zu werden, war für ihn ein befremdliches Gefühl. Schweigend sah er sich um.

 

Mit einem Blick rundum erkannte er die Situation. Die Flora war ein Seelenverkäufer, deutlich heruntergekommen. Die eisernen Partien der Wanten waren verrostet, im nicht aufgeschossenen, an Deck herumliegenden Tauwerk waren Kardeele in gefährlichem Ausmaß gerissen und nicht gespleißt worden, und in den Speigatten klemmten die Gräten von der letzten Fischmahlzeit und andere Abfälle. Die Reste des zerrissenen Besansegels knatterten leise im Wind.

Hansen nannte seinen Namen und seine Dienststelle. »Und Sie sind Kapitän …?«, fragte er, als dieser offensichtlich gar nicht daran dachte, sich selbst vorzustellen.

»Fretwurst. Julius Fretwurst.«

Hansen nickte und fragte, was er tun könne.

»Keine Ahnung«, knurrte der Kapitän, »ich habe Sie nicht gerufen. Dass ein Mann sich erhängt, kommt schon mal vor. Wir werden ihn zum nächsten Friedhof karren. Zum Glück hat er keine Familie.«

Hansen schaute nach oben. Der Tote baumelte mit dem Fuß in einer Schlinge des Fußpferdes, das unterhalb der Rah verlief und auf dem die Seeleute beim Setzen und Bergen des Segels standen. Das andere Bein war weit abgespreizt. »Dass einer sich kopfüber erhängt, kommt wohl seltener vor. Wir werden den Polizeimeister aus Westerland bemühen müssen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!«, brauste der Kapitän auf und warf erregt die Hände in die Höhe. »Das hält mich ja nochmals auf! Ich habe durch den Sturm schon Zeit verloren. Außerdem: Wozu sind denn Sie da?«

»Heinrich hatte eine ganz gewöhnliche Havarie«, hackte der Mann neben dem Kapitän nervös heraus, »soll heißen, einen Unfall. Weiß der Teufel, was er da oben gewollt hat, nachdem die Männer die Rah wieder an ihrem Platz hatten. Gestern Abend noch haben wir angefangen, aufzuräumen. Vielleicht ist ihm heute früh eingefallen, dass er die Spiere falsch gelascht hatte, oder Ähnliches. Wir sind alle noch wie erschlagen von den letzten Stunden auf offener See. Dass Hein vom Fußpferd gerutscht ist und sich dabei im Tau verwickelt hat, sieht jedes Kind!«

»Aha. Und Sie sind wer?«, fragte Hansen verwundert, weil der Kerl tief aufgewühlt schien und trotzdem eine lange Erklärung für notwendig gehalten hatte.

»Jehann, Bootsmann. Ich hatte Hein und Sören nach oben geschickt.«

Sollte der Bootsmann, den ein prachtvoller Schnurrbart zierte, sich wichtigmachen wollen, oder plagten ihn Schuldgefühle, weil er die Männer in erschöpftem Zustand nach oben geschickt hatte? Der Kapitän hielt es anscheinend nicht für der Mühe wert, Jehann den Mund zu verbieten, der ihn geradezu der Lügen zieh. »Hatte der Tote denn Sorgen?«, erkundigte sich Hansen bei Fretwurst. »Oder warum könnte er sich sonst erhängt haben?«

»Vielleicht hatte er Grund, etwas zu bereuen«, vermutete der Kapitän.

»Nö«, grummelte Jehann.

Hansen konzentrierte sich auf den Kapitän und ignorierte den Bootsmann. »Warum meinen Sie?«

Der Mann schob die wulstigen Lippen hin und her und stauchte sein Doppelkinn mehrmals in den offenen Kragen hinein, was ein nachdenkliches Nicken signalisieren sollte. Hansen erinnerte er an einen Schweinskopf zum Weihnachtsfest. Ihm fehlte nur der Apfel zwischen den Zähnen. Die hellen Wimpern konnten den berechnenden Blick nicht verbergen.

»Weiß ich nicht. Aber was sollte einen Mann sonst dazu bringen, so still zu sein? Er vergrub irgendetwas in sich. Hatte vor, in nächster Zeit mit ihm mal von Mann zu Mann zu sprechen. Hätte ihm vielleicht geholfen …«

Da kam er nicht weiter. Kapitän und Bootsmann blieben bei ihren unterschiedlichen Meinungen. »Was hat die Flora eigentlich geladen?«, fragte Hansen unvermittelt.

»Geladen, geladen …«, wiederholte Fretwurst irritiert. »Hauptsächlich Fischbein für Korsettstangen«, antwortete er dann mürrisch. »Wir waren auf dem Weg nach Wyk, aber wir konnten im Sturm die Einfahrt in die Norder-Aue nicht anliegen.«

»Ja, die Gewässer westlich der Inseln sind wohl nicht ohne«, bestätigte Hansen lakonisch und beschloss bei sich, diese Angelegenheit nicht vorschnell abzuschließen. »Darf ich mich mal in der Koje des Toten umsehen? Damit ich guten Gewissens bescheinigen kann, dass alles seine Ordnung hat.«

Der Kapitän grunzte unbestimmt. »Wenn Sie mir den Polizeiinspektor ersparen«, sagte er schließlich in lauerndem Ton. »Polizisten kann ich nicht ausstehen. Die See halten sie nur für einen großen Badebottich und wollen nicht verstehen, dass Schiffe mit ablaufendem Wasser rausmüssen, um nicht eine ganze Tide zu versäumen.«

Für seine Klage über die Polizei hatte Hansen durchaus Verständnis, seitdem er bei seinem allerersten Mordfall vom Polizeimeister von Wyk zunächst einmal zum Tatverdächtigen gestempelt worden war.

»Für die Gewässer östlich von Sylt haben wir viel Tiefgang«, setzte Fretwurst grummelnd hinzu. »Wenn der Ostwind noch auffrischen sollte, kommen wir hier gar nicht raus!«

Das gab für Hansen den Ausschlag. Sofern er keine deutlichen Anzeichen für ein Verbrechen entdeckte, würde es keinen Grund geben, die Westerländer Polizei zu rufen. Immerhin schien der Kapitän eine Art Verantwortung für seine Besatzung zu empfinden. »In Ordnung.«

»Zeig ihm, was er sehen will«, knurrte der Kapitän.

Der Bootsmann zuckte mit den Schultern und ging voraus zum Vorschiff.

 

»Wie viele Mann seid ihr an Bord?«

Jehann hatte anscheinend keine große Lust, Rede und Antwort zu stehen, aber schließlich überwand er sich. »Fünf. Jetzt nur noch vier.«

»Und Sie sind wie lange an Bord?«

»Weiß gar nicht genau. Schon ewig. Der Tote war neu. Wir wissen von ihm nichts.«

»Gar nichts?«

»Na ja. Er hatte weder Weib noch Kinder. War lange auf ausländischen Schiffen gesegelt.«

»Seemann war er also?«

»Doch, Seemann war er.«

Der Bootsmann packte die Handläufe beiderseits des Niedergangs und rutschte mit angezogenen Beinen nach unten, während Hansen die vier Stufen lieber einzeln nahm. Mit seiner Länge von fast 1,90 Metern musste er sich unter der niedrigen Decke des Vorschiffs ducken, während er sich umsah. Hier war die Unordnung mindestens so groß wie an Deck. Und der Gestank nach gammelndem Fleisch, der wohl von den noch ungereinigten hornartigen Barten der Wale herrührte, die sich in Korsettstangen verwandeln sollten, durchzog das ganze Schiff. Darüber lagerte ein Duft von Rum, der wahrscheinlich vom Bootsmann ausging.

Vier schmale Kojen, je zwei übereinander, gab es beiderseits der Längswände, und am Schott neben dem Niedergang hing Tauwerk, noch mehr lag allerdings verstreut auf den Bodenplanken. In der Mitte des Raums war die Back festgeschraubt, auf der Blechteller mit Essensresten gestapelt waren und umgekippte Becher lagen.

»Das da ist die Koje von Heinrich«, erklärte der Bootsmann freiwillig und zeigte auf die untere Steuerbordkoje mit durchgelegener Matratze, die vermutlich aus nie ausgewechseltem Seegras bestand und in dem sich gewiss Flöhe breitgemacht hatten.

Hansen schüttelte es angesichts der Zustände. »Danke«, murmelte er und machte sich widerwillig ans Werk einer schnellen Durchsuchung. Über dem Kopfende des Bettes befand sich ein Wandbord, auf dem eine aus dem Leim gehende Bibel lag. Kein Abschiedsbrief. Unter der schlaffen Matratze war nichts. Im offenen Fach unterhalb der Koje stak ein Paar Lederstiefel, deren Schäfte bemerkenswert blank geputzt waren. »Hatte er eine Seemannskiste?« Schließlich besaßen die meisten Seeleute persönliche Besitztümer, die sie sorgsam vor den Blicken der anderen hüteten.

»Kein Platz dafür. Wir haben nur Schapps.«

»Aha«, sagte Hansen und fand im Wandschränkchen des Toten eine saubere, ordentlich gefaltete Unterhose und sein Seemannsbuch. Während er noch in Heinrich Schulzes Seemannsbuch blätterte, das weite Auslandsreisen auf verschiedenen Schiffen bescheinigte, stieg der Bootsmann wieder an Deck.

»Amüsieren Sie sich allein«, warf er nach unten, dann verschwand sein Gesicht aus der Öffnung.

 

Genau das hatte Hansen vor. Er überzeugte sich davon, dass die Schritte des Bootsmanns an Deck verklangen, dann warf er die Wolldecke beiseite und stemmte die schäbige Matratze in Heinrichs Koje hoch. Unter dem Bezugsstoff hatte er einen harten Gegenstand gefühlt, den er ohne Zeugen herausholen wollte.

Neugierig gemacht hatte ihn der bemerkenswerte Unterschied zwischen dem verlotterten Zustand des Schiffes und der ordentlichen persönlichen Lebensführung des Toten. Hatte ein solcher Mann es nötig, auf diesem Schiff anzumustern? Oder sagte ihm die weite Welt nicht mehr zu? Vielleicht wollte er gar in der Nähe einer Geliebten sein.

Mit fliegenden Fingern fand Hansen eine Öffnung in der Naht, durch die er das kleine Objekt mit Drücken und Schieben herausbefördern konnte.

Schließlich kam es zum Vorschein. Ein braunes Lederetui, das einen zum Fächer auffaltbaren Kalender enthielt, dazu einen kurzen Bleistift.

Verblüfft drehte Hansen das Schreibgerät in den Händen. Die Blätter mussten aus Elfenbein sein, ebenso der Knauf des Stiftes.

Offiziere pflegten einen derartigen Gegenstand für ihre galanten Verabredungen mit sich zu führen sowie hohe Beamte unter den Kurgästen von Wyk; adelige Damen notierten darauf neue Bekanntschaften oder Einladungen. Das Notizbüchlein passte in einen Berliner Salon, aber nicht zu einem einfachen Seemann! Hatte der Tote es gestohlen? Allein die Tatsache, dass er den Kalender versteckt hatte, wies Letzterem eine besondere Bedeutung zu.

Behutsam fächerte Hansen die fünf dünnen Blätter innerhalb der beiden dickeren Deckblätter auf. Jedes einzelne war mit einem aufgedruckten Wochentag versehen. In englischer Sprache, auch das seltsam. Unter Monday stand Friedrichstadt, 15.00 Uhr.

Friedrichstadt, südlich von Husum. Der nächste Hafen war Tönning. Der Kalender gehörte wohl doch dem Seemann. Und gemeint war möglicherweise der kommende Montag.

Wenn sich der Mann aber wirklich zum Selbstmord entschlossen hatte, musste dies sehr plötzlich geschehen sein. Eine Verabredung, die nicht eingehalten wurde, sprach eindeutig eher für Unfall als für Selbstmord.

Aus einem Instinkt heraus schob Hansen den Kalender in die Tasche und setzte sich hastig an die Back, als Schritte den Bootsmann ankündigten und seine Füße im Niedergang auftauchten.

»Etwas gefunden?«, fragte er.

»Nichts, vor allem keinen Abschiedsbrief.« Hansen meinte Genugtuung im Gesicht des Seemannes zu erkennen. »Sie glauben ja sowieso nicht an Selbstmord.«

Der Bootsmann schürzte die Lippen und schüttelte abfällig den Kopf. »Der Käpt’n ist immer unnötig besorgt.«

»Trank der Tote eigentlich?«, erkundigte Hansen sich. »Ich meine: übermäßig viel.«

»Er soff«, stellte der Bootsmann mit Nachdruck fest.

Hansen nickte. »Ich möchte aus allem, was ich gesehen habe, schließen, dass es sich wirklich um einen Unfall handelt. Fußpferde sind tückisch in diesen kurzen Kappelwellen, die in den Hafen schwappen, soviel ich weiß. Und wenn er dann auch noch getrunken hatte … Ich denke, dass ihr den Toten herunterholen könnt.«

»Endlich!«, stieß Jehann aus. »Sei sünd nich so narrsch, wie ik toerst dacht heff. Sei sabbeln ok nich to veel. Will sagen: Sie sind nicht so dumm, wie ich zuerst gedacht habe, und schwatzen auch nicht zu viel.«

»Oh«, sagte Hansen überrascht wegen der plötzlichen Vertraulichkeit in plattdeutscher Sprache. Jehann war eindeutig erleichtert, dass die Untersuchung beendet war. Das konnte er gut verstehen.

Er erhob sich. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. Während er nach oben stieg, begann der Bootsmann das Geschirr mit großzügigen Armbewegungen zusammenzukehren und schließlich in eine Pütz zu werfen.

 

An Deck stellte Hansen fest, dass die Zuschauer sich noch vermehrt hatten. Er trat zum Kapitän, der auf der Ladeluke saß, anscheinend entschlossen, sich nicht vom Fleck zu rühren. »Ich konnte kein Anzeichen für einen Selbstmord entdecken. Ich schließe also auf Unfall. Nehmt den Toten ruhig herunter«, gestattete er.

»Sofort!« Der Kapitän winkte dem Mann am Bug, der sich die ganze Zeit abseits gehalten hatte. Während der sich gemächlich auf den Weg machte, stellte Hansen eine letzte Frage.

»Trank Heinrich?«

»Keinen Tropfen. Der war eine Betschwester. Haben Sie seine Bibel nicht gesehen?«

Doch, die hatte Hansen in der Hand gehabt, aber sie hatte ihn nicht interessiert.

»In der Freiwache las Hein ständig darin«, fuhr der Kapitän abfällig fort, »nicht, dass ich wüsste, was man nach der Konfirmation damit noch anfangen kann. Abartig geradezu! Ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel: Er vertrieb Jehann, der eine Zeitlang mit ihm gemeinsam Freiwache hatte, mit seinem Gebetsgebrabbel.«

Vom Vertreiben hatte der Bootsmann nichts gesagt. Und alles andere stand in bemerkenswertem Gegensatz zu dem, was Jehann erzählt hatte. Ganz langsam kam in Hansen der Verdacht auf, dass es in dieser Mannschaft größere Unstimmigkeiten gab, was aber nichts daran änderte, dass der Tod des Mannes wie ein ganz gewöhnlicher Unfall aussah.

 

Unerwartet erschien das bisher unsichtbare letzte Mannschaftsmitglied. Ein schmächtiger Kerl kletterte aus dem vorderen Luk, als ob er gehört hätte, dass es Arbeit an der Rah gäbe. Er hatte ein absonderliches Aussehen. Seine oberen Schneidezähne ragten weit zwischen den Lippen heraus, was seinem Gesicht ein schnauzenähnliches Aussehen verlieh, und als er an Deck herbeiwieselte, erinnerte er Hansen an eine Ratte.

»Holt Hein herunter«, knurrte der Kapitän die Seeleute an.

Hansen beobachtete die beiden, die flink nach oben enterten. Der Tote hatte sich offensichtlich in der Lose des Taus verfangen und war bei seinen Befreiungsversuchen mit dem anderen Bein abgerutscht. Er war barfuß gewesen, bei Deckshands nicht unüblich.

Die Ratte, ein Bein um die Rah geschlungen, den Oberkörper frei baumelnd, sicherte Heinrich mit einem Palstek um den Brustkorb und hakte einen Heißhaken ins Tau. Dann zogen die beiden Seeleute den Toten einen halben Meter in die Höhe, damit der Fuß aus der Schlinge rutschte, und fierten ihn anschließend ab. Eine Sache von wenigen Minuten.

Der Kapitän und Hansen nahmen den Leichnam entgegen und legten ihn behutsam an Deck ab. Die Kleidung des Toten war geflickt, aber sauber. Er war unverletzt bis auf eine Beule am Hinterkopf, die im militärisch kurz geschnittenen Haar gut erkennbar war. Hansen machte Fretwurst darauf aufmerksam.

»Jehann ist doch ein ganz Plietscher«, meinte der Kapitän gleichmütig. »Ich muss ihm jetzt recht geben. Hein ist abgerutscht und mit dem Kopf an den Mast geschlagen. Wahrscheinlich war er bewusstlos, bevor er um Hilfe rufen konnte. Meinen Sie nicht?«

Diese Auslegung hatte etwas für sich. Hansen nickte bedächtig. »Unfall ist besser als Selbstmord.«

Auch hierin musste Hansen in gewisser Weise dem Kapitän zustimmen, auch wenn es für den Toten keinen Unterschied mehr machte.

 

Inzwischen waren die beiden Seeleute herabgeentert. Ohne Interesse für den Toten wollten sie wohl ihrer vorherigen Beschäftigung nachgehen und hasteten in unterschiedlicher Richtung davon.

»Bring die Springs aus, Korl«, rief der Kapitän Ratte nach. »Wir schaffen Hein gleich von Bord und mit der nächsten Kutsche auf den Friedhof.«

»Ich verabschiede mich«, sagte Hansen. »Das Deichbauamt ist für Unfälle nicht zuständig. Sie können sich aber auf mich berufen, wenn der Pastor Fragen stellt.«

Der Kapitän der Flora nickte stumm und verschwand unter Deck, noch während Hansen darauf wartete, dass Korl die Festmacher dichtholte und die Schmack näher an die hölzerne Spundwand heranzog. Er musste nicht lange warten.

Ratte war ein ganz Fixer. Als Hansen von Bord stieg, belegte er bereits das zweite Tau an einem Ring auf dem Kai.

Aus einem Grund, den er sich selber nicht erklären konnte, schlenderte Hansen an den immer noch herumlungernden Zuschauern vorbei zum Bug, der zum Hafenausgang gerichtet war. Als er Korl passierte, murmelte dieser etwas, das sich wie »Augenblick mal« anhörte.

Sönke Hansen stoppte und drehte sich beiläufig um. An Deck war niemand zu sehen.

»Die Flora war nach Tönning bestimmt«, raunte der kleine Seemann ihm zu.

Mehr kam nicht, obwohl es sich wie der Anfang einer vertraulichen Mitteilung angehört hatte. Im gleichen Augenblick entdeckte Hansen, dass der Kapitän mit einem Paket unter dem Arm nach oben kam, von Bord stieg und sich, ohne die neugierigen Leute zu beachten, in Richtung auf das Dorf aufmachte.

Hansen schob sich ungestüm in die Menge auf der Mole, wo nicht die Gefahr bestand, dass er von den Seeleuten der Schmack gesehen wurde. Von dort beobachtete er verstohlen den Kapitän. Der wollte gar nicht ins Dorf. Er umrundete das Hafenbecken und eilte mit gesenktem Kopf zum neuen Fährhaus hinüber, in dem sich auch der Fahrkartenschalter für die Fähre befand.

Der Dampfer würde erst in zwei Stunden Munkmarsch verlassen. Eile war nicht geboten. Es schien eher so, als ob der Kapitän sein Anliegen schnell erledigen wollte. Aber die privaten Angelegenheiten eines Frachtschiffkapitäns gingen Hansen schließlich nichts an.

Die Zeit bis zum Ablegen der Nachmittagsfähre verbrachte Hansen mit der Überprüfung der hafennahen Schutzmaßnahmen. Als er an Bord der Sylt ging, lag die Flora noch an ihrem Platz.

Er stieg auf das Oberdeck hoch, wo im Salon schon etliche Reisende saßen. Von der Reling aus blickte er über den Hafen. Am Besan der Schmack war anscheinend ein neues Segel aufgezogen worden, und aus der Ferne machte sie jetzt einen ganz ordentlichen Eindruck.

Aber immer wieder musste Hansen an die merkwürdige Mitteilung von Ratte denken. Und mit wem mochte Heinrich sich während der Liegezeit in Tönning verabredet haben? Würde die Person erfahren, dass er tot und auf dem Friedhof der Heimatlosen in Westerland begraben worden war?

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Kapitel 2

Einige Tage später wurde Sönke Hansen schon am frühen Morgen an den Telefonapparat gerufen, den zweiten des Deichbauamtes, den sein durchaus mit dem Fortschritt gehender Chef, Oberbaudirektor Cornelius Petersen, hatte anschaffen lassen. Lange war der Fernsprecher des Direktors der einzige des Hauses gewesen, aber dies hatte sich wegen der zunehmenden Gespräche der Mitarbeiter allmählich als störend erwiesen.

Am anderen Ende war überraschenderweise Kriminalinspektor Martin Wolf aus Berlin, der Hansen im vergangenen Jahr, als er mit den Mächtigen der Politik zusammengeraten war, aus einer fatalen Situation gerettet hatte, in der selbst Petersen machtlos gewesen wäre. Wolf hatte ein dienstliches Problem auf dem Herzen, und Hansen hörte still zu.

Man vermisse ein Schiff, den Dampfer Magdalena Fischer, der seit mehreren Tagen im Hafen von Hamburg hätte liegen sollen. »Aber die Magdalena ist nicht pünktlich angekommen. Sie war von Dieppe in Frankreich unterwegs im Kanal, als wir diesen Weststurm hatten. Ihr Kapitän gilt als sehr erfahren und umsichtig. Was meinen Sie, wo man suchen sollte?«

Hansen verstand. Seine Kenntnis der Seefahrt war gefordert. Und selbstverständlich war er bereit, Wolf zu helfen, wenn er konnte. »Der Sturm war nicht besonders hart. Eigentlich kann einem seegehenden Schiff mit erfahrenem Kapitän nichts passiert sein. Vermuten Sie, dass die Magdalena ausgebüxt ist? Aber seit wann kümmert man sich in Berlin um Seeschiffe, Herr Wolf?«

Der Polizist lachte verhalten. »Ja, die Frage ist berechtigt. Es handelt sich gewissermaßen weniger um ein Schiff als um ein schwimmendes Politikum, da der russische Zarenhof in die Sache verwickelt ist. Sie erinnern sich doch bestimmt an den Ohrfeigenbrief von Zar Alexander II.? Seitdem bemüht sich Berlin darum, nicht ein zweites Mal eine ähnliche Verstimmung zwischen Russland und dem Kaiserreich aufkommen zu lassen.«

»Nicht genau«, murmelte Hansen verlegen. »Damals war ich zu jung, um mich mit Politik zu befassen.«

»Ja, das ist wahr. Also, in aller Kürze: Es gab Unstimmigkeiten zwischen Deutschland und Russland wegen der russischen Expansion auf dem Balkan. Alexander beklagte sich deswegen bei seinem Onkel, unserem Kaiser Wilhelm I., über Otto von Bismarck. Sein Brief verursachte fürchterlichen Ärger, Alexander erklärte schließlich, ihn gar nicht geschrieben zu haben, und entschuldigte sich trotzdem wegen der verletzenden Passagen. Außerdem sah er sich genötigt, eine feindliche Kampagne in der russischen Presse zu unterdrücken.«

»Verstanden«, warf Hansen ein. »Und was hat das mit dem Schiff zu tun?«

»Alle europäischen Nationen beäugen einander gegenwärtig mit großem Misstrauen. Jeder Ärger kann unversehens zu einer Kriegserklärung eskalieren. Hier im Amt werden schon Stimmen laut, die mutmaßen, dass jemand erneut einen Keil zwischen Deutschland und Russland treiben will.«

»Aha. Und was genau ist passiert?«

»Folgendes: Der Frachter befördert üblicherweise gewöhnliches Stückgut in allen europäischen Gewässern, dieses Mal aber hat er eine kostbare Fracht, bestimmt für den Gedenktag der Ernennung von Nikolaj Romanow zum Zaren Nikolaus II. am 1. November 1894. Von Hamburg aus sollte das fragliche Stück mit der Eisenbahn nach Sankt Petersburg weiterreisen.«

»Seltsamer Weg zwischen Dieppe und Petersburg«, schob Hansen rasch ein.

»Ist mir auch aufgefallen. Aber aus Petersburg kam die Anfrage nach dem besten Transportweg, und höchste Kreise haben so entschieden: Ein gewöhnlicher Frachter auf ganz normaler Route, aus Gründen der Geheimhaltung, wie es hieß. Aber plötzlich ist die Sache wohl nicht mehr ganz so gewöhnlich. Jedenfalls sucht jetzt ein ganzes Ministerium nach dem Schiff mit Panik in den Augen, bildlich gesprochen, und ich bin ausgeguckt worden, es zu finden.«

Vor dem Fenster im Erdgeschoss ratterte ein Karren mit eisenbeschlagenen Rädern über das Kopfsteinpflaster. Hansen nutzte die durch den Lärm erzwungene Pause, um sich die geographischen Verhältnisse durch den Kopf gehen zu lassen.

»Könnte die Magdalena Fischer sich nicht vorsorglich in den Schutz der Häfen von Hastings oder Dover begeben haben? Die englische Leeküste wäre bei Weststurm ein ruhiges Plätzchen für eine Kostbarkeit, vor allem, wenn der Kapitän kein Risiko eingehen will.«

Wolf zögerte merklich. »Meine Vorgesetzten haben sich auch da zu einer besonders schlauen Vorgehensweise entschlossen«, bekannte er endlich. »So wenige Personen wie möglich sollten eingeweiht werden. Der Kapitän weiß von nichts. Stattdessen wird das gute Stück von einer Gouvernante bewacht, die sorgfältig ausgesucht wurde. Unser Mann spricht Französisch, Englisch und Holländisch. Plattdeutsch hat er im Schnellverfahren dazulernen müssen. Ganz gleich, in welchem Hafen der Kapitän Schutz gesucht haben könnte, wäre unsere Vertrauensperson ohne großes Aufsehen in der Lage, sich zu einem Telefonapparat durchzufragen, um Berlin von der Verzögerung zu berichten.«

»Aha«, bemerkte Hansen verblüfft. Das Kleinod reiste also zur Tarnung in der Obhut einer anonym bleibenden Person. Außerdem war es transportabel. »Und was erwarten Sie nun von mir?«

»Offiziell gar nichts«, beeilte sich der Kriminalinspektor zu sagen. »Amtshilfe ist völlig ausgeschlossen. Die Sache ist geheimer als der Bauplan eines neuen kaiserlichen Seekreuzers. Ich wollte Sie bitten, die Augen offen zu halten. Der Dampfer kann sich überall an den fraglichen Küsten befinden – bis hoch nach Dänemark … Ich muss auf einen glücklichen Zufall hoffen.«

»Ich beneide Sie nicht«, sagte Hansen, dem Wolf schon früher von Missgunst und Eigennutz in seiner Dienststelle berichtet hatte. »Ich kann mir ungefähr vorstellen, in welcher Lage Sie … Nein, vielleicht doch nicht.«

»Doch, doch, Sie können. Sie haben mir mal erzählt, dass Sie fast unehrenhaft entlassen worden wären. Genau das wird mir passieren. Man wird mir den Eklat anhängen, der zwischen Russland und Deutschland droht, falls das Zeug nicht auftaucht.«

»Dann werde ich mich sofort an die Arbeit machen«, versprach Hansen bestürzt. »Auf meinem Schreibtisch drängt derzeit nichts. Welchen Tiefgang hat der Dampfer?«

»Himmel, keine Ahnung! Darum habe ich mich noch nicht gekümmert«, bekannte Wolf. »Spielt das eine wesentliche Rolle?«

»Ja, durchaus. Bei mehr als vier Metern fallen etliche Häfen auf dieser Route schon mal aus.«

»Ach so. Ich werde mich sofort informieren. Sie hören von mir, sobald ich die Zahlen habe«, versprach Wolf. »Und danke erst mal.«

Sein Dank ging in einem Knattern unter. Nachdenklich hängte Hansen die Sprechmuschel an ihren Haken zurück, während er einen Blick über den Husumer Hafen warf. Das größte der gegenwärtig am Kai festgemachten Schiffe war ein zweimastiger Segler. Kein einziges Motorschiff.

Nächste Woche würde er den Wyker Hafen inspizieren. Dort konnte er sich ebenfalls leicht einen Überblick über die Schiffe verschaffen. Alles in allem war die nordfriesische Küste als Versteck für einen größeren Dampfer ungeeignet.

Hoffentlich war die Magdalena Fischer nicht doch mit Mann und Maus untergegangen. Für Schiffsunglücke gab es die seltsamsten Gründe. Nicht immer hatten Stürme damit zu tun. Stattdessen immer öfter Versicherungspolicen. In Verbindung mit einer kostbaren, transportablen Fracht mochte mancher in Versuchung geraten … Und wer garantierte denn, dass es nicht längst Mitwisser gab? Vor allem, wenn auch die Möglichkeit bestand, dass hier jemand ein politisches Ränkespiel trieb.

 

Wolf hatte sich noch nicht gemeldet, als Hansen sich ein paar Tage später aufmachte, um das Fährschiff nach Wyk zu erreichen. Die Überfahrt von Dagebüll verlief bei handigem Wetter ruhig und etwas langweilig. Auf der Wyker Mole war schon mehr los, die Badesaison kam allmählich in Schwung. Etliche Gäste promenierten an der Westerland, dem Dampfer, mit dem Hansen gekommen war, entlang, warfen neugierige Blicke auf die Neuankömmlinge und deren Gepäckstücke und versuchten offensichtlich abzuschätzen, wo diese absteigen würden.

Wie üblich war das Hafenbecken mit Küstenfahrern belegt, und auch die Fischer trudelten jetzt gegen Abend ein. Keine Magdalena Fischer.

Beim Anblick des alten Specklagers der Wyker Grönlandfahrer fiel Hansen ein, dass die Flora ihre Ladung von Walbarten nach Wyk hatte bringen wollen. Oder nach Tönning, wie Ratte behauptet hatte.

Vor dem Schuppen, der längst für andere Waren als für Speck benutzt wurde, saß ein alter Mann in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne und betrachtete das beschauliche Leben, das sich vor ihm abspielte. Er grinste Hansen an, was ihm wie eine Einladung zum Schwatz erschien.

Ein solcher Mann war genau der Gesprächspartner, den Hansen sich vorstellte. Er setzte sich neben ihn und kramte den Kautabak aus der Tasche, den er stets als Gesprächsauftakt mit sich führte, selbst aber nie benutzte. »Moin, moin«, sagte er und hielt dem Greis den Tabak hin.

Der Wyker griff herzhaft zu. »Moin, Badegast«, sagte er, bevor der Tabak seine Wange auszubeulen begann.

»Nein, das bin ich nicht«, widersprach Hansen auf Friesisch. »Ich bin vom Festland und brauche einen aufmerksamen Beobachter, der nicht auf den Kopf gefallen ist. Ich denke mir, dass du der richtige Mann sein könntest für die Auskünfte, die ich brauche.«

Der Alte nickte gleichmütig.

»Es geht um einen größeren Dampfer, die Magdalena Fischer. Hat die kürzlich mal hier gelegen?«

»Nein.«

Das war für Hansen keine Überraschung. Fündiger zu werden, erwartete er da schon bei seiner Suche nach dem Ort, an dem Walbarten verarbeitet wurden. Es konnte ein Familienbetrieb ganz im Westen von Föhr sein, wo er kaum hinkam.

»Außerdem bin ich auf der Suche nach einer Fischbeinreißerei, die es hier geben soll«, sagte er.

Der Wyker kaute genüsslich und schüttelte dann bedächtig den Kopf. »Junge, da hättest du vor fünfzig Jahren kommen sollen. Da hatten wir noch die Trankocherei bei der Salzfabrik am Südufer, und das Specklager hinter mir beschäftigte mehrere Männer. Das waren gute Zeiten für Wyk. Aber von einer Fischbeinreißerei in dieser Zeit weiß ich nichts. Vielleicht noch früher …?«

Oder sollte sie womöglich erst eingerichtet werden, sinnierte Hansen. »Vor einigen Tagen hat ein Schmackkapitän mir weismachen wollen, dass seine Ladung von Walbarten für Wyk bestimmt ist.«

»Tüünkraam! Bist du dumm genug, auf solches Seemannsgarn hereinzufallen? Der Kerl war ein Lügner.«

»Ja«, brummelte Hansen beschämt. »Scheint so.«

»Und wegen dieser dusseligen Fragen bist du nach Wyk gekommen?«

»Nein. Mein Beruf führt mich her«, antwortete Hansen. Wenigstens da fühlte er sich auf sicherem Boden. »Ich habe diese Hafenanlagen mehr oder weniger gebaut. Ich inspiziere sie von Zeit zu Zeit.«

Ein unergründlicher Blick traf ihn. »Willst du es bei mir auch probieren, du Muulheld? Ich falle nicht auf Tüünbüdels herein! Den Hafen haben die Männer vom Wasserbauamt in Husum gebaut.« Der Alte erhob sich, spuckte Hansen einen Batzen Tabaksaft vor die Füße und schlurfte davon.

Hansen sah ihm im ersten Moment empört nach und begann schließlich leise zu lachen.

 

Er lehnte den Kopf an die hölzerne Wand und schloss die Augen. Dieses Plätzchen war wirklich angenehm, er konnte den alten Mann verstehen. Ein wenig tat es ihm leid, dass er ihn vertrieben hatte, ohne es zu wollen. Aber es war klar, dass ein aufrechter Fahrensmann keine Bankgemeinschaft mit einem Lügner und Aufschneider haben wollte.

Ihm fiel ein, dass Wolf die Art der verschwundenen Fracht gar nicht erwähnt hatte. Was mochte es wohl sein, das so kostbar war?

Dieppe! Hansen fuhr wie elektrisiert in die Höhe und starrte in das Hafenbecken, ohne die darin treibenden Fischköpfe, die Pferdeäpfel und den übrigen Unrat als störend wahrzunehmen. Dieppe war die französische Stadt, die für ihre Elfenbeinarbeiten berühmt war. Das Elfenbein wurde aus Afrika per Schiff herbeigeschafft, soviel er wusste, und in den Meisterwerkstätten der Hafenstadt in europäische Kunst verwandelt.

Seltsam, dass er gerade vor einigen Tagen Elfenbein in der Hand gehabt hatte, was gewiss nicht so oft geschah. Behutsam knöpfte er die Innentasche seines Jacketts auf und holte das Notizbüchlein des Toten von der Schmack heraus, um es nachdenklich von allen Seiten zu betrachten. Wahrscheinlich bedurfte es für einen so einfachen Gegenstand keines Künstlers aus Dieppe. Das Büchlein ließ vielmehr einen englischen Handwerker vermuten.

Warum hatte wohl Heinrich in Friedrichstadt eine Verabredung gehabt? Das Städtchen an der Eider war nicht weit von Tönning entfernt, mit dem Schiff war es schnell erreicht. Wollte die Flora möglicherweise nach Friedrichstadt weitersegeln? Für die Verarbeitung von angelandeten Walen waren allerdings weder Tönning noch Friedrichstadt bekannt. Tönning zehrte vom früheren Ruhm als Ausfuhrhafen von Ochsen nach Wedel, England und Holland, und Friedrichstadt war eine reine Handelsstadt.

Wyk als Zielort für ein Schiff mit Walbarten war offensichtlich gelogen, aber plausibel gewesen, sofern man nicht gerade Wyker war. Nicht einmal er hatte es bemerkt, weil in Wyk schließlich ständig von Walen und der Hoffnung auf die Wiederaufnahme des Walfangs die Rede war, da brauchte er sich nur an seinen letzten Fall zu erinnern, als der Abgeordnete Paul Dürrschnabel einer ganzen Herrenrunde die glänzenden Zukunftsaussichten des Walfangs lebhaft geschildert hatte. Von neuen Walfangschiffen, von Walöl und seinen unglaublichen Möglichkeiten der Verwendung, jedenfalls wenn die euphorischen Wissenschaftler recht behielten, und so weiter. Obendrein waren die Relikte des früheren Walfangs allgegenwärtig, Zäune und Tordurchgänge, dann die Grabplatten der Walfangkapitäne … Wyk war die Verkörperung des deutschen Walfangs!

Dennoch waren sowohl Wyk als auch Tönning keine Orte, die Walbarten verarbeiteten. Er war vom Kapitän nach allen Regeln der Kunst belogen worden. Nur Heinrichs Notiz unterstrich den Wahrheitsgehalt von Rattes Bemerkung, dass die Flora nach Tönning bestimmt gewesen war.

Aber warum diese Irreführung? Stimmte etwas mit der Fracht nicht – oder gar mit dem Toten?

Was ging ihn die Fracht an? Er war kein Zöllner. Wollte der Kapitän den penetranten Geruch im Schiff erklären? Möglicherweise bestand die eigentliche Fracht aus kostbareren Dingen. Schmuggelte die Flora? Wenn ja, was?

Und der tote Seemann? Nichts hatte auf etwas anderes schließen lassen als auf einen Unfall. Verdacht weckte allein das Verwirrspiel des Kapitäns einschließlich der Widersprüche zwischen seinen und des Bootsmanns Auskünften.

Und warum hatte Ratte ihm eine Information, mit der er nichts anfangen konnte, zugesteckt? Feindschaft gegenüber dem Kapitän, gar Rache?

Bei genauerer Überlegung hatte Korl wahrscheinlich Geld erwartet. Den alten Mann hatte er selber ja auch mit Tabak gesprächig gemacht. Möglicherweise hätten sie sich sogar treffen können, wenn er nicht noch am gleichen Tag abgefahren wäre. Jedenfalls steckte hinter Rattes Bemerkung etwas, das Hansen neugierig machte.

Hoffentlich war es nicht mehr. Ein leise bohrendes Gefühl sagte ihm, dass er möglicherweise mit der Freigabe des Leichnams einen Fehler begangen hatte. Aber mit etwas Glück würde er sein Versäumnis, wenn es denn eines war, gutmachen können. Vielleicht lag die Flora inzwischen in Tönning. Jedenfalls konnte er sich gut dort mal umsehen.

 

Zurück im Wasserbauamt in Husum, hörte Hansens Chef Cornelius Petersen sich geduldig an, was Hansen ihm in groben Zügen über die Schmack zu erzählen hatte. Die Bedenken, die ihm nachträglich gekommen waren, verschwieg er nicht.

»Sie haben sich womöglich in Teufels Küche gebracht, dass Sie den Toten zur Beerdigung freigegeben haben, was nicht Ihres Amtes ist«, bemerkte Petersen, nachdem Hansen seinen Bericht beendet hatte.

Hansen nickte kräftig. »Das Wasserbauamt möglicherweise auch.«

»Hansen!«, rief Petersen entrüstet aus und ließ seine Faust auf die Schreibtischplatte donnern. »Sie wollen doch nicht schon wieder freie Hand für die Beschäftigung mit nicht-dienstlichen Angelegenheiten haben? Nein, ich erlaube es nicht! Dies ist kein Fall! Sie sollten sich lieber nochmals intensiv mit der Frage befassen, ob es richtig ist, eine Halligbäuerin zu heiraten! Als preußischer Beamter in einer Husumer Dienststelle können Sie nicht auf Langeness leben! Ihre Karrierewünsche könnten überdies über eine so seltsame Verbindung flötengehen. Haben Sie das überhaupt mal bedacht?«

Hansen zwang sich, tief durchzuatmen, um nicht aufzubrausen. Seltsam! Niemals würde er sich für eine so kluge und liebenswürdige junge Frau wie Jorke entschuldigen oder sich gar gegen sie entscheiden, Karriere hin oder her. Jorke ging seinen Chef nichts an. »Kriminalinspektor Wolf hat mich um Hilfe gebeten«, fuhr er mit verkniffener Miene fort. »Man könnte es als Amtshilfe bezeichnen. Ich muss nach Tönning.«

»Das ist etwas anderes. Wolf sind wir zu großem Dank verpflichtet. Ihre Karriere hätte auch damals schon zu Ende sein können, wenn er Ihnen nicht aus der Patsche geholfen hätte. Fahren Sie meinetwegen«, murmelte Petersen verdrossen und wandte sich den Unterlagen zu, die er zu bearbeiten hatte.

»Morgen«, legte Hansen fest und verließ ohne Triumphgefühl das Dienstzimmer. Gelegentlich lag er mit Petersen, der aber im Großen und Ganzen anständig war, über Kreuz. Also kein wirklicher Grund zur Aufregung.

 

Das immer besser werdende Eisenbahnnetz gestattete es Hansen am nächsten Tag, ohne umzusteigen, von Husum nach Tönning zu reisen. Im Kopfbahnhof des Örtchens wartete schon die unter Dampf stehende Schmalspurbahn zum Hafen für Englandreisende, aber es stieg nur ein einziges Paar mit großen Koffern um, auf das ein ergrauter Dienstmann zur Hilfeleistung zuhumpelte. Die Verladerampe für Vieh blieb leer. Hansen selber leistete sich den Spaß, mitzufahren, obwohl er die kurze Strecke schneller zu Fuß hätte zurücklegen können.

Im Schutz des Kanalpackhauses ging Hansen zum langgestreckten Hafenbecken. Als er um die Hausecke spähte, fielen ihm sofort die Masten der Flora ins Auge. Sie lag also tatsächlich hier.

Eine Weile beobachtete er ungestört das Schiff. Seitdem der Kaiser-Wilhelm-Kanal die Masse der Schiffe zwischen Nord- und Ostsee aufnahm, war im Tönninger Hafen nicht mehr viel los. Auch an Deck war niemand zu sehen. Offenbar hatte die Besatzung die Fracht mit dem kleinen Hafenkran schon entladen und ihr Schiff Richtung Torfhafen verholt.

Hansen marschierte an die Planke, die vom Schiff zum Kai ausgelegt war, und klopfte an die Reling. »Ist es erlaubt, an Bord zu kommen?«, rief er vernehmlich.

Der Bootsmann erschien an Deck. »Nein, welcher Zufall!«, brüllte er. »Unser Deichbauer Sönke Hansen persönlich! Entern Sie auf, ßu kommen herein! Klettern Sie hoch, und kommen Sie herein!«

Hansen verkniff sich jede Bemerkung und balancierte an Deck. Der Mann hatte mit seinem Geschrei jemanden warnen wollen. Das war interessanter als die Tatsache, dass er anscheinend von der Ostküste stammte, wo nicht nur Platt, sondern auch Dänisch gesprochen wurde.

Bitte sehr, bedeutete seine Geste zum achterlichen Niedergang, und Hansen begab sich zur Skipperkammer hinunter, die geräumiger war als vermutet.

Im Raum befanden sich zwei entsprechend der Heckform schräg angeordnete Kojen, zwischen ihren Fußenden eine festgelaschte Seemannskiste und eine Back, an der Fretwurst saß. Er stellte sein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit etwas zu nachdrücklich auf der Platte ab und sah Hansen finster entgegen.