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»Wie viele Türchen hat ein Lockdown-Kalender?«, wollte die alleinerziehende Mutter Maria vom Weihnachtsmann erfragen, doch dessen Wunschzettelgruppe war im Frühlingsurlaub stumm geschaltet. Nun in der Vorweihnachtszeit, bastelt sie am regulären Adventskalender für ihre Tochter. Nach all den Unwägbarkeiten dieses verflixten Jahres 2020, zweifelt sie dabei sogar an der Anzahl abzuwartender Dezember-Tage, bis zum letzten Türchen. Den Weihnachtsmann plagen, neben dem schlechten Gewissen (wegen des übersehenen Wunsches im Frühling), weitere Sorgen bei den Vorbereitungen zum Fest. Sein Rauschebart sträubt sich gegen den Mundschutz, zu dem der Himmelsrat ihn verdonnerte. Leider mit handfesten Argumenten: Er sei schließlich der Einzige mit direktem Kundenkontakt, und habe eine Vorbildfunktion. Noch schlimmer: Ob sein Nebenjob auf dem Bremer Weihnachtsmarkt dieses Jahr ausfallen würde, konnte bisher nicht einmal der Senat der altehrwürdigen Hansestadt beantworten. Solange das in den Sternen stand, war auch die Finanzierung der Weihnachtsgeschenke aller Kinder nicht gesichert ... Was wird bloß aus dem Fest, wenn die Corona-Beschränkungen sogar den Weihnachtsmann lahmlegen? Nicht nur, aber insbesondere für Eltern gilt in diesen wie allen Zeiten wohl besonders: Nur nie den Humor verlieren! Übrigens: Alle Weihnachts- und Osternovellen der Reihe 'Magische Elternrealität' sind prima unabhängig voneinander zu lesen und enthalten quais nebenbei - dank 'Marias' Recherche - eine Menge Hintergründe zu unseren Festtraditionen, sowie augenzwinkernde Antworten auf Kinderfragen. Bei dieser Folge Nr. 6 liegt, neben spontanem Einfluss des aktuellen Weltgeschehens aufs Himmelszelt, der Schwerpunkt (wie ursprünglich geplant), auch auf der Geschichte der Adventskalender. Viel Spaß beim informativen Grinsen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
©2020
3. Auflage 2023
Adventskalender für den Lockdown?
(Magische Elternrealität 6)
Adventskalender-Gedicht:
Allüberall Kalendertürchen
Plus Leseproben:
Glaubenskrieg der Nikoläuse
(Magische Elternrealität 1)
Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße
(Die Schiffsdiebinnen)
Impressum, Vita & Werke
Texte & Fotos: Rega Kerner
Korrektorat: Catharina Preuß
Umschlag: ›Cover dein Buch‹
Illustration: Nicole Fabert
E-Book: www.medienschiff.de
Der Weihnachtsmann riss sich den himmelblauen Mundschutz von den Ohren und pfefferte ihn in eine Ecke seines Schlittens.
»Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die gesamte himmlische Heerschar es nicht hinkriegt, eine ordentliche Maske zu nähen?«, wetterte er gegen drei Engelchen, die auf der Wolke neben seinem Fahrzeug standen. Sie wackelten betreten mit den Flügelspitzen. Es war bereits die vierte Anprobe.
Bei dieser lag ein ganz besonders ausgefeiltes Modell vor, mit diversen elastischen Elementen, insbesondere im Mundbereich. Das sah ein wenig nach Patchwork aus. Doch der dicke Rauschebart hob den Stoff dennoch luftig weit vom Gesicht ab und schob ihn bei jedem Wort herum. Spätestens beim dritten »Ho« vom »Ho Ho Ho«, hüpfte der Draht von der Nase, oder der ganze Lappen hing gleich quer über dem Kinn.
Da hing er wieder, grellrot am grünen Schrank. Kinderaugen würden glitzern. Maria sackte erschöpft auf den Küchenstuhl und betrachtete ihr Werk: Ein rotes, längliches Stück Stoff mit Fransen oben und unten, 24 goldene Ringe zum Aufhängen der Päckchen, der Rand dekoriert mit mehreren Engeln aus Filz. Das war ein recht schlichtes Exemplar, in dieser Zeit der Superlativen. Würde Tomke wieder nörgeln?
Letztes Jahr hatte ihre Tochter neidisch aufgezählt, welch kreative Kalender all ihre Schulfreunde hätten. Die sie auch lieber haben wollte. Doch letztlich gefiel die mütterliche Erklärung: »Viele sind aber identisch, vom Fließband aus der Fabrik. So ein antikes Einzelstück wie du, hat bestimmt fast keiner mehr. Da kannst du stolz drauf sein!«
»Ich hab ihn seit immer, heißt antik so alt wie ich?«
»Nein, viel älter. Meine Paten-Tante nähte und bastelte ihn Anfang der 70er Jahre für mich und als ich erwachsen war, wartete er im Keller auf dich. Den gibt es kein zweites Mal. Guck hier, die Holzkugel-Köpfe der Engel musste ich mehrfach wieder ankleben. Noch öfter benötigte ganz unten der Schneemann, aus halben Styropor-Kugeln, kleine Schönheitsreparaturen. Aber ich liebe ihn immer noch und er begleitet mich. Über all die Jahre hinweg.«
Die Mutter hatte ihre Erinnerung an das Gespräch von 2019 hörbar vor sich hin gemurmelt, während das Kind unbemerkt in die Küche gekommen war und einen fast achtlosen ›kenn-ich-schon-Blick‹ auf die noch leicht vom Aufhängen schwingenden Päckchen geworfen hatte.
»Und jetzt begleitet er mich«, stellte Tomke den Besitzerwechsel klar.
»Uns«, lächelte Maria und dachte: In diesem denkwürdigen Jahr sogar zweimal.
Angesichts des aufziehenden Gewitters im Gesicht ihres Kindes korrigierte sie schnell: »Klar, er gehört jetzt ganz und gar nur noch dir allein. Aber ich freue mich dann über deine Freude, also habe ich auch noch etwas davon.«
Der Weihnachtsmann freute sich ganz und gar nicht. Die Engelnäherei hatte immer wieder ihr Bestes gegeben, um die handelsüblichen Klinikmasken so zu modulieren. Mit dem Ziel, sein wichtigstes Wahrzeichen, den wilden Bart, nicht komplett platt zu legen, aber doch Mund und Nase abzudecken. Was leider ein Ding der Unmöglichkeit schien.
Man sollte den Engeln natürlich zugute halten, dass nähen nicht zu ihren üblichen Aufgaben oder gar Hobbys zählte. Aber in diesen Pandemie-Zeiten musste sich eben jeder flexibel einbringen, also auch mal den Beruf wechseln. Oder hätte der Weihnachtsmann sich etwa selbst eine Maske nähen sollen? Ihm war es peinlich genug, eine zu tragen!
Was so ein selbstgenähter Kalender alles tragen kann, sinnierte Maria noch in der Küche sitzend, als ihr Kind längst das Interesse an den verschlossenen Säckchen verloren, ein paar Kekse vorab erbettelt und sich damit in sein Zimmer verzogen hatte. Nicht ohne vorher ihrer Mutter zu erklären, dass die einen Knall hätte: »Da muss ich ja noch ewig warten! Wer hängt denn den Adventskalender schon im Oktober auf?«
Er trägt viel mehr als Päckchen oder Säckchen, er trägt häuslichen Frieden, egal ob alt oder neu, dankte Maria innerlich für die pure Existenz dieser Tradition und trank einen Schluck Kaffee. Denn alle Eltern kennen das Problem, wie ich, total unabhängig von der Jahreszeit: »Papa, Mama, wann sind wir endlich da?«
Zeit kann man nicht anfassen. Was man nicht anfassen, also nicht greifen kann, ist für Kinder nicht zu begreifen. Und wenn Kinder etwas nicht begreifen, führt das unweigerlich zu ständiger Quengelei: »Mama, Papa, wann ist endlich Weihnachten?«
Spätestens, wenn dies jede halbe Stunde oder gar im Minutentakt ertönt, reißt jeder Mutter oder jedem Vater der Geduldsfaden. Egal, wie geduldig sie sonst sind oder sein wollten. Da bin ich nicht die Einzige. Das ist heutzutage so und jede Generation meint, früher war alles anders. Früher war alles besser.
Stimmt das? Waren früher alle Kinder brav und wohlerzogen?, überlegte Maria. Wenn dem so gewesen wäre, welchen Sinn und Zweck hätte dann die Erfindung des Adventskalenders gehabt?
Über Sinn, Zweck und Notwendigkeit von Masken für Adventsgestalten hatte es Anfang Oktober eine außerplanmäßige Himmelssitzung mit langen, hitzigen Debatten gegeben. Alles was über den Wolken Rang und Namen hatte, versammelte sich auf den Sternbänken. Um die Abstände zu wahren, wurden einige Asteroiden aus ihrer Bahn gezerrt und zu Nothockern am Rande der Milchstraße umfunktioniert.
Das Christkind war sofort fein raus: »Ich bin unter sechs. Ich bin freigestellt.«
»Das ist angesichts deines wahren Geburtstages aber minimal gemogelt«, nörgelte ein Jungengel, vermutlich eifersüchtig, weil er selbst mindestens zwölfjährig aussah. Aus den vollbesetzten Reihen der Seraphim erklang unruhiges Gemurmel.
»Geht es beim Weihnachtsfest um historische Fakten oder um Glauben?«, zischte ihm das Christkind zu. Das Engelchen strich prüfend über den Rand eines seiner goldenen Flügel, die sicher in keinem Geschichtsbuch als Fakten verzeichnet waren und sagte lieber nichts weiter.
Der Nikolaus argumentierte: »Die Kinder bekommen mich doch gar nicht zu Gesicht. Da wäre Maske tragen total unsinnig.«
»Und wenn dich doch eines vor seiner Tür erwischt?«, fürchtete das Christkind.
Das Lachen des Nikolauses hallte von den Sternen über alle Wolken bis auf die Erde: »Das hat bei mir in über 1500 Jahren noch keines geschafft! Das passiert bei mir nie! Und alle, die das behaupten, die lügen.«
»Ach, das passiert immer nur anderen? Ähnlich hatten die modernen Europäer auch bezüglich Pandemien gedacht, obwohl die letzte große gerade mal hundert Jährchen her war. Und manche, die bisher nicht persönlich betroffen sind, glauben das immer noch«, mahnte ein älterer Cherub, irgendwo von den hinteren, höchsten Plätzen.
Die Mehrheit stimmte jedoch zu, das Risiko einer Begegnung sei beim Nikolaus derart gering bis ausgeschlossen, dass er auf Maske und Reiseprotokolle verzichten könnte.
Die Engel verpflichteten sich freiwillig, das Abstandsgebot demonstrativ auf über zwei Meter zu erweitern und einzuhalten. Was für sie, selbst im größten Gedränge, leicht war, da sie nach oben ausweichen konnten. Wo sie sich ohnehin meist aufhielten.
Kaum war das Thema für diesen größten Teil der Anwesenden geklärt, jammerten die ersten nach einer Versammlungspause.
Diese Pause hab ich mir nach der Kalenderfüllerei auch verdient, fand Maria. Sie klaute sich einen der Kinderkekse zum Kaffee, legte ihr Smartphone vor sich auf den Küchentisch und deaktivierte die Corona-Warn-App. Verflixt, die hab ich gestern, nach dem Ausflug zum Bremer ›Freipaak‹, ganz vergessen auszuschalten. Zu Hause ist das ja Quatsch. Gut, dass sie sich von der Regenvorhersage nicht hatte abschrecken lassen, die erst am letzten Karussell eintraf. Die Erinnerung an den tollen Tag konnte ihrem Kind jetzt keiner mehr wegnehmen. Wer konnte wissen wie lange dieser temporäre Freizeitpark bei steigenden Infektionszahlen noch offen sein würde?
Sie wischte aufkommende Sorgen über die aktuelle Weltlage aus ihrem Kopf sowie rieselnde Kekskrümel vom Display, öffnete Google und surfte nach ablenkender Bestätigung ihrer Kalendergedanken.
Denn die pure Tatsache, dass der Adventskalender erfunden wurde, wies ihrer Meinung nach darauf hin, dass Weihnachtsquengelei seit jeher vorkam. Und selbst in autoritärsten Systemen nicht mit Strenge und Züchtigung zu unterdrücken war. Oder wollten manche Eltern diese nervigen Zeichen der Vorfreude damals nicht mehr strafen? Suchten sie fortschrittlichere Erziehungsmethoden? Wie auch immer: Ein Zeitmesser musste her! Eine einfache und sichtbare Zählhilfe, auf die man zeigen konnte, wenn der Nachwuchs mal wieder vor Ungeduld platzte.
»Gleichzeitig konnte durch solch ein tägliches Ritual auch das Festliche der Adventszeit betont und bewusster erlebt werden«, las die Mutter im Internet und weiter: »Als Erfinder des gedruckten Adventskalenders gilt der Münchner Lithograph Gerhard Lang. 1903 veröffentlichte er einen Bogen mit 24 Ausschneidebildchen zum Aufkleben.«
»Nee, Bayern geht gar nicht.« Sie pustete entsetzt in ihre Kaffeetasse. »Das hieße ja, ich pflege bayerische Traditionen?«
Rasch googelte sie weitere Stichwortkombinationen zur Geschichte des Kalenderdruckes und wer in eine bestimmte Denkrichtung sucht, dem liefert die Suchmaschine genau das, was er hören will: »1902 erschien der erste gedruckte Kalender in Form einer Weihnachtsuhr für Kinder.«
Und wo? Tatata – in der Evangelischen Buchhandlung von Friedrich Trümpler in Hamburg. Geht doch, verlasse dich nie aufs erste Suchergebnis, triumphierte Maria.
»Es gibt also zwei Erste, je nach Quelle. Und der heutige Adventskalender ist eine recht junge Erfindung. Ob Uhr oder Papierbogen, über den Rang des Ersten sollen sich die Geschichtsforscher ruhig streiten, für mich ist ganz klar der Hamburger der Favorit«, schlussfolgerte Maria und nahm sich noch einen Keks. Ob die Idee danach wohl von norddeutschen Häfen in den Rest der Welt verschifft wurde? Das hätte schließlich Tradition.
Dieser lokalpatriotischen Spekulation sowie ihrer verfrühten Adventsstimmung konnte sie vorläufig nicht weiter nachgehen, da das Smartphone brummend über den Küchentisch wanderte.
Eilig fing sie es ein und wechselte vom Internet in den Gesprächsmodus.
Länger als mit Christkind, deutschem Nikolaus und Engeln wurde mit Sinterklaas, dem niederländischen Nikolaus, debattiert. Er käme schließlich mit seinem Schiff aus dem Risikogebiet Spanien ins Land.
»Könntest du zwei Wochen eher reisen, um die Quarantäne einzuhalten?«, schlug das Christkind vor.
Sinterklaas öffnete den Mund und schloss ihn wieder, um nichts Unüberlegtes zu sagen.
»Pfffft«, fuhr sein Gehilfe, der Zwarte Piet, dazwischen, bevor sein Chef zu Ende gedacht hatte. »Siehst du es vor dir? Der Kutter des Sinterklaas läuft am einundzwanzigsten November mit großem Tamtam ein, aber liegt danach zwei Wochen im Hafen, bevor er am fünften Dezember endlich aussteigt?«
Die ganze Versammlung schüttelte ablehnend die Köpfe, respektive die Flügel. Denn allen war ohne weitere Diskussion klar: Zwei Wochen lang Ansammlungen von begeisterten Kindern am oder gar auf einem Bootssteg, an dem die Pakjesboot 12 dann liegen würde, konnte nicht Ziel der Maßnahmen sein. Die Schaulustigen würden versuchen, einen kleinen Blick auf Sinterklaas zu erhaschen, sich dabei gegenseitig von den Bullaugen und Relingen weg drängeln und schubsen, um nach vorne auf die besten Plätze zu gelangen. Das wäre absolut kontraproduktiv.
Das Christkind bohrte hingebungsvoll in seiner Nase, während es sich die Hafenquarantäne lebhaft vorstellte und sagte auch lieber nichts mehr.
»Das ist alles unnötig«, fand Sinterklaas. »Mein Pferd ist hoch. Wenn ich da drauf sitze, ist mein Gesicht über zwei Meter von den Schaulustigen entfernt. Und ich bin sicher, die Menschen werden selbst auch noch Maßregeln ergreifen, vermutlich mit Absperrungen an jedem Weg, den ich durch die Stadt reite.«
Die bis eben noch skeptisch schüttelnden Köpfe und Flügelspitzen der ganzen Gemeinschaft änderten ihre Bewegung in Richtung zustimmendes Nicken.
»Richtig«, bekräftige die mächtige Stimme des Erzengels Gabriel die allgemeine Meinung. »Und falls es doch eng werden sollte, machst du es eben wie wir. Dein Pferd kann doch auch fliegen.«
»Aber der Zwarte Piet? Der muss doch Geschenke verteilen, genauso wie ich?«, gab der Weihnachtsmann zu bedenken.
»Der geht vorher in Spanien zwei Wochen in Quarantäne an Bord und trägt in den Niederlanden dann eine Maske«, bestimmte Sinterklass.
»Ohne mich«, widersprach Piet.
»Sieh es positiv«, besänftigte sein Herr. »Du sparst dir damit das aufwendige Schminken rund um den Mund. Das nervt dich doch immer so. Eine schwarze Maske ist doch viel einfacher.«
»Nee! Mir reicht’s. Erst wollen die Niederländer mich wegen des Verdachts rassistischer Traditionen abschaffen und jetzt soll ich als Einziger mit Maske laufen?«
»Piet, bitte versteh doch …«
»Ja, ich verstehe sehr gut! Zwei Wochen im spanischen Seehafen eingesperrt an Bord, da bin ich seekrank, bevor die Überfahrt überhaupt losgeht. Und bei Ankunft mit Maske am Bug stehen, fröhlich winkend bis der blöde Kahn endlich angebunden ist, dann über die wackeligen Bootsstege – was, wenn ich mich da übergeben muss?