Die Liebe in deinen Spuren - Nancy Salchow - E-Book

Die Liebe in deinen Spuren E-Book

Nancy Salchow

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Beschreibung

Zwei Romane in einem Band: Das Haus der Luftblumen: Wäre die Liebe ein Mensch, dann vermutlich ein übergewichtiger kleiner Mann, der mit Pfeil und Bogen auf die Herzen von Menschen schießt. Wäre sie ein Ort, dann wahrscheinlich ein Haus. Das Haus, in dem ich lebe. Als professionelle Songtexterin könnte Tina es sich aussuchen, welche Aufträge sie annimmt. Trotzdem gelingt es ihr nicht, das Angebot von Piets Band abzulehnen – Piet, der Mann, der einst ihr Herz gebrochen und inzwischen ein Kind mit einer Anderen hat. In einem Ferienhaus an der Ostsee, ihrer alten Heimat, versucht sie, in völliger Abgeschiedenheit an den Texten für das Album der Band zu arbeiten. Doch beim Schreiben suchen Tina seltsame Ahnungen heim. Fast scheint es, als läge eine Energie in der Luft, die all die Emotionen auffängt, die je von Menschen in das kleine Haus am Meer getragen wurden. Und während die Geschichten des Hauses unerklärlichen Einfluss auf Tinas Texte nehmen, überkommt sie eine unfassbare Erkenntnis: Es ist die Liebe höchst selbst, mit der sie unter einem Dach lebt. Und die hat einiges mit ihr vor. Das Glück im Augenwinkel: Fast ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Emma kehrt Simon in das gemeinsame Haus zurück, um sich endlich wieder dem Leben zu stellen. Nachdem er bei seiner Schwester und deren Familie neue Kraft gesammelt hat, macht ihm die Konfrontation mit einem Haus voller Erinnerungen nur allzu schmerzhaft seinen Verlust bewusst. Als ihm zufällig das letzte Buch, das Emma vor ihrem Tod gelesen hat, in die Hände fällt, macht er eine seltsame Entdeckung. Eine fremde Frau scheint über eine ganz bestimmte Seite des Buchs mit ihm verbunden zu sein. Ihre Botschaften zeugen von einem ebenso schweren Schicksal wie seinem. Doch was hat die Seite 139, die letzte Seite, die seine Frau gelesen hat, mit der ominösen Fremden zu tun? Und wie schafft er es, ihr zu antworten? Zum ersten Mal seit langem schöpft er neue Hoffnung. Durch eine Frau, die er nicht kennt und die zu finden unmöglich scheint …

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Nancy Salchow

Die Liebe in deinen Spuren

Liebesroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Haus der Luftblumen – Über das Buch

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Das Glück im Augenwinkel – Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Das Haus der Luftblumen – Über das Buch

„Wäre die Liebe ein Mensch, dann vermutlich ein übergewichtiger kleiner Mann, der mit Pfeil und Bogen auf die Herzen von Menschen schießt.

Wäre sie ein Ort, dann wahrscheinlich ein Haus.

Das Haus, in dem ich lebe.“

Als professionelle Songtexterin könnte Tina es sich aussuchen, welche Aufträge sie annimmt. Trotzdem gelingt es ihr nicht, das Angebot von Piets Band abzulehnen – Piet, der Mann, der einst ihr Herz gebrochen und inzwischen ein Kind mit einer Anderen hat. In einem Ferienhaus an der Ostsee, ihrer alten Heimat, versucht sie, in völliger Abgeschiedenheit an den Texten für das Album der Band zu arbeiten. Doch beim Schreiben suchen Tina seltsame Ahnungen heim. Fast scheint es, als läge eine Energie in der Luft, die all die Emotionen auffängt, die je von Menschen in das kleine Haus am Meer getragen wurden. Und während die Geschichten des Hauses unerklärlichen Einfluss auf Tinas Texte nehmen, überkommt sie eine unfassbare Erkenntnis: Es ist die Liebe höchst selbst, mit der sie unter einem Dach lebt. Und die hat einiges mit ihr vor.

Widmung

In Liebe für die zwei tapfersten Kämpfer, die ich kenne

Kapitel 1

Es war nicht meine Idee, das mit dem Ferienhaus. Im Grunde war es nicht einmal meine Idee, in absehbarer Zeit wieder mit der Songschreiberei anzufangen. Piet hatte mich dazu gedrängt, und nach endlosen Diskussionen, die er mehr mit mir als ich mit ihm geführt hatte, war ich schließlich weich geworden.

„Niemand kann unsere Musik so mit Leben füllen, wie du es tust, Tina.“ Das war sein Leitspruch, die immer wiederkehrende Lobeshymne, mit der er mich selbst jetzt noch, nach allem, was vorgefallen war, einzulullen verstand.

Sein Vorschlag, die Songtexte getrennt von der Band zu schreiben (wobei es für mich vor allem darauf ankam, sie getrennt von ihm zu schreiben), war schließlich der ausschlaggebende Punkt gewesen, seinem Drängen nachzugeben.

„Du weißt, dass wir dir vertrauen“, hatte er gesagt. „Deine Worte werden zu unseren, wenn wir sie erst eingesungen haben. Ganz gleich, worüber du schreiben willst, es wird das Richtige sein. Niemand kennt uns so gut wie du. Und wenn du weit ab von deinem üblichen Umfeld schreibst, wird es dir vielleicht leichter fallen, das Ganze als Neuanfang zu betrachten. Nur du, unsere Musik, und deine Worte.“

Unsere Musik. Das war im Grunde nichts weiter als ein Stick mit textlosen Kompositionen, den er mir bei unserem letzten Treffen in die Hand gedrückt hatte. Musik, die darauf wartete – so nannte Piet es zumindest –, durch meine Worte ein Gesicht zu bekommen.

Früher, anderthalb Jahre war das inzwischen her, hatte ich in der Regel im Probenraum der Band an den Texten gearbeitet. Die Musik, die sie zeitgleich komponierten und ausarbeiteten, beflügelte mich zu ungeahnten Fähigkeiten. Mit jedem Akkord, jedem Tonwechsel schäumten die Ideen in mir regelrecht über. Piets Anwesenheit tat den Rest. Nie zuvor hatte jemand mein Talent so zu schätzen gewusst, wie die Jungs es taten. Nie zuvor war meine Leidenschaft für die Musik so auf ihrem Höhepunkt.

Und nie zuvor hatte eine einzige Nachricht meine Leidenschaft von einem Tag auf den anderen wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht.

Aber das war Vergangenheit. Zumindest bemühte ich mich mit aller Kraft, den Erinnerungen den Zugang zur Gegenwart zu verwehren.

Ich verdrängte die trüben Gedanken, während ich meine Reisetasche vor dem Treppensims auf den Boden fallen ließ.

Piet hatte recht. Hier hatte ich meine Ruhe. Hier war ich allein. So wie ich es wollte. Und doch erschien mir die Tatsache in diesem Moment eher einschüchternd als beruhigend. Ich hatte das Haus für vier Wochen gemietet, eine Zeitspanne, die mir anfangs sogar eher kurz vorgekommen war. Jetzt allerdings stand ich in der offenen Tür des Ferienhauses, das im Katalog mit dem vielversprechenden Titel „Fliederresidenz“ angepriesen wurde, und fragte mich, wie ich auch nur einen einzigen Tag in dieser Einsamkeit überstehen sollte. Ganz in der Nähe, nur drei Dörfer weiter, war ich aufgewachsen. Die ersten vierzehn Jahre meines Lebens hatte ich dort verbracht, und doch kam ich mir in Boiensdorf, diesem verschlafenen kleinen Ort an der Ostsee, wie in einem Asyl für Ausgestoßene vor. Sicher war es der richtige Platz, um Familienurlaub zu machen, zu entspannen oder romantische Tage zu zweit zu verbringen, aber was genau war es, das ich hier zu finden hoffte? Ablenkung? Ruhe? Wie konnte ich an einem Ort Ruhe suchen, wenn ich selbst die Ruhelosigkeit ständig bei mir trug? Und wie sollte es möglich sein, mich von den Gedanken an Piet abzulenken, wenn der Grund für meinen Aufenthalt die Arbeit für sein Projekt war? Für seine Band, sein Album!

Durch die offene Tür drang eine milde Maibrise herein und durchzog, einem tiefen Atemzug ähnlich, den Eingangsbereich des Hauses. Ich nahm das Rauschen des nahen Wassers wahr, hier und da den dumpfen Schrei einer Möwe. Eine Idylle, wie ich sie herbeigesehnt hatte, und doch kam sie mir in diesem Moment bedrückender vor als jeder Tag, den ich in den letzten Jahren in der Stadt verbracht hatte.

Mit einem leichten Fußtritt schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich auf die kleine Rattanbank fallen. Wie die Wände war auch die Einrichtung in dezenten Weiß- und Lavendeltönen gehalten. Zwischen der Sitzbank und einem Sessel stand ein kleiner runder Tisch, darauf eine gläserne Vase mit frischem Flieder, weiße und violette Blüten, die den Raum mit einer Ahnung von Sommer erfüllten.

Und wenn es doch eine blöde Idee gewesen war, der Arbeit am Album zuzustimmen? Nach mittlerweile vier Jahren als professionelle Songtexterin konnte ich es mir schließlich aussuchen, welche Aufträge ich annahm und auf welche ich lieber verzichtete.

Doch noch bevor ich die Frage zu Ende denken konnte, wusste ich, dass es keine Alternative gab. Ganz gleich, was zwischen Piet und mir geschehen war, egal, welche Illusionen im Laufe der letzten Monate zerbrochen waren – ich musste es tun. Kein Album der Jungs war bisher ohne mich entstanden; außerdem hatte ich Angst, durch das Ablehnen ihrer Bitte den Kontakt zu Piet komplett abzubrechen. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, ich brauchte sie, die Möglichkeit, dass einer der blinkenden Umschläge in meinem E-Mail-Postfach von ihm war, die Gewissheit, dass hin und wieder sein Name auf dem Display meines Handys erschien, wenn auch nur aus sogenannten beruflichen Gründen.

Das Vibrieren an meinem Oberschenkel durchzog mich wie ein unerwarteter Stromschlag. Hastig holte ich das Handy aus meiner Jackentasche. War es möglich, dass ...?

Nein, nur der tägliche Kontrollanruf meiner Mutter.

„Hallo Mama.

Ja, gerade eben. Es ist sehr schön.

Nein, da schaue ich vielleicht morgen vorbei. Heute will ich erst einmal in Ruhe mein Pensum feststecken.

Pensum.

Nein, PENSUM, Mama.

Ja, genau.

Hör mal, ich muss noch meine Sachen auspacken. Kann ich dich später zurückrufen?

Ich dich auch.“

Ich schob das Handy zurück in meine Jacke, während ich mich seufzend gegen die Lehne der Bank fallen ließ. Noch immer kreisten meine Gedanken um das Gespräch mit Piet. Dreimal hatte ich seine Bitte, mich zu treffen, abgelehnt. Beim vierten Mal, zwei Wochen war das inzwischen her, hatte ich ihm schließlich nachgegeben. Das kleine Café, das nur wenige Meter von dem Probenraum entfernt lag, in dem damals alles angefangen hatte, war hingegen mein Vorschlag gewesen.

Wehmütig rief ich mir seine Worte ins Gedächtnis.

„Ich weiß, dass die Sache damals sehr unglücklich ausgegangen ist. Aber du hast mir nie die Chance gegeben, dir alles in Ruhe zu erklären.“

„Weil es nichts zu erklären gab, Piet. Du hast deine Entscheidung getroffen, und daran gab es nichts mehr zu rütteln. Du warst mir keine Rechenschaft schuldig.“

„Doch, das war ich.“ Ja, das war er. Es war die Art von Rechenschaft, die verbindlicher ist als alle anderen. Das stillschweigende Erwarten als Reaktion auf stillschweigende Emotionen, die von stillschweigenden Menschen gelebt werden. Ein Stillschweigen, das nicht lauter sein könnte. Und eine Rechenschaft, die so unumgänglich ist wie der Drang, sie zu erwarten. Auch wenn das Stillschweigen kurz vorher zum ersten Mal durchbrochen worden war. Doch das war eine andere Geschichte.

„Alles, was die Band heute ist, ist sie nur durch dich, Tina. Du weißt, dass wir es nicht so mit Worten haben.“

„Ihr seid an dem Punkt, an dem ihr euch locker auch einen anderen Texter leisten könntet. Einen mit wesentlich mehr Erfahrung.“

„Wie können wir erwarten, dass uns jemand aus der Seele spricht, der uns nicht kennt? Du kennst uns, Tina. Du kennst mich. Vermutlich besser als jeder andere.“

Vermutlich besser als jeder andere. Diese Worte hatten sich wie ein Anker in meinem Bewusstsein verkeilt. Wo in seinem Kopf befand sich der Gedanke an Jessica, als er diese Worte aussprach? Vermutlich besser als jeder andere. War es möglich, dass es noch immer eine Bindung zwischen uns gab, die selbst sie – der Grund für die offensichtliche Unterbrechung ebendieser Bindung – niemals restlos zerstören konnte?

Je öfter ich mir das Gespräch ins Gedächtnis rief, desto sicherer wurde ich, dass er mit solchen Kommentaren lediglich versucht hatte, mir zu schmeicheln, um mich erneut ins Boot zu holen.

„Ich glaube nicht, dass ich euch, dass ich dich noch wirklich kenne, Piet. Es ist so viel geschehen, und das letzte Album ist fast anderthalb Jahre alt.“

„Genau darum geht es. Anderthalb Jahre sind eine lange Zeit für eine Pause, zumindest wenn man vorher zwei erfolgreiche Alben herausgebracht hat. Wir müssen es wieder wagen, wir müssen wieder auf Tour gehen, neue Songs liefern. Und ohne dich sind wir eben nicht die Band, die die Fans lieben. Wir brauchen deine Worte, Tina. Mehr als jemals zuvor.“ Er umkreiste den Rand seiner Kaffeetasse mit dem Zeigefinger, eine schmerzlich vertraute Geste. „Wenn es eine Frage des Geldes ist …“

„Es geht nicht ums Geld, Piet. So gut solltest du mich inzwischen kennen.“

„Siehst du, damit gibst du es selbst zu: Ich kenne dich. Genau wie du mich kennst.“

„Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das schaffe. Mit euch in einem Raum, so wie früher. Es ist einfach nicht mehr dasselbe seit …“

Ich unterdrückte den Drang, ihren Namen auszusprechen.

Ich spürte, dass er nach einer passenden Antwort suchte. Eine Antwort, die mich überzeugte und dennoch gewisse Anhaltspunkte umging, die mich verletzen könnten.

„Und wenn du einfach allein schreibst? Ohne uns? Du hast früher oft die Texte zu Hause ausgearbeitet. Was, wenn du es diesmal ausschließlich allein machst? Wir geben dir die Demos, und du gibst ihnen mit deinen Worten ein Gesicht.“

Dieser Vorschlag war es schließlich, der mich überzeugte, auch wenn es noch eine ganze Weile dauern sollte, bis ich imstande war, es auch zuzugeben. Im Grunde hatte mich bereits der erste Blick von ihm überzeugt, der mich traf, als ich das Café betrat. Der erste Blick seit siebzehn endlosen Monaten, der in Bruchteilen von Sekunden alle mühsam unter den Teppich gekehrten Emotionen wieder an die Oberfläche geholt hatte.

„Ich weiß nicht, ob das funktionieren wird.“

„Natürlich wird es das“, antwortete er mit einer Stimme, die noch immer jedes Eis in mir zum Schmelzen brachte. „Du bist ein Profi, Tina.“

„Ja“, antwortete ich leise. „Ein Profi.“

*

Die braunen Reste von krümeligem Rührei auf meinem Teller erinnerten mich daran, mir die Telefonnummern ansässiger Pizzalieferanten zu besorgen. Vier Wochen waren eine lange Zeit, vor allem, wenn man nicht kochen konnte.

Mit dem Laptop auf dem Schoß saß ich mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa des fremden Wohnzimmers. An diesem ersten einsamen Abend konnte ich noch kein Vertrauen in die neue Umgebung fassen. Ich fühlte mich seltsam deplatziert und weit weg von allem. Weit weg von Hamburg. Und irgendwie auch weit weg von mir selbst.

Seit mittlerweile zwei Stunden durchforstete ich mein Archiv von Textbausteinen, die ich im Laufe der letzten Jahre in besonders hellen Momenten zusammengetragen und für die spätere Verwendung abgespeichert hatte. Den eigentlich ersten Schritt, mir die Demos anzuhören und nach der jeweiligen Stimmung des Songs über eine erste Richtung des Themas nachzudenken, zögerte ich instinktiv hinaus. Stattdessen starrte ich auf eines der Bilder, das auf der Collage meines Laptophintergrundes zu sehen war. Das Foto zeigte die Band und mich auf der Aftershow-Party der Verleihung eines Musikpreises, den sie für ihr Debütalbum erhalten hatten. Zacharias und Anton standen links von mir, Lars ganz rechts, während Piet direkt neben mir seine Hand auf meine Schulter legte.

Jedes Mal, wenn ich das Bild betrachtete, fiel mir das mädchenhafte Rosa meiner Wangen auf, das eindeutig auf zu hohen Martinikonsum zurückzuführen war. Das lange dunkelblonde Haar, das auf den olivgrün schimmernden Stoff eines Blazers fiel, der selbst heute noch in meinem Kleiderschrank hing. Piet, der sein dunkles Haar damals wie heute millimeterkurz trug, in einem schwarzen Shirt mit dem Schriftzug Qreuzwort, dem Namen der Band.

Wie alt war ich auf dem Foto? 25? 26? Dann war Piet höchstens 27. Drei Jahre war das inzwischen her, und noch immer erinnerte ich mich genau an die ausgelassene Stimmung. Er hatte an jenem Abend darauf bestanden, dass ich den Preis mit nach Hause nehme, denn seiner Meinung nach hatte die Band ihn zum Großteil meinen Texten zu verdanken. Ich hatte mit dem Argument abgelehnt, dass keine von Tausend verliebten Teenies auf den Text achtet, wenn gutaussehende Jungs mit Gitarren die Bühne stürmen. Resultat unserer endlosen Diskussion war das Anbringen eines Regals im Probenraum, auf dem der Preis plaziert wurde, um die Frage, wer ihn mit nach Hause nimmt, endgültig aus der Welt zu schaffen.

Ich öffnete das Textverarbeitungsprogramm, um Piets Anblick zu entgehen. Fotos vergangener Zeiten waren keine besonders große Hilfe bei dem Versuch, mich von den Erinnerungen abzulenken. Stattdessen überwand ich mich, endlich den ersten Track der Demos zu öffnen. Es war an der Zeit, produktiv zu werden.

Bereits bei den ersten Tönen – zu hören war eine einzelne Akustikgitarre – überkam mich das überwältigende Gefühl von beinahe schmerzlichem Vertrauen. Ich wusste, dass es Piet war, der für gewöhnlich die Rohfassungen der Demos einspielte, und auch bei diesem Track hatte ich seine Hände auf den Gitarrensaiten regelrecht vor Augen.

Ich klickte auf den Pause-Button und holte tief Luft. Wie sollte ich die Arbeit an vollen vierzehn Stücken durchhalten, wenn ich bereits bei den ersten Sekunden eines Songs gegen die Emotionen ankämpfte?

Andererseits waren es genau die Emotionen, die ich brauchte, um so zu schreiben, wie man es von mir erwartete. Wie ich es von mir erwartete!

„Profi“, murmelte ich mir selber zu. „Du bist ein Profi, Tina. Immer dran denken!“

Und während ich versuchte, mein eigenes Mantra zu verinnerlichen, wanderte der Cursor erneut zum Play-Button.

Die ersten Töne des Songs waren wie kleine Nadelstiche, die sich langsam in die Oberfläche meiner Haut bohrten. Jeder Akkord fügte dem Bild in meinem Kopf ein weiteres Detail hinzu. Dem Bild von Piet.

„Profi“, summte ich mir erneut zu. „Du bist ein Profi. Und Profis lassen sich nicht durch überflüssige Emotionen von ihrer Arbeit ablenken.“

Als nach einem längeren Intro die erste Strophe folgte, die er mit einem Wechsel im Rhythmus andeutete, begann schließlich der vertraute Ablauf in meinem Kopf. Wortfetzen reihten sich zusammenhanglos aneinander, um mit jedem weiteren Ton langsam Form anzunehmen.

Ein Gefühl der Erleichterung überkam mich. Die Gedanken an Piet hatten mich nur kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, taten jedoch der instinktiven Suche nach einem geeigneten Thema für den Song keinen Abbruch.

Die Mollakkorde hauchten dem Song Wehmut ein. Eine Wehmut, die nur allzu gut zu meiner eigenen Stimmung passte. Vielleicht wartete der Song ja auf einen Text über einen Gitarristen, der seiner ambitionierten Songtexterin durch eine viel zu vertrauensselige Freundschaft Hoffnungen machte, die er mit einem denkwürdigen Wochenende krönte, nur um ihr wenige Wochen später mitzuteilen, dass seine Freundin, mit der er eigentlich Schluss gemacht hatte, ein Kind von ihm erwartet.

Ich klickte erneut auf Pause, um den Worten die Chance zu geben, sich in Ruhe zu sammeln. Noch bevor ich mir Gedanken über das Thema des Songs machen konnte, tauchten die ersten Zeilen wie eine Offenbarung vor meinem inneren Auge auf.

Ich hab zu lange gefehlt

In deinen Zukunftsskizzen

Viel zu lange gewartet

Auf einen Platz im Sitzen

Ich atmete tief ein. Die Detailliertheit, in der sich die Worte zu einem Textanfang gesammelt hatten, irritierte mich. Woher war der Einfall dazu gekommen, so plötzlich und ohne jede Vorankündigung? Lag der Grundstein dieser Zeilen womöglich in bereits existierenden Textbausteinen, die ich vor längerer Zeit geschrieben und nun unbewusst abgerufen hatte?

Ich versuchte, mich zu erinnern. Nein, diese Worte waren neu. Noch dazu auf seltsame Weise fremd, fast so, als hätte ich sie irgendwo anders aufgeschnappt. Ohne weiter darüber nachzudenken, schrieb ich die Zeilen, die in meinem Kopf herumschwirrten, in das offene Dokument meines Laptops.

Ich hab zu lange gefehlt

In deinen Zukunftsskizzen

Viel zu lange gewartet

Auf einen Platz im Sitzen

Nur ein Stehplatz am Fenster

In stickigen Massen

Um am Ende mich selbst

Auf der Strecke zu lassen

Mit offenem Mund starrte ich auf den blinkenden Cursor unter dem Text. Waren das wirklich meine Worte? Und was hatten sie zu bedeuten?

Für gewöhnlich schrieb ich die ersten Zeilen aus einer Laune heraus, um sie dann später in Richtung eines bestimmten Themas zu lenken. Hier war jedoch nur allzu deutlich, dass das Thema bereits feststand, ohne dass ich mir vorher Gedanken darüber gemacht hatte.

Doch meine Verwunderung hielt nicht lange an, viel zu fordernd überkamen mich die nächsten Textzeilen, die ich wie automatisch in das Dokument schrieb.

Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.

Ich stockte. Was um Himmelswillen hatte das zu bedeuten? Woher kamen diese seltsamen Zeilen? Und wer war Mella? War ich überarbeitet und nicht mehr in der Lage, mich von äußeren Einflüssen zu lösen?

Doch welche Einflüsse sollten das sein? Ich hatte weder ferngesehen noch im Internet gesurft. Es war der erste Abend in meinem Schreibexil, außerdem erst kurz nach 21 Uhr. Somit fiel auch das Argument der Übermüdung weg. Aber wie sonst erklärten sich die fragwürdigen Worte?

Gerade als ich die sonderbaren Zeilen löschen wollte, blinkte das Display meines Handys auf. Irritiert griff ich danach, um beim Blick auf den aufleuchtenden Namen für einen Moment den Atem anzuhalten.

Piet.

Ich spielte mit dem Gedanken, nicht ranzugehen. Gleichzeitig war die Vorstellung, ihn zu ignorieren, unerträglich.

„Nanu. So spät noch ein Lebenszeichen vom Meister aller Gitarristen?“

„Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst.“

„Nein, Piet. Du liebst es.“

Sein Lachen versetzte mir einen kurzen Stoß.

„Du hast recht“, antwortete er. „Ich liebe es. Aber nur aus deinem Mund.“

„Warum rufst du an?“

„Ich hab an dich denken müssen.“

Gerade als ich gegen seine unangebrachten Anspielungen protestieren wollte, setzte er seinen Satz fort: „Besser gesagt, an dich und das, was du wohl zu unseren Demos sagst.“

„Ich bin heute erst angekommen, Piet. Was erwartest du?“

„Ich erwarte nichts. Ich hoffe nur. Dass dir die Songs gefallen. Dass sie dich inspirieren. Dass sie …“

„Es ist viel zu früh, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ich habe die Zeit bisher in erster Linie genutzt, um meine Gedanken zu sortieren.“

„Heißt das, du hast noch gar nicht reingehört?“

„Doch. Den ersten Track habe ich gehört, zumindest so lange, bis mich der Anruf eines ungeduldigen Gitarristen unterbrochen hat.“

Dasselbe Lachen. Derselbe Stoß, den es mir versetzte.

„Tut mir leid“, antwortete er. „Ich bin unverbesserlich, ich weiß. Vermutlich liegt es daran, dass ich noch immer ziemlich aufgeregt bin, weil du endlich wieder mit im Boot sitzt.“

„Das Boot, in dem ich sitze, ist im Moment ein Einzelboot, Piet. Und das ist auch gut so.“

„Ich weiß. Ich wollte nur …“

„Du wolltest nur fragen, ob ich nicht vielleicht bereits an der ersten Hitsingle eures neuen Albums arbeite.“

„Sozusagen.“

„Bisher kann ich leider mit keinem Ergebnis dienen.“

„Das habe ich auch nicht erwartet. Vielleicht wollte ich einfach nur, dass du weißt, dass wir es lieben werden. Was auch immer du fabrizierst.“

„Pass auf, dass du deinen Honig nicht zu früh verteilst. Am Ende enttäusche ich euch noch.“

„Das ist ausgeschlossen.“

„Nichts ist ausgeschlossen. Das wissen wir beide, Piet.“

„Vielleicht ist es besser, wenn ich dich jetzt in Ruhe arbeiten lasse.“

„Vielleicht.“

„Mach’s gut, Tina. Und wenn du irgendetwas brauchst oder reden willst …“

„Ich weiß.“

Ich hielt das Telefon noch eine ganze Weile, nachdem ich aufgelegt hatte, in der Hand. Der Klang seiner Stimme machte ihn für einen kurzen Moment wieder allgegenwärtig. Wie elektrisiert von den eigenen Emotionen versuchte ich, jedes Wort des Gesprächs zu rekonstruieren, jede Antwort zu deuten. Warum hatte er ausgerechnet jetzt angerufen, wo ich gerade dabei war, meine ersten zaghaften Ideen umzusetzen? War ihm denn noch immer nicht klar, dass mich jedes Gespräch mit ihm für Stunden aus der Bahn warf?

Unfähig, mich weiteren Versuchen von Produktivität hinzugeben, klappte ich den Laptop zu und ließ mich rücklings auf das Sofa fallen. Jede Zeile, jeder Gedanke, der mich im Laufe des Tages beschäftigt hatte, alles war von einem Moment auf den anderen vergessen.

Warum verdammt nochmal hatte er angerufen? Und warum gab es trotz meines Strebens, unseren Kontakt auf Sparflamme zu halten, nichts, das ich mir sehnlicher wünschte als den Mut, ihn auf der Stelle zurückzurufen?

Ich fühlte mich wie in einem Laufrad: Trotz größter Anstrengung schaffte ich es nicht, von ihm loszukommen. Von dem Mann, den ich seit dreieinhalb Jahren liebte. Dem Mann, der mich stets als seine Seelenverwandte bezeichnet hatte.

Dem Mann, der jetzt glücklicher Familienvater war.

Kapitel 2

Die Tatsache, dass das Ferienhaus als Inbegriff von Ruhe und Abgeschiedenheit eine Türklingel besaß, erschütterte meine Illusion des Einsiedlerdaseins bereits um neun Uhr morgens.

Wer um Himmels willen trieb sich um diese Uhrzeit schon vor meiner Tür herum? Wer wusste überhaupt, dass ich hier war?

Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel, der nichts Gutes verhieß, zurrte ich den Gürtel meines Bademantels zusammen und öffnete die Tür.

„Tiiiina! Ich glaub's nicht, du bist es wirklich!“

Es dauerte einige Momente, bis ich dem Gesicht und der schrillen Stimme einen Namen zugeordnet hatte. Vor mir stand Celine, eine ehemalige Mitschülerin, die ich über vierzehn Jahre nicht gesehen hatte.

„Celine“, murmelte ich irritiert, während sie mir in der Euphorie ihrer Umarmung beinahe die Luft abschnürte. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“

„Na hör mal, du kannst doch nicht einfach in deiner alten Heimat auftauchen, ohne dass es jemand mitbekommt.“

Fragend schaute ich sie an.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es von meiner Schwiegermutter.“

„Deiner Schwiegermutter?“

„Ja, seit mittlerweile zwei Jahren.“ Triumphierend hielt sie mir ihren Finger samt protzigem Ehering unter die Nase. „Du erinnerst dich doch sicher noch an Udo Lessing, den großen blonden Handballer, der zwei Klassen über uns war?“

„Kann sein.“ Die Wahrheit war, dass ich keine Lust hatte, darüber nachzudenken.

„Und seinen Eltern gehören mehrere Ferienhäuser in dieser Gegend.“

„Tatsächlich.“ Plötzlich fiel es mir wieder ein. Mit einer Frau Lessing hatte ich am Telefon die Details zu meiner Anreise besprochen. Sie war es auch, die mir am Vortag den Schlüssel übergeben hatte.

„Und da deine Mutter eine Freundin meiner Schwiegermutter ist ...“ Sie lachte. „Lange Rede, kurzer Sinn: Ich wollte einfach mal vorbeischauen und mich selbst davon überzeugen, dass sich die gute alte Tina endlich mal wieder bei uns blicken lässt.“

Meine Mutter und ihre Redseligkeit. Das war wieder mal typisch.

„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen“, sagte ich, „aber die Wahrheit ist, dass ich nicht für einen Kurzurlaub hier bin, sondern in erster Linie zum Arbeiten.“ Ich versuchte, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken, was die Tatsache, dass ich einen Bademantel trug, nicht gerade erleichterte.

„Arbeit hin oder her, für einen kurzen Kaffee wirst du doch wohl Zeit haben, oder?“

„Na ja, ich ...“

„Ich kenne mich hier aus“, fiel sie mir freudestrahlend ins Wort und lief an mir vorbei ins Haus. „Hin und wieder gönnen Udo und ich uns hier ein paar romantische Tage, wenn das Haus nicht belegt ist.“

Ein paar romantische Tage? In einem Dorf, in dem sie ohnehin wohnten?

„Der Kaffee steht in dem Regal über der Spüle, stimmt's?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich noch gar keinen getrunken, seitdem ich hier bin“, antwortete ich, während ich ihr zögernd in die Küche folgte.

Celine, die inzwischen die Dose mit dem Kaffee gefunden hatte und gerade dabei war, die Maschine mit Wasser zu befüllen, schien in ihrem Eifer nicht zu bremsen zu sein. „Es ist so toll, dass wir uns nach all den Jahren endlich wiedersehen.“

„Ja“, antwortete ich einsilbig.

Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und versuchte, mich zu erinnern. Was genau ließ sie bloß annehmen, dass wir Freunde waren? Ich wusste noch, dass sie mir auf einer Klassenfahrt mal ihren Lippenstift geliehen hatte, weil einer der Jungs meinen ins Klo geworfen hatte. Darüber hinaus war sie in meiner Erinnerung jedoch nichts weiter als ein oberflächliches Mädchen aus der hintersten Reihe, das sich mit ihren Freundinnen über die Jeansmarke der Deutschlehrerin amüsierte.

„Erzähl schon“, begann sie schließlich, als sich die Maschine endlich röchelnd der Herstellung von Kaffee hingab, „Was hast du die ganze Zeit über so getrieben? Deine Mutter erzählte was von Schreiberei?“

„Schreiberei“, wiederholte ich mit gezwungenem Lächeln. „Das trifft es vermutlich irgendwie. Um genau zu sein, schreibe ich Songtexte für professionelle Musiker.“

„Texte. Wie schön. Also, ich habe ja neulich erst die Silberhochzeitszeitung für meine Eltern gemacht. Das war vielleicht eine Arbeit, sag ich dir.“ Sie öffnete die Schublade der Küchenvitrine und zog einen Aschenbecher heraus. „Anekdoten aus der Vergangenheit zusammentragen, Verse aus dem Internet an ihre Persönlichkeiten anpassen. Stressig, stressig. Das überlasse ich bei künftigen Feierlichkeiten lieber anderen Familienmitgliedern.“

Ich nickte wortlos, während ich missmutig die glühende Zigarette in ihrer Hand wahrnahm.

„Und womit verdienst du dein Geld?“, fragte sie.

„Wie gesagt, ich schreibe Songtexte.“

„Und davon kannst du leben?“

„Na ja, natürlich hat es eine Zeitlang gedauert, bis es sich auch finanziell auszahlte. Man muss sich erst einen Namen machen.“

„Du sagst es. Einen Namen braucht man heutzutage bei fast allem. Mein Udo zum Beispiel, der ist mit seiner Dachdeckerfirma mittlerweile so gut im Geschäft, dass ich meinen Job in der Strandboutique vor zwei Jahren aufgeben konnte.“

„Das freut mich.“

„Ja, ich habe schon einen guten Fang gemacht mit ihm.“ Lachend warf sie den Kopf in den Nacken. „Wobei man wohl eher sagen kann, dass er mich gefangen hat. Der hat mir vielleicht Avancen gemacht, das kannst du dir nicht vorstellen. Anrufe, Blumen. Monatelang.“

Ungeduldig beobachtete ich die nur langsam kürzer werdende Zigarette in ihrer Hand. Ob Udo sie gerne reden hörte?

Ich war kein Morgenmensch. Die Tatsache, dass es erst neun war, erschwerte das kurzfristige Schmieden eines Plans, der sie elegant und schnell aus meiner Vier-Wochen-Idylle befördern würde.

Gerade als sie zu einer weiteren Anekdote ansetzen wollte, fiel ich ihr ins Wort. „Es tut mir wirklich sehr leid, Celine, aber mir ist eben eingefallen, dass ich noch einen Termin habe.“

„Tatsächlich?“

„Ja, eigentlich hätte mich die Kalenderfunktion meines Handys daran erinnern sollen, aber es ist neu und ich habe wohl irgendetwas beim Erstellen des Memos falsch gemacht.“

„Ach, hör mir auf mit Handys. Erst letzten Monat haben Udo und ich uns nach neuen umgesehen. Es sollten Partnermodelle sein. Also, meins in Pink, seins in Dunkelblau, und was meinst du, was die für Farben zur Auswahl hatten? Weiß und schwarz. Ist das nicht einfältig?“

Das Wort einfältig aus ihrem Mund zu hören barg eine gewisse Ironie in sich.

„Ja, das ist wirklich ärgerlich.“ Ich erhob mich vom Stuhl. „Ich würde ja gerne noch weiter mit dir plaudern, Celine, aber der Termin ist sehr wichtig und wenn ich mich jetzt nicht umziehe ...“

„Das verstehe ich natürlich.“ Endlich stand sie auf. „Aber wir müssen unsere Unterhaltung unbedingt fortsetzen, hörst du?“

Ich biss mir auf die Lippe.

„Im Oberdorf gibt es morgen einen kleinen Flohmarkt, den meine Schwiegereltern jeden Monat ausrichten. Bücher, Kinderspielzeug, Haushaltsartikel. Ich werde auch dort sein und einen Schuhstand organisieren.“

„Schuhe“, wiederholte ich abwesend.

„Wir sind von neun bis sechs Uhr abends da.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen werde.“ Die Tatsache, dass sie ein Dorf, das so klein war wie dieses, in ein Unter- und Oberdorf einteilte, hätte mich unter anderen Umständen zum Lachen gebracht.

„Du musst es auf jeden Fall versuchen“, antwortete sie und presste die Lippen wie ein beleidigtes Kind aufeinander.

„Versuchen werde ich es sicher, aber jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Mein Termin wartet, und ich weiß noch nicht mal, was ich anziehen soll.“

„Wenn du willst, kann ich dir beim Aussuchen helfen.“

Beim Aussuchen helfen? Hatte diese Frau eine Wahrnehmungsstörung? War ihr denn nicht klar, dass wir uns seit vierzehn Jahren nicht gesehen hatten? Dass uns weder damals noch heute auch nur der Ansatz einer Freundschaft miteinander verband?

„Das ist nett gemeint“, antwortete ich, während ich sie zur Tür begleitete, „aber ich werde schon etwas Passendes finden. Ich suche meine Klamotten immer erst kurz vorher heraus.“

„Wenn du meinst.“

„Ich schaffe das schon, keine Sorge.“

„Na, dann viel Spaß bei deinem Termin.“

„Mach's gut, Celine“, rief ich ihr von der Schwelle aus nach.

„Mach's guhuuut“, sang sie regelrecht.

Reflexartig ließ ich die Tür ins Schloss fallen und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mit jedem Atemzug, den ich wie nach einem Dauerlauf von mir gab, wurde ich wütender auf meine Mutter. Warum war sie nur auf die Idee gekommen, meinen Aufenthalt preiszugeben? Und wie war ich darauf gekommen, ihn ihr zu verraten? Ihre Redseligkeit war schließlich nicht neu und ich nicht erst seit gestern ihre Tochter!

Wie erstarrt verharrte ich eine Weile in dieser Position. Und wieder war es der eigentliche Grund meines Aufenthaltes, der sich in meine Gedanken schob. Das Album. Die Texte. Und die immer wiederkehrende Frage nach der Kraft, die ich dafür aufbringen musste.

Das Telefonat vom gestrigen Abend lag mir noch immer im Magen. Wie viel Zeit hatte ich bisher mit meinen Gedanken an Piet verschwendet? Bereits zwei Versuche, eine Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen, waren an meiner Angewohnheit gescheitert, jeden mit Piet zu vergleichen. Wollte ich mir nun auch noch meine einzige Leidenschaft von meinen eigenen Emotionen kaputtmachen lassen? Viel zu hart hatte ich dafür gekämpft, mir einen Namen in der Branche zu machen. Und ich liebte, was ich tat. Trotz oder gerade wegen der Dinge, die geschehen waren.

Meine Gedanken wanderten zum Kleiderschrank. Nein. Umziehen konnte ich mich auch später noch. Der Laptop, der auf dem Sessel im Wohnzimmer lag, schien wesentlich verlockender. So gesehen hatte ich Celine noch nicht mal belogen. Ich hatte einen Termin, auch wenn ich diesen im Bademantel wahrnehmen konnte.

Ich setzte mich aufs Sofa, zog den Laptop auf meine Knie und schaltete ihn ein. Wie gewohnt öffnete ich zuerst das Textprogramm, um den aktuellen Stand meiner Arbeit zu prüfen.

Ich hab zu lange gefehlt

In deinen Zukunftsskizzen

Viel zu lange gewartet

Auf einen Platz im Sitzen

Nur ein Stehplatz am Fenster

In stickigen Massen

Um am Ende mich selbst

Auf der Strecke zu lassen

Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.

Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Die seltsamen Zeilen. Der Name Mella. Was zum Teufel war in mich gefahren, als ich diesen Text geschrieben hatte? Woher kamen diese Worte, die so gar nichts mit einem Songtext zu tun hatten?

Vielleicht war ich wirklich urlaubsreif.

Ich löschte die Worte, bis nur noch die ersten beiden Reime standen, und las den Text erneut.

Gar nicht mal schlecht für den Anfang. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ja, dieses Thema passte zur Stimmung des Songs. Was auch immer mir durch den Kopf gegangen war, als ich die Zeilen geschrieben hatte, sie waren wie gemacht für die Melancholie, die die Melodie des ersten Tracks ausstrahlte.

Ich öffnete die Audiodatei des Songs und konzentrierte mich auf die Akkorde. Piet hatte es sich angewöhnt, die Gesangslinie mit einem summenden Da-da-da festzulegen. Diese Vorgehensweise sollte es mir erleichtern, die Anzahl meiner Worte und Silben der Melodie anzupassen. Meistens hatte es jedoch zur Folge, dass sich meine Aufmerksamkeit mehr auf seine Stimme richtete als auf die Suche nach einem potenziellen Thema für den Song. Umso dankbarer war ich, dass die Zeilen dieses Textes scheinbar wie von selbst entstanden, denn noch bevor ich den Anfang ein weiteres Mal lesen konnte, fügten sich bereits die nächsten Worte hinzu – ohne lange darüber nachzudenken, ohne nach ihnen suchen zu müssen.

Du warst zu lange hier

Um nun zurückzubleiben

Viel zu lange in mir

Um dich jetzt kleinzuschreiben

Doch jeder Satz mit deinem Namen

Wirft mich weiter zurück

Und nimmt mit jedem Wort

Von meinem Plan ein Stück

Zufrieden betrachtete ich die Zeilen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gleich zwei Strophen in so kurzer Zeit verfasst hatte. Vielleicht tat mir der Abstand von meiner üblichen Umgebung tatsächlich gut? Vielleicht waren meine Gedanken an Piet für die Stimmung, die ich zum Schreiben benötigte, sogar eher förderlich als störend?

Ich drückte auf den Repeat-Button. Leise summte ich die Melodie mit, um ihr gedanklich meine bereits verfassten Zeilen hinzuzufügen. Beim noch textlosen Refrain machte ich Halt. Einen stimmigen Songmittelpunkt zu finden war noch immer das Schwerste an meiner Arbeit. In der Regel benutzte ich für den Refrain kurze und einprägsame Halbsätze. Diesmal war ich in meinen Möglichkeiten sogar flexibler als sonst, da Piet bis auf die Tonlage keine Einschränkungen vorgab. Es musste eingängig sein, gleichzeitig aber auch zur Grundstimmung des Songs passen.

Das Wort Lebenszeichen kam mir plötzlich in den Sinn, um sich nach und nach mit anderen Worten zu verbinden. Instinktiv schrieb ich die Zeilen unter die Strophen.

Drei Wochen ohne ein Lebenszeichen von dir. Ich halte das nicht aus. Bitte melde dich, Mella.

Kapitel 3

Das Wasser umspielte meine von der Mittagssonne erhitzten Füße, als ich am Haff entlangspazierte. Bis auf ein älteres Paar, das in einer Einbuchtung im Schilf saß, und einem Mann, der mit seinem kleinen Sohn Steine auf dem Wasser balancieren ließ, war niemand in Sichtweite.

Unliebsame Disteln unterbrachen die Perfektion des Strandes nur am Rande. Hier und da Reste einer Serviette oder ein Stück Papier, in dem die Fischbrötchen am nahegelegenen Campingplatz ausgegeben wurden. Dennoch strahlte das Bild, das sich jedem Haffbesucher bot, in erster Linie Ruhe und Unberührtheit aus.

Mit dem Ziel, einen klaren Kopf zu bekommen, ließ ich die wenigen Menschen am Strand hinter mir und folgte mit energischen Schritten dem milden Wind, der wie unsichtbare Finger durch mein offenes Haar fuhr und den dünnen Stoff meines Hemdkleides aufblähte.

Doch in meinem Kopf wurde nichts klarer. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass mit jedem Schritt auch meine Unsicherheit zunahm. Was hatte es mit dem Namen Mella und diesen seltsamen Botschaften auf sich? Und warum schlichen sich diese fremden Worte immer wieder in meinen Text? Hatten mich die jahrelange Arbeit mit Reimen und die geradezu akribische Suche nach den geeigneten Wortverbindungen mittlerweile den Verstand gekostet?

Ich atmete tief ein. Wie ein Durstiger das Wasser sog ich die Luft regelrecht auf. Ich atmete aus, wieder ein, aus.

Eine Stimme unterbrach meine Schritte.

„Hey, nicht so schnell!“

Ich wusste, dass es Celine war, bevor ich mich zu ihr umdrehte.

Die Hände in die Knie stemmend, blieb sie neben mir stehen, um zu verschnaufen. „Mann, du hast aber ein Tempo drauf!“

„Kann schon sein“, antwortete ich. „Vielleicht hatte ich so eine Ahnung, dass mich jemand verfolgt.“ Ich unterdrückte ein Lächeln, das der Wahrheit nur die Schärfe genommen hätte. Hatte diese Frau denn nichts anderes zu tun, als mich rund um die Uhr zu belästigen?

„Und? War dein Termin erfolgreich?“

„Wie man's nimmt“, antwortete ich knapp, während ich meinen Weg fortsetzte. „Und du? Bist du nur zufällig hier?“

„Na ja, ich jogge, wie du siehst.“

Ich versuchte, ihre pinkfarbene Caprihose und das silberne Paillettentop als Joggingoutfit zu identifizieren. Das platinblonde Haar hatte sie zu einem aufwendigen Dutt zusammengesteckt, wie ich ihn – wenn überhaupt – allenfalls zu einer Party getragen hätte.

„Ich find's toll, dass wir uns so schnell wiedersehen“, sagte sie mit leichter Schnappatmung, die sich ihren Trippelschritten anpasste.

„Ich hätte nicht damit gerechnet“, antwortete ich diplomatisch.

„Das Leben steckt eben voller Überraschungen.“

Ich nickte schweigend und sinnierte, wie ich sie möglichst schnell wieder loswerden konnte.

„Hör mal, Celine“, begann ich schließlich. „Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber ich befürchte, dass ich im Moment kein besonders unterhaltsamer Gesprächspartner bin. Der einzige Grund, warum ich hier am Haff entlanglaufe, ist der, dass ich mit einem Text, an dem ich gerade arbeite, nicht weiterkomme. Und um ebendiesen toten Punkt zu überwinden, bin ich an die frische Luft gegangen. Sozusagen, um die Worte gedanklich zu sortieren.“

„Oh, dann erwische ich dich praktisch gerade bei der Arbeit“, antwortete sie mit wissendem Lächeln.

„Ja genau. Bei der Arbeit.“

Die Bedeutung meines Blicks ließ sie unberührt. Manche Menschen waren scheinbar immun gegen die berühmten Worte durch die Blume.

„Oh, wir müssen uns auch gar nicht unterhalten“, sagte sie mit wegwerfender Handbewegung. „Ich freue mich einfach, wenn ich ein bisschen Gesellschaft beim Laufen habe.“

Während ich darüber nachdachte, ihr direkt ins Gesicht zu sagen, dass ich auch schweigend auf ihre Gesellschaft verzichten konnte, setzte sie ihren Redeschwall fort. „Außerdem habe ich heute schon so viele unterhaltsame Gespräche geführt, dass mir ein bisschen Ruhe ganz guttun wird.“

Ich ärgerte mich über meine Feigheit, die mich davon abhielt, ihr einfach den Rücken zuzukehren.

„Vorhin erst habe ich fast eine Stunde lang mit einer guten Bekannten telefoniert“, sagte sie. „Kennengelernt habe ich sie durch einen Urlaub, den sie hier vor einer Weile mit ihrem Mann verbracht hat.“ Sie lächelte. „Übrigens in demselben Ferienhaus, in dem du gerade wohnst.“

„Schön“, antwortete ich knapp.

„Sie war übrigens ganz begeistert von dem Haus. Noch heute schwärmt sie davon. Die dunkelrote Holzfassade und die weißen Fensterrahmen erinnern sie an Schweden.“

„Tatsächlich“, murmelte ich abwesend.

„Sie sagt, dass sie, wann immer sie auf die Bank hinter dem Haus saß, den Himmel so gut beobachten konnte wie sonst nirgends. Die Wolken sehen hier anders aus, meint sie. Wie Luftblumen.“ Sie lachte. „Seitdem spricht sie immer vom Luftblumenhaus.“

Ihre Sätze wurden zur monotonen Ansammlung ausdrucksloser Worte. Wie ein nicht enden wollender Piepton zog sich ihr Wortschwall in die Länge.

„Aber Mella verbindet nicht nur positive Erinnerungen mit dem Haus“, fuhr sie fort. „Immerhin wird sie dieser Ort immer an den letzten Urlaub erinnern, den sie mit ihrem Mann vor der Trennung verbracht hat. Nicht unbedingt etwas, an das man gern zurückdenkt.“

Ich blieb stehen. Auch wenn es mich wunderte, dass es überhaupt eines ihrer Worte in mein Bewusstsein geschafft hatte – ich spürte, dass dies kein Zufall sein konnte.

„Wie war der Name noch gleich?“, fragte ich.

„Luftblumenhaus.“

„Nein, der Name der Frau.“

„Mella. Wieso?“ Sie blieb ebenfalls stehen. „Ist das wichtig?“

„Nein“, antwortete ich, während ich versuchte, meinen tobenden Gedanken Einhalt zu gebieten. „Eigentlich nicht.“

*

Wer auch immer Mella war, sie hatte recht. Irgendwie sahen die Wolken von der Bank hinter dem Haus tatsächlich wie Luftblumen aus. Nicht auf den ersten Blick. Auch nicht auf den zweiten. Wenn man jedoch von hier aus nach oben schaute, tief durchatmete und sich bedingungslos seiner Phantasie hingab, wurden die Wolken mit der Zeit zu Blumen. Die Blumen zu Gedanken. Und die Gedanken zu Gefühlen, die jede Faser des Körpers belebten.

Wie friedlich es hier war! Ein Frieden, der wie von selbst alles ein wenig schöner aussehen ließ. Aus dem Augenwinkel sah man das Wasser. Es war über einen kleinen Sandweg erreichbar, der an den Ferienhäusern vorbeiführte. Außer der Bank, auf der ich Platz genommen hatte, gab es auf dem kleinen Grundstück hinter dem Haus einen schmalen Streifen mit gelben und roten Tulpen, der an einem weißen Holzzaun entlangführte. Ein Tor trennte den akkurat gemähten Rasen vom Sandweg; daneben standen zwei Fliedersträucher mit weißen und violetten Blüten.

Ich senkte den Blick erneut auf das Buch mit dem blassgelben Einband, das noch immer auf meinem Schoß lag. Das Gästebuch des Hauses. Klein, aber liebevoll gestaltet. So wie das Haus selbst.

Ich spielte nicht ernsthaft mit dem Gedanken, etwas in das Buch zu schreiben, schon gar nicht zu Beginn meines Aufenthaltes. Den Grund, aus dem ich in dem Buch blätterte, konnte ich allerdings ebenso wenig benennen. Vielleicht war es Neugier. Vielleicht auch nur ein Versuch, der Arbeit an den Songs aus dem Weg zu gehen, die sich bisher äußerst seltsam gestaltet hatte.

Als ich die dritte Seite des Buchs erreicht hatte, fiel es mir wieder ein. Die Suche nach dem Namen Mella, der mir bereits mehrmals auf unerklärliche Weise begegnet war und den Celine vor wenigen Stunden am Strand erwähnt hatte, war ebenfalls ein Anlass gewesen, im Gästebuch zu blättern. Und genau hier, auf Seite 3, tauchte er tatsächlich auf.

Die schönsten Ferien, die man sich vorstellen kann, im wunderschönen Boiensdorf

Mella & Samuel

Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich vielleicht bereits bei meiner Anreise im Buch geblättert und mir dadurch unbewusst den Namen Mella eingeprägt hatte. Nein. Erst vor einer Stunde hatte ich das Buch im Regal unter dem Spiegel im Eingangsbereich entdeckt. Aber welche Erklärung gab es sonst für diese seltsamen Vorfälle beim Schreiben der Texte?

Mit einem tiefen Atemzug schlug ich das Buch wieder zu. Was hatte es für einen Sinn, weiter darüber nachzudenken? Reden konnte ich ohnehin mit niemandem über diese merkwürdige Begebenheit. Im Grunde war es auch egal, was es damit auf sich hatte. Ich war übermüdet, emotional angegriffen, da spielten einem die Gedanken schon mal einen Streich. Vermutlich war ich mit meinem Faible für Worte und deren besondere Konstellation besonders empfänglich für bizarre Schwingungen. Auch wenn die Schwingungen ihren Ursprung in meinem eigenen Kopf hatten.

Ich schaute erneut zum Himmel. Die Sonne strahlte an diesem Nachmittag besonders hell, so dass ich meine Strickjacke auszog, mein Haar mit einem Gummi zusammenknotete und mich mit geschlossenen Augen zurücklehnte. Das war sie also, meine Zeit. Meine ganz eigene Zeit. Ein Ferienhaus nur für mich. Vier Wochen lang.

Der Grund für meine Anwesenheit rückte plötzlich in weite Ferne. Stattdessen wuchs die Dankbarkeit für ein wenig Abstand vom Stress der Großstadt.

Gerade als ich darüber nachdachte, den Liegestuhl aus dem Fahrradschuppen zu holen, streifte mich ein Windzug, der nicht so recht zur frühsommerlichen Stille passen wollte.

Und wenn ich einfach zu ihm fahre? Wenn ich vor ihm stehe, wird er mir zuhören müssen.

Instinktiv öffnete ich die Augen. Was war das? Wer war das?

Aufgeschreckt schaute ich mich um. Ich war sicher, eine Frauenstimme gehört zu haben, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Ich erhob mich von der Bank und ging um das Haus herum, doch weder auf dem Sandweg noch in der Nähe des Hauses war auch nur die Spur einer Person zu erkennen. Mit verschränkten Armen vor der Brust blieb ich neben der Eingangstür stehen. Hatte sich Celine wieder einmal angeschlichen, weil sie gerade rein zufällig in der Nähe war?

Obwohl ich im Schutz der Hauswand stand, streifte mich erneut ein Windzug. Diesmal sogar etwas heftiger als vor wenigen Minuten. Wieder war ich mir sicher, eine Stimme zu hören. Und wieder war keine Menschenseele zu sehen.

Wenn wir uns direkt gegenüberstehen, wird er meinen Worten nicht mehr aus dem Weg gehen können.

Es klang wie der Fetzen einer Unterhaltung. Eine Unterhaltung, die jedoch keinen Ursprung zu haben schien. Wie auf der Flucht vor den eigenen Gedanken stürmte ich zurück ins Haus und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Wie war das möglich? War ich allergisch auf Ruhe? Funktionierte ich nur unter Stress und neigte zu Wahnvorstellungen, sobald ich aus dem üblichen Trubel herausgerissen wurde?

Auf der Suche nach Ablenkung fiel mir ein Flyer auf, der an der Pinnwand neben dem Spiegel hing. Ein Abend mit Live-Musik in Percys Tanzscheune. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Genug Zeit also, um unter die Dusche zu springen und in ausgehtaugliche Klamotten zu steigen. Die Songschreiberei würde mir nach einer kleinen Pause sicher umso leichter von der Hand gehen.

*

Die Kneipe kam mir jetzt, zwölf Jahre, nachdem ich sie das letzte Mal betreten hatte, sehr viel kleiner vor. Die Tische und Stühle waren mit rotweiß karierten Tischdecken und Sitzkissen bespannt und strahlten noch immer einen gewissen Bierzeltcharakter aus; trotzdem erschien alles ein wenig enger als damals.

Neben dem Tresen am Ende des Raumes deutete eine leichte Anhöhe die Bühne an. Nicht sehr groß, nicht sehr beeindruckend, aber das war es auch nicht, worauf es ankam. Man mochte es schlicht hier, und genau deshalb hatte ich mich entschieden herzukommen.

Die Band war bereits dabei, ihre Instrumente aufzubauen und zu stimmen. Die prall gefüllte Kneipe deutete den baldigen Beginn des Konzertes an. So sah also ein musikalischer Abend auf dem Dorf aus. Genau wie früher. Und genau das Richtige, um sich von wirren Gedanken abzulenken.

Ich setzte mich rechts außen an den Tresen und bestellte ein Bier, das nach wenigen Augenblicken mit einer Schaumspur zu mir herüber geschoben wurde. Selbst das hatte sich nicht verändert.

„Nicht zu fassen“, hörte ich eine tiefe Stimme neben mir. „Tina, bist du's?“

„Nick“, erwiderte ich überrascht. „Mensch, du hast dich ja kein bisschen verändert.“

Und es stimmte wirklich. Noch immer trug er das rotblonde Haar raspelkurz. Auch das hellblaue Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, passte zu dem Bild aus meiner Erinnerung. Einem Bild, das ich mir noch heute manchmal ins Gedächtnis rief. Nick. Der Junge, der sechs Schuljahre lang mein Banknachbar gewesen war. Der Junge, der seine Spickzettel bei Klassenarbeiten für gewöhnlich unter der Schuhsohle befestigte, um deren Inhalt in recht fragwürdiger Sitzhaltung abzuschreiben.

Der Junge, der inzwischen 30 war.

„Gut siehst du aus“, stellte er fest, mit einem Lächeln, das es mir leicht machte, ihm zu glauben.

„Danke, du auch. Ist ja echt eine Überraschung, dass ich dich hier treffe.“

„Nicht so eine Überraschung, wie dich hier zu treffen. Ich wohne schließlich hier, aber du?“

„Ich auch.“ Ich lächelte, während er auf dem Barhocker neben mir Platz nahm. „Na ja, zumindest für vier Wochen. Ich hab ein Ferienhaus gemietet, unten am Strand.“

„Verstehe. Heimatsehnsucht, richtig?“

„So kann man es nennen. Oder aber die Suche nach dem geeigneten Umfeld für meine Arbeit.“

„Du bist hier, um zu arbeiten?“ Er winkte der Kellnerin zu, die ihm ohne Worte ein Bier zubereitete. Man schien ihn hier zu kennen.

„Ich schreibe. Und das kann ich am besten in einem ruhigen Umfeld.“

Er lachte. „Ich wusste gar nicht, dass man Percys Tanzscheune als ruhiges Umfeld bezeichnen würde.“

„Ich dachte, ein bisschen Ablenkung täte mir zwischendurch ganz gut.“

Die Tatsache, dass er mich nicht fragte, was oder woran ich schrieb, beeindruckte mich auf seltsam subtile Weise. Er schien nicht gleichgültig, andererseits aber auch nicht aufdringlich interessiert. Eine Kombination, die für meinen Zustand genau die richtige war.

Im Hintergrund begann die Band zu spielen. Die Akustik war etwas dumpf, dennoch (oder gerade deshalb) passte die Musik zur Umgebung. Die Leadsängerin, eine gut bestückte Blondine im knielangen Karokleid, seufzte die ersten Zeilen von „I'm So Lonesome I Could Cry“ ins Mikrofon.

„Gar nicht mal schlecht“, stellte ich fest.

„Die singen ständig hier“, sagte Nick. „Covern viel. Auch deutsche Sachen.“

Ich nickte.

Nick hielt sich an seinem Bierglas fest, während er zur Band hinüberschaute. Ein Umstand, der mich beruhigte. Keine übertriebene Aufmerksamkeit in meine Richtung. Keine nervtötenden Fragen. Er stellte die perfekte Gesellschaft dar. Gesprächig, aber nicht zu redselig. Freundlich, aber nicht zudringlich. Und gerade das machte aus dem sympathischen, aber nicht ernstzunehmenden Mitschüler von damals mit jedem Schluck aus meinem Bierglas einen umso angenehmeren Gesprächspartner.

„Und was hat die Zeit mit dir angestellt?“, fragte ich. „Bist du in die Schlosserei deines Vaters eingestiegen, wie du es immer vorhattest?“

„Anfangs schon“, antwortete er. „Ich habe meine Ausbildung gemacht und fünf Jahre dort gearbeitet. Aber irgendwann bekam ich Probleme mit meinem Rücken, war eine Zeitlang krank und habe dann umgeschult.“

„Tatsächlich?“

„Tatsächlich. Vor dir sitzt einer der wenigen Tagesväter Nordwestmecklenburgs.“

„Nicht dein Ernst!“

„Das hättest du deinem verschlafenen Banknachbarn nicht zugetraut, oder?“

„Na ja, ich bin nur überrascht, das ist alles.“

„Ich habe eine eigene kleine Betreuungseinrichtung neben der Firma meines Vaters. Derzeit sind es fünf mehr oder weniger entzückende Sprösslinge, die sich täglich freiwillig in meine Obhut begeben.“

Ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob er verheiratet war, oder zumindest liiert. Und wenn ja, wo war sie, wenn nicht hier bei ihm?

„Klingt gut“, sagte ich und erschrak im selben Moment über die Einfallslosigkeit meiner Antwort. War es möglich, dass er mich nervös machte?

Nein. Eher war es der Umstand, mich näher mit einem Mann zu unterhalten, der mich verwirrte. Seit Piet waren meine Anstrengungen, mich auf Gespräche (geschweige denn mehr) mit anderen Männern einzulassen, selten geworden, und ich selbst zur Einsiedlerin in einer Welt voller Worte.