Die Mühlenschwestern - Das Glück wartet auf dich - Jana Lukas - E-Book
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Die Mühlenschwestern - Das Glück wartet auf dich E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Öffne dein Herz und das Glück wird dich finden

Antonia, die älteste der drei Mühlenschwestern, ist der Wirbelwind der Familie. Nachdem vor vielen Jahren ihre erste Beziehung traumatisch endete, lässt sie sich nur noch auf oberflächliche Affären ein. Dafür geht sie ganz in ihrem Beruf als Hebamme auf – und neuerdings in der Aufgabe als Treuzeugin für ihre beste Freundin Anna, die in der Mühle am Sternsee eine große Hochzeit plant. Doch als Antonia erkennt, dass ausgerechnet Xander, arroganter Sohn eines skrupellosen Hoteliers, den Trauzeugen gibt, möchte sie am liebsten davonrennen. Wenn Xander nur nicht so entsetzlich attraktiv wäre …

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Seitenzahl: 637

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Das Buch

Antonia seufzte, als sie ihr Rad auf den Mühlenhof lenkte. Ausgerechnet ein romantischer Heiratsantrag hatte dazu geführt, dass sie mehr Zeit mit Xander Valentin verbringen musste, als ihr lieb war. Das Leben als Hebamme brachte genug Aufregung. Und wenn ihr der Sinn nach Adrenalin und Abenteuer stand, ging sie Bergsteigen. Auf einen Mann, den sie nicht ausstehen konnte und dessen Anwesenheit in ihrem Leben an ihren Nerven zerrte, konnte sie getrost verzichten.

Als ihre beste Freundin Anna einen Antrag bekommt, freut sich Antonia sehr für sie. Die Hochzeit soll in der alten Mühle von Antonias Tante Lou stattfinden. Antonia, zur Trauzeugin auserkoren, stürzt sich in die Arbeit. Doch die Freude daran verschwindet rasch, als sie erkennt, wer der Trauzeuge des Bräutigams ist: Xander Valentin. Er ist nicht nur der Sohn eines geldgierigen Hoteliers, der es schon lange auf das Grundstück der alten Mühle abgesehen hat. Antonia und ihn verbindet auch ein besonderer Moment – der Jahre zurückliegt und den sie am liebsten vergessen würde. Antonia versucht, Xander aus dem Weg zu gehen. Doch seine kleine Tochter Leni, Tante Lou und Antonias Schwestern Hannah und Rosa machen ihr einen Strich durch die Rechnung.

Die Autorin

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

JANA LUKAS

DAS GLÜCK WARTET AUF DICH

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 12/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur unter Verwendung von Bildern von Stocksy/Jovana Vukotic, GettyImages/Achim Thomae, FinePic®

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25963-1V002www.heyne.de

Eine Mühle ohne Mühlradist wie ein Bräutigam ohne Braut.

(Sprichwort)

Prolog

Sommer vor sechs Jahren

Das Scheinwerferlicht des alten Land Rovers strich über die dunklen Silhouetten der Spitztannen und Buchen. Die Fenster waren heruntergelassen, und der laue Nachtwind, der mit Antonia Falkenbergs Haarspitzen spielte, füllte das Innere des Wagens mit dem erdigen Duft des Waldes, den sie so liebte. Holpernd kroch der Defender um die vorletzte Serpentine. Sie sah den Sternsee zwischen den Bäumen hervorblitzen. Tief unten im Tal. Das Mondlicht überzog seine Oberfläche mit einem silbrigen Schimmer. Über den Baumwipfeln funkelten die Sterne auf ihrem königsblauen Hintergrund.

Noch eine Kurve, und der Wagen rollte auf der Lichtung vor dem alten Forstlehen aus, das Antonias neues Zuhause werden sollte. Bis jetzt lebte sie zwar nur auf einer Matratze inmitten einer Baustelle, aber wenn der Umbau fertig war, wäre ihr Haus ein genauso schönes Schmuckstück wie die Alte Mühle ihrer Tante Louisa – ein Kleinod im Tal.

Antonias Magen begann zu kribbeln, als Xander Valentin den Motor abstellte. Zusammen mit dem Erlöschen der Scheinwerfer verstummte Stolen Dance von Milky Chance, ein Song, der in letzter Zeit immer zu laufen schien, wenn sie mit dem Mann unterwegs war, der neben ihr saß. Nur das Zirpen der Grillen und das Rascheln der Nachttiere waren zu hören, bis sie vom metallischen Quietschen von Xanders Fahrertür unterbrochen wurden.

Antonia wollte aus dem Wagen springen, aber in den letzten Wochen hatte sie gelernt zu warten. Xander war der Typ Mann, der um die Motorhaube herumging und einem beim Aussteigen behilflich war. So lächerlich sie das bis vor Kurzem gefunden hätte, sorgte diese Geste inzwischen dafür, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch komplett ausflippten. Xander und sie waren ein paarmal miteinander ausgegangen. Abende, die damit geendet hatten, dass er sie auf die Wange küsste und rastlos zurückließ. Einmal war er hier gewesen und hatte sich angesehen, wie sein Freund Matthias Weidinger, von allen nur Hias genannt, mit dem Umbau vorankam. Vielleicht würde er ja heute Nacht ein zweites Mal mit hereinkommen.

Xander verschränkte seine Finger mit ihren. Ohne zu sprechen, liefen sie über die taufeuchte Wiese zu den baufälligen Treppenstufen, die zur Haustür führten. Antonia trat auf die unterste und drehte sich zu ihm um. Das ausgetretene Holz brachte sie auf Augenhöhe. Ihre Gesichter waren sich so nah, und einen Herzschlag lang blickten sie sich in die Augen. Was Antonia in Xanders Blick las, war ein Spiegelbild der Sehnsucht, die ihre Gedanken beherrschte.

»Willst du mit …« hereinkommen, wollte sie fragen. Doch Xander wählte genau diesen Moment, seine Lippen auf ihre zu legen und ihre Worte in einem zarten Kuss zu ersticken. Fast war es, als wollte er nicht, dass sie ihn hereinbat. Im nächsten Moment verstärkte Xander den Druck seiner Lippen, und der Gedanke verflüchtigte sich. Seine Hände schoben sich um ihre Taille und zogen sie an ihn, bis sie nur auf den Zehenspitzen balancierte. Ihre Finger glitten um seinen Nacken, und was sanft begonnen hatte, explodierte in Leidenschaft. Antonia wünschte sich, dass dieser Kuss nie endete, dass Xander mit ihr durch die Tür taumeln und auf ihre Matratze fallen würde. Sie konnte nicht genug bekommen. Von seinem Geschmack. Dem Gefühl der starken Arme, die sie festhielten. Sie war noch lange nicht bereit, den Körperkontakt zu unterbrechen, als sich Xander von ihr löste und einen Schritt zurücktrat.

Wieder griff er nach ihrer Hand, hob ihre verschlungenen Finger an den Mund und küsste sie. »Gute Nacht«, flüsterte er.

Antonia zog ihn abermals an sich, küsste ihn und ließ dann zu, dass er rückwärts ging, bis ihre Finger auseinanderglitten. Erst nach zwei weiteren Schritten drehte er sich um und überquerte die Wiese. Er blickte noch einmal zu ihr zurück, ehe er in seinen Wagen stieg und von der Lichtung rumpelte.

Antonia presste die Hand auf ihr wild schlagendes Herz. Erst als sie die Scheinwerfer nicht mehr sehen und den Motor nicht mehr hören konnte, ging sie ins Haus. Sie würde sich einen Tee kochen, der das Adrenalin, das nach diesem Abend durch ihre Adern pumpte, ein wenig beruhigte. Anschließend konnte sie ihre überschüssige Energie abbauen, indem sie weiter die Fliesen in dem altersschwachen Bad abklopfte. Bei dieser Gelegenheit konnte sie sich darüber Gedanken machen, was eigentlich mit ihr los war. Sie war nicht der Typ, der mit Herzklopfen einem Mann hinterherblickte. Nein, sie hatte Spaß, genoss das Leben. Aber sie achtete immer darauf, niemanden zu nahe an sich heranzulassen. Xander hatte es irgendwie geschafft, diese Grundsätze, nach denen sie schon seit Jahren lebte, einfach auszuhebeln.

Sie hatte gerade den Wasserkocher eingeschaltet, als es an der Tür klopfte. Hatte Xander es sich anders überlegt? Die Schmetterlinge in ihrem Bauch hoben wieder ab. Antonia sprang über ein paar herumliegende Holzbalken und riss die Tür auf. »O … Hallo.« Xander war nicht zurückgekehrt, war das Erste, was ihr durch den Kopf ging. Sie starrte die Person an, die auf der wackeligen Treppenstufe balancierte. Das aufgeregte Klopfen ihres Herzens wich einem schmerzhaften Stechen. So schnell konnte sich also ein Abend, der magisch begonnen hatte, in das Gegenteil verwandeln – und den zaghaften Traum von Xander und ihr auslöschen.

1

Frühjahr sechs Jahre später

Antonia Falkenberg machte keinen Unterschied zwischen den Jahreszeiten – jede hatte etwas für sich. Wassersport im Sommer. Skifahren und Snowboarden im Winter. Im Frühjahr und im Herbst gab sie Mountainbike- oder Wandertouren den Vorzug. Aber was sie wirklich liebte, waren die Übergänge zwischen den Jahreszeiten. So wie zurzeit. Die ersten Frühjahrsblüher hatten sich gegen Kälte und Eis durchgesetzt, und wo der milde Wind den Schnee schmelzen ließ, blitzte das satte Grün der Wiesen durch das Weiß.

Sonnenstrahlen legten sich wärmend auf Antonias Haut, als sie aus dem alten Forsthaus trat und über die breite Terrasse ging. Sie lebte seit sechs Jahren auf der Lichtung, ein Stück oberhalb ihres Heimatdorfes Sternmoos. Von hier aus hatte sie einen atemberaubenden Blick auf die Berge, ohne die sie nicht leben konnte. Am Abend zuvor hatte sie ihr Mountainbike nach einer Bergtour nur gegen die Verandabrüstung gelehnt. Sie musste jetzt lediglich den Tau vom Sattel wischen und dann einfach in die Pedale treten.

Von der Lichtung aus hatte sie einen spektakulären Blick auf die rauen Bergspitzen, die dem Winter noch nicht entkommen waren. Sie lenkte das Rad talwärts und schoss die steile, kurvige Straße hinunter, die nach Sternmoos führte. Nach der zweiten Kurve sah sie den See zwischen den Bäumen aufblitzen, und nach der dritten lag er in seiner ganzen Schönheit vor ihr. Tiefgrün und eingerahmt vom letzten Schnee. An den Ufern hielten sich noch immer ein paar harte Eiskanten, aber auf den beiden kleinen Felseninseln hatten bereits ein paar mutige Narzissen die Köpfe zwischen den Farnen hervorgesteckt.

Antonia trat in die Pedale und bog auf die Straße ab, die um den See führte. Sie fuhr zum Holzwurm, der Kneipe ihrer Freunde Anna und Hias. Anna hatte sie um dieses Treffen gebeten und sehr geheimnisvoll getan. Gespannt, um was es ging, lehnte sie das Mountainbike an die Hauswand und betrat das Restaurant, das sich in den letzten Jahren zu einem echten Geheimtipp im Berchtesgadener Talkessel gemausert hatte.

Hias lehnte am Tresen und nippte an einem Bier. Ihm gehörte eine Schreinerei. Als er vor ein paar Jahren mit dem Betrieb von Sternmoos nach Ramsau umgezogen war, hatte Anna die Idee gehabt, aus dem alten Holzlager ein Lokal zu machen. Entsprechend urig war das Ambiente, in dem sich nicht nur Touristen nach einer anspruchsvollen Wanderung eine Stärkung gönnten, sondern auch die Dorfbewohner auf ein Bier und einen Enzian zusammenkamen.

»Da bist du ja.« Anna, die mit Antonia schon die Schulbank gedrückt hatte, kam hinter der Theke hervor.

Antonia umarmte die beiden zur Begrüßung. Dann ließ sie sich neben Hias auf einen Barhocker fallen. Sie stützte den Ellenbogen auf und legte ihren Kopf in die Hand.

»Ich mach dir gleich was zu trinken, aber erst muss ich dich um einen großen Gefallen bitten. Etwas, das mir sehr wichtig ist«, sagte Anna, und ihre Stimme klang geradezu feierlich.

Antonia richtete sich wieder auf. »Willst du zu einer Alpenüberquerung aufbrechen? Soll ich dich trainieren oder begleiten? Ein Fast-and-Furious-Filmmarathon? Ich bin für alles zu haben«, versuchte sie dem Moment die Ernsthaftigkeit zu nehmen. »Oder bist du schwanger? Sag mir, dass ich deine Hebamme sein darf! Egal ob ein Kind oder Drillinge: Ich hole sie dir alle ganz entspannt auf die Welt.«

»Klingt alles sehr verlockend.« Anna lachte. Sie hatte sich an Hias geschmiegt, der seine Hand um ihre Mitte geschoben hatte. Manchmal beneidete Antonia diese Nähe insgeheim. Ein Gedanke, der genauso schnell verschwand, wie er gekommen war. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre glücklich strahlende Freundin. »Ich möchte dich bitten«, Anna machte eine bedeutungsvolle Pause, »meine Trauzeugin zu werden.«

»Oh … wow.« Das hatte Antonia nicht kommen sehen. Sie war bei Hias’ Heiratsantrag in der Silvesternacht dabei gewesen, wie auch der Rest ihrer Clique. Er hatte sich auf das Eis des Sternsees gekniet, kurz nachdem sie ihre Schiffchen den Mühlbach hatten hinunterfahren lassen, und nach fünf Jahren Beziehung im Licht der Fackeln um Annas Hand angehalten. Antonia hatte angenommen, Anna würde ihre Schwester bitten … »Ja! Natürlich!« Sie umarmte ihre Freundin. »Das mache ich sehr gern.«

Hinter ihnen wurde die Tür geöffnet. Antonia drehte den Kopf und erkannte Xander Valentin im Türrahmen, den Menschen, den sie zurzeit noch weniger mochte als sonst. Seit seine Familie versucht hatte, das Mühlenfest ihrer Schwester und ihrer Tante zu boykottieren, stand er auf ihrer Abschussliste ganz oben. Jeder in ihrem Umfeld wusste das. Ihre Freunde hatten allerdings keine Ahnung, dass Antonias Abneigung gegen Xander schon viel länger andauerte. Sechs Jahre, um genau zu sein.

Hias holte sie in die Gegenwart zurück. »Da kommt mein Trauzeuge«, sagte er gut gelaunt.

»Was?« Antonia fuhr zu Anna herum. Ihr Herz setzte einen schockierten Schlag lang aus.

Ihre Freundin zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend. Sie hatten sie eiskalt reingelegt.

*

Xander Valentin hatte keine Zeit. Weder, um sich mit Hias zu treffen, noch um mit seiner Exfreundin Natalie herumzustreiten. Im Hotel Seeblick warteten die Bestelllisten, die er durchgehen musste, bevor sie an die Lieferanten verschickt werden sollten. Dazu kamen zwei Mitarbeitergespräche und ein Verweis an ein Zimmermädchen, das mehr an Seifen und Kugelschreibern mitgehen ließ als die Hotelgäste. Außerdem musste er einkaufen. Bis auf ein paar fragwürdige Brötchen und ein halbes Glas Schokocreme hatte an diesem Morgen gähnende Leere in seinem Kühlschrank geherrscht. Und dann war da noch die Wäsche. An die wollte er nicht einmal …

»Papa?«

Er blickte auf seine Tochter hinunter, die ihn aus großen braunen Augen vom Rücksitz seines Land Rovers anblickte. »Ist das Mama?«

Scheiße. Er hätte mehr Abstand zwischen sich und das Auto bringen sollen, als sein Handy geklingelt und er Natalies Nummer erkannt hatte.

»Du hast Leni bei dir?«, fragte seine Ex. Natürlich hatte er seine Tochter bei sich. Wo sonst sollte sie sein? »O mein Gott. Das hättest du mir sagen müssen. Ich will mit ihr reden.« Gerade eben war es noch darum gegangen, wie die Therapie, die sie machen wollte, am besten zu finanzieren war. Eine Privatklinik in der Schweiz. Die beste auf ihrem Gebiet. Hohe Erfolgsquote. Und so weiter, und so weiter. Nichts davon war Xander neu. Nur die Orte und Preispauschalen änderten sich. Er hatte schon vor Jahren den Eindruck gewonnen, dass es sich bei diesen Therapien um Wellnessurlaube handelte, bei denen auch ein bisschen getöpfert oder Körbe geflochten wurden. Geholfen hatte es noch nie.

»Lässt du mich mit ihr reden?«

»Papa?«

Die beiden Frauen, die sein Leben bestimmten, hatten gleichzeitig gesprochen. Leni blickte mit einem fast schon ängstlichen Blick zu ihm auf. »Ich geb sie dir«, sagte er zu Natalie. »Wir sprechen später weiter.« Ohne sich zu verabschieden, reichte er das Handy an seine fünfjährige Tochter.

Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er ihr aufgeregtes »Mama!« hörte. Er wollte diese Gespräche unterbinden, weil er genau wusste, dass Natalie ihrem kleinen Mädchen früher oder später wieder das Herz brechen würde. Wieder und immer wieder. Bis Leni alt genug war, selbst darüber zu entscheiden, ob sie ihrer Mutter das noch einmal erlauben würde. Trotzdem hatte er kein Recht, den Kontakt der beiden zu beschränken. Seine Tochter telefonierte sowieso viel zu selten mit ihrer Mutter, und ihre Augen leuchteten vor Sehnsucht.

»Kommst du mich bald besuchen?« Leni hörte einen Moment zu. »Du kannst mich vom Kindergarten abholen, und dann können wir Kuchen essen gehen. Oder ich zeige dir mein Feengeheimversteck.«

Xander stützte sich mit den Ellenbogen auf die Dachreling seines Wagens und rieb mit den Händen über sein müdes Gesicht. Er wollte die Hoffnung im Blick seiner Tochter nicht sehen. Und vor allem wollte er nicht hören, was Natalie ihr versprach.

Als Leni ihm das Handy hinhielt, gab sie ein kleines Quietschen von sich und schlug mit ihren Füßen begeistert gegen die Lehne des Vordersitzes. »Mama kommt mich bald besuchen«, sagte sie strahlend.

»Das ist fantastisch.« Er schob das Handy in die Tasche und hielt Leni die Hand hin. »Und jetzt lass uns mal nachsehen, was Hias von uns will.«

Leni sprang aus dem Wagen, und ihr Australian Shepard Bub folgte ihr auf dem Fuß. Gemeinsam liefen sie die wenigen Meter zum Holzwurm. Er hatte keine Ahnung, was sein Freund von ihm wollte. Seit Hias ihn gefragt hatte, ob er sein Trauzeuge werden wollte, bezog er ihn in jede Entscheidung ein, die er traf. Xander war sich sicher, dass das nicht zu den klassischen Aufgaben eines Trauzeugen gehörte, aber dagegen wehren konnte er sich nicht. Anna und Hias waren so glücklich.

»Da steht Antonias Fahrrad«, teilte seine Tochter ihm mit und wies auf das schlammverspritzte, metallicblaue Mountainbike, das an der Hauswand lehnte. »Ist sie auch da?«

Xander unterdrückte ein Seufzen. Auf Antonia Falkenberg zu treffen war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte. Sie hatten schon seit Jahren ein recht angespanntes Verhältnis. Aus Gründen, an die er sich nicht erinnern wollte. Über die er nie mit irgendjemandem gesprochen hatte. Seit sie ihn auch noch bezichtigte, mit seinem Vater unter einer Decke zu stecken, um im Tal einen Hotelbunker zu bauen, war das nicht gerade besser geworden. Die Luft um sie herum gefror zu Eis, wenn sie ihn auch nur am anderen Ende des Marktplatzes sah. Glücklicherweise trafen sie nicht oft aufeinander, obwohl sie im gleichen Dorf lebten und einen gemeinsamen Freundeskreis hatten. Meistens schafften sie es, sich aus dem Weg zu gehen. Heute schien ihm so viel Glück nicht beschieden. »Vielleicht besucht sie Anna«, erklärte er Leni und schob die Tür des Restaurants auf.

Es wäre theoretisch möglich, dass Antonia und Anna in der Küche waren. Oder sich in Annas Büro zurückgezogen hatten. Aber so viel Glück hatte Xander nicht: Antonia saß am Tresen, flankiert von seinen Freunden.

»Da kommt ja mein Trauzeuge«, hörte Xander Hias sagen.

Antonia drehte sich mit blitzenden Augen um. Das schockierte »Was?« war ebenso wenig zu überhören wie der Kommentar seines Freundes.

Xander fragte sich, was es mit dieser Reaktion auf sich hatte, doch dann riss sich seine Tochter von seiner Hand los und stürmte durch den Gastraum. »Und dein Blumenmädchen. Und dein Blumenhund«, ergänzte sie Hias’ Worte und warf sich in seine Arme.

»Ich kann es gar nicht erwarten, dich in deinem hübschen Kleidchen zu sehen«, sagte Hias genau das Richtige. »Über den Blumenhund verhandeln wir aber noch mal.« Er stupste mit dem Zeigefinger gegen Lenis Nase. Sie kicherte und machte sich von ihm los, um erst Anna und dann Antonia zu umarmen.

»Wann reiten wir mal wieder mit Lous Pferden?«, wollte seine Kleine wissen. Sie war auf Antonias Schoß geklettert, noch bevor er am Tresen angekommen war, und schmiegte sich an sie, als gehöre sie dorthin.

»Ich hoffe bald«, antwortete Antonia ihr. »Maluna und Dustin haben schon gefragt, wann du mal wieder vorbeikommst.« Damit entlockte sie Leni ein weiteres Kichern. Xander schluckte. Der Blick, den Antonia ihm zuwarf, sagte ganz deutlich: Du bist nicht willkommen. Aber seiner Tochter hatte sie nie etwas anderes als Liebe entgegengebracht. Was total verrückt war, wenn man bedachte, welche Bedeutung Lenis Geburt für ihrer beider Leben gehabt hatte.

»Willst du nicht mal in der Küche nachsehen, ob vielleicht ein Eis oder ein Nachtisch übrig geblieben sind?«, fragte Antonia sie.

Lenis Augen leuchteten. »Darf ich, Papa?«

»Sicher.« Xander sah Leni nach, bis sie durch die Schwingtür verschwand, die in die Küche führte.

»Anna, sag mir, dass wir nur zufällig gleichzeitig am gleichen Ort sind«, flüsterte Antonia ihrer Freundin zu.

Hias räusperte sich. »Wie gesagt, Xander ist mein Trauzeuge.«

»Und ich möchte dich dabeihaben«, Anna strahlte ihre Freundin an.

Antonia? Xander schluckte trocken. »Ich bin davon ausgegangen, dass deine Schwester …« Er beendete den Satz nicht. Hias und Anna hatten ihn sauber reingelegt. Wenn er gewusst hätte, dass Antonia Annas Trauzeugin werden würde, hätte er sich niemals darauf eingelassen. Sein Leben war im Moment wirklich schon kompliziert genug. Er konnte darauf verzichten, sich mit der Frau herumzuärgern, die ihn an den Nordpol wünschte und ihm das Leben bei jeder Gelegenheit zur Hölle machen würde. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn nicht eine Sekunde vergessen lassen würde, was für ein Mistkerl er in ihren Augen war.

Hias legte seine Hand schwer auf Xanders Schulter, und Anna schob Antonia den Arm um die Taille. Beide leuchteten wie zwei Sonnen. »Wir wollen die beiden Menschen an unserer Seite haben, die uns am meisten bedeuten«, sagte Anna. »Und das seid nun mal ihr.«

Antonia fixierte Xander aus zusammengekniffenen blau-grünen Augen, die je nach Laune in die eine oder andere Farbschattierung tendierten. Wahrscheinlich dachte sie gerade das Gleiche wie er. Die Rolle der Trauzeugen wurde im Berchtesgadener Land sehr ernst genommen. Sie waren ganz und gar in die Hochzeit involviert – als eine Einheit. Sie mussten die Köpfe zusammenstecken. Pläne schmieden. Das Brautpaar glücklich machen.

»Wir wissen, dass ihr nicht immer einer Meinung seid«, sagte Anna.

»Nicht immer einer Meinung trifft es nicht ganz«, murmelte Antonia und sprach damit das aus, was Xander dachte.

»Bekommt ihr das hin?«, fragte Hias. Leise und eindringlich.

Antonia durchbohrte Xander noch einen Moment länger mit ihren Blicken, dann lehnte sie ihren Kopf gegen Annas, und ein tiefes, ehrliches Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen. »Natürlich«, sagte sie. »Eure Hochzeit wird die schönste im Talkessel.«

Scheiße! Wenn Antonia keinen Rückzieher machte, konnte er ebenfalls nicht zurückrudern. Xander zwang sich, eine entspannte Miene aufzusetzen, und nickte Hias und Anna zu. »Ich bin für euch da, Leute. Das ist doch keine Frage.«

Dafür ging ihm eine andere Frage durch den Kopf: Wie lange würde es wohl dauern, bis Antonia und er das erste Mal aneinandergerieten? Xander vermied es, sie anzusehen. »Habt ihr euch schon Gedanken über die Hochzeit gemacht?«, fragte er seine Freunde. Bis jetzt hatte Hias ihm immer nur von Ideen erzählt, nach seiner Meinung gefragt und dann alles wieder verworfen.

»Ja, haben wir.« Anna kehrte an ihren Platz hinter dem Tresen zurück. »Ein Bier?«, fragte sie Xander.

Er schüttelte den Kopf. »Ich muss noch arbeiten.«

»Dann Cola.« Sie stellte ein Glas vor ihm ab und reichte Antonia ein Wasser. »Wir würden nach der kirchlichen Trauung gern in der Alten Mühle feiern. Ich stelle mir das irgendwie ländlich romantisch vor. So wie Rosas Herbstfest.«

Antonia nickte. »Ich weiß genau, was du meinst. Und ich kann es mir gut vorstellen. Es passt perfekt zu euch. Hast du schon mit Lou gesprochen?«

»Nein.« Anna schüttelte den Kopf. »Dazu bin ich noch nicht gekommen. Wir sind uns erst seit gefühlt zehn Minuten einig, dass wir es so wollen.« Dass Anna es so wollte, vermutete Xander und musste sich ein Grinsen verkneifen. Sein Freund hing an der Angel, und zwar so richtig. Und auch wenn er sonst gern das Gegenteil behauptete, er musste Antonia zustimmen: Die Alte Mühle war eine perfekte Hochzeitslocation für die beiden.

Antonia legte ihre Hand auf Annas und drückte sie freundschaftlich. »Soll ich mit meiner Tante reden?«

»Das wäre fantastisch.«

Antonia nickte und nippte an ihrem Wasser. »Dann betrachte das als erledigt.«

»Und wie sehen eure Pläne für das Standesamt aus?«, fragte Xander.

Anna seufzte, und Hias verdrehte die Augen. »Wir diskutieren ständig darüber, können uns aber nicht einigen. Ich habe mir vorgestellt, bei euch im Hotel zu feiern. Du weißt schon: im Garten, auf dem Steg am Sternsee, aber …« Hias beendete den Satz nicht.

Anna seufzte noch einmal. Dann warf sie Hias eine Kusshand zu. »Nicht falsch verstehen«, sagte sie an Xander gewandt. »Das ist wirklich ein schöner Ort zum Heiraten. Ich weiß, dass das schon eine Menge Paare getan haben. Aber ich habe mir etwas anderes vorgestellt. Etwas«, sie wedelte mit den Händen, »Außergewöhnliches. Etwas, das Hias und mich widerspiegelt.«

Xander zuckte mit den Schultern. »Keine Sorge. Ich verstehe das. Das Hotel ist nicht für jeden perfekt. Das nehme ich nicht persönlich.« Er lächelte sie an, vermied es aber, den Kopf ein Stück weiter nach rechts zu drehen und Antonia in dieses Lächeln einzuschließen. »Uns fällt etwas Besseres ein«, versprach er der Braut. In ihm keimte bereits eine Idee. Etwas, das so besonders war, dass es das Brautpaar umhauen würde. Im Moment war das noch ein vager Gedanke, aber vielleicht war es machbar. Wie hieß es so schön? Über ungelegte Eier sprach man nicht. Also würde er sich erst einmal schlaumachen, bevor er Hoffnungen schürte. »Ich sollte Leni einsammeln, bevor sie in ein Zuckerkoma fällt, und mich auf den Weg machen. Wir hören uns.«

*

Antonia verließ den Holzwurm kurz nach Xander und Leni. Sie fühlte sich noch immer völlig überrumpelt von Annas Bitte, ihre Trauzeugin zu werden – und den Konsequenzen, die das für sie hatte. Als sie die Tür aufstieß, blinzelte sie gegen die Sonne an. Aus den Augenwinkeln sah sie Xander, der gerade seinen Hund ins Auto scheuchte und Leni hinterherhob.

Antonia zog ihr Mountainbike von der Wand und schob es in Richtung seines Land Rovers. Es war ein neues, glänzend schwarzes Modell. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sehr er seinen uralten Defender mit der quietschenden Fahrertür geliebt hatte. Mithilfe seines Freundes Jakob, der nicht nur eine Oldtimerwerkstatt besaß, sondern auch bis über beide Ohren in ihre jüngste Schwester Hannah verliebt war, hatte er die alte Kiste länger am Leben gehalten, als die meisten es ihm zugetraut hätten. Leni zuliebe hatte er sich schließlich von ihr getrennt und war auf ein modernes, sicheres Modell umgestiegen.

Xander wartete, bis seine Tochter den Sicherheitsgurt einrasten ließ, ehe er die Wagentür zuschlug und sich zu ihr umdrehte.

»Du führst was im Schilde«, sagte Antonia.

»Ach ja?« Er lehnte sich gegen das Heck des SUV und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommst du darauf?«

Weil ich dich kenne, wollte sie sagen. Aber das war natürlich Blödsinn. Schließlich hatte er schon einmal bewiesen, dass sie nichts – absolut gar nichts – über ihn wusste, auch wenn sie sich das vor langer Zeit mal eingebildet hatte. »Ich habe so eine Ahnung«, sagte sie stattdessen.

Er zog den Mundwinkel zu einem halben Lächeln nach oben. »Angenommen, ich würde mich in diese Sache mit dem Standesamt voll reinhängen und du kümmerst dich um die Feier in der Mühle – würde dir das passen?«

»Jeder macht sein Ding?«, fragte Antonia, nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand. Bot er ihr gerade eine Alternative zur Zusammenarbeit mit ihm?

»Wir halten uns einfach gegenseitig auf dem Laufenden.«

Der Wind hatte aufgefrischt und blies Antonia kalt ins Gesicht. Sie stieg auf ihr Rad. »Das klingt, als hättest du zur Abwechslung mal eine wirklich gute Idee.« Ohne sich zu verabschieden, trat sie in die Pedale.

2

Die Reifen des Mountainbikes surrten, als Antonia den asphaltierten Weg am See entlangfuhr. Vorbei am Hotel Seeblick, in dem Xanders Vater, Hubert, wahrscheinlich gerade wieder die Übernahme der Weltherrschaft plante. Vorbei an der Abzweigung zum Seerosenweg, in dem ihr Elternhaus lag. Sie trat kräftig in die Pedale, um die Geschwindigkeit zu spüren, die sich aus ihren Muskeln auf die Pedale übertrug. Antonias Schwestern radelten ebenfalls gern am See entlang, aber auf eine Art, die sie nie verstehen würde. So, dass sich weder Puls noch Atemfrequenz auch nur um einen Hauch erhöhten. Sie selbst konnte den Sinn darin nicht erkennen. Wenn sie sich sportlich betätigte, wollte sie das auch fühlen. Sie brauchte den Triumph über ihre brennenden Muskeln. War ein kleines bisschen süchtig nach dem Erfolg, ein gesetztes Ziel zu erreichen. Und ein nicht unwesentlicher Faktor bestand darin, dass der Sport es ihr ermöglichte, ihren nicht gerade gesunden Ernährungsstil beizubehalten.

Während ihre mittlere Schwester Rosa darauf achtete, vollwertige Mahlzeiten aus frischen, regionalen Zutaten zu zaubern, die sich vor Vitaminen gar nicht retten konnten, riss sich Antonia am liebsten eine Tüte Chips auf oder schob sich ein Fertiggericht in die Mikrowelle. Ihr größtes Zugeständnis an eine gesunde Ernährung war hin und wieder eine Schale Müsli am Morgen. Neben einem guten, starken Kaffee war ein spektakuläres Spiegelei, das das ihrer Schwestern um Längen schlug, das Einzige, was sie in der Küche einigermaßen hinbekam. Sie hatte das Rezept von Pasquale, einem italienischen Geologen, mit dem sie vor ein paar Jahren einen leidenschaftlichen Sommer verbracht hatte. Das Rezept behielt sie für sich, auch wenn Rosa sie bekniete, es herauszurücken und versucht hatte, sie mit einem Zimtschnecken-Abo zu bestechen. Eine ziemlich große Versuchung, der Antonia aber widerstanden hatte. Sie dachte noch immer gern daran zurück, wie Pasquale die Spiegeleier zubereitet hatte. Im Morgengrauen. Ebenso nackt wie in dem Moment, als sie sich wie hungrige Wölfe auf die Stärkung gestürzt hatten, nur um anschließend wieder zusammen ins Bett zu fallen. Die Erinnerung an jenen Sommer brachte Antonia zum Lächeln, während sie ihr Gesicht dem kalten Wind entgegenreckte. Sie ließ sie für einen Moment sogar vergessen, dass sie ihre Zeit in den nächsten Monaten statt mit einem italienischen Lover mit Xander Valentin verbringen musste.

Das Mühlrad der Alten Mühle, die ihre Tante Louisa und Rosa gemeinsam bewirtschafteten, drehte sich auch fünfhundert Jahre nach ihrer Erbauung noch. Im vorderen Teil des Gebäudes mahlte Rosa noch immer Mehl, im hinteren Teil wohnte sie.

Antonia hatte einen großen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Das Grundstück ihrer Tante Louisa bot jedes Abenteuer, das sie sich in ihrer kindlichen Fantasie hatte ausmalen können. Damals war der Teil, der heute den Mühlenladen und die Wohnung ihrer Tante beherbergte, die baufällige Ruine eines alten Wirtshauses gewesen. Antonia hatte es geliebt, dort herumzuklettern. Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – des strengen Verbotes ihrer übervorsichtigen Mutter.

Als Louisa beschloss, das verfallene Gebäude wiederaufzubauen, hatten sie die kreativen Ideen ihrer Tante Antonia fasziniert. Sie hatte in ihr den Wunsch geweckt, ebenfalls ein Haus nach den eigenen Vorstellungen zu neuem Leben zu erwecken. Ein Traum, den sie Jahre später im alten Forstlehen verwirklicht hatte.

Antonia seufzte, als sie ihr Rad auf den Mühlenhof lenkte. Ein wundervoller, romantischer Heiratsantrag in der Silvesternacht führte jetzt dazu, dass sie mehr Zeit mit Xander Valentin verbringen musste, als ihr lieb war. Sie hatte kein Problem damit, für sich einzustehen und Xander in seine Schranken zu weisen. Aber am liebsten hatte sie ihre Ruhe. Das Leben als Hebamme brachte genug Aufregung. Und wenn ihr der Sinn nach Adrenalin und Abenteuer stand, ging sie Bergsteigen. Auf einen Mann, den sie nicht ausstehen konnte und dessen Anwesenheit in ihrem Leben an ihren Nerven zerrte, konnte sie getrost verzichten.

»Grüß Gott, Antonia«, rief Korbinian ihr von der Bank vor dem Mühlenladen aus zu. Jeden Nachmittag saß er gemeinsam mit seinen Freunden Pangratz und Gustl hier, tratschte und verteilte Ratschläge und Lebensweisheiten – ob die Leute sie nun hören wollten oder nicht. Die drei Alten, wie sie im Dorf scherzhaft genannt wurden, verbrachten die Vormittage auf dem Marktplatz, um ja nichts zu verpassen, und wechselten nach dem Mittagessen auf den Hof der Alten Mühle. Antonia vermutete, dass alle drei ein kleines bisschen in ihre Tante verknallt waren und abgesehen davon den Kaffee zu schätzen wussten, den die fantastische italienische Maschine im Laden zauberte.

»Heute schon einem hübschen Baby auf die Welt geholfen?«, rief Pangratz neugierig.

»Nein, heute noch nicht. Aber wer weiß. Der Tag ist noch nicht vorbei, und Babys warten ja gern, bis alle Welt schläft.« Sie lehnte das Mountainbike gegen die Scheunenwand. Von hier aus konnte sie den Mühlbach sehen. Über die schmale Brücke gelangte man auf die Lichtung, auf die Xanders Vater ein Auge geworfen hatte. Die Wiese unter alten, knorrigen Eichen und hohen Kiefern fiel zum See hin sanft ab. Riesige Findlinge lagen im Gelände verstreut. Sie stammten aus einem gigantischen Erdrutsch, der Zigtausende Jahre zurücklag. Ein Naturphänomen, das Pasquale damals ins Tal geführt hatte. Antonia war der Grund gewesen, weshalb er seine Rückreise, die Forschungsergebnisse in der Tasche, so lange wie möglich hinausgezögert hatte. Nach diesem heißen Sommer waren sie schließlich getrennte Wege gegangen. Mit einem Hauch von Wehmut, aber ohne Reue. Antonia hatte bereits vor langer Zeit beschlossen, ihr Herz nicht mehr an einen Mann zu hängen und Gefahr zu laufen, es sich brechen zu lassen.

Die kleine Bucht, die der See an der Lichtung bildete, konnte sie von der Scheune aus nicht sehen, genauso wie die beiden kleinen, steinigen Inseln, die dem See Charakter gaben. Aber das musste sie auch nicht. Diese Bilder waren fest in ihrem Unterbewusstsein verankert, weil sie ihr Zuhause symbolisierten. Genau wie die Koppel hinter der Lichtung, auf der Louisas Haflingerstute Maluna und der Norweger Dustin standen, der mit seiner Mähne wie ein cooler Punker aussah.

Antonia strich sich die Haare hinter das Ohr, die sich aus dem kurzen Pferdeschwanz gelöst hatten, und überquerte das unebene Pflaster des Hofes. Ein Klappschild vor dem Mühlenladen pries eine Brötchenbackmischung und Porridge an. Sie ging um das Schild herum, schob die Tür auf und atmete die vertraute Duftmischung aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen, Getreide und Holz ein.

Louisa stand hinter dem Tresen und ging eine Lieferliste durch. Sie blickte auf, schob ihre Lesebrille auf den Kopf und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Tonia, mein Schatz.« Dann kam sie um den Tresen herum und zog sie in eine feste Umarmung. »Schön, dich zu sehen. Kaffee?«

»Unbedingt.« Antonia lehnte sich an den Tresen, während ihre Tante sich an der großen, chromglänzenden Kaffeemaschine zu schaffen machte. Sie war über sechzig, ging aber locker als zehn Jahre jünger durch. Das blonde Haar wellte sich offen über die Mitte ihres Rückens, und sie verstand es, die momentan so angesagten, farbenfrohen Kleider im Hippie-Style mit der nötigen Eleganz zu tragen, sodass sie nicht wie eine ältere Frau wirkte, die krampfhaft auf jung machte. Louisa war inzwischen seit Jahrzehnten eine erfolgreiche, angesehene Geschäftsfrau im Tal. Aber in ihr schlug noch immer das Hippieherz der jungen Lou, die mit achtzehn ihren Rucksack gepackt und sich aufgemacht hatte, die Welt zu entdecken – und zu erobern.

»Wie geht es dir?«, fragte Louisa über ihre Schulter hinweg und schäumte gleichzeitig Milch auf. »Was gibt es Neues?«

Antonia war durch den Laden geschlendert und hatte sich am Probiertisch ein paar Häppchen Mühlenbrot mit einem Quarkdipp bestrichen, der neu im Angebot war. Sie schob sich eins in den Mund und balancierte den Rest auf der flachen Hand zur Verkaufstheke zurück. »Es gibt tatsächlich etwas Interessantes«, verriet sie ihrer Tante und machte es sich auf dem Hocker am Tresen bequem. »Anna möchte ihre Hochzeit auf dem Mühlenhof feiern.«

Louisa drehte sich mit einem Milchkaffee für Antonia um. Ihre Augen glitzerten, als sie die große Tasse vor ihr abstellte. »Wow«, sagte sie. »Das ist ja fantastisch! Was stellt sie sich denn vor?«

»Irgendetwas Ländliches. Wie das Mühlenfest«, antwortete Antonia mit vollem Mund und zog den Kaffee zu sich heran. Sie wartete, bis Louisa sich mit ihrer Tasse zu ihr gesetzt hatte. »Über Details haben wir noch nicht gesprochen.«

Louisa legte ihr die Hand auf den Unterarm und drückte sanft. »Sag Anna, es ist mir eine Ehre, ihre Hochzeit hier auszurichten. Ich freue mich, dass die beiden endlich heiraten.«

»Geht mir genauso.« Das war die Stelle, an der Antonias Mutter einhaken und sie darauf hinweisen würde, dass es auch bei ihr an der Zeit war und ihre biologische Uhr nicht aufhören würde zu ticken, nur weil sie glaubte, mit beiden Beinen im Leben zu stehen und erfolgreich in ihrem Job zu sein. Nicht so Louisa. Sie verstand, dass Antonia ihre Freiheit suchte und noch lange nicht bereit war, sich an einen Mann zu binden. Genau genommen war sie dafür möglicherweise niemals bereit. Antonia trank einen Schluck Kaffee. Sie hatte das Gefühl zu spüren, wie das Koffein ihr System flutete. Vielleicht hätte sie mehr Kaffee trinken sollen, bevor sie im Holzwurm aufgeschlagen war. Vielleicht hätten ihre Freunde es dann nicht geschafft, sie so ruck, zuck über den Tisch zu ziehen.

»Aber das ist noch nicht alles.« Eine Feststellung, keine Frage. Louisa sah sie abwartend über den Rand ihrer Tasse hinweg an.

Antonia seufzte. »Xander wird Hias’ Trauzeuge.«

Louisas rechter Mundwinkel zog sich zu einem winzigen Lächeln nach oben. »Und das passt dir überhaupt nicht«, stellte sie fest.

»Nein. Natürlich nicht. Du weißt genau, was ich von ihm halte. Besonders du solltest das verstehen.«

Louisa drückte noch einmal Antonias Arm. »Du trägst ihm doch nicht wirklich noch immer diese dämliche Aktion seines Vaters nach? Niemand im Tal nimmt Hubert Valentin ernst. Und der Gegenwind, den er nach seinen Manipulationen des Mühlenfestes nicht nur von uns, sondern auch vom Gemeinderat und den ortsansässigen Unternehmen bekommen hat, hat ihm doch gehörig den Wind aus den Segeln genommen. Lass uns ehrlich sein: Die Aktion war alles andere als schön. Aber sie hat dazu geführt, dass wir am Ende ein viel schöneres, außergewöhnlicheres Mühlenfest gefeiert haben als ursprünglich geplant. Und deine Schwester und David haben auf diese Weise zusammengefunden. Allein dafür sollten wir Hubert seine Verfehlung nachsehen.«

Antonia zuckte mit den Schultern. Ihre Tante hatte recht. David hatte sich unglaublich ins Zeug geworfen, um Rosa bei der Umplanung des Events zu helfen. Das Ergebnis war schließlich sogar so schön gewesen, dass Anna ihre Hochzeit im gleichen Stil feiern wollte. Trotzdem … »Einer muss die Valentins im Auge behalten«, beharrte sie auf ihrem Standpunkt. Denn zumindest Xander kannte niemand so gut wie sie.

Louisa sah sie einen Moment schweigend an. Dann öffnete sie den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne etwas zu sagen, und schüttelte den Kopf. Schließlich rang sie sich doch zu ein paar Worten durch, auch wenn Antonia das Gefühl hatte, dass es sich dabei nicht um das handelte, was sie ursprünglich hatte sagen wollen. »Xander ist ein anständiger Kerl. Das wirst du schon noch merken, wenn du es nicht sowieso schon längst weißt. Für die Hirngespinste seines Vaters kann er nichts.«

Antonia verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. »Bei dem Thema werden wir zwei wahrscheinlich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Also lassen wir das«, hakte sie das Thema ab. Sie wollte keinen weiteren Lobgesang auf Xander hören. »Lass uns über Anna und die Hochzeit reden.«

Louisa grinste. »Mein Gott, eine Landhochzeit in der Alten Mühle.« Sie legte sich die Hand auf das Herz. »Das wird so romantisch. Hat Anna schon eine Idee, was für ein Kleid sie tragen will? Und du? Was wirst du anziehen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer.« Antonia erwiderte das Lächeln ihrer Tante. Sie befanden sich wieder auf sicherem Terrain. »Bis jetzt haben sie mich nur mit der Tatsache überrumpelt, dass ich Trauzeugin werde. Leni wird das Blumenmädchen.«

»Sie wird entzückend aussehen! Du solltest deine Mutter bitten, ihr ein Kränzchen zu binden«, schlug Louisa vor.

Antonia nickte. »Ja, das ist eine super Idee.« Sie drehte sich um, als ein Pärchen um die fünfzig den Laden betrat und grüßte.

»Glück zu«, hieß Louisa sie mit dem traditionellen Gruß der Müller willkommen, mit dem in der Alten Mühle jeder empfangen wurde. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir haben in unserer Pension von diesem Laden gehört und wollen uns ein wenig umschauen«, sagte der Mann. Seine Frau war bereits vor eines der alten Holzregale getreten und ließ ihren Blick über die Angebote schweifen.

»Bitte schön. Lassen Sie es mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann. Wo waren wir stehen geblieben?«, wandte sie sich dann wieder an Antonia.

»Das Kränzchen. Vielleicht will ja sogar die Braut eins. Ich werde ihr das auf jeden Fall vorschlagen. Mama kann da sicher etwas wirklich Tolles zaubern.«

»Davon bin ich überzeugt«, stimmte Louisa zu.

Antonia war froh, dass ihre Mutter und ihre Tante nach einer heftigen Auseinandersetzung im Herbst wieder zueinandergefunden hatten. Das vergangene Jahr war ziemlich turbulent gewesen. Schlimmer konnten die Monate, die vor ihr lagen, kaum werden. »Sobald ich die Details habe, gebe ich dir Bescheid. Aber erst einmal erzähle ich Anna, dass du zugesagt hast. Sie wird ganz aus dem Häuschen sein.«

»So wie ich. Hast du deinen Schwestern schon von der Hochzeit erzählt?«

Antonia konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Ich sehe die zwei heute Abend. Falls sie nicht in letzter Sekunde absagen – was sehr wahrscheinlich ist«, schränkte sie gut gelaunt ein. »Sie haben plötzlich beschlossen, unbedingt ins Fitnessstudio gehen zu wollen. Ich soll sie mitnehmen, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob auch nur eine von ihnen am Ende wirklich in mein Auto steigt.«

Louisa lachte. »Das kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen.«

*

Nach dem Treffen im Holzwurm hatte Xander seine Tochter bei einem Play Date mit ihrer Kindergartenfreundin abgesetzt und war wieder ins Hotel gefahren. Die Liste der zu erledigenden Dinge war nach wie vor endlos lang, und das Einkaufen hatte er noch immer nicht geschafft. Heute Abend würde es – zu Lenis unendlicher Begeisterung – Besuch vom Pizza-Service geben. Xander bemühte sich, sie gesund zu ernähren. Genauso wie er darauf achtete, sie nicht in Situationen zu bringen, die Stress auslösen konnten. So, wie er jeden Stimmungswechsel seines Kindes mit Sorge verfolgte – auch wenn er wusste, dass das bei einem fünfjährigen Mädchen völliger Blödsinn war. Tage wie der, durch den er sich gerade kämpfte, forderten ihren Tribut. Es war erst kurz nach Mittag, und er war so erschöpft, als hätte er drei Tage durchgemacht.

Und als wäre das nicht genug, klopfte es an seiner Bürotür, und sein Vater betrat den Raum, ohne auf ein Herein zu warten. So streng seine Assistentin Malu seine Tür auch bewachte, bei ihrem alten Chef machte sie stets eine Ausnahme. »Ich habe gehört, Anna und Matthias haben endlich einen Termin festgelegt«, sagte er und knöpfte seinen Janker auf. Er ließ sich auf den Besuchersessel fallen und den Blick durch den Raum schweifen.

Xander war sich sicher, dass ihm seine Einrichtung nicht passte. Vermutlich bereute er längst seinen Entschluss, die Leitung des Hotels vor eineinhalb Jahren an seinen Sohn übergeben zu haben. »Stimmt«, gab er schlicht zurück. Er zog die Computertastatur zu sich heran und gab sein Passwort ein, um seinem Vater zu signalisieren, dass er zu beschäftigt für ein Schwätzchen war.

Doch Hubert lehnte sich entspannt zurück. »Ich hoffe, du hast sie davon überzeugt, im Hotel zu feiern.«

Xander unterdrückte den genervten Seufzer. Sein Vater würde nicht so scheinheilig fragen, wenn er nicht längst wüsste, dass der Wunsch des Brautpaares war, die Feier nach der kirchlichen Trauung in der Alten Mühle stattfinden zu lassen. Statt einer Antwort zog er die Augenbrauen nach oben.

»Du könntest versuchen, sie vom Hotel zu überzeugen«, ignorierte Hubert sein Schweigen.

»Warum sollte ich das tun?« Xander begriff, dass er nicht mit seiner Arbeit würde fortfahren können, bis der Kampf mit seinem Vater ausgefochten war. »Das ist kein Geschäft. Hier geht es um meine Freunde. Anna und Hias werden genau so feiern, wie sie es sich wünschen.«

»Als gute Freunde würden sie so feiern, dass auch du etwas davon hast.«

Xander beugte sich vor und sah Hubert eindringlich an. »Hör auf, Vater. Hier geht es nicht um dich, nicht um das Hotel und schon gar nicht darum, möglichst viel Geld zu machen. Diese Einstellung hat mir in der letzten Zeit schon genug Probleme beschert.« Antonias zornig zusammengezogene Augenbrauen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Sie war mehr als sauer über den Blödsinn, den sein Vater vor allem in letzter Zeit verzapft hatte.

»Weil ich visionäre Vorstellungen habe?«, hielt Hubert dagegen.

»Nein. Weil du eine Schnapsidee hast, die sich nicht umsetzen lässt und das Tal verschandeln würde.« Die Lichtung hinter der Alten Mühle war der einzige Fleck im Nationalpark, auf dem noch eine Bebauung möglich war. Hubert hatte mit verdammt unlauteren Mitteln versucht, Louisa und Rosa genug unter Druck zu setzen, um ihm das Land zu verkaufen. Wer die Falkenbergs kannte, dem hätte klar sein müssen, dass sie sich nicht unterkriegen ließen. Schon gar nicht für den Bau des großen Sporthotels, das Hubert plante. Sanfter Tourismus war das Motto im Talkessel. Nur so viele Touristen, dass die Einwohner noch gut damit umgehen konnten – diese Maxime hatte auch Xander zu seinem Leitspruch gemacht. »Niemand sieht das wie du«, erklärte er seinem Vater zum gefühlt hundertsten Mal. »Abgesehen von deinem Investor natürlich.« Er stand auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und öffnete die Tür. »Eins noch: Hör endlich auf, dich in meine Arbeit einzumischen. Du hast die Leitung des Hotels an mich übergeben, jetzt lass mich meinen Job auch machen, ohne mir ständig über die Schulter zu schauen.«

Hubert sagte für einen Moment, der sich endlos in die Länge zu ziehen schien, gar nichts. Er blickte Xander nur an. Ein stiller Machtkampf, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Und auch diesmal überstand er die stummen Sekunden. Schließlich erhob sich sein Vater schwerfällig aus seinem Sessel. »Wie du willst«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Deine Mutter lässt übrigens anfragen, wann Leni mal wieder bei uns übernachtet.«

Xander unterdrückte ein Seufzen. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er beleidigt war. »Ich melde mich bei ihr«, versprach er. Es war nicht so, dass er seinen Vater nicht liebte. Er war Hubert genau wie seiner Mutter Marianne unendlich dankbar für ihre Hilfe mit Leni. Ohne die beiden wäre er nicht durch die ersten harten Jahre als alleinerziehender Vater gekommen. Aber Huberts Art, sich in alles einzumischen und seine fragwürdigen Ideen durchsetzen zu wollen, trieb ihn mitunter schlicht in den Wahnsinn.

Xander ließ sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl fallen und zog die Tastatur abermals zu sich heran. Einen Moment zögerte er, dann fuhr er den PC herunter. So sehr ihm die Arbeit auch im Nacken hing, heute würde er nichts Sinnvolles mehr zustande bringen. Er nahm seine Jacke vom Haken hinter der Tür und zog sie über. Es wäre sinnvoller, einkaufen zu gehen und für Leni statt Pizza etwas Anständiges zum Abendessen zu kochen. Und sich dann um die Wäscheberge zu kümmern. Wenn seine Tochter schlief, konnte er sich noch immer an seinen Laptop setzen und einen Teil der liegen gebliebenen Arbeit aufholen.

3

Louisa beendete die Bestandsaufnahme im Mühlenladen am frühen Nachmittag. Für das Auffüllen der Mehle und Backmischungen in den rustikalen Holzregalen war ihre Nichte Rosa zuständig. Aber sie selbst würde ein paar neue Chutneys und Marmeladen kochen müssen – die gingen in letzter Zeit weg wie warme Semmeln. Außerdem hatte sie es endlich geschafft, die Rezeptur für drei neue Sorten Mühlenmüsli zusammenzustellen. Nach dem Holzofenbrot, das Rosa und ihr bester Freund Nico alle zwei Wochen anboten, sollten diese Cerealien ihr neuer Renner werden.

Sie hatten bereits vier Sorten Müsli und Porridge in den Regalen stehen. Sobald Rosa ihre Rezepte absegnete, würden sie in die Testphase gehen und zunächst einmal die Familie mit einer Auswahl versorgen. Wenn die Mischungen Anklang fanden, bekamen sie spätestens in einem Monat einen festen Platz im Sortiment.

Louisa sah auf und schob ihre Lesebrille auf den Kopf, als die Ladentür geöffnet wurde. Statt neuer Kunden betrat Rosas Freund David den Raum. Wie meistens in fadenscheinigen Jeans und einem Longsleeve. Seine dunklen Haare waren einen Tick zu lang, um noch als Frisur durchzugehen, und seinen Laptop hatte er unter den Arm geklemmt. »Die Ablösung ist da«, rief er gut gelaunt.

»Wo ist Rosa?«, fragte Louisa, als er sie umarmt hatte und das Notebook auf den Tresen legte.

»Sie hatte Probleme mit einer der Passagen«, erklärte er.

Das Mahlsystem der Mühle war schon wieder verstopft? »Braucht sie Hilfe?« Von oben bis unten mit Mehl eingestaubt in der Mühle zu stehen und nach der Ursache des Problems zu suchen kam ihr wesentlich verlockender vor als die Verabredung, die ihr an diesem Nachmittag noch bevorstand.

»Nein. Sie hat alles im Griff«, beruhigte David sie. »Aber sie hat mich geschickt, um dich abzulösen, wie sie es versprochen hat. Du sollst nicht zu spät zum Date mit deiner Schwester kommen. Und siehst du?« Er ging zu dem Regal mit dem Trockenobst hinüber und rückte ein paar Tüten gerade. »Ich habe das voll drauf.«

Damit brachte er sie zum Lachen. »Ganz eindeutig. Ich werde hier wirklich nicht mehr gebraucht. Und schon bin ich weg.«

David schob sich auf den Barhocker hinter dem Tresen und klappte den Laptop auf. Er war Schriftsteller, und Louisa vermutete, er würde jeden Moment, in dem sich keine Kunden im Laden befanden, an seinem neuen Roman feilen. Andererseits wusste sie aber auch, dass sie ihm den Laden anvertrauen konnte. Das hatte er in der Vergangenheit schon bewiesen. Er und Rosa hatten offenbar alles unter Kontrolle.

Louisa schob ihre Unterlagen zusammen. »Wenn etwas ist, ruft mich einfach an. Ich kann jederzeit zurückkommen.«

David grinste und zwinkerte ihr zu. »Rosa war sich sicher, dass du genau das sagen wirst. Ich soll dir antworten: Sie meldet sich, wenn die Mühle in Flammen steht. Alles andere ist kein Problem.«

Louisa seufzte. »Das hätte ich mir denken können. Also gut. Ich gehe.«

»Viel Spaß«, murmelte David. Ohne von seinem Display aufzusehen. Er war offenbar in Gedanken bereits in sein Manuskript eingetaucht.

Wie immer beschlich sie ein leicht mulmiges Gefühl, wenn sie an ihre bevorstehende Verabredung dachte. Rena. Die meisten Leute würden sie wahrscheinlich für verrückt erklären, wenn sie wüssten, dass sie sich nur zu gern um ein Treffen mit ihrer Schwester drücken wollte. Rena war Familie. Genau wie die Töchter ihrer Schwester und ihr Mann Josef. Aber das Verhältnis zwischen Rena und ihr war schon vor fast einem halben Jahrhundert zu einem Tanz auf rohen Eiern mutiert – und glich seitdem einer Achterbahnfahrt. Es hatte bessere Zeiten gegeben. Und Phasen, die einfach nur schwierig gewesen waren.

Irgendwie hatten sie es immer geschafft, sich zusammenzuraufen – bis zum großen Knall im vergangenen Herbst. Als all die hässlichen Vorwürfe und Beschuldigungen ihren Weg ans Tageslicht gefunden hatten und ihre Familie fast zerbrochen war. Mit Josefs Hilfe und der Hartnäckigkeit ihrer Töchter hatte Rena es schließlich geschafft, auf Louisa zuzugehen. Es war die Idee ihrer Schwester gewesen, sich regelmäßig zu treffen, Zeit miteinander zu verbringen und die Kluft zwischen ihnen zu schließen. Ein bisschen wie ein ganz neues Kennenlernen.

Louisa fuhr mit dem Fahrrad ins Dorf und hielt an der Bäckerei, um zwei Stück Kuchen zu kaufen. Käse-Sahne für Rena, ein Stück Apfel-Nuss-Kuchen für sich selbst. Das Paket balancierte sie über den Marktplatz ins Blatt und Blüte, den Blumenladen mit angeschlossener Gärtnerei, in dem ihre Schwester ungefähr zur gleichen Zeit ihr Glück gefunden hatte wie Louisa in der Alten Mühle.

Die typische Mischung aus Feuchtigkeit, Wärme und Blütenduft empfing sie gemeinsam mit dem Klang der Türglocke, als sie die Ladentür aufschob. Ihre Schwester hatte hier ganze Arbeit geleistet und die Blüte – wie sie das Geschäft in der Familie nannten – über die Grenzen Berchtesgadens hinaus bekannt gemacht. Selbst Kunden aus Bad Reichenhall fuhren regelmäßig den Talkessel hinauf, um einen Geburtstagsstrauß oder ihre Balkonpflanzen zu kaufen.

Rena hatte im Laden eine einladende Atmosphäre geschaffen. Bunte Schnittblumen in Zinkeimern standen neben einer Auswahl von Zimmerpflanzen. Auf der linken Seite ging der Raum in einen verglasten Wintergarten über, der an ein altes Gewächshaus erinnerte. Hier hatte Louisas Schwester eine Oase aus Frühjahrsblühern geschaffen. Tulpen in allen Formen und Farben, Narzissen und Hyazinthen waren in nostalgisch anmutenden Töpfen zu fröhlichen Arrangements gepflanzt. Im Zentrum des Wintergartens stand ein großer Steintrog, in dem Goldfische schwammen.

Hinter dem Tresen stand Renas Mitarbeiterin Nora und band einen überdimensionalen Rosenstrauß. »Hallo Louisa«, grüßte sie. »Wie geht’s dir?«

»Fantastisch.« Bis auf das Magenflattern. »Und dir? Was macht dein Söhnchen?«

Nora lachte. »Mir geht es super, und der junge Mann fällt alle naselang hin. Aber das hält ihn nicht davon ab, die Welt zu erobern. Rena ist hinten«, sagte sie und nickte mit dem Kinn in Richtung der Verbindungstür zur Gärtnerei. »Ich soll dich gleich durchschicken.«

Einen Augenblick später klopfte Louisa an Renas Bürotür.

»Komm rein«, rief ihre Schwester.

Der Raum, von dem aus Rena ihr Unternehmen managte, war karg und funktional. Ein alter, mit Kratzern übersäter Schreibtisch, auf dem nicht selten Erde zu finden war, die seine Besitzerin vom letzten Umtopfen oder einer Pflanzaktion mit hereingeschleppt hatte. Das Gleiche galt für den schlammbraunen Linoleumboden. Praktische, aber nicht besonders hübsche Metallregale säumten die Wand hinter dem Arbeitsplatz und boten Platz für akkurat beschriftete Ordner. Ihre Schwester konnte mit Sicherheit blind hinter sich greifen, wenn sie nach irgendetwas suchte, und hätte genau die richtigen Unterlagen in der Hand. »Hallo«, sagte Louisa.

Rena stand vor dem kleinen Ecktisch mit der blubbernden Kaffeemaschine. Sie trug ihre Gärtneruniform, bestehend aus ausgewaschenen Jeans und Gummistiefeln. Über einer dünnen Kapuzenjacke hatte sie eine grüne Weste mit dem Schriftzug des Blatt und Blüte auf dem Rücken an. Ihre Haare hatten inzwischen ein sattes Silbergrau, das ihr wunderbar stand. Sie drehte sich zu ihr um und lächelte Louisa aus blaugrünen Augen an, die ihren eigenen glichen wie ein Spiegel. Vorsichtig. Rena war genauso auf der Hut wie Louisa sich fühlte. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie und zog die Kanne unter der Maschine hervor. Ein Wassertropfen fiel auf die Warmhalteplatte und verdampfte zischend. Ein fast unnatürlicher Laut in der Stille zwischen ihnen. »Nimm doch Platz.« Rena wies mit der Hand auf den windschiefen Holzstuhl vor ihrem Schreibtisch.

»Danke.« Louisa setzte sich und legte das Kuchenpaket neben das Familienfoto der Falkenbergs, das Hannah vor ein paar Jahren mit Selbstauslöser aufgenommen hatte.

Rena hatte bereits Teller, Papierservietten und Tassen auf den Schreibtisch gestellt, was Louisa innerlich schmunzeln ließ. Ihre Schwester hatte ihr in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen, ihr die Kinder wegnehmen zu wollen und sich als die coole Tante in ihr Leben zu schleichen. Dabei merkte sie gar nicht, wie ähnlich ihre Töchter ihr waren. Rosa zum Beispiel war eine perfekte Kopie ihrer Mutter, wenn es um Tischsitten ging. Nur die beiden kamen auf die Idee, ein so hässliches altes Möbelstück wie Renas Schreibtisch für eine Kaffeetafel einzudecken.

Rena schenkte ihnen ein und verteilte den Kuchen auf die Teller. Dann stellte sie die Kanne zurück unter die Kaffeemaschine und warf das Kuchenpapier in den Mülleimer in der Ecke. Als sie sich schließlich auf ihren Schreibtischsessel setzte, faltete sie die Hände und legte sie auf den Tisch. »Was gibt es Neues?«, fragte sie, als müsse sie ihr Gehirn nach einem Thema durchforsten, über das sie sprechen konnten. Als wären sie zwei fremde Menschen, die sich nur zufällig am gleichen Ort aufhielten. So waren sie schon einmal miteinander umgegangen.

September 1979

Nach Hause zurückzukehren war einer der schwersten Schritte gewesen, den Louisa jemals gegangen war. Es war leicht gewesen, als Achtzehnjährige das Tal hinter sich zu lassen und in die Welt zu ziehen. Das Abenteuer zu suchen, zu flirten und sich von ganzem Herzen und aus tiefster Seele zu verlieben. In einen Mann, der tabu gewesen war. Auch wenn sie das erst viel zu spät erkannt hatte.

Louisa betrachtete sich im Spiegel der Kammer, in der sie groß geworden war. Das karierte Männerhemd und die Schlaghose, die sie trug, täuschten darüber hinweg, wie dünn sie geworden war. Ohne die Kleider sah sie so zerbrechlich aus, wie sie sich fühlte.

Natürlich konnte man sagen, verbotene Früchte waren die verführerischsten. So sagte es schließlich schon die Bibel. Sicher erzählten sich die Leute im Dorf, sie hätte ihrer Schwester den Mann ausgespannt. Was zu gleichen Teilen richtig und falsch war. Sie hatte Michael Brander – Brandl, wie sie ihn genannt hatte – im vergangenen Herbst in München kennengelernt. Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt und sich in eine atemberaubende, rasante Beziehung gestürzt. Sie war überhaupt nicht auf der Suche nach der Liebe gewesen, als sie einfach so aus dem Hinterhalt aufgetaucht war und sie k.o. geschlagen hatte. Denn nichts anderes war es gewesen. Ein tückischer Angriff, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte – bis plötzlich ihre Schwester aufgetaucht war, um ihren Verlobten zu überraschen.

Brandl hatte mit seinem doppelten Spiel Renas und ihr Herz gebrochen und alles um sie herum ins Chaos gestürzt. Lange Zeit hatte Louisa sich danach in München verkrochen, und erst am Tag zuvor war sie nach Schönau an den Königssee zurückgekehrt. Auf den Hof ihrer Eltern, wo sie wieder in der Landwirtschaft arbeiten würde. Sie hoffte, nicht für immer Mist schaufeln und Kühe melken zu müssen. Aber im Moment kam es ihr wie die gerechte Strafe vor.

Als ihr klar geworden war, dass sie München nicht länger ertragen konnte und sie der Stadt für immer den Rücken kehren musste, hatte sie ihrer Mutter geschrieben und gefragt, ob sie nach Hause kommen durfte. Vor allem musste sie wissen, ob es für Rena in Ordnung war. Denn ihre Schwester hatte ihr an jenem grauenvollen Tag kurz vor Weihnachten an den Kopf geworfen, dass sie sie hasste und nie wiedersehen wollte. Jeder der Briefe, die sie in den ersten Monaten nach Brandls Verrat an ihnen an Rena geschickt hatte, war ungeöffnet zurückgekommen.

Louisa trat ans Fenster ihrer Kammer. Diese erste Nacht in ihrem alten Bett hatte sie sich ruhelos von einer Seite auf die andere gewälzt. Ihre Schwester hatte sie nicht gesehen, als sie am Abend angekommen war – sie hatte im Dorfkrug bedient. Ihre Schritte hatte Louisa erst auf der alten, knarzenden Holztreppe gehört, als die Lichter im Haus schon alle gelöscht waren. Sie hatte mitbekommen, wie die Schranktüren in Renas Kammer, die direkt neben ihrer lag, geklappert hatten, als sie sorgfältig ihr Dirndl aufgehängt hatte. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie ihre Schwester die Nadeln aus der Flechtfrisur zog, die sie beim Kellnern immer trug, und ihre langen blonden Haare bürstete. Louisa wusste, dass sie ihr aus dem Weg gegangen war. Wahrscheinlich hatte sie ihre Rückkehr von der Arbeit extralang hinausgezögert, um sie nicht sehen zu müssen.

Auf dem Hof hörte sie Renas leises Lachen. Sie schob den Vorhang zur Seite und blickte hinunter. Ihre Schwester sprach mit zwei attraktiven Männern, die vielleicht Mitte zwanzig waren und Kniebundhosen trugen. Ihre Mutter hatte am Abend erzählt, dass sie ein paar der leer stehenden Kammern an Bergsteiger vermieteten, denen eine einfache Unterkunft und ein deftiges Frühstück genügten. Die Männer flirteten ganz ungeniert mit Rena, aber Louisa konnte nicht erkennen, ob sie die Aufmerksamkeit erwiderte. Niemand wünschte Rena mehr als sie, einen netten jungen Mann zu finden und sich neu zu verlieben.

Am Fenster zu stehen und ihre Schwester aus der Ferne zu betrachten würde ihnen beiden nicht helfen. Entschlossen atmete sie einmal tief durch und verließ ihr Zimmer. Ihre Mutter würde vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie sie in der senffarbenen Schlaghose und dem lose an ihr herunterhängenden Hemd sah. Aber Dirndl waren nun mal mehr Renas Ding. Sie ging langsam die Treppe hinunter und zur offen stehenden Haustür. Dort blieb sie stehen und blickte zu ihrer Schwester hinaus, die die Reste des Frühstücks abräumte, das die Bergsteiger auf der Bank vor dem Haus genossen hatten. Louisa konnte die beiden Männer noch sehen, die, ihre Rucksäcke geschultert, in Richtung Landstraße davongingen. Es war noch kühl auf dem Hof, aber die Luft war klar. Vor ihnen lag ein warmer Tag, auch wenn man spüren konnte, dass der Herbst bereits hinter den Bergen lauerte. Einer der Bergsteiger drehte sich noch einmal zu Rena um, aber sie nahm seinen Blick nicht wahr oder ignorierte ihn. Sicher war sich Louisa da nicht. »Guten Morgen«, sagte sie leise.

Rena hielt inne, ohne sie anzusehen. Einen nicht enden wollenden Moment lang geschah gar nichts. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie richtete sich auf. Mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, drehte sie sich um. »Lou, da bist du ja. Hast du gut geschlafen?«, begrüßte sie sie. Vertraut und doch so fremd.

»Nicht besonders«, gestand Louisa ehrlich. »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie es wohl sein wird, wieder hier zu leben. Ob du damit klarkommst, mich wieder hier zu haben.«

»Aber natürlich tue ich das. Du bist meine Schwester. Wir sind Familie.« Ihre Worte klangen ein wenig hölzern, und eher so, als ob ihre Mutter sie ihr eingeimpft hätte. Sie stellte das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr zurück auf den Tisch und kam auf Louisa zu. »Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte sie noch einmal. Und diesmal glaubte Louisa ihr, dass Rena sich zumindest wünschte, dass sie als Schwestern wieder zueinanderfanden. Rena umarmte sie, und sie erwiderte die Geste. Ihre Schwester machte ihr ein Friedensangebot.

Als sie sich wieder voneinander lösten, griff Rena nach ihrer rechten Hand und drückte sie. »Ich möchte nicht mehr darüber reden, was in München passiert ist. Ich bin einfach froh, dass es zwischen uns keine Geheimnisse und Lügen mehr gibt.«

»Nein, keine Lügen mehr«, stimmte Louisa zu. »Keine Geheimnisse.«

Renas Lächeln wurde eine Spur echter, während sie ihre linke Hand auf ihren unangenehm kribbelnden Magen presste. Es gab Dinge, von denen Rena nichts wusste. Dinge, die sie ihr erzählen müsste. Doch jetzt war ihre Schwester bereit, all das hinter sich zu lassen. Sie wollte nicht mehr an ihre größte Demütigung zurückdenken. Fragte nicht, warum Louisa nicht gleich nach Hause gekommen war. Warum sie nach Brandls Verrat noch ein Dreivierteljahr in der Stadt geblieben war – und was sie dort getrieben hatte.

Rena war bereit für einen Neustart. Sie gab auch Louisa eine zweite Chance, also würde sie ihr Geheimnis für sich behalten. Zumindest vorerst.

»Mutter wird von deinem Aufzug alles andere als begeistert sein«, holte Rena sie aus ihren Gedanken.

Louisa musste lachen. Das Kribbeln in ihrem Bauch ließ nach. »Ja, das wird sicher Ärger geben«, stimmte sie ihrer Schwester zu.