12,99 €
Das Herrschaftssystem der modernen liberalen Gesellschaft beruht auf miteinander zusammenhängenden Ideologien, die in jeder Hinsicht dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlagen. Ihre Verfechter sind geradezu stolz darauf, die Wirklichkeit aus ihrem Weltverständnis kunstvoll herausdefiniert zu haben, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr eigenes Scheitern und das der westlichen Moderne unausweichlich machen. Im vorliegenden Buch zeigt Manfred Kleine-Hartlage, worin diese Ideologien bestehen, wie sie miteinander zusammenhängen und warum sie trotz ihrer Weltfremdheit gesellschaftlich so dominant werden konnten, dass sie das Überleben der Völker gefährden, die ihnen anhängen. Dieses Buch, das der Autor selbst als sein bestes, wichtigstes und fundamentalstes Werk bezeichnet, erschien erstmals 2013 im Verlag Antaios und erscheint nunmehr (2024) in einer Neuausgabe. Änderungen waren nicht erforderlich, da die Ereignisse der letzten elf Jahre – von der sogenannten Flüchtlingskrise über Corona und den Ukrainekrieg bis hin zum "Demokratiefördergesetz" die Diagnosen durch immer neue frappierende Bestätigungen untermauert haben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über das Buch:Das Herrschaftssystem der modernen liberalen Gesellschaft beruht auf miteinander zusammenhängenden Ideologien, die in jeder Hinsicht dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlagen. Ihre Verfechter sind geradezu stolz darauf, die Wirklichkeit aus ihrem Weltverständnis kunstvoll herausdefiniert zu haben, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr eigenes Scheitern und das der westlichen Moderne unausweichlich machen. Im vorliegenden Buch zeigt Manfred Kleine-Hartlage, worin diese Ideologien bestehen, wie sie miteinander zusammenhängen und warum sie trotz ihrer Weltfremdheit gesellschaftlich so dominant werden konnten, dass sie das Überleben der Völker gefährden, die ihnen anhängen.
Dieses Buch, das der Autor selbst als sein bestes, wichtigstes und fundamentalstes Werk bezeichnet, erschien erstmals 2013 im Verlag Antaios und erscheint nunmehr (2024) in einer Neuausgabe. Änderungen waren nicht erforderlich, da die Ereignisse der letzten elf Jahre – von der sogenannten Flüchtlingskrise über Corona und den Ukrainekrieg bis hin zum „Demokratiefördergesetz“ die Diagnosen durch immer neue frappierende Bestätigungen untermauert haben.
Über den Autor:Manfred Kleine-Hartlage, geboren 1966 in München, ist Diplom-Sozialwissenschaftler in der Fachrichtung Politikwissenschaft und für seine aufsehenerregenden zeitkritischen Sachbücher und Kolumnen bekannt, in denen er die selbstzerstörerischen Tendenzen unserer Gesellschaft analysiert. Darüber hinaus ist er Romancier. Kleine-Hartlage hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau in Berlin.
Manfred Kleine-Hartlage
Die liberale
Gesellschaft
und ihr Ende
© 2024 Kleine-Hartlage
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Meine bisherigen Bücher handelten von den Gefahren, die der europäischen Zivilisation drohen: In „Das Dschihadsystem“1 ging es um die aggressive Expansivität des Islam, in „Neue Weltordnung“2 um die Verschmelzung und Vernichtung partikularer Strukturen zugunsten globaler, in „Warum ich kein Linker mehr bin“3 um die Destruktivität linker Ideologie und die fatalen Folgen ihrer gesellschaftlichen Dominanz.
Auf den ersten Blick handelt es sich um Gefahren, die miteinander nichts zu tun haben und bloß zufällig gleichzeitig auftreten. Tatsächlich sind sie aber nicht nur vielfältig miteinander verknüpft, sie treffen auch alle auf dieselbe Gesellschaft, eine Gesellschaft, die, wie von einer merkwürdigen Lähmung befallen, die schleichende Demontage ihrer Grundlagen hinnimmt.
Gewiss, die fortschreitende Islamisierung trifft hier und da auf Kritik und sogar auf meist unspektakuläre Formen eines zähen, untergründigen Widerstandes, der Ausbau supranationaler Strukturen führt zu Protest, wenn er offensichtliche Missgeburten wie den Euro hervorbringt, linke Projekte wie das „Gender Mainstreaming“ werden als ideologischer Irrsinn durchschaut und verlacht, allerdings bestenfalls zaghaft bekämpft. Der Protest setzt frühestens dann ein, wenn die Folgen einer verfehlten Politik vor aller Augen liegen, bleibt aber selbst dann eigenartig folgenlos.
Nur wenigen Menschen dürfte bewusst sein, dass all die politischen Fehlentscheidungen, die solche problematischen bis katastrophalen Folgen zeitigen, einer inneren Logik folgen, nämlich der Logik einer bestimmten Ideologie, und damit meine ich keineswegs nur eine im engeren Sinne linke Ideologie. Linke Ideologie ist lediglich eine von zwei Hauptvarianten eines ideologischen Paradigmas, zu dem auch der Liberalismus gehört, und das konkurrenzlos das politische Denken in westlichen Gesellschaften beherrscht. Die Prämissen dieses Paradigmas sind schon seit langem nicht mehr Gegenstand qualifizierter Kritik in den Zentren der gesellschaftlichen Meinungsbildung, und sie sind in dem Maße, wie diese Kritik ausblieb, vom Publikum als Selbstverständlichkeiten verinnerlicht worden und deswegen als Bestandteile einer Ideologie kaum mehr erkennbar.
So wird zum Beispiel kaum jemand, der über einigen Einfluss auf die öffentliche Meinung verfügt (und diesen behalten möchte), bezweifeln, dass die Aufklärung mitsamt den damit verbundenen Werten der individuellen Freiheit, der Emanzipation, der Toleranz, der Gleichheit und so weiter etwas unhinterfragbar Gutes sei. Die lange und große Tradition gegenaufklärerischen Denkens dürfte außer einer marginalisierten konservativen Rechten bloß noch Spezialisten für Philosophiegeschichte geläufig sein, und die wenigen Denker dieser Tradition, deren Namen wenigstens den Gebildeten noch etwas sagen (Carl Schmitt etwa), sind oft weniger Gegenstand einer ernstzunehmenden Kritik als einer niveaulosen, hasserfüllten Diffamierung.
Dass die Aufklärung durchaus ihre Schattenseiten hat; dass ihre Prämissen anfechtbar sind; dass Ideologien, die auf diesen anfechtbaren Prämissen basieren, die Existenz der ihr anhängenden Gesellschaft gefährden, sind Gedanken, die nicht verstanden werden können, solange eben diese Prämissen gedankenlos als Selbstverständlichkeiten verinnerlicht und als vermeintlicher Inbegriff des Wahren und Guten jeder Kritik so weit entrückt sind, dass der bloße Versuch, sie mit Argumenten zu kritisieren, den Kritiker zum Feind von Freiheit, Emanzipation und Toleranz stempelt, mit dem man demgemäß auf keinen Fall diskutieren darf.
Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Gesellschaft, die eine falsche Ideologie verinnerlicht hat, stets aufs Neue von unerwarteten Entwicklungen unangenehm überrascht wird – Entwicklungen wie denen, die ich in den genannten Büchern analysiert habe –, dass sie aber deren Ursachen nicht erkennen und adäquate Antworten nicht finden kann, sofern sich in diesen Entwicklungen die innere Logik eben der fehlerhaften Ideologie entfaltet, deren Prämissen sakrosankt sind.
Unter solchen Umständen muss es bei oberflächlicher Kritik und zaghafter, erfolgloser Symptombekämpfung bleiben, die sich obendrein lediglich auf die bereits offen zutage liegenden Probleme beschränkt, diese isoliert voneinander angeht und nicht zu verhindern vermag, dass immer neue verhängnisvolle Fehlentwicklungen eingeleitet werden.
Die Partikularinteressen verantwortungsloser Machteliten und Interessengruppen tragen das Ihre dazu bei, die Gesellschaft in einem Netz ideologischer Fehlannahmen gefangen zu halten, die es ihr unmöglich machen, ihre eigene Situation zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein zufälliges Sammelsurium von Irrtümern, sondern um ein in sich schlüssiges, durchdachtes und immer weiter ausgebautes System von Unwahrheiten, das für die Gesellschaft, die an sie glaubt, selbstzerstörerische Konsequenzen hat: um ein lückenlos geschlossenes, soziopathologisches Wahnsystem.
Es wird in diesem Buch darum gehen, die verborgenen Prämissen und Implikationen dieses Systems aufzudecken und die von ihm systematisch ausgeblendeten Wahrheiten zur Sprache zu bringen. Wir werden sehen, dass zu diesen missachteten Wahrheiten nahezu alles gehört, was naturgemäß zur Aufrechterhaltung von Gesellschaft erforderlich ist, und dass diese Ideologie eben deshalb auf die Dauer nur zu deren Zerstörung führen kann.
Bei diesem Erkenntnisprozess werden wir eine ganze Reihe von Heiligen Kühen schlachten müssen, und ich kann den Leser nur bitten, sich auch auf solche Argumente einzulassen, die ihm möglicherweise widerstreben werden. Ich habe durchaus keine Freude daran, ihn durch Thesen zu provozieren, die er vielleicht als skandalös empfindet. Ich bin aber zutiefst überzeugt davon, dass wir bestimmte Erkenntnisblockaden beseitigen müssen, weil wir – und mehr noch unsere Kinder und Enkel – auf eine Katastrophe zusteuern, wenn wir es nicht tun.
Gelingt es der Gesellschaft nämlich nicht, sich aus dem Netz der falschen Ideologeme zu befreien, so wird sie zuerst aufhören eine freie, und dann, eine zivilisierte Gesellschaft zu sein; am Ende werden die Überreste dessen, was einmal die europäische Zivilisation war, nur noch durch die Gewalt totalitärer Machtgebilde zusammengehalten werden können und diese Zivilisation sich als gescheitertes Experiment aus der sozialen Evolution verabschieden wie die Dinosaurier aus der biologischen.
1 Manfred Kleine-Hartlage, Das Dschihadsystem. Wie der Islam funktioniert, Gräfelfing 2010
2 ders., Neue Weltordnung – Zukunftsplan oder Verschwörungstheorie? Schnellroda 2011
3 ders., Warum ich kein Linker mehr bin, Schnellroda 2012
Es scheint, als lasse sich über Ideologie so wenig streiten wie über Geschmack oder Religion. Zwar wird unablässig darüber gestritten, aber solche Debatten führen selten dazu, dass jemand sich von den Argumenten der Gegenseite überzeugen lässt. Konversionen von einer Ideologie zur anderen finden statt, gewiss, aber nicht aufgrund von Argumenten, eher von Erfahrungen.
So hat der Zusammenbruch der Sowjetunion zweifellos dazu beigetragen, dass die Anzahl entschiedener Sozialisten in westlichen Ländern sich drastisch reduzierte, während die Reihen der Linksliberalen sich mit Ex-Sozialisten füllten. Hier war die Wirklichkeit selbst das stärkste Argument.
Das mag damit zusammenhängen, dass Ideologien nicht zuletzt auf Wertentscheidungen beruhen. Ob man mehr Wert auf Emanzipation oder auf Recht und Sitte legt, auf Freiheit oder Sicherheit, auf Demokratie oder Autorität, scheint ausschließlich auf den mehr oder minder willkürlichen Wertentscheidungen des autonomen Individuums zu beruhen, die als solche so wenig hinterfragbar und kritisierbar sind wie Geschmacksfragen, etwa die Präferenz für Salami oder Leberwurst, und ebenso verhält es sich mit den Ideologien, in denen diese Wertentscheidungen systematisiert sind.
Dass man eine Ideologie nicht nur vom Standpunkt einer konkurrierenden Ideologie, die eine Wertentscheidung nicht nur vom Standpunkt einer anderen kritisieren, sondern durchaus mit dem Anspruch auf Objektivität hinterfragen kann, wirkt auf den ersten Blick so anmaßend, als wolle man wissenschaftlich über Geschmacksfragen entscheiden.
Wenn es auch kaum möglich ist zu entscheiden, was eine gute Ideologie ist – jedenfalls nicht ohne Rückgriff auf wiederum subjektive Wertentscheidungen –, so gibt es doch objektive Kriterien dafür, was eine schlechte ist:
Schlecht ist sie erstens, wenn sie an ihren eigenen Maßstäben scheitert, und dies nicht im Sinne der bloß unvollkommenen Verwirklichung ihrer Ideale, sondern im Sinne der Verwirklichung ihres Gegenteils. Der Marxismus, sofern man ihn als politische Handlungsanleitung versteht, ist nicht durch die liberale oder konservative Kritik an ihm widerlegt worden, sondern dadurch, dass er das Gegenteil von dem bewirkte, was er zu bewirken beanspruchte: Er hatte sich explizit das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen und das Absterben des Staates zum Ziel gesetzt, beim Versuch seiner Verwirklichung aber ein System hervorgebracht, in dem alles Mögliche abstarb, nur eben nicht der Staat, der ganz im Gegenteil zu einem System totaler Herrschaft ausgebaut wurde. Eine solche Ideologie ist offensichtlich defekt.
Ob eine Ideologie schlecht ist, erkennt man ferner daran, ob die Gesellschaft den Versuch ihrer Verwirklichung überlebt oder nicht. Es geht nicht um die Entscheidung zwischen Salami und Leberwurst, sondern um die zwischen einer Salami und einem Knollenblätterpilz. Es mag durchaus sein, dass ein Knollenblätterpilz besser schmeckt als eine Salami – ich weiß es nicht, weil ich noch nie einen gekostet habe –, trotzdem kann ich sagen, dass er ganz objektiv eine schlechte Speise ist, weil man seinen Verzehr nicht überlebt.
So banal das alles klingen mag, es handelt sich um die Sorte Binsenweisheit, die gerade ihrer Banalität wegen übersehen wird. Wenn es nämlich so scheint, als sei die Entscheidung für diese oder jene Ideologie mehr oder weniger Geschmackssache, so ist bereits die Tatsache, dass es so scheint, im höchsten Maße besorgniserregend: Daran lässt sich nämlich ablesen, dass politische Debatten sich nur noch um die Frage drehen, wie die Gesellschaft gestaltet werden sollte, nicht aber darum, wie sie überhaupt gestaltet werden kann, ohne unterzugehen. Dass sie nicht untergeht, gilt als Selbstverständlichkeit.
Besorgniserregend ist dies deshalb, weil die Geschichte weitaus mehr Beispiele für Staaten, Völker und Kulturen kennt, die untergegangen sind, als für solche, die überlebt haben. Wenn wir heute glauben, dagegen immun zu sein und den Stein der Weisen entdeckt zu haben, so zeugt dies, wie ich fürchte, von jener Sorte Hochmut, die vor dem Fall kommt.
Dabei ist dieser Hochmut zunächst nicht mehr als der berechtigte Stolz auf die Errungenschaften der westlichen Zivilisation: Keine andere der großen Zivilisationen hat ein vergleichbares Maß an wissenschaftlicher Erkenntnis, technischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wohlstand, persönlicher Freiheit hervorgebracht, und in keiner anderen ist die Teilhabe an diesen Errungenschaften so allgemein wie in den Ländern Europas und Nordamerikas. Und dieser Fortschritt scheint noch längst nicht an sein Ende gekommen, im Gegenteil: Die Leistungen dieser Zivilisation werden immer atemberaubender. Unsere Zivilisation gleicht einem kühn konstruierten Wolkenkratzer, der ständig ausgebaut wird: immer höher, immer schöner, immer geräumiger, immer raffinierter, immer luxuriöser.
Einsturzsicher ist er deswegen noch lange nicht – so wenig, wie die Titanic unsinkbar war. Die Statik auch des eindrucksvollsten Bauwerks hängt davon ab, ob die Fundamente intakt sind. Ich werde in diesem Buch die These vertreten, dass dies nicht der Fall ist, mehr noch: dass der Wolkenkratzer „westliche Zivilisation“ mit Material ausgebaut wird, das direkt dem Fundament entnommen ist, und dass er einstürzen wird, wenn dies nicht aufhört.
Dass es geschieht und nur von Wenigen bemerkt wird, hat mit einer Ideologie zu tun, die nur den Blick nach oben erlaubt, nicht aber den nach unten; die nur fragt, wohin wir wollen, aber nicht, woher wir kommen; die nur die Dynamik kennt, nicht die Statik; gleichsam eine Ideologie von Architekten, die als Studenten genau jene Vorlesungen geschwänzt haben, in denen es um das Thema „Fundamente“ ging.
Dabei verfügen unsere Gesellschaften mit dem Begriff der Nachhaltigkeit durchaus über ein Prinzip, das gerade darauf abzielt zu verhindern, dass sie sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Nachhaltig ist eine Wirtschafts- und Lebensweise dann, wenn sie nicht mehr Ressourcen verbraucht, als sie erzeugt.
Der Verbrauch fossiler Energieträger etwa erfüllt dieses Kriterium nicht, deswegen bauen wir den Anteil erneuerbarer Energien aus. Entwicklungshilfe in Gestalt von Lebensmittellieferungen ist nicht nachhaltig, weil sie die örtliche Landwirtschaft ruiniert, deswegen gilt die Hilfe zur Selbsthilfe als Königsweg der Entwicklungshilfe. Eine ausufernde Staatsverschuldung, und überhaupt jede Verschuldung, die nicht auf die Finanzierung rentabler Investitionen gerichtet ist, ist ebenfalls nicht nachhaltig, deswegen versuchen unsere Politiker, sie einzudämmen. Zumindest behaupten sie das.
Geburtenziffern unterhalb der zur Bestandserhaltung statistisch erforderlichen 2,1 Kinder pro Frau sind nicht nachhaltig, weil sie über kurz oder lang zum Verschwinden der Gesellschaft führen, die sich diese niedrigen Geburtenraten leistet. Tatsächlich weisen praktisch alle westlichen Gesellschaften diese auf lange Sicht selbstmörderischen Geburtenraten auf. Und das bedeutet, dass unsere Lebensweise nicht nachhaltig ist.
Mancher wird nun einwenden, dass man die fehlenden Geburten ja durch Einwanderung wettmachen könne. Ich werde in diesem Buch noch in aller gebotenen Ausführlichkeit auf diesen denkbaren Einwand eingehen. Hier jedoch kann ich bereits festhalten, dass dieser Einwand, selbst wenn er zuträfe, kein Argument gegen die These ist, unsere Lebensweise sei nicht nachhaltig; denn allein die schiere Tatsache, dass die westlichen Völker sich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren, sondern beim gegenwärtigen Stand der Dinge darauf angewiesen sind, ihre Defizite durch Import von Menschen auszugleichen, zeigt, dass unsere Lebensweise nicht verallgemeinerbar, sondern auf die Existenz einer Außenwelt angewiesen ist, die anders lebt als wir. Lebte die Menschheit so wie wir, sie würde aussterben.
Für das Thema dieses Buches von Belang ist zunächst die Frage nach den Ursachen: Ist die demographische Krise ein isolierbares Phänomen, das gegebenenfalls durch technokratische Eingriffe zu lösen wäre, etwa durch eine bessere Familienpolitik, höheres Kindergeld und dergleichen mehr?
Oder stellt sie bloß die Spitze des Eisbergs dar, also den sichtbaren und daher nicht zu leugnenden Kulminationspunkt einer Gesellschaftskrise, die in eben diesem Phänomen gipfelt, ohne sich in ihm zu erschöpfen? Sollte dies der Fall sein, so steht der gesamte Funktionsmodus unserer Gesellschaft auf dem Prüfstand, einschließlich der Ideologien, auf die er sich beruft.
Zumindest dies ist jedenfalls deutlich: Indem wir leben, wie wir leben, üben wir ein Privileg im klassischen Sinne aus: Nur eine Minderheit der Menschheit kann leben wie wir, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Mehrheit strukturell davon ausgeschlossen ist. Unsere Lebensweise ist in diesem Sinne parasitär.
Das muss freilich per se nicht bedeuten, dass sie nicht ad infinitum weitergeführt werden könnte; Parasiten sind unter Umständen so langlebig wie ihre Wirte. Es stellt sich aber die Frage, ob dies hier der Fall ist; ob nicht vielmehr die Mittel, mit denen wir versuchen, die Defizite unserer Lebensweise auszugleichen (also zum Beispiel Geburtendefizite durch Einwanderung) zu Folgeproblemen führen, die ihrerseits diese Lebensweise auf die Dauer unmöglich machen.
Wenn ich sage, unsere Gesellschaft lebe nicht nachhaltig, sondern nach Prinzipien, die zu ihrem Verschwinden führen, dann muss ich angeben können, was ich unter der Gesellschaft und ihrem Verschwinden verstehe. Zwei verschiedene Auffassungen von „Gesellschaft“ kommen hier in Betracht:
• einmal die Gesellschaft als Solidarverband benennbarer konkreter Personen, der sich im Zeitverlauf entwickelt, indem einige wegsterben oder sonst ausscheiden, andere hineingeboren werden oder auf andere Weise beitreten, der aber als Solidarverband seine Identität behält und von anderen gleichartigen Solidarverbänden abgrenzbar ist; Solidarverbände dieser Art sind insbesondere Völker;
• zum anderen Gesellschaft als abstraktes Prinzip, als Lebensweise, als Regelsystem, z.B. als westliche, liberale oder demokratische Gesellschaft.
Plastischer formuliert: Gleicht das, was ich mir unter einer „Gesellschaft“ vorstelle, einer Familie, in die man normalerweise hineingeboren wird (in die man aber im Ausnahmefall auch einheiraten und von der man adoptiert werden kann), bei der ich zu jedem gegebenen Zeitpunkt angeben kann, wer dazugehört und wer nicht, und die eine Wir-Gruppe darstellt?
Oder gleicht es einem Theaterstück, das an jedem denkbaren Ort aufgeführt werden kann und das auch dann dasselbe bleibt, wenn die Besetzung wechselt? Das also so lange „unsterblich“ ist, wie genug Schauspieler bereitstehen, die die Rollen ihrer Vorgänger übernehmen können?
Auf den ersten Blick handelt es sich um eine bloß subjektiv entscheidbare Wert- oder Geschmacksfrage. Dem einen mag dann wichtig sein, dass zum Beispiel das deutsche Volk als historisch gewachsener und sich entwickelnder Solidarverband erhalten bleibt. Dem anderen geht es darum, dass in dem Land, das man üblicherweise „Deutschland“ nennt (das man aber seiner Meinung nach ebenso gut anders nennen könnte, ja sogar sollte, damit das Missverständnis vermieden wird, es handele sich womöglich um das Land der Deutschen), bestimmte Spielregeln gelten, zum Beispiel Demokratie, persönliche Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, die Ächtung von Gewalt, das Recht auf Nacktbaden oder Schwulsein und dergleichen mehr, unabhängig davon, ob die, die in hundert Jahren dort leben und diese Prinzipien respektieren, mit den heutigen Bewohnern jener Fläche namens „Deutschland“ irgendetwas zu tun haben.
Die Frage, welcher der beiden Gesellschaftsbegriffe vorzuziehen ist, entzieht sich in dem Maße der willkürlichen subjektiven Entscheidung, wie sich herausstellt, dass zwischen beiden Arten von Gesellschaft ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Wenn man etwa zeigen könnte, dass das Regelsystem „Gesellschaft“ nur so lange aufrechterhalten werden kann, wie der Solidarverband „Gesellschaft“ existiert, und dass die Auflösung des Solidarverbandes oder seine Verdrängung durch einen anderen (oder mehrere andere) zugleich die Auflösung und Verdrängung seiner Prinzipien bedeutet, wäre die Frage objektiv entschieden; freilich erst dann.
Ich werde noch zeigen, in welchem Maße das Denken in abstrakten Prinzipien selbst Ursache und Teil der Krise ist, die eben dieses Denken erledigen wird.4 Zunächst begnüge ich mich mit dem Hinweis, dass jedes Abstraktum bereits begriffslogisch ein Konkretes voraussetzt, von dem abstrahiert wird. Man kann „Gesellschaft“ als ein System von Spielregeln auffassen, die zwischen Menschen gelten, und dabei von den Menschen selbst absehen, eben abstrahieren. Dies gehört zum Handwerkszeug von Soziologen und erleichtert deren Erkenntnisprozess: Man lässt einfach außer Betracht, was einen im Hinblick auf die jeweils konkrete Fragestellung nicht interessiert. Das heißt aber nicht, dass das, wovon man momentan absieht, deswegen nicht existieren würde oder nicht von Bedeutung wäre. Im Gegenteil wird es, gerade indem man davon abstrahiert, als existent, und sogar als konstant, vorausgesetzt. Wenn ich die Gesellschaft als Regelsystem analysiere, dann setze ich pragmatischerweise als Selbstverständlichkeit voraus, dass dieses System von den konkreten Menschen auch tatsächlich akzeptiert wird. Die Frage nach den Bedingungen, unter denen dies der Fall ist, unter denen also zum Beispiel Toleranz, Gewaltfreiheit, Gesetzestreue und dergleichen als Normen akzeptiert werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Mancher Leser mag solche Unterscheidungen – Gesellschaft als Solidarverband, Gesellschaft als Regelsystem, Gesellschaft als Abstraktum und als Konkretum – als typisch intellektualistische Haarspaltereien empfinden. Das ist doch klar, mag er sagen, dass mit einer „Gesellschaft“, die möglicherweise verschwindet, nur ein konkretes Volk gemeint sein kann – was denn sonst?
Dies ist der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes, der freilich in den Zentren der gesellschaftlichen Ideologieproduktion schon lange nicht mehr so genannt wird. Medien, Wissenschaft und Politik ziehen es vor, den landläufig zu Recht so genannten gesunden Menschenverstand als „den Stammtisch“ zu diffamieren. Der verächtliche Ton, mit dem dieses Wort ausgesprochen wird, bringt nicht nur ein beträchtliches Maß an Sozialdünkel zum Ausdruck, der denkbar schlecht zu den egalitären Postulaten linker Ideologie passt. Er impliziert auch, dass diejenigen, die sich so ausdrücken, eine Ideologie vertreten, die vom Volk (das sich deswegen als „Stammtisch“ abqualifiziert sieht) mehrheitlich abgelehnt wird.
Unglücklicherweise kann man Ideologien dieser Art mit dem gesunden Menschenverstand allein nicht widerlegen, jedenfalls nicht, wenn zur Ideologie gehört, das offen zutage Liegende als „Konstruktion“ abzutun. Ideologien widerlegt man nicht durch den gesunden Menschenverstand, sondern durch Ideologiekritik. Was der Unterschied ist?
Sagen wir es so: Wenn jemand aufgrund einer hochkomplizierten Theorie „beweist“, dass der Regen von unten nach oben fällt, dann ist das Ideologie. Wenn jemand – wie ich – diese Auffassung zu widerlegen versucht, indem er ihre innere Logik kritisch hinterfragt und aufgrund möglichst scharfsinniger Analyse zu dem Schluss kommt, der Regen falle wohl doch von oben nach unten, dann ist das Ideologiekritik. Wenn aber jemand die Frage einfach dadurch entscheidet, dass er die Augen aufsperrt: Das ist gesunder Menschenverstand!
Es ist wichtig zu sehen, in welchem Maße die hierzulande vorherrschenden Ideologien von der Delegitimierung des gesunden Menschenverstandes leben, wie sehr ihre Plausibilität also davon abhängt, dass die Menschen nicht die Augen aufsperren. Ich wende mich mit diesem Buch vor allem an diejenigen Mitbürger, denen man erfolgreich beigebracht hat, ihren Augen nicht zu trauen. An die, die es zum Beispiel fertigbringen, einen Journalisten noch ernst zu nehmen, der schreibt, ein Terroranschlag, bei dem der Täter „Allahu akbar“ ruft, habe selbstverständlich nichts mit dem Islam zu tun. Dabei ist dies nur ein Beispiel für die Absurditäten, die man uns täglich zu glauben zumutet, und nicht einmal das haarsträubendste.
Es sollte einen stutzig machen, wenn man aufgefordert wird, seinen Augen nicht zu trauen, und wenn eine ganze Industrie von Meinungsmachern darauf besteht, für irreal zu erklären, was Millionen von Menschen täglich als Realität wahrnehmen. Erinnern wir uns an die Sarrazin-Debatte: Ist die Hysterie nicht ein wenig verdächtig, mit der sogenannte Wissenschaftler Zweifel an ihren Erkenntnissen nicht mit Argumenten, sondern mit moralischer Denunziation quittierten? Führt eine solche Wissenschaft sich nicht selbst ad absurdum? Ist es nicht grotesk, dass die Ideologen, die ihren Mitbürgern unterstellen, sich von „Stereotypen“ und „Vorurteilen“ leiten zu lassen, dies selber in stereotypen Floskeln tun („Ressentiments“, „rechtsradikal“, „rassistisch“ etc.)? Dass sie stets und überall „Ressentiments“ wittern, wenn die Wirklichkeitsbeschreibung ihrer Mitbürger von ihrer eigenen abweicht, während ihre eigenen Ressentiments gegen eben diese Mitbürger aus jeder Zeile sprechen, die sie zu deren Verunglimpfung schreiben? Könnte es sein, dass sie die Diffamierung des Andersdenkenden nötig haben, weil es ihnen an Argumenten fehlt? Könnte es sein, dass sie die Frage, ob diese Andersdenkenden Recht haben, schon deswegen tabuisieren, weil sie die Antwort fürchten, die sie zwingen könnte, sich mit ihren eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen, statt mit denen, die sie ihren Mitbürgern unterstellen?
Dies nur als Denkanstoß. Fahren wir fort mit der Ideologiekritik.
Wir alle kennen den Kategorischen Imperativ: Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit als Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte. Und wir alle halten dieses Prinzip für einleuchtend. Es verbürgt einen fairen, gewaltfreien Interessenausgleich, und sofern wir davon ausgehen können, dass die meisten unserer Mitmenschen demselben Prinzip folgen, verbürgt es uns ein kalkulierbares, gesichertes soziales Umfeld, was uns wiederum ermutigt, uns ebenfalls gemäß dem Kategorischen Imperativ zu verhalten und dadurch unseren Teil dazu beizutragen, dieses Umfeld zu erhalten.
Gewiss sind im Einzelfall auch unangenehme Überraschungen möglich, wenn wir etwa einem Kriminellen begegnen, der sich gerade nicht an diesem Grundsatz orientiert. Aber solche Ausnahmen bestätigen die Regel, dass wir uns auf einem im Allgemeinen sicheren sozialen Boden bewegen, ähnlich wie ein Erdbeben uns nicht nachhaltig in unserem Vertrauen in die Festigkeit der Erde erschüttern würde.
Weil er so vernünftig und einleuchtend ist, gehen wir davon aus, dass der Kategorische Imperativ die ethische Grundlage jeder, zumindest aber jeder funktionierenden menschlichen Gesellschaft ist, und in einem abstrakten Sinne ist dies in der Tat auch der Fall; aber eben nur in einem abstrakten Sinne.
Wie kompliziert die Verwirklichung dieses einfachen Prinzips sein kann, können wir uns an einem Extrembeispiel klarmachen, an dem eines Terroristen. Scheinbar ist der Terrorist – egal für welche Ideen er kämpft – von der Ethik des Kategorischen Imperativs so weit entfernt wie nur möglich. Er selbst freilich würde argumentieren, dass er schließlich für das Wohl der Menschheit kämpfe, das durch die gesellschaftlichen Verhältnisse (welche auch immer er konkret im Auge haben mag) beeinträchtigt werde. Würden alle Menschen, so spräche unser hypothetischer Terrorist, derselben Maxime folgen wie er und sich einem gedachten Gesetz unterwerfen, das zum Kampf gegen diese Verhältnisse verpflichtet, so wären Glück und Wohl der Menschheit gesichert. Er wäre also durchaus der Ansicht, im Sinne des Kategorischen Imperativs zu handeln und könnte sogar darauf verweisen, dass sein Handeln besonders selbstlos sei, da er selber ja ebensogut seinen Privatvergnügungen frönen könnte, statt sich für das Wohl einer Menschheit zu opfern, die dieses Opfer unverständlicherweise gar nicht zu schätzen wisse.
Die Logik einer solchen Argumentation ist hieb- und stichfest. Offenbar genügt es für das Funktionieren der Gesellschaft nicht, dass die meisten – im Idealfall alle – ihrer Mitglieder sich in einem abstrakten Sinne am Kategorischen Imperativ orientieren; dies tut der Terrorist unter Umständen ebenso wie der ihn verfolgende Polizeibeamte. Vielmehr bedarf es auch noch eines zumindest grundlegenden Konsenses darüber, wie die allgemeinen Gesetze beschaffen sein sollten, als deren Grundlage die Maxime des eigenen Handelns dienen kann. Der Imperativ setzt diesen Konsens voraus. Er sagt nichts darüber aus, wie er zustande kommt oder gestiftet werden kann.
Ein Konsens ist etwas, was naturgemäß zwischen Menschen bestehen muss, und zwar zwischen konkreten Menschen. Er muss nicht zwangsläufig die gesamte Menschheit umfassen, um seine pazifizierende Funktion zu erfüllen; es genügt, wenn er zwischen den Menschen besteht, um deren Zusammenleben es jeweils geht. Das heißt, er muss innerhalb einer Gruppe bestehen, nicht unbedingt zwischen ihnen. Dies impliziert, dass verschiedene Gruppen von Menschen sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben können, welche allgemeinen Gesetze der Gesellschaft zugrunde liegen und daher als Maxime die Handlungen des Einzelnen leiten sollten.
Es hilft nichts, den daraus resultierenden Problemen dadurch ausweichen zu wollen, dass man einen menschheitsweiten Konsens einfach als gegeben unterstellt. Kulturen sind nicht nur, aber auch nicht zuletzt, Konsensgemeinschaften, die unter jeweils konkreten und unwiederholbaren Voraussetzungen historisch gewachsen sind und einer je spezifischen inneren Logik folgen. Eine multikulturelle Gesellschaft ist daher per definitionem eine, in der die Orientierung am Kategorischen Imperativ, sofern er abstrakt gedacht wird, unter Umständen nicht geeignet ist, das elementare Problem menschlichen Zusammenlebens zu lösen. Dies wird nämlich vor allem dann nicht gelingen, wenn die Gerechtigkeits-, Wahrheits- und Moralvorstellungen der verschiedenen Kulturen, die in ein und demselben Land eine Gesellschaft bilden sollen, miteinander unvereinbar sind.
Damit ist bereits angedeutet, wie tief der Konsens reichen und welche Dimensionen er umfassen muss, damit er als Grundlage der Gesellschaft fungieren kann: nämlich mindestens die Dimensionen Recht/Unrecht, Wahr/Unwahr, Gut/Böse. Die entsprechenden Auffassungen erwirbt jeder einzelne Mensch im Sozialisationsprozess und verinnerlicht sie als kulturelle Selbstverständlichkeiten.
Mancher mag an dieser Stelle einwenden, einen so tief reichenden Konsens müsse es doch gar nicht geben; es genüge vielmehr – erstens –, dass man nicht töte, nicht stehle, nicht betrüge, und dies sei doch – zweitens – universell eine Selbstverständlichkeit.
Nun, beide Voraussetzungen sind falsch. Wer nicht tötet, nicht stiehlt und nicht betrügt, kann sehr wohl trotzdem dem Gemeinwohl schaden: indem er zum Beispiel Intoleranz gegenüber Andersdenkenden propagiert; indem er sich als Wähler ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl an den Partikularinteressen einer Klasse oder ethnischen Gruppe oder ganz einfach an seinem eigenen Bedürfnis nach staatlicher Alimentation orientiert; indem er seinen Söhnen beibringt, einer Lehrerin, die erstens eine Frau und zweitens eine Ungläubige sei, müsse man nicht gehorchen. Es gibt weitaus mehr Möglichkeiten, dem Gemeinwohl zu schaden, als es in einer freien Gesellschaft gesetzliche Verbotstatbestände geben kann.
Aber selbst das Verbot des Tötens, Stehlens oder Betrügens gilt nicht einfach universell – jedenfalls nicht gegenüber allen Menschen gleichermaßen. Der Kategorische Imperativ funktioniert als Grundlage der Gesellschaft nur so lange, wie als Konsens unterstellt werden kann, dass Rechte und Pflichten innerhalb einer Gesellschaft stets wechselseitiger Natur sind. Man kann es auch umgekehrt ausdrücken: Die Gesellschaft ist der Bereich, innerhalb dessen Rechte und Pflichten grundsätzlich reziprok sind. Eine Ethik wie die islamische dagegen definiert als Bereich der Reziprozität, d.h. als Gesellschaft, ausschließlich die islamische Gemeinschaft. Das Tötungsverbot etwa gilt absolut nur für Moslems untereinander; „Ungläubige“ dagegen können, wenn es der Verbreitung des Islams dient, sehr wohl getötet werden, zumindest unter bestimmten Voraussetzungen. Und auch das Stehlen und Betrügen erfährt weitaus geringere soziale Missbilligung, wenn die Opfer keine Moslems sind.
Diese Ethik funktioniert als Grundlage einer moslemischen Gesellschaft ebenso gut wie andere Ethiken als Grundlage anderer Gesellschaften. Sie stellt auch keineswegs einen Verstoß gegen die Regel dar, dass die Ethik auf dem Kategorischen Imperativ beruhen müsse, um als Basis der Gesellschaft zu dienen. Die Maxime, der der Moslem folgt, ist der Gehorsam gegenüber Allah, und selbstverständlich kann und soll diese Maxime nach islamischer Auffassung als Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung dienen. Dies impliziert, dass der Nichtmoslem allein dadurch, dass er das ist, dass er also die Unterwerfung unter Allah verweigert, ein strafwürdiges Unrecht begeht, weswegen es eine Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten zwischen Moslems und Nichtmoslems aus islamischer Sicht ebensowenig geben kann wie aus unserer Sicht zwischen einem gesetzestreuen Bürger und einem Kriminellen.
Zu den genannten Dimensionen, über die ein Konsens bestehen muss, kommt also noch die Dimension Wir/Sie. Es muss Einigkeit darüber bestehen, wer zur Gesellschaft gehört und wer nicht, und es ist keineswegs universell anerkannt, dass die jeweils in einem Land Zusammenlebenden in diesem Sinne zur selben Gesellschaft gehören.
Wir sehen also, dass der Multikulturalismus im Grunde auf einem Etikettenschwindel basiert: Er setzt voraus, dass die verschiedenen Kulturen, deren „Diversität“ auch noch gefeiert und gefördert wird, in Wirklichkeit ein und dieselbe Kultur seien, zumindest in den Punkten, auf die es wesentlich ankommt, und dass Unterschiede demgemäß oberflächlicher, folkloristischer Natur seien.
Mit Respekt vor oder Interesse an fremden Kulturen hat eine solche Haltung nichts zu tun. Manch einer, der sich viel auf seine Toleranz und Weltläufigkeit zugute hält und andere als intolerant oder nationalistisch diffamieren zu dürfen glaubt, lebt in Wahrheit im Kokon eines kulturellen Autismus, der sich auf die Eigenart fremder Kulturen nicht – oder nur zum Zwecke oberflächlicher Affirmation – einlassen kann und will. Er glaubt, alle Menschen auf der Welt seien von Natur aus so wie er, der postmoderne, grünwählende Europäer, und er ist fest überzeugt, dass sie dieses ihr „wahres“ Wesen spätestens dann erkennen würden, wenn sie lange genug unter dem Schutz von Antidiskriminierungsgesetzen gelebt hätten.
Die Unterscheidung „Wir/Sie“ ist aber noch in anderer Hinsicht entscheidend für das Funktionieren, ja sogar und vor allem das Überleben einer Gesellschaft. Es muss nicht nur Konsens darüber bestehen, dass alle Menschen innerhalb desselben sozialen Gefüges zu dem „Wir“ gehören, innerhalb dessen das Prinzip der Wechselseitigkeit gilt – es muss auch Konsens darüber bestehen, dass dieser Konsens bestehen muss.
Was heißt das? Bis jetzt haben wir uns mit den Problemen beschäftigt, die daraus resultieren, dass einerseits in westlichen Gesellschaften auch Einwanderer in das „Wir“ der wechselseitigen Rechte und Pflichten integriert werden sollen, dass es aber andererseits Einwanderergruppen gibt (speziell die moslemischen), die eine solche Integration ablehnen. Jetzt aber geht es um ein anderes Problem, nämlich darum, dass innerhalb der einheimischen Völker kein Konsens darüber besteht, dass es so etwas wie ein „Wir“ überhaupt geben müsse, das sich vom „Sie“ der nicht Dazugehörigen abgrenzt.
Einer verbreiteten Denkrichtung zufolge sollte nämlich die gesamte Menschheit das „Wir“ darstellen, innerhalb dessen Reziprozität gefordert ist, und dies ausdrücklich im Unterschied und Gegensatz zur Bejahung einer „Wir“-Gruppe unterhalb dieser Ebene. Es geht also nicht etwa darum, dass einen primär das Wohl der eigenen Gesellschaft, sekundär aber auch das Wohl etwa von hungernden oder unterdrückten Menschen in Afrika interessiert. Vielmehr soll man überhaupt keine Prioritäten dieser Art setzen, sondern mit allen Menschen gleich solidarisch sein. Das Hemd soll einem nicht näher sein als der Rock; es soll, um im Bilde zu bleiben, Jacke wie Hose sein, ob der Nächste mein Nachbar ist oder zehntausend Kilometer entfernt lebt.
In der Praxis scheitert naturgemäß die strikte Verwirklichung einer solchen Ethik an den Tücken der Realität, aber als normative Hintergrundannahme liegt sie der Berichterstattung der Medien, den Fragestellungen der Wissenschaft und den Entscheidungen der Politik zugrunde und wird über diese Kanäle ins Volk gespült.
Dies führt dann dazu, dass es geradezu als unmoralisch gilt, Einwanderungswillige abzuweisen, egal ob dies generell oder aber nach bestimmten Kriterien geschieht; dass ein Bekenntnis zum einheimischen Volk selbst denen nicht abverlangt wird, die sich einbürgern lassen; dass man als Menschenrechtsaktivist gilt, wenn man gegen die Überfremdung Tibets protestiert, aber als Rechtsradikaler, wenn man dasselbe für das eigene Land tut; dass wir eine „Gesellschaft für bedrohte Völker“ haben – zweifellos eine verdienstvolle Vereinigung –, die sich mit einem Volk nicht beschäftigt, das bei Fortgang der laufenden Trends das Ende des Jahrhunderts nicht oder nur als bedrängte Minderheit im eigenen Land erleben wird, nämlich dem eigenen.
Ja, aber ist das denn nicht eine wunderbare Idee, dass alle Menschen Brüder werden – denn darauf läuft der Gedanke einer die gesamte Menschheit umfassenden „Wir“-Gruppe ja hinaus? Vielleicht wäre es eine – wenn sie sich denn verwirklichen ließe. Wenn also Menschen auf der ganzen Welt ihre in Jahrhunderten gewachsenen, über viele Generationen verinnerlichten und durch sozialen Druck aufrechterhaltenen Normen- und Wertesysteme über Bord werfen und durch eine weltweit gültige Einheitskultur, Einheitsmoral, Einheitswahrheit und Einheitsreligion ersetzen würden oder könnten. Also ein Projekt verfolgen würden, das nicht mehr und nicht weniger als ein globales Umerziehungsprogramm voraussetzt.
Dass dies ein totalitäres Unternehmen sein könnte und in der Tat auch eines ist, dass also die „wunderbare Idee“ womöglich gar nicht so wunderbar ist, werde ich noch zeigen.5 An dieser Stelle kommt es aber zunächst darauf an, dass dieser Traum von der „einen Menschheit“ außerhalb der westlichen Welt von praktisch niemandem geträumt wird, sondern dass die Orientierung am Wohl des eigenen Volkes, der eigenen Kinder, an den Werten der eigenen Kultur und des eigenen Glaubens, wenn auch vielleicht in unterschiedlicher Intensität, in allen anderen Kulturkreisen so selbstverständlich die Grundlage der gesellschaftlich akzeptierten Ethik ist, wie sie es von Anbeginn der Menschheit immer gewesen ist und es bis vor ungefähr fünfzig Jahren auch im Westen war.
Die entscheidende Frage ist, was geschieht, wenn einzelne Gesellschaften sich als solche abschaffen, indem sie die Existenz einer alle Menschen umfassenden Weltgesellschaft mit universeller Reziprozität unterstellen, andere aber nicht; wenn sie also ihre Werte und ihr Verhalten nach einer Fiktion richten (von der im Grunde jeder weiß, dass sie eine ist), dabei aber mit anderen Gesellschaften konfrontiert werden, die diese Fiktion keineswegs teilen und sich erst recht nicht von ihr leiten lassen.
Was mit der Unterstellung einer allumfassenden Menschheitssolidarität ignoriert wird, ist die Binsenweisheit, dass Solidarität auf Wechselseitigkeit basiert. Sie ist etwas grundlegend anderes als Altruismus, bei dem man gibt, ohne zu empfangen – eine Haltung, die nur von wenigen Menschen dauerhaft durchgehalten wird und deshalb unmöglich als Grundlage der Gesellschaft taugen kann. Solidarität ist reflektierter Egoismus, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei dem allerdings nicht unmittelbar Leistung gegen Leistung getauscht wird, sondern der Einzelne sich solidarisch mit einer abstrakten Gemeinschaft zeigt. Er tut dies in der Erwartung, dass er dieselbe Haltung bei den anderen Mitgliedern dieser Gemeinschaft als Normalfall unterstellen und deshalb davon ausgehen kann, bei Bedarf seinerseits von der Solidarität der anderen zu profitieren. Gegenüber Menschen, an die er diese Erwartung realistischerweise – und spätestens aufgrund negativer Erfahrungen – nicht richten kann, wird er sich seinerseits nicht solidarisch zeigen, und er wird diese Solidarität auch seiner eigenen Gemeinschaft verweigern, wenn diese zu viele Schwarzfahrer aufnimmt, also Menschen, die Solidarität in Anspruch nehmen, ohne sie zu honorieren. Dies wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn diese Menschen ihrerseits einer anderen Gemeinschaft mit Anspruch auf dieselbe Art von Solidarität angehören. Eine Solidargemeinschaft, die solche Schwarzfahrer nicht auszuschließen versteht, hört deshalb über kurz oder lang auf zu existieren.
„Dabei gehört kaum ein Mensch bloß einer Solidargemeinschaft, bloß einem System gegenseitiger Solidaritätserwartungen an. Diese Systeme bauen vielmehr aufeinander auf, erfüllen je spezifische Funktionen und entlasten einander, wobei die Intensität der Solidaritätserwartungen mit zunehmender Größe des Systems tendenziell abnimmt:
Meiner Familie bin ich stärker verpflichtet als meinem Land, meinem Land stärker als meinem Kulturkreis und diesem wiederum stärker als der Menschheit insgesamt. Auf jeder Ebene ist mir das sprichwörtliche Hemd also näher als der Rock.
Dabei können diese Systeme einander nicht substituieren: Die Familie kann nicht die Aufgaben der Nation übernehmen und die Nation nicht die der Familie; die Menschheit als ganze wiederum kennt zwar auch Solidarität – wir spenden für Flutopfer in Bangladesch – aber die ist nur schwach ausgeprägt – wir spenden als Nation vielleicht 20 Millionen, aber eben nicht 20 Milliarden, wie wir es bei vergleichbaren Katastrophen im eigenen Land täten –, weswegen die Menschheit nicht die Nation ersetzen kann.
Es ist wichtig zu sehen, dass die Solidarität innerhalb eines solchen Systems ihre notwendige Kehrseite im Ausschluss aller nicht dazu gehörenden Menschen findet: Wer seinem Nachbarn beim Tapezieren hilft, weil er davon ausgeht, dass dieser Nachbar sich irgendwann revanchieren wird, ist noch lange nicht bereit, jedermann beim Tapezieren zu helfen. Oder, ins Politische gewendet: Die Westdeutschen, die – nicht ohne Murren, aber letztlich doch anstandslos – eine Billionensumme aufbrachten, um Ostdeutschland auf die Beine zu helfen, hätten es zu Recht als absurde Zumutung zurückgewiesen, dasselbe für Polen oder Russland zu tun.“6
Die Hoffnung, die, meist unausgesprochen, dem mutwilligen Leugnen oder Ignorieren solch einfacher Zusammenhänge zugrunde liegt, lautet, dass die Utopie der Weltgesellschaft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sei, nach dem Motto: Wenn wir Alle ans Herz drücken, drücken sie uns ebenfalls ans Herz. Man erwartet also von Menschen aus anderen Kulturkreisen, dass sie aufhören sollen, sich mit ihrer eigenen Gemeinschaft zu identifizieren, nicht indem wir ihnen die Zugehörigkeit zu unserer eigenen als Alternative anbieten, sondern indem wir sie auffordern, die „Menschheit“ als ihre Gemeinschaft anzusehen.
Dies wird jedenfalls implizit dort ausgesagt, wo man Einwanderern signalisiert, sie könnten ruhig doppelte, multiple oder hybride Identitäten hegen, was im Klartext bedeutet, dass sie mit dem deutschen Volk nicht solidarisch zu sein brauchen (es aber theoretisch auch mit keinem anderen sein sollen), da wir Deutschen selbst es ja auch nicht seien und als Glied einer fiktiven Solidargemeinschaft namens „Menschheit“ jede Bevorzugung des Eigenen gegenüber dem Fremden schon aus Prinzip ablehnten. Ein Volk, das tatsächlich so denken würde, wie unsere Eliten uns suggerieren möchten, könnte im Normalbetrieb noch eine Weile nominell fortexistieren. Seine faktische Nichtexistenz als Volk, und das heißt definitionsgemäß als Solidargemeinschaft, würde sich spätestens im Ernstfall offenbaren, also dann, wenn sein Überleben von der Loyalität und Opferbereitschaft seiner Mitglieder abhängt. Es steht zu befürchten, dass die ideologisch postulierten und legitimierten „doppelten“, „multiplen“ und „hybriden“ Identitäten mancher Einwanderer sich in einem solchen Fall als Bemäntelung von jeweils höchst eindeutigen ethnischen Loyalitäten entpuppen würden. Von Loyalitäten, die alles andere als hybrid sind und jedenfalls nicht dem deutschen Volk gelten.