Die Melodie der Insel - Rebecca Michéle - E-Book
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Die Melodie der Insel E-Book

Rebecca Michéle

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Beschreibung

Eine bewegende Geschichte vor der rauen Kulisse Schottlands: Der gefühlvolle Roman »Die Melodie der Insel« von Rebecca Michéle als eBook bei dotbooks. Schottland im Jahre 1860: Trotz aller Entbehrungen liebt die kleine Màiri ihr Leben auf der Insel St. Kilda vor der schottischen Küste. Nie scheint sich etwas auf dem abgeschiedenen Eiland zu verändern – bis zu jenem Tag, an dem vor der Küste ein Schiff in Seenot gerät. Mit dem einzigen Überlebenden dieses Unglücks kehrt Unruhe auf der Insel ein. Zwist und Geheimnisse bringen die Bewohner gegeneinander auf und ein schrecklicher Vorfall zwingt Màiris Eltern, sie der gütigen Lady McFinnigan anzuvertrauen. Diese nimmt das Mädchen mit aufs Festland, um ihr eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Doch mit jedem Jahr, das verstreicht, wächst in Màiri die Sehnsucht nach der malerischen Insel ihrer Kindheit … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Melodie der Insel« von der Erfolgsautorin Rebecca Michéle. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 884

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Über dieses Buch:

Schottland im Jahre 1860: Trotz aller Entbehrungen liebt die kleine Màiri ihr Leben auf der Insel St. Kilda vor der schottischen Küste. Nie scheint sich etwas auf dem abgeschiedenen Eiland zu verändern – bis zu jenem Tag, an dem vor der Küste ein Schiff in Seenot gerät. Mit dem einzigen Überlebenden dieses Unglücks kehrt Unruhe auf der Insel ein. Zwist und Geheimnisse bringen die Bewohner gegeneinander auf und ein schrecklicher Vorfall zwingt Màiris Eltern, sie der gütigen Lady McFinnigan anzuvertrauen. Diese nimmt das Mädchen mit aufs Festland, um ihr eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Doch mit jedem Jahr, das verstreicht, wächst in Màiri die Sehnsucht nach der malerischen Insel ihrer Kindheit …

Über die Autorin:

Rebecca Michéle, 1963 in Rottweil in Baden-Württemberg geboren, eroberte mit ihren historischen Liebesromanen eine große Leserschaft. In ihrer Freizeit trainiert die leidenschaftliche Turniertänzerin selbst Tänzer.

Bei dotbooks erschienen bereits Rebecca Michéles Romane:

»Irrwege ins Glück«

»Heiße Küsse im kalten Schnee«

»Rhythmus der Leidenschaft«

»Der Ruf des Schicksals«

»In den Armen des Fürsten«

»Die zweite Königin«

Die Website der Autorin: www.rebecca-michele.de

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eBook-Neuausgabe Oktober 2018

Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Die Insel der verlorenen Liebe« und dem Pseudonym Ricarda Matrin bei dotbooks und 2010 unter dem Titel Die Insel der verlorenen Liebe und dem Pseudonym Ricarda Matrin in der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Knaur Taschenbuch.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Peter Elvidge, Joseph Sohm, corlaffra, Creartion, Drozdowski

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)

ISBN 978-3-95520-728-1

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Rebecca Michéle

Die Melodie der Insel

Roman

dotbooks.

Then they took us away On the mainland to stay So we promised one day to return Now the years have gone by The homeless ruins still lie And the warm peat fires no longer burn The eagle still flies over Scotland's blue skies But no more over the graves of St. Kilda

Auszug aus dem Lied St. Kilda von Ben Kelly, veröffentlicht auf der CD By Special Request, 2002

Prolog

Auf dem Nordatlantik, 27. August 1930

Seit Stunden schon stand die Gräfin regungslos an der Reling und starrte auf das graue, aufgewühlte Meer. Weder die Kälte noch der starke Wind, der immer wieder Gischt über das Deck des Motorseglers spritzte, störte die alte Dame. Es schien, als würde sie die Naturgewalten des rauen Atlantiks nicht wahrnehmen. Ihr Blick fixierte einen imaginären Punkt irgendwo am Horizont, und in ihrem Gesicht zeigte sich der Ausdruck gespannter Erwartung.

Captain Barrow, Kommandant der HMS Harebell, trat von der Brücke auf das Deck und klopfte seine Pfeife sorgsam an einem Pfosten aus. Während er die Pfeife mit frischem Tabak füllte, beobachtete er die Gräfin zunehmend besorgt. Es war ein Fehler gewesen, ihrem Wunsch, sie als Passagier mitzunehmen, nachzukommen, denn die HMS Harebell war auf dieser Fahrt nicht als Passagierschiff unterwegs. Die Lady hatte ihm für die Überfahrt jedoch hundert Pfund gegeben, für den Captain eine Menge Geld. Obwohl er seit Jahren diese gefährliche und schwierige Strecke befuhr, war seine Heuer nicht gerade üppig. Stürme, Unwetter und Gegenströmungen machten jede Fahrt aufs Neue zu einem Abenteuer, und man wusste nie, ob das Schiff Stunden oder gar Tage für die Überfahrt benötigte. Der Captain hatte diese Fahrten immer gehasst. Glücklicherweise war es heute das letzte Mal, dass er die vermaledeite Inselgruppe im Nordatlantik ansteuerte, darum wohl hatte er auch der eindringlichen Bitte der alten Dame nachgegeben, obwohl eine Mitnahme von Passagieren auf der heutigen, letzten Fahrt nicht vorgesehen war. Hundert Pfund – das bedeutete, dass er endlich das schadhafte Dach und die undichten Fenster an seinem Haus richten lassen konnte, und seiner Frau wollte er einen weichen und warmen Wintermantel kaufen. Natürlich konnte er sich keinen Pelzmantel, wie die Gräfin einen trug, leisten, aber seine Frau sollte im kommenden Winter nicht wieder frieren müssen. Barrows Blick schweifte über die Gestalt der Lady. Sie musste schon alt sein, sicher an die siebzig Jahre, wenn nicht sogar älter, aber ihre Haltung war aufrecht und ihr Rücken gerade. Lediglich beim Laufen stützte sie sich auf einen Stock, dessen Griff aus Gold war, wie der Captain bemerkt hatte. Nachdem er seine Pfeife angezündet und ein paar Züge inhaliert hatte, trat er neben die Dame.

»Mylady, es wird bald dunkel, und es ist kalt. Möchten Sie sich nicht unter Deck begeben?«

Langsam wandte sie sich zu ihm um. Ihr Blick begegnete dem seinen, beinahe hypnotisch hielt sie ihn fest, als sie leise, aber bestimmt sagte: »Sie brauchen sich keine Sorgen um mich zu machen, Captain. Ich weiß, was ich tue.«

Dann drehte sie sich wieder dem Meer zu und schien die Anwesenheit Barrows vergessen zu haben. Der Captain seufzte. Er war für alle Menschen an Bord, einschließlich seiner einzigen Passagierin, verantwortlich. Nicht auszudenken, was es für ihn bedeutete, wenn der Lady etwas geschah, zumal sie ohne Begleitung reiste, was für eine Dame ihres Alters und ihres Standes völlig unüblich war. Wenigstens erweckte sie den Anschein, gesund und rüstig zu sein, und der Blick aus ihren grüngrauen Augen war der einer jungen Frau. Früher musste sie einmal sehr schön gewesen sein. Auch wenn ihr Gesicht von tiefen Falten durchzogen und ihr Haar schlohweiß war, die edlen und wohlgeformten Gesichtszüge waren deutlich zu erkennen und wiesen auf eine starke Willenskraft hin. Dennoch wollte Barrow, dass sie jetzt das Deck verließ und sich in ihre Kabine begab, denn bei der Fahrt durch die Nacht musste er sich ganz auf das Manövrieren durch die zahlreichen vor ihnen liegenden Untiefen und Riffs konzentrieren.

»Bei allem Respekt, Mylady, aber auf diesem Schiff bin ich der Captain, und ich fordere Sie auf, das Deck sofort zu verlassen. In der Dunkelheit ist das Schiff schwer zu steuern, und in dieser Gegend muss man jederzeit mit einem plötzlich aufkommenden Sturm rechnen.«

Ein kaum merkliches Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dame, und sie murmelte kaum hörbar: »Das ist mir bekannt, Captain. Sie wissen gar nicht, wie sehr mir die Wetterverhältnisse dieser Gegend bekannt sind.« Sie warf einen letzten Blick auf den Horizont, der in der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch zu erkennen war. »Wann werden wir unser Ziel erreichen?«

Captain Barrow zuckte mit den Schultern.

»Wenn das Wetter über Nacht ruhig bleibt, werden wir Hirta wohl in den frühen Morgenstunden anlaufen.« Er bot ihr seinen Arm und fuhr fort: »Darf ich Sie in Ihre Kabine begleiten? Ich werde dafür Sorge tragen, dass man Ihnen Tee und Sandwiches bringt.«

Sie legte ihre schmale, behandschuhte Hand auf seinen Ärmel.

»Ich habe keinen Hunger, Captain, aber ein heißer Tee wäre sehr freundlich.«

Während sie gemeinsam unter Deck gingen, konnte Captain Barrow die Frage, die ihm seit dem Morgen, als sie aus Oban ausgelaufen waren, auf der Zunge brannte, nicht mehr zurückhalten.

»Verzeihen Sie meine Neugierde, Mylady, aber was treibt eine Dame wie Sie auf diese unwirtliche und gottverlassene Insel?«

Die Lady zuckte zusammen und fuhr den Captain mit lauter und kraftvoller Stimme an: »St. Kilda ist nicht von Gott verlassen! Im Gegenteil, erst als sich Menschen, die von nichts eine Ahnung haben, einmischten, begannen Zerfall und Untergang einer starken und mutigen Gemeinschaft. Bitte mäßigen Sie ihre Aussagen, Captain.«

Barrow schluckte eine heftige Erwiderung über diese Maßregelung hinunter und schwieg. Er hatte gutes Geld bekommen, und die Gründe, warum eine verschrobene alte Frau nach St. Kilda reiste, konnten ihm gleichgültig sein. Er tat hier seine Arbeit – alles Weitere war nicht sein Problem. Es würde so oder so das letzte Mal sein, dass ein Mensch St. Kilda aufsuchte. In zwei, spätestens drei Tagen war alles vorbei, und er freute sich auf seine neue Route, die ihm zugeteilt worden war. Nach ein paar Tagen Urlaub, den er sich redlich verdient hatte, würde er nur noch die Tagesroute zwischen Oban und der Insel Mull befahren und konnte jeden Abend zu Hause bei seiner Frau sein.

Sie waren bei seiner Kajüte angekommen, die er der Lady großzügigerweise für die Nacht zur Verfügung gestellt hatte.

»Bitte sehr«, sagte er und öffnete die Tür.

Die kleine Missstimmung war verschwunden, und die alte Dame schenkte ihm ein freundliches Lächeln.

»Ich hoffe, es macht Ihnen keine allzu großen Umstände, mir Ihren Schlafplatz zu überlassen, Captain.«

»Das ist schon in Ordnung, Mylady. Ich werde die Nacht ohnehin auf der Brücke verbringen, an Schlaf ist bei dieser Überfahrt nicht zu denken.«

Sie dankte ihm mit einem hoheitsvollen Nicken, als wäre sie die Königin höchstpersönlich, dann trat sie in die Kajüte und schloss die Tür hinter sich.

»Verrückte Alte«, murmelte Barrow, zog an seiner inzwischen erkalteten Pfeife und kehrte auf die Brücke zurück. In der Tasche seiner Uniformjacke raschelten die Pfundnoten, und dieses Geräusch veranlasste Barrow, nicht weiter über die Gräfin nachzudenken.

Captain Barrow war wenig erstaunt, die Gräfin am nächsten Morgen bereits vor Sonnenaufgang erneut an Deck zu sehen. Wieder stand sie an der Reling. Sie roch die Insel, bevor die ersten Felsformationen durch den Nebel hindurch sichtbar wurden. Das Kreischen tausender Seevögel klang in ihren Ohren, schöner als ein gutes Orchester, und noch heute, nach so unendlich langer Zeit, konnte sie den Ruf eines Basstölpels von dem eines Papageientauchers unterscheiden. Langsam schälten sich die Konturen eines Stacs aus dem Dunst, und die Gräfin wusste, dass dem Schiff nun der gefährlichste Teil der Fahrt bevorstand. Es war eine ruhige Nacht gewesen, doch jetzt galt es, den einer riesigen Felsnadel gleich steil und hoch aus dem Meer aufragenden Stac und die gefährlichen Riffs zu umschiffen und die HMS Harebell sicher an den Kai der Village Bay, dem einzigen Schiffslandeplatz auf der Insel Hirta, zu manövrieren. Kaum war die Gefahrenstelle umschifft, schien es, als wären sie in eine andere Welt eingetaucht. Das Meer war ruhig und glatt wie ein polierter Spiegel, und kaum ein Windhauch erreichte die Village Bay. Ein Gefühl absoluten Friedens erfüllte die alte Dame, und sie seufzte erleichtert. Ihre Entscheidung, nach St. Kilda zu kommen, war richtig gewesen, auch wenn die Erinnerung sehr schmerzlich war.

Trotz der frühen Morgenstunde – es war sieben Uhr, als die Leinen des Schiffes vertäut wurden – hatten sich sämtliche Inselbewohner am Kai versammelt und starrten neugierig auf die Ankömmlinge. Als die Gräfin von Bord ging, bemühte sie sich, nicht in die verhärmten und faltenreichen Gesichter der Frauen zu blicken, die vor ihrer Zeit gealtert waren. Sie beachtete auch nicht die bärtigen älteren Männer, in deren Augen Hoffnungslosigkeit stand, ebenso wenig die erwartungsvollen und beinahe freudigen Blicke der wenigen jungen Männer. Nur die Kinder, die sich daumenlutschend und barfüßig an die Hände ihrer Mütter klammerten, rührten die alte Dame. Sie alle mussten nun ihre Heimat verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen – in eine Welt, die sich von der, die sie kannten, so sehr unterschied wie der Mond von der Erde. Obwohl die Menschen nur auf das Festland Schottlands und nicht auf einen anderen Kontinent gebracht wurden, würde von nun an ihr Leben nicht mehr so sein wie bisher. Manche würden es schaffen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, aber die Alten würden daran zerbrechen. Sie selbst war jung, sehr jung gewesen, als sie die Heimat verlassen musste. Dennoch war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach St. Kilda gesehnt hatte. Die Blicke der Leute folgten der Gräfin, als sie aufrecht und mit festen Schritten, nur leicht auf ihren Gehstock gestützt, zielstrebig durch die Village Bay ging, und sie hörte die eine oder andere getuschelte Bemerkung hinter sich. Am Rand der einzigen Straße Hirtas verharrte die Gräfin, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Tief sog sie die Luft ein und stieß sie mit einem Keuchen wieder aus. Es war, als würde sie mit der Seeluft eine andere Welt in ihren Körper aufnehmen – eine Welt, der sie einst angehört und die sie niemals vergessen hatte. Die Gräfin setzte ihren Weg fort. Einfache, einstöckige Steinhäuser säumten die gewundene, mit grob behauenen und unebenen Steinen gepflasterte Straße, die diese Bezeichnung kaum verdiente. Jedes der elf Häuser glich dem nächsten wie ein Ei dem anderen, und an jedem war der Verfall deutlich zu erkennen. Hier klaffte ein Loch im Dach, dort waren Fensterscheiben gesprungen und notdürftig mit Pappe oder gar nur mit Lumpen zugestopft, und aus den an die Häuser angebauten kleinen Ställen drangen keine Geräusche des Viehs.

In der Luft lag der Geruch nach Torffeuer. Aus allen Kaminen stieg Rauch in den Himmel, der an diesem Schicksalstag so dicht über der Insel hing, als wollte Gott selbst schützend seine Hand über dieses letzte Paradies auf Erden halten. Doch es war zu spät. In wenigen Stunden bereits würde Hirta nur noch eine Ansammlung von Steinmauern ohne jegliches menschliche Leben sein. Die Insel würde wieder den Seevögeln gehören, die hier seit Tausenden von Jahren nisteten. Zielstrebig ging die Gräfin auf das fünfte Haus auf der linken Seite zu und trat ohne zu zögern ein. Die Tür war unverschlossen, denn Schlösser und Schlüssel kannte man auf Hirta nicht. Es hatte hier nie etwas gegeben, das zu stehlen sich lohnte, und alles, was die Menschen besaßen, gehörte allen, gleichgültig, wer es erworben, gefangen oder hergestellt hatte. Langsam sah sich die Lady in dem niedrigen Raum um. Im Kamin brannte – wie in den anderen zehn Häusern – ein letztes Torffeuer. Waren diese erloschen, würde auch das Leben auf St. Kilda für immer erloschen sein. Über dem Kaminsims hing eine verblichene, an den Ecken eingerissene Reproduktion eines Gemäldes der Königin Victoria, und die Lippen der Lady kräuselten sich zu einem Lächeln. Wie oft hatte sie als Kind dieses Bild angesehen und sich nicht vorstellen können, wie ein Mensch solch steife Kleidung tragen und sich darin wohl fühlen konnte. Man hatte ihr erklärt, wer Königin Victoria war und welche Bedeutung sie für das Land hatte, aber es hatte sie damals nicht interessiert. Vorsichtig, als würde das Bild bei ihrer Berührung verschwinden, strich sie über das brüchige Papier. Auf der Spindel des Spinnrads in der Ecke steckte noch ein Knäuel Wolle, ganz so, als hätte die Spinnerin nur kurz das Haus verlassen und käme jeden Moment wieder, um die Arbeit fortzusetzen. Auf dem Tisch lag eine Bibel – aufgeschlagen bei dem Kapitel Exodus des Alten Testaments. Exodus – Auswanderung – wie ungemein passend. Die Gräfin schaute in die Flammen. Wenn das Feuer erloschen und die Kamine kalt sind, wird zum ersten Mal seit über tausend Jahren auf Hirta kein Feuer mehr brennen, dachte sie wehmütig. Und es wird niemals wieder entzündet werden.

Sie hatte nicht bemerkt, dass ihr seit der Village Bay ein alter Mann gefolgt war. Er war an der Tür stehen geblieben und hatte sie beobachtet, jetzt trat er in den niedrigen Raum. Als sie ihn bemerkte und stumm in sein Gesicht schaute, trat er vor sie und legte seine Hände auf ihre Schultern.

»Ich wusste, eines Tages kommst du wieder nach Hause«, sagte er leise, als wären nicht Jahrzehnte seit ihrer letzten Begegnung vergangen. Beim Blick in seine Augen schien es der Gräfin, als wären sie wieder die Kinder, die einst dachten, ihr Leben würde auch so verlaufen wie das Leben der Menschen seit Hunderten von Jahren auf St. Kilda – von harter Arbeit geprägt, aber geradlinig und ohne besondere Vorkommnisse. Damals ahnten sie nicht, was das Schicksal für sie bestimmt hatte ...

Erster Teil Màiri

Hirta, Hauptinsel des Archipels St. Kilda, April 1860

Kapitel 1

Màiri konnte das Ende des Gottesdiensts kaum abwarten. Nur mit halbem Ohr hörte sie den Worten des Reverends zu, während sie sich immer wieder umschaute, aber sie konnte Neill nirgends entdecken.

»Das wird Ärger geben«, murmelte Màiri leise, doch laut genug, dass ihr Vater die Worte hörte und ihr prompt einen derben Schlag auf den Rücken versetzte. Màiri verstummte und versuchte, sich auf das Schlussgebet zu konzentrieren. Kaum dass Reverend Munro die Gemeinde entlassen hatte, eilte Màiri nach draußen und sah sich suchend um. Hinter der Ecke des einstöckigen, L-förmigen Hauses, das gleichzeitig als Kirche und als Schulhaus diente, sprang ein großer, kräftiger Junge ihr in den Weg. Seine blonden, halblangen Locken standen wirr in alle Richtungen, und seine grauen Augen strahlten wie die aufgehende Sonne.

»Hu!«, rief er und grinste.

»Neill, hast du mich erschreckt!« Màiri legte eine Hand auf ihr Herz. »Du warst nicht in der Kirche. Das wird dir wieder eine Rüge und einen Eintrag einbringen.«

Neill Mackay lachte, nahm Màiris Hand und rief: »Komm mit, lass uns zu unserem Platz gehen. Ich muss dir etwas sagen.«

So schnell sie konnten, rannten die beiden Kinder den steilen, steinigen Weg auf den vegetationslosen Hügel hinter der Kirche hinauf. Die dichte Wolkendecke, die seit dem Morgen den Himmel bedeckt hatte, begann sich zu lichten. Hier und da zeigten sich erste blaue Flecken, aber der Wind wehte kalt und scharf über die Insel. Je höher die Kinder stiegen, desto stärker blies der Wind, zerrte an ihrer Kleidung und zerzauste ihre Haare. Den Kindern machte es nicht aus, denn sie kannten es um diese Jahreszeit nicht anders. Der Berg Oiseval erhob sich an die tausend Fuß über der Village Bay, in der sich ihr kleines Dorf befand, aber Màiri und Neill zeigten keine Erschöpfung und hielten nicht inne, bis sie auf dem Gipfel angekommen waren. Hier gab es eine Ansammlung von großen Steinblöcken, die wild übereinanderlagen und eine kleine Höhle bildeten. Lachend kroch Màiri auf allen vieren in den Schlupfwinkel und war so ein wenig vor dem Wind geschützt, der auf der Kuppe des Hügels noch viel kräftiger als unten im Dorf blies. Solange die Kinder denken konnten, waren die Steine ihr geheimes Versteck. Nur selten kamen andere auf den Gipfel des Berges, da es hier oben nichts gab, was den Bewohnern der Insel dienlich gewesen wäre. Das Mädchen löste das Band aus ihrem Haar, und eine Flut von dunkelroten Locken ergoss sich auf ihren Rücken. Mit den Fingern fuhr sie zwei-, dreimal durch die wilde Mähne, dann band sie die Haare mit dem groben, ungefärbten Wollband wieder im Nacken zusammen.

»Warum warst du heute Morgen nicht beim Gottesdienst?«, fragte sie ihren Freund und sah ihn erwartungsvoll an. »Der Reverend wird dich morgen in der Schule dafür schlagen. Vielleicht wirst du auch den ganzen Tag in der Ecke stehen müssen.«

Neill schüttelte den Kopf und lachte laut. Dabei warf er den Kopf in den Nacken, und sein Lachen vermischte sich mit dem Wind und wurde über die ganze Insel getragen.

»Ich gehe nicht mehr in die Schule, Màiri.« Er streckte seine Füße aus und schmunzelte. »Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?«

Màiri legte einen Finger auf ihre mit Sommersprossen übersäte Nase und überlegte.

»Sonntag, darum war ja auch Kirchgang.«

»Ich habe heute Geburtstag«, rief Neill stolz. »Ich bin jetzt zwölf Jahre alt.«

»Oh!« Màiri klatschte freudig in die Hände. Sie gratulierte Neill nicht, denn die Inselbewohner maßen Geburtstagen keine Bedeutung zu. Màiri wusste nicht, dass die Menschen auf dem Festland diesen Tag feierten und Geschenke bekamen, aber Màiri wusste, was es für Neill bedeutete, das zwölfte Lebensjahr erreicht zu haben. Der Junge deutete auf seine Füße.

»Vater gab mir heute Morgen die Schuhe meines Bruders«, rief Neill stolz. »Sie sind so gut wie neu, auch wenn sie seit über einem Jahr niemand mehr getragen hat. Vater meint, ich wäre groß für mein Alter, und die Schuhe passen fast. Nur vorn habe ich Lappen reinstecken müssen, aber in ein paar Monaten brauche ich das sicher nicht mehr.« Neill nahm ihre Hände und drückte sie, während er laut und stolz fortfuhr: »Ich bin jetzt ein Mann!«

Sich der Besonderheit des Augenblicks bewusst, sah Màiri den Freund ernst an. Die Kinder der Insel trugen üblicherweise keine Schuhe, weder sommers noch winters, auch Màiri ging immer barfuß. Erst wenn sie in das Erwachsenenalter eintraten, erhielten sie Schuhwerk, denn das Leder musste vom Festland auf die Insel gebracht werden und war deswegen furchtbar teuer. Bei ihrem Freund war es so weit – er zählte zu den Erwachsenen. Nun musste er nicht mehr fürchten, sich bei der Arbeit in den Klippen seine Füße aufzureißen, obwohl die Jungen, seit sie laufen konnten, gewöhnt waren, in den Felsen herumzuklettern und Vogelnester auszunehmen. Irgendwann, wenn sie ins heiratsfähige Alter kam, würde auch Màiri Schuhe erhalten, aber das dauerte noch lange, war sie doch vor zwei Monaten erst zehn Jahre alt geworden.

»Ich bin stolz auf dich, Neill. Darfst du dann auch zu den Stacs mit hinausfahren?«

Er nickte feierlich.

»Sobald die Basstölpel nach Stac Lee kommen, wird mich mein Vater mitnehmen.«

Màiri sah in seinen grauen Augen die Vorfreude, und sie teilte sein Gefühl. Ungeachtet der Tatsache, dass Neills Bruder beim Besteigen der Felsnadel Stac Lee, wo er die Nester der Seevögel ausräumen sollte, abgestürzt und gestorben war, konnte Neill es nicht mehr erwarten, bei der Arbeit der Männer endlich richtig mitzuhelfen. Sein Bruder war bei dem Unglück im letzten Jahr erst fünfzehn Jahre alt gewesen. Obwohl er ein hervorragender Kletterer gewesen war, hatte eine plötzlich auftretende Windbö ihn erfasst und ins tosende Meer geschleudert.

Màiri hatte keine Angst um ihren Freund. Angst war etwas, was die St. Kildaner nicht kannten. Nicht kennen durften, denn jeder Tag war voller Gefahren. Für die Männer mehr als für die Frauen, die zwar auf der Jagd nach den Seevögeln nicht in die Klippen stiegen, aber dennoch stets den Widrigkeiten des Wetters auf diesem entlegenen Archipel im Nordatlantik trotzen mussten.

Neill beugte sich zu Màiri, sein Gesicht ganz an ihrem.

»Siehst du es? Mein Bart beginnt zu wachsen!«

Obwohl Màiri ganz genau hinschaute, konnte sie nicht mehr als den üblichen leichten Flaum auf Neills Oberlippe erkennen, doch sie versicherte, die ersten Bartstoppeln seien bereits deutlich zu sehen. Die Männer der Insel rasierten sich nie. Zum einen war es ein zu großer Zeitaufwand, zum anderen schützten Bärte vor Kälte und Wind, wenn sie in den Klippen oder auf dem Meer unterwegs waren.

Seit der Besiedlung des Archipels St. Kilda vor rund zweitausend Jahren ernährten sich die Bewohner vom Fleisch und den Eiern der Seevögel, die zwischen Frühjahr und Herbst zu Tausenden die schroffen Klippen bevölkerten. Der Hauptinsel Hirta vorgelagert waren die sogenannten Stacs – steile, senkrecht aus dem Meer aufragende Felsnadeln, in deren Nischen und Löchern vorrangig die Basstölpel nisteten. Das Jagen dieser Vögel auf den Stacs war besonders gefährlich, denn in den Klippen fand man kaum Halt, und die Brandung schlug meterhoch gegen die Felsen. Vom Tod machten die St. Kildaner – wie sie allgemein genannt wurden – kein Aufhebens. Er war nichts Besonderes, stand manchmal täglich vor der Tür und gehörte ebenso wie die Geburt zum Leben. So war Màiri auch mächtig stolz auf ihren Freund, dass er jetzt zu den Männern zählte, und verschwendete keinen Gedanken daran, welchen Gefahren er von nun an Tag für Tag ausgesetzt sein würde. Das Einsteigen in die Klippen und das Erlegen der Seevögel war eine Arbeit, die ausschließlich den Männern vorbehalten war. Die Frauen nahmen die toten Vögel in Empfang, rupften sie, weideten sie aus und legten sie in Salzlake ein, um ihr Fleisch, das nicht sofort verzehrt wurde, haltbar zu machen. Die Federn wurden gesammelt und als Tribut für den Herrn der Inselgruppe mit dem Dampfschiff, das in der Regel zweimal im Jahr in der Village Bay anlegte, aufs Festland gebracht. Seit Jahrhunderten gehörte St. Kilda offiziell dem Clan McLeod, der das Geld aus dem Verkauf der Federn einstrich. Die St. Kildaner sahen davon keinen Penny, erhielten als Ausgleich jedoch Dinge des täglichen Lebens – wie zum Beispiel Töpfe, Pfannen, Geschirr oder die Utensilien, die sie zum Spinnen und Weben der Wolle brauchten, die von den Schafen, die auf Hirta lebten, kam.

»Ich finde es nur schade, dass wir Mr. Munro keine Streiche mehr spielen können«, sagte Màiri und grinste schelmisch. »Weißt du noch, als wir Anfang des Jahres den Stuhl mit Kreide beschmiert haben und er sich mit seiner schwarzen Hose daraufgesetzt hat?« »Ja, und ich spüre noch heute die Stockhiebe auf meinem Hintern«, erwiderte Neill lachend und fuhr dann ernster fort: »Ab morgen werde ich arbeiten und muss nie wieder in die Schule gehen. Niemals wieder irgendwelche Zahlen zusammenzählen oder sinnlose Buchstaben schreiben. Das brauche ich nicht. Alles, was ein Mann fürs Leben wissen muss, werden mir mein Vater und die anderen Männer beibringen.«

Màiri nickte und drückte seine Hand.

»Eigentlich gehe ich recht gerne in den Unterricht und finde es schade, wenn ich nun im Sommer wieder mehr beim Vieh und im Haus helfen muss. Ich höre gerne zu, wenn der Reverend Geschichten über Länder wie Amerika oder Afrika erzählt, wo die Menschen entweder rot oder schwarz wie Gewitterwolken sind. Vielleicht reise ich eines Tages dorthin.«

Màiris Blick ging träumerisch in die Ferne, doch Neill schüttelte missbilligend den Kopf.

»Was willst du in der Fremde? Du hast hier alles, was du brauchst. Eines Tages wirst du meine Frau sein, und ich lasse dich niemals fort.«

Die Worte, scherzhaft ausgesprochen, hatten dennoch einen ernsten Unterton, der Màiri nicht entging. Sie und Neill kannten sich, solange sie denken konnte, und es war für beide selbstverständlich, dass sie eines Tages heiraten würden. Noch waren sie Kinder, aber ihre Zukunft lag so klar vor ihnen wie das Wasser in der Village Bay an einem warmen Sommertag.

»Am Nachmittag wird Bruce den Mistress Stone besteigen«, wechselte Neill das Thema. »Sollen wir dabei zusehen?«

Màiri nickte und stand auf.

»Natürlich, und ich möchte gerne die alte Kenna besuchen.«

Kenna war Neills Urgroßmutter, und keiner wusste genau, wie alt sie war. Sie selbst wusste es ebenfalls nicht, denn als sie geboren wurde, hatte es auf Hirta keine schriftlichen Aufzeichnungen, geschweige denn so etwas wie ein Geburten- oder Sterberegister gegeben. Erst mit der Ankunft der Missionare Anfang des Jahrhunderts, die auf der Insel als Geistliche und Lehrer fungierten, begann man, die Einwohner zu registrieren. Diese Regelung empfanden die St. Kildaner als völlig unnütz und überflüssig, aber sie konnten nichts gegen die Anweisung der Regierung ausrichten.

»Musst du denn nicht nach Hause?« Neill stand auf. »Meine Mutter sagte mir, dass es deinem Bruder nicht gutgeht.«

Màiri erhob sich ebenfalls.

»Er wird wahrscheinlich sterben. Deswegen war Mutter nicht im Gottesdienst, sie wollte ihn nicht allein lassen.«

Màiri war nicht hartherzig, auch wenn sie so nüchtern über den Tod sprach. Es war ihr zwar nicht gleichgültig, dass es ihrem drei Wochen alten Bruder seit seiner Geburt schlechtging und heute Morgen kaum noch Leben in dem kleinen Körper gewesen war, aber Màiri hatte bereits vier Geschwister verloren. Alle hatten sie die ersten Wochen nicht überlebt. So ging es allen Familien auf der Insel. Die meisten Neugeborenen starben innerhalb der ersten vier Monate. Das nahmen die Menschen auf St. Kilda ebenso hin wie das Kommen und Gehen der Gezeiten.

Etwas langsamer, als sie auf den Oiseval gelaufen waren, stiegen die beiden wieder zur Village Bay hinunter. Als die in einer Reihe erbauten Häuser in Sichtweite kamen, stieg den Kindern der Duft nach Essen in die Nase. Erst jetzt merkte Màiri, wie hungrig sie war. Sie hob die Hand und winkte dem Freund zu.

»Wir sehen uns später, Neill, beim Mistress Stone.«

Neill nickte, dann beeilte er sich ebenfalls, nach Hause zu kommen. Auch wenn er erst auf dem Weg war, erwachsen zu werden – sein Hunger und sein Appetit entsprachen dem eines ausgewachsenen Mannes.

»Da ist der Junge der Mackays.« Reverend Donald Munro trat vor die Tür und blickte Neill nach. »Der Bengel war heute nicht im Gottesdienst. Es wird eines Tages schlimm mit ihm enden.«

Eine große, hagere Frau in der Tracht einer Krankenschwester bog just in diesem Augenblick um die Ecke und hörte die Worte Munros. Seufzend stellte sie ihren Korb ab und rieb sich mit beiden Händen den verkrampften Rücken.

»Der Junge von Mackay wird ab morgen mit den Männern arbeiten und nicht mehr zur Schule kommen«, sagte sie. »Das hat mir vorhin seine Mutter erzählt, als ich Eier von ihr holte.«

Der Reverend zuckte mit den Schultern.

»Er ist noch ein halbes Kind und begibt sich jetzt schon Tag für Tag in Lebensgefahr. Was sind das für Eltern, die ihre Kinder in diese mörderischen Klippen schicken, kaum dass sie laufen können?«

»Eltern, für die es nichts Besonderes ist, wenn ihre Kinder sterben, und die ihnen nicht einmal einen Namen und einen Grabstein geben«, erwiderte Schwester Wilhelmina mit einem verkrampften Lächeln. »Der Säugling der Daraghs ist vorhin gestorben, ich komme gerade aus dem Haus.«

Der Reverend sah Wilhelmina Steel bekümmert an.

»Wieder Tetanus?«

Sie nickte und ballte in hilflosem Zorn die Hände zu Fäusten.

»Man kann den Leuten sagen, was man will, sie ignorieren es einfach! Sauberkeit und Hygiene scheinen für sie Teufelswerk zu sein, das man auf jeden Fall meiden muss. Ach, manchmal bin ich es so leid, immer wieder Kinder sterben zu sehen, dabei wäre es so einfach, die Tetanusinfektionen einzudämmen, wenn nicht sogar zu vermeiden. Die Leute müssten lediglich ein paar einfache hygienische Maßnahmen bei der Geburt beachten und die Säuglinge sauber halten. Können Sie sich vorstellen, Donald, dass die Frauen ihre Kinder gebären, während neben ihnen die toten Seevögel liegen?« Schwester Wilhelmina schüttelte sich angeekelt.

»Solange die Frauen der Insel jedoch nicht gestatten, dass Sie, liebe Schwester Wilhelmina, bei der Geburt dabei sein dürfen, wird es Ihnen wohl kaum gelingen, an diesen Zuständen etwas zu ändern.«

Die Krankenschwester runzelte verärgert die Stirn. Obwohl die St. Kildaner ihre Hilfe hin und wieder in Anspruch nahmen, war sie bei den Geburten nach wie vor ausgeschlossen. Die alte Kenna hatte, als Wilhelmina sich bitterlich darüber beklagte, nur leise gesagt: »Seit Jahrtausenden bringen die Frauen der Insel ihre Kinder allein und nur mit Gottes Hilfe zur Welt. Sie müssen unsere Art zu leben respektieren.«

»Donald, Schwester Wilhelmina ... das Essen steht auf dem Tisch.« Eine Frau trat aus der Tür und riss Wilhelmina aus ihren Gedanken. Plötzlich spürte sie, wie hungrig sie war, und lächelte die Ehefrau des Reverends freundlich an.

»Danke, Mrs. Munro, es duftet köstlich.«

Margaret Munro erwiderte das Lächeln der Schwester nicht. Stumm drehte sie sich um und ging ins Haus zurück, ohne auf ihren Mann zu warten. Margaret, eine kleine, untersetzte Frau mit mausbraunem, glattem Haar, führte gewissenhaft ihren Haushalt. Ihren beiden Stieftöchtern war sie eine liebevolle Ersatzmutter. Seit sie jedoch auf dieser Insel war, fraß die Flamme der Eifersucht an ihr. Aufgewachsen als einziges Kind eines Pfarrers, war sie nach dessen Tod gezwungen gewesen, sich ihren Lebensunterhalt als Gouvernante zu verdienen. Margaret war ein sogenanntes spätes Mädchen, denn mit sechsundzwanzig Jahren war sie immer noch unverheiratet gewesen. Das lag nicht nur an ihrem wenig attraktiven Äußeren und ihrer Schüchternheit, die sie sogar beim Unterrichten der ihr anvertrauten Kinder nicht vollständig ablegen konnte, sondern auch an ihrer nicht vorhandenen Mitgift. Ihr Vater hatte seine Familie von Woche zu Woche gerade so ernähren können – zum Zurücklegen war kein Penny übrig geblieben. Als dann der Witwer Donald Munro auf der Suche nach einer Frau und Mutter für seine zwei kleinen Töchter in ihr Leben trat, hatte Margaret nicht lange überlegt. Der Reverend hatte das Angebot erhalten, auf der Inselgruppe St. Kilda als Geistlicher und als Lehrer zu arbeiten, doch dazu brauchte er eine Frau, die ihm den Haushalt führte und seine Kinder erzog. Vier Wochen nach ihrer ersten Begegnung im vergangenen Herbst traten sie schon vor den Altar. Die Hochzeit musste schnell stattfinden, da Munro und seine Familie bereits eine Woche später mit dem letzten Dampfschiff in diesem Jahr nach St. Kilda reisen mussten. Zwischen Oktober und April gab es keine Schiffsverbindung vom Festland zu den Inseln im Nordatlantik. Ihre Heirat beruhte nicht auf Liebe, sondern auf zweckmäßigen Überlegungen. Margaret behandelte ihren Mann mit Respekt und Freundlichkeit, die er erwiderte, dennoch teilte er seine Gedanken nicht mit ihr, sondern mit Wilhelmina Steel, die seit zwei Jahren als Krankenschwester auf Hirta lebte. Mit ihr besprach Donald alles, was seine Schäfchen anging, und mit ihr teilte er seine Sorgen und Nöte. Stundenlang saßen die beiden zusammen und diskutieren darüber, was man tun konnte, um die Lebensumstände der St. Kildaner zu verbessern. Es war nicht so, dass Donald Munro seine Frau von diesen Gesprächen ausschloss. Jedoch hatte Margaret bald bemerkt, dass man ihre Meinung nicht hören wollte und – wenn sie etwas einwandte – weder Donald noch Wilhelmina sie ernst nahmen. Meistens sagte Donald mit einer lapidaren Handbewegung: »Ach, Margaret, davon verstehst du nichts, aber ich meine, den Braten im Ofen zu riechen. Vielleicht solltest du mal nach ihm sehen, bevor er verbrennt.«

Wilhelmina Steel war zwar auch keine schöne Frau, aber sie war äußerlich wie charakterlich das Gegenteil von Margaret Munro: groß, hager mit eckigen Körperformen, glattem, braunem Haar und einem energischen Kinn. Darüber hinaus war Schüchternheit für Wilhelmina ein Fremdwort – die Frau strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Sie hatte den Beruf der Krankenschwester bei niemand Geringerem als Florence Nightingale erlernt, und das betonte Wilhelmina bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit. Mit dem Engel der Verwundeten, wie Miss Nightingale auch genannt wurde, war sie zusammen auf der Krim gewesen. Seit ihrer Ankunft auf St. Kilda hatte sich Schwester Wilhelmina zum Ziel gesetzt, aus den sturen und schmutzigen Menschen, die die Insel bevölkerten, ehrbare Inselbewohner zu machen. Leider waren ihre Bemühungen bisher nur von wenig Erfolg gekrönt.

Die Krankenschwester wohnte oberhalb der Village Bay in einem kleinen Steinhaus neben dem Haus der Munros. Jeden Sonntag aß sie gemeinsam mit den Nachbarn zu Mittag. Als Margaret die gebratene Hammelkeule auf den Tisch stellte, seufzte Schwester Wilhelmina laut und sagte mit ihrer tiefen, rauen Stimme: »Es wird Zeit, dass wieder ein Schiff vom Festland kommt und frische Lebensmittel bringt. Dieses ewige Hammelfleisch mag ich ebenso wenig essen wie die gesalzenen und eingelegten Vögel.«

Margaret zuckte zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. Sie hatte sich mit dem Braten viel Mühe gemacht, und Hammel gab es nur am Sonntag. An den Werktagen aßen sie, ebenso wie die St. Kildaner, Haferbrei und zwei oder drei Mal die Woche von den gebeizten Basstölpeln oder Papageientauchern. Auf Hirta wurde zwar eine geringe Anzahl von Rindern und Hühnern gehalten, aber diese dienten nicht vorrangig als Nahrung, ebenso wenig wie die Schafe. Die Kühe lieferten Milch, die Wolle der Schafe wurde gesponnen und zu Tuch gewebt, aus dem die Frauen die Kleidung nähten, und die Hühnereier waren eine Abwechslung zu den Eiern der Seevögel. Gegen Ende des langen Winters, der hier sieben oder gar acht Monate dauerte, wurde der eine oder andere Hammel geschlachtet, und manchmal ein Huhn, aber hauptsächlich ernährten sich die Inselbewohner von dem eingelagerten Fleisch der Seevögel. Gemüse wurde nur in geringen Mengen angebaut. Lediglich in der geschützten Umgebung der Village Bay wuchsen Hafer und Kartoffeln, aber die Kartoffeln, die Margaret im letzten Herbst eingelagert hatte, waren längst aufgebraucht. Obst war, bis auf ein paar wilde Beeren, den St. Kildanern gänzlich unbekannt, denn wegen des stetigen rauen Wetters und der starken Winde gab es auf dem gesamten Archipel kein Gewächs, das mehr als kniehoch war. Wer die Insel nicht verließ, sah in seinem Leben nie einen Baum, und Äpfel lernten sie nur kennen, wenn das Dampfschiff welche mitbrachte, was aber äußerst selten geschah.

»Wann können wir mit dem Eintreffen des ersten Schiffes rechnen?«, fragte Donald Munro, während er eine Scheibe vom Hammelbraten abschnitt und Schwester Wilhelmina auf den Teller legte.

»Das kommt auf das Wetter an. Die heftigen Frühjahrsstürme legen sich in der Regel gegen Ende des Monats, aber darauf können wir uns nicht verlassen. Ich habe gehört, dass es Jahre gegeben hat, da konnte während der ganzen Sommermonate kein einziges Schiff die Überfahrt wagen. Hoffen wir also, dass Petrus uns in diesem Jahr wohlgesinnt ist. Vielleicht sprechen Sie ein paar Gebete zusätzlich, Sie haben doch einen guten Draht zu dem da oben.«

Sie lachte und deutete mit dem Daumen nach oben. Margaret war erstaunt, dass ihr Mann über diesen Scherz ebenfalls lächelte. Hätte sie eine solch respektlose Bemerkung über Gott gemacht, hätte Donald sie gewiss streng gerügt, denn er war ein zutiefst gläubiger Mensch.

Die Unterhaltung während des Essens bestritten ausschließlich Donald Munro und Schwester Wilhelmina, während Margaret und ihre beiden Stieftöchter das Mahl schweigend verzehrten. Den Mädchen war es verboten, während des Essens zu sprechen, und Margaret wusste nicht, was sie zu der Unterhaltung hätte beitragen sollen. Da Donald es nicht gerne sah, wenn sie oder die Mädchen Kontakt zu den St. Kildanern pflegten, kannte sie die Menschen nur flüchtig, von den meisten wusste sie nicht einmal den Namen. Donald wollte nicht, dass sich seine Familie mit den ungebildeten Menschen mehr als notwendig abgab, und so waren Margaret, Emma und Judith tagein, tagaus auf sich gestellt. Glücklicherweise hatten die Mädchen ihre Stiefmutter schnell ins Herz geschlossen, und die Arbeit im Haushalt und die ständig anfallenden Näharbeiten füllten ihre Tage aus.

Nach dem Essen erhob sich Schwester Wilhelmina, um in ihr Haus zu gehen. An der Tür sagte sie mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln zu Donald Munro: »Was mir gerade noch einfällt – am Nachmittag will einer der Männer auf den Mistress Stone klettern. Sie sollten gegen diesen gefährlichen und heidnischen Brauch strenger vorgehen, Reverend. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder einen Toten zu beklagen haben.«

»Sie haben meine volle Zustimmung, Schwester, aber was sollen wir machen?« Hilflos zuckte Munro mit den Schultern. »Die Männer lassen sich nichts verbieten, und das Ritual, auf den Felsen zu klettern, um seine Heiratsfähigkeit unter Beweis zu stellen, scheint so alt zu sein wie die Insel selbst. Warten Sie, ich begleite Sie nach Hause ...«

Durch das Fenster beobachtete Margaret ihren Mann und Schwester Wilhelmina, als diese über den kurzen Weg zum Nachbarhaus schritten. Obwohl Donald zu Wilhelmina Steel Abstand wahrte und sie nicht berührte, strahlten sie Vertrautheit, ja, beinahe schon Intimität aus, als wären sie seit langer Zeit ein Paar. Seufzend wandte sich Margaret an ihre Stieftöchter.

»Es ist Zeit für euren Mittagsschlaf«, sagte sie streng. »Hinauf mit euch ins Bett.«

Emma, die Ältere, verzog das Gesicht.

»Ach, Stiefmama, ich bin überhaupt nicht müde. Ich möchte viel lieber spazieren gehen. Vorhin habe ich gesehen, wie Màiri Daragh mit ihrem Freund auf den Berg gelaufen ist. Dort möchte ich auch mal hinauf, da oben ist ein Versteck zwischen alten Steinen, und ...«

»Still, Emma, du weißt, dass euer Vater nicht möchte, dass ihr euch, außer in der Schule, mit den Dorfkindern abgebt. Ihr dürft nie vergessen, dass ihr anständige und gut erzogene Mädchen mit einer gewissen Bildung seid.«

»Aber die Kinder hier sind immer so lustig und spielen miteinander.« Die Dreizehnjährige schürzte die Lippen, und Margarets Stirn umwölkte sich. »Den ganzen Winter sind wir kaum aus dem Haus gekommen und mussten andauernd lernen, nähen, sticken oder putzen. Können wir nicht jetzt im Frühjahr die Insel erkunden? Judith würde das sicher auch gefallen. Nicht wahr, Judith?« Emma stupste ihrer neunjährigen Schwester den Zeigefinger in die Rippen, aber diese gähnte nur ausgiebig.

»Ich lege mich hin«, murmelte Judith und ging langsam zur Treppe, die ins obere Stockwerk führte.

Judith war für ihr Alter zu klein und zu pummelig, dementsprechend träge war sie, während Emma voller Tatendrang steckte. Emma blieb nichts anderes übrig, als der Schwester zu folgen, obwohl sie es mehr als kindisch fand, mit dreizehn Jahren noch einen Mittagsschlaf halten zu müssen. Doch die Wünsche des Vaters waren in diesem Haus Gesetz, und sich dagegen aufzulehnen brachte den Mädchen nur schmerzhafte Stockhiebe auf das entblößte Hinterteil ein.

Nachdem die Kinder das Wohnzimmer verlassen hatten, griff Margaret nach dem Nähkorb. Auch wenn es Sonntag war – die Arbeit musste erledigt werden. Es galt, etliche Socken zu stopfen, heruntergerissene Säume auszubessern, und an Donalds Werktagsjacke fehlte ein Knopf. Wenn das Dampfschiff kam, würde es vielleicht Stoffe, Nähgarn und Knöpfe mitbringen, aber sie konnte sich nicht darauf verlassen. Auf Hirta gab es nur den groben, ungefärbten Stoff, den die Frauen den Winter über aus der Wolle der Schafe webten und aus dem sie ihre Kleidung nähten. Während Margarets Finger automatisch das Garn durch den Stoff zogen, versuchte sie, nicht daran zu denken, was ihren Mann so lange bei Wilhelmina aufhielt, denn eigentlich hätte er längst zurück sein müssen. Da er jedoch seit Monaten jeden Sonntag nach dem Mittagessen einige Stunden mit der Krankenschwester verbrachte, verdrängte Margaret die Vorstellung, ausgerechnet Donald Munro, Geistlicher der Kirche von Schottland, würde gegen das sechste Gebot verstoßen. Obwohl sie Donald nicht aus Liebe geheiratet hatte, bohrte sich der Stachel der Eifersucht in ihr Herz. Er hatte sie auf diese von Gott verlassene Insel gebracht – bei diesem Gedanken sprach Margaret schnell ein Gebet, denn kein Fleckchen auf der Erde war von Gott verlassen –, und sie erwartete von ihrem Ehemann ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie wollte die täglichen Sorgen mit Donald besprechen, wollte an seiner Arbeit Anteil haben und nicht wie eine unbezahlte Haushälterin am Rand stehen. Margaret schrie leise auf, als sie sich mit der Nadel in den Mittelfinger stach. Ein kleiner, dunkelroter Blutstropfen bildete sich auf der Fingerkuppe, und Margaret legte die Näharbeit zur Seite und stand auf.

»Im Frühjahr und Sommer wird es bestimmt besser«, sagte sie zu sich selbst, während sie aus dem Fenster blickte. Ihre trüben Gedanken rührten von den Monaten der Dunkelheit her. Im Winter zeigte sich auf St. Kilda die Sonne nur wenige Stunden am Tag – wenn sie überhaupt schien. Frost und Schnee, wie sie es aus ihrer Heimat in den Grampian Mountains kannte, waren zwar selten, aber der andauernde Regen und die über die Insel tobenden Stürme drückten auf das Gemüt. Kein Wunder, dass sie unzufrieden war. Bald schon würde sie den kleinen Gemüsegarten hinter ihrem Haus umgraben und die ersten Pflanzen setzen können. Vielleicht würde es ihr auch gelingen, ein paar Blumen zu ziehen. Blumen würden Farbe in die Tristesse bringen. Ein Lächeln stahl sich auf Margarets Lippen. Ja, ihre Ehe würde besser werden, und die Vorstellung, Donald könnte ein Verhältnis mit der Krankenschwester haben, würde ihr bald schon so lächerlich vorkommen, wie es tatsächlich war. Sie musste nur ein wenig Geduld haben ...

Nachdem Màiri hastig ihre Schüssel Haferbrei mit ein paar Stück getrocknetem Möwenfleisch gegessen hatte, beeilte sie sich, zu der Klippe südlich der Village Bay zu kommen. Auf das Stoffbündel in der Ecke mit dem Körper ihres toten Bruders warf Màiri nur einen flüchtigen Blick. Seinen Kopf bedeckte ein rotes Tuch, sein kleiner Körper war in eine grobe Wolldecke gewickelt, über die morgen der obligatorische rote Sack gezogen werden würde. Der gefärbte rote Wollstoff wurde auf der Insel von alters her nur für die Bestattung der Toten verwendet. Auch Annag, ihre Mutter, schien der Tod ihres Sohnes nicht allzu sehr zu bekümmern. Màiri bemerkte zwar eine leichte Rötung ihrer Augen, als ob die Mutter geweint hatte, aber jetzt galt es, sich um die täglichen Aufgaben zu kümmern. Morgen bei Sonnenuntergang würde der Junge auf dem Friedhof begraben werden – so wie seine Geschwister vorher und so, wie weitere Säuglinge folgen würden.

»Dein Vater hat den Sarg bereits in Auftrag gegeben«, beantwortete Annag die unausgesprochene Frage ihrer Tochter. »Wir haben Glück, vor vier Wochen wurde ein Haufen Strandgut angeschwemmt, davon hat Robert noch Bretter übrig. Offenbar ist draußen ein Schiff im Sturm auseinandergebrochen.«

Da Bäume oder sonstige Gewächse, die mehr als kniehoch waren, auf der Insel völlig fehlten, war Holz Mangelware. Im Sommer brachte das Dampfschiff zwar alles Nötige, aber nach den langen Monaten ohne Kontakt zur Außenwelt waren selbst einfache, zersplitterte und zum Teil modrige Bretter eine Rarität. Anfang des Jahres hatte einer der Männer seinen einzigen Tisch zerhackt, um aus dem Holz einen Sarg für seine tote Tochter zimmern zu können.

»Mama, kann ich jetzt gehen?«

Annag nickte, doch bevor Màiri zur Tür hinausschlüpfte, strich Annag ihr kurz übers Haar.

»Viel Spaß, Kind, und wenn du deinen Vater siehst, dann sag ihm, dass ich nicht zur Klippe kommen kann. Es gibt hier noch viel zu erledigen.«

Màiri nickte und gab der Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie liebte ihre Mutter über alles, und je älter sie wurde, desto mehr zeigte sich die Ähnlichkeit zwischen den beiden. Sie hatte das gleiche rötliche, gelockte Haar, das im Sonnenschein wie Kupfer glänzte, und die grünen Augen ihrer Mutter. Schon jetzt war klar, dass Màiri für ein Mädchen sehr groß werden würde, auch die Mutter überragte die meisten anderen Frauen der Insel. Das entbehrungsreiche und harte Leben hatte bei Annag jedoch auf ihrem Gesicht zwei tiefe Falten eingegraben, die sich von den Nasenflügeln zum Kinn zogen, und um ihre Augen zeigte sich ein Spinnennetz feiner Linien. Immer öfter griff sich Annag stöhnend an den Rücken, wenn sie längere Zeit gebückt arbeiten musste. Annag Daragh war im letzten Herbst dreißig Jahre alt geworden. Seit ihrer Heirat mit Ervin vor vierzehn Jahren war sie acht Mal schwanger gewesen – sechs Kinder hatte sie lebend zur Welt gebracht, von denen aber nur eines – Màiri – das Säuglingsalter überlebte. Weitere Kinder würde sie wohl nicht mehr bekommen, denn seit der letzten Schwangerschaft hatte Ervin sie nicht mehr angerührt. Nach ihrer Heirat war ihr Mann ohnehin nur selten zu ihr gekommen, und der körperliche Akt war schnell und lieblos gewesen, aber Annag hatte jedes Mal sofort empfangen. Nun war sie für die ausbleibenden Annäherungen Ervins dankbar, denn sie wollte kein weiteres Kind. Seit der Geburt des Jungen, der nur so kurz hatte leben dürfen, fühlte sie sich ständig müde, und die Rückenschmerzen waren manchmal so stark, dass Annag fest die Lippen zusammenpressen musste, um nicht zu jammern. Obwohl sie das Schicksal, ihre Kinder im Säuglingsalter sterben zu sehen, mit den meisten Frauen Hirtas teilte, wollte sich Annag nicht wieder diesem Leid aussetzen. Sie wollte nicht wieder neun Monate lang ein Leben in ihrem Körper heranwachsen spüren, um es dann zu verlieren. Um Màiri, die sie aus ganzem Herzen liebte, brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Sie war gesund und kräftig und hatte bisher auch nicht den Anflug einer Krankheit gehabt. Das Mädchen kletterte beinahe ebenso gut wie die Männer in den Klippen herum, und bei der täglichen Arbeit – im Sommer das Rupfen und Ausnehmen der Seevögel, im Winter das Spinnen von Wolle und das Weben der Stoffe – war ihr Màiri bereits eine große Hilfe. Bei einem Blick aus dem schmalen Fenster sah sie, wie der junge Neill Mackay die Hand ihrer Tochter nahm und die beiden Kinder lachend davonstoben. Das Schicksal ihrer Eltern wiederholte sich. In fünf, sechs Jahren würde Màiri Neill wohl heiraten, ebenso wie sie, Annag, ihren Jugendfreund Ervin geheiratet hatte, als sie beide alt genug für die Ehe gewesen waren. Bereits als Kind hatte Annag Ervin gemocht, obwohl er damals anders war als die anderen Jungen der Insel. Er hatte sich später entwickelt, war kleiner gewesen und hatte Spott ertragen müssen, als bei den Gleichaltrigen der Bartwuchs begann, bei Ervin sich aber nicht der Hauch eines Flaums zeigte. Aber Ervin war zäh. Entschlossen hatte er schon früh härter als die anderen gearbeitet. Keine Klippe war ihm zu hoch oder zu steil, kein Vogelnest zu versteckt, und kein Sturm hatte ihn von der Arbeit abhalten können. Bald schon hatte Ervin die fettesten Vögel und die größten Eier ins Dorf gebracht und sich so die Anerkennung der Männer errungen. Irgendwann war ihm dann auch ein Bart gewachsen, der den unteren Teil seines Gesichts verbarg. Annag fühlte ein leichtes Bedauern, denn Ervin hatte volle, schön geschwungene Lippen, die jetzt unter den Haaren nicht mehr zu erkennen waren. Aber seine hellgrauen Augen mit den schwarzen, langen Wimpern faszinierten sie noch heute. Manchmal sah er sie mit einem Blick an, der Annag wie der eines Kindes erschien. Allerdings litt Ervin nach wie vor an mangelndem Selbstbewusstsein, obwohl er bei allen Männern auf der Insel längst anerkannt war. Leider kam es vor, dass Ervin aufbrausend, oft schon jähzornig war und Annag grundlos anbrüllte. Manchmal rutschte ihm auch die Hand aus, was er später bedauerte, und Annag verzieh ihm. Ervin meinte es nie böse, und auch andere Frauen erhielten von ihrem Mann regelmäßig eine Ohrfeige. Solange Ervin sich nicht an seiner Tochter vergriff – und er hatte Màiri noch nie angerührt –, spielte dies keine Rolle. Trotz der gelegentlichen Schläge und obwohl Liebe, besonders was den körperlichen Bereich betraf, nie ein wichtiger Teil ihrer Ehe war, fühlte Annag sich für ihren Mann verantwortlich und wollte ihn beschützen. Das durfte sie ihn natürlich nicht merken lassen, denn es hätte seinen Stolz zutiefst verletzt und ihn vor den Männern lächerlich gemacht. Trotzdem hatte Annag stets das Gefühl, Ervin mehr wie einen Sohn denn wie einen Ehemann zu lieben.

Am Mistress Stone hatten sich schon fast alle Bewohner Hirtas versammelt, als Màiri und Neill atemlos eintrafen. Der siebzehnjährige Bruce wollte die gleichaltrige Brenda zur Frau nehmen. Zuvor musste er jedoch vor den Augen aller Männer von Hirta seine Ehefähigkeit an der türförmigen Öffnung des Felsens nordwestlich des Berges Ruival beweisen. Niemand wusste, seit wann es üblich war, dass ein heiratsfähiger Mann den Mistress Stone besteigen musste. Diesen Brauch gab es schon so lange, wie die Insel bewohnt war. Seit Màiri bei dem Spektakel, das üblicherweise immer an einem Sonntagnachmittag stattfand, zusehen durfte, war noch nie ein Unglück geschehen, aber die alte Kenna hatte berichtet, dass junge Männer öfter von der Klippe hinab ins tosende Meer und damit in den Tod gestürzt waren.

Von vier älteren Männern eskortiert, trat Bruce an den Rand der Klippe. Er hob die Arme, atmete tief durch, dann kletterte er mühelos auf den Felsen. Auf der oberen Felsenplatte des Steines, die wie ein Türsturz aussah, angekommen, stellte Bruce sich auf seinen linken Fuß, wobei sich seine halbe Sohle über der Klippe befand. Dann zog er seinen rechten Fuß weiter nach links, und in dieser Haltung nach vorn gebeugt, streckte er beide Fäuste in Richtung seines rechten Fußes. Einstimmiger Jubel aus vielzähligen Kehlen stieg auf.

»Du hast nun die beste Frau der Welt verdient!«, rief ein graubärtiger Mann, und die Frauen klatschten begeistert in die Hände.

Bruce grinste, während er wieder eine bequemere Haltung einnahm, und entgegnete: »Die beste Frau, die sich ein Mann wünschen kann, ist meine Brenda MacKiennon.«

Die namentlich Erwähnte, ein hübsches dunkelblondes Mädchen mit großen grauen Augen, errötete und senkte verlegen den Kopf, als die St. Kildaner nun auch sie hochleben ließen.

»Ich freue mich auf den Tag, wenn ich die Probe bestehe und alle dir zujubeln werden«, flüsterte Neill Màiri ins Ohr, die daraufhin ebenfalls errötete. Sie tastete nach Neills Hand und drückte sie in stiller Zustimmung.

»Hoffentlich kommt mit dem ersten Boot ein Priester, damit Bruce und Brenda bald heiraten können«, sagte eine Frau direkt neben Màiri, woraufhin eine zweite entgegnete:

»Hoffen wir, dass das Dampfschiff überhaupt bald durchkommt. Unser Haus ist bis unters Dach voll mit gewebtem Stoff, der abtransportiert gehört. Wir haben kaum noch Platz zum Schlafen.«

Obwohl Donald Munro Reverend war und neben dem Schulunterricht den sonntäglichen Gottesdienst abhielt, war er nicht befugt, Trauungen durchzuführen. Dies war auf St. Kilda nur bestimmten Priestern erlaubt, die ein-, höchstens jedoch zweimal im Jahr auf die Insel kamen. Somit mussten die Brautpaare oft Monate warten, bis sie heiraten konnten. Beerdigungen, wie die von Màiris Bruder am nächsten Tag, waren hingegen alleinige Angelegenheit der St. Kildaner, bei denen weder der Reverend noch ein Priester etwas zu suchen hatten. Einem uralten Brauch zufolge nahmen alle Inselbewohner an der Beerdigung teil. Zuerst gingen sie von Haus zu Haus, sangen dort ihre Psalmen, und der Sarg mit dem Verstorbenen wurde reihum von jedem Mann ein Stück weit getragen. Der Friedhof war nicht weit vom Dorf entfernt, dennoch dauerte es manchmal eine Stunde, bis die Leute den Gottesacker erreichten. Um die Gräber vor den ständigen Winden, den Herbst- und Winterstürmen und dem Eindringen von Tieren zu schützen, war der Friedhof mit einer hohen, massiven Mauer umgeben, und nur eine kleine Tür bildete den Zugang. Während die Männer das Grab aushoben, gedachten die Frauen durch laute Gebete früherer Verstorbener oder Freunden und Verwandten, die die Insel verlassen hatten. Sie ehrten den Tod, denn der Tod gehörte zum Leben wie die Geburt. Dann wurde der Sarg in die Grube hinuntergelassen und ein Bibelpsalm gesungen. Danach verließen die Männer den Friedhof, während die Frauen das Grab mit Erde bedeckten und dabei mit ihrem Gesang fortfuhren. Grabsteine gab es keine auf St. Kilda, trotzdem wusste jeder, wo die Angehörigen seiner Familie begraben lagen.

Kenna Mackay saß, die Hände im Schoß gefaltet, vor ihrem Haus. Sie war die Einzige auf der Insel, die noch in einem der ursprünglichen Black Houses lebte. Diese Unterkunft der St. Kildaner war seit Jahrhunderten von den Frauen und Männern mit Materialen, die auf der Insel zu finden waren, erbaut worden und bestand aus groben, unbehauenen Steinen. Das Haus hatte keine Fenster, das Dach war mit Gras und Stroh gedeckt. Die Feuerstelle befand sich mitten in dem einzigen Raum, und der Rauch konnte lediglich durch die schmale, niedrige Türöffnung abziehen. Der Boden bestand aus festgetretenem Lehm. Obwohl wenig komfortabel, trotzte die massive Bauweise Wind und Wetter, und die dicken Mauern wehrten selbst einen Sturm ab. Vor einigen Jahren hatte die Regierung in Schottland beschlossen, den St. Kildanern bessere Unterkünfte zu bescheren. Baumaterial für Häuser, wie sie auf den Hebriden-Inseln üblich waren, wurde mit Schiffen nach St. Kilda gebracht, und die Black Houses wurden eingerissen. Lediglich Kenna hatte sich gewehrt, das Haus, in dem sie geboren und ihr ganzes Leben gelebt hatte, zu verlassen.

»Wenn ein heftiger Sturm kommt, wird es euch das Dach über dem Kopf wegreißen«, hatte sie geunkt und skeptisch die Dachdeckung aus Zinkblech beäugt. Zwar verfügten die neuen Häuser über einen gemauerten Ofen mit Rauchabzug, wenn jedoch der Wind von oben in den Kamin drückte, was während des Winters so gut wie täglich vorkam, war der Raum voll mit beißendem Qualm, der das Atmen unmöglich machte.

»Wir machen uns immer mehr vom Festland abhängig. Das wird eines Tages schlimm enden«, hatte Kenna gesagt, die ohnehin allen Neuerungen ablehnend gegenüberstand. »Der Tag wird kommen, an dem die St. Kildaner ohne die Hilfe von außen nicht mehr überleben können.«

Dies hielt Màiri zwar für übertrieben, aber sie liebte die alte Frau wie eine eigene Großmutter und verbrachte so viel Zeit wie möglich in ihrem Haus. Der Tag war mild, und der Wind wehte nur leicht über die Insel. Kenna war froh, dass der Frühling nun die langen, dunklen Wintertage vertrieb, denn bei dem feuchten Wetter schmerzten ihre Knochen und Gelenke.

»Guten Abend, Urma«, begrüßte Neill sie zärtlich mit dem Kosenamen, den er als kleines Kind seiner Urgroßmutter unfreiwillig gegeben hatte, weil er das lange Wort noch nicht hatte aussprechen können. »Màiri und ich waren am Mistress Stone. Bruce ist heute ein heiratsfähiger Mann geworden.«

Kenna winkte den Kindern, sich neben sie zu setzen. Sie selbst war nicht bei dem Spektakel an den Klippen gewesen. Ihre Hüftgelenke schmerzten heute sehr, zudem hatte sie die Zeremonie schon oft in ihrem Leben gesehen, und sie konnte nicht mehr viele Menschen um sich herum ertragen.

Màiri griff nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich.

»Wie geht es dir heute, Kenna?«

Die alte Frau hatte in den letzten Tagen gehustet und kaum Appetit gehabt, aber heute blitzten Kennas Augen wie die eines jungen Mädchens.

»Danke, Màiri, mir geht es sehr viel besser. Dem lieben Gott gefällt es wohl noch nicht, mich zu sich zu holen.«

Neill stellte den mitgebrachten Korb ab und sagte: »Mama schickt dir Brot und Fisch, Urma. Morgen wird sie frischen Haferbrei kochen, dann bringe ich dir eine Schüssel vorbei.«

Kenna nickte und musterte ihren Urenkel dankbar. Obwohl sie alt war, hatte sich ihr Augenlicht noch nicht getrübt, auch wenn sie feine Näharbeiten schon lange nicht mehr ausführen konnte. Auch ihr Gehör funktionierte noch einwandfrei, und wenn das kalte, feuchte Wetter ihr nicht in die Glieder fuhr und ihre Finger steif werden ließ, verbrachte sie jeden Tag einige Stunden am Spinnrad. Heute am Sonntag ruhte jedoch die Arbeit, und Kenna freute sich über den Besuch der Kinder.

»Wann wohl das Dampfschiff kommen wird?«, fragte Màiri gespannt. »Im letzten Jahr war es Juni, aber jetzt hat es seit Tagen nicht mehr gestürmt, so dass sie doch bestimmt früher kommen. Was meinst du, Kenna?«

Das runzlige Gesicht der Alten verzog sich unwillig, und sie spuckte verächtlich aus.

»Das Schiff ... pah! Alle warten auf das Schiff, dabei ging es uns viel besser, als die Menschen noch nicht auf unsere Insel einfielen wie hungrige Möwen. Ich wünschte, man würde uns in Ruhe lassen.«

»Aber Urma«, wandte Neill ein, »du hast selbst erzählt, dass immer schon Schiffe nach Hirta kamen, auch als du noch jung warst. Wie sonst sollten wir unsere Abgaben aufs Festland bringen und die notwendigen Dinge zum Leben bekommen?«

Über Kennas Augen fiel ein Schatten.

»Ja, wir müssen den Tribut an die McLeods leisten, keine Frage, aber auf diesen ganzen Schnickschnack, den sie uns vom Festland bringen, kann ich getrost verzichten. St. Kilda hat Tausende von Jahren ohne Hilfe vom Festland existiert. Ihr werdet schon sehen, Kinder, das ist der Anfang vom Ende.«

Neill rutschte unruhig auf dem flachen Stein, auf dem er saß, hin und her. So wie Kenna dachten alle älteren St. Kildaner, während die Jüngeren begierig darauf warteten, Nachrichten, Nahrungsmittel und Sonstiges zum täglichen Gebrauch vom Festland zu erhalten. Da Neill wusste, Kenna würde sich nur unnötig aufregen, wenn sie das Thema weiterverfolgten, streckte er rasch seine Füße vor und rief: »Sieh, Urma, ich habe heute Schuhe bekommen.«

Der düstere Ausdruck auf Kennas Gesicht verschwand, und ein Lächeln entblößte ihre zahnlosen Kiefer.

»Jetzt bist du ein Mann.«

»Ab morgen werde ich in den Klippen arbeiten und brauche nie wieder in diese grässliche Schule zu gehen.«

Ein erneutes wohlgefälliges Nicken Kennas bestätigte Neill in seiner Auffassung, während Màiri diese Meinung nicht ganz teilte. Auch wenn Reverend Munro streng und mit der Rute schnell zur Hand war, ging sie gerne zur Schule. Letzte Woche hatte der Reverend ihnen die Geschichte eines Mannes mit dem beinahe unaussprechlichen Namen Napoleon Bonaparte erzählt. Màiri war sich bis heute nicht sicher, ob es erfunden gewesen war oder ob dieser Mann tatsächlich gelebt hatte, so unglaublich klang die Geschichte seines Aufstiegs und seines Falls. Wenn der Reverend einen guten Tag hatte, dann durften die Kinder einen Blick in eines seiner Bücher werfen und die Zeichnungen – er nannte eines seiner Bücher auch Atlas – ansehen. Es gab auch Bücher mit wenigen Bildern, aber vielen Textstellen. Màiri wünschte sich, ein solches Buch für ein paar Stunden ganz für sich allein zu haben, um zu lesen, aber der Reverend hütete diese Schätze wie seinen Augapfel. Obwohl Màiri ihren Pflichten nachkommen musste, die es im Frühjahr und Sommer nur noch an Regentagen zulassen würden, regelmäßig den Unterricht zu besuchen, dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie es schaffen könnte, vielleicht täglich wenigstens für eine Stunde schreiben und lesen zu üben.

»Was ist mir dir?« Kenna durchbrach ihre Gedanken, und Màiri hatte nicht bemerkt, dass sie laut geseufzt hatte. Obwohl sie gerne bei Kenna war und ihren Erzählungen aus vergangenen Zeiten lauschte, konnte sie die alte Frau nicht an ihren Gedanken teilhaben lassen, denn Kenna würde dafür kein Verständnis aufbringen. Die Frauen auf St. Kilda hatten ihre vorbestimmten Aufgaben. Schon die Tatsache, dass seit einigen Jahren die Mädchen unterrichtet wurden, hatte den Unwillen der Älteren auf sich gezogen. Wozu musste eine Frau lesen, schreiben oder rechnen können? Wozu über Ereignisse, die lange zurücklagen, ihre Insel nicht betrafen oder auf der anderen Seite der Erde geschahen, Bescheid wissen? Mädchen sollten lernen zu spinnen, zu weben, Seevögel auszunehmen, zu rupfen und das Fleisch haltbar zu machen.