Die Mühlenschwestern - Die Liebe kennt den Weg zurück - Jana Lukas - E-Book
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Die Mühlenschwestern - Die Liebe kennt den Weg zurück E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Manchmal muss man zu seinen Wurzeln zurückkehren, um die Liebe zu finden ...

Als Fotografin um die Welt reisen! Das war immer Hannahs Traum. Und so ließ sie die Heimat hinter sich, um das Leben durch ihr Kameraobjektiv zu entdecken. Doch nun, mit Ende Zwanzig, kehrt Hannah traumatisiert nach Sternmoos zurück. Ihre Welt ist nach einem tragischen Unfall in Südamerika nicht mehr dieselbe. Sie hofft, in der alten Mühle ihrer Tante Lou, bei ihren beiden Schwestern Rosa und Antonia, Trost zu finden. Doch kaum Zuhause angekommen, trifft sie auf Jakob, ihre erste große Liebe. Und Hannah wird klar, dass sie ihre Vergangenheit noch lange nicht hinter sich gelassen hat ...

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Seitenzahl: 562

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Das Buch

Als Fotografin um die Welt reisen! Das war immer Hannahs größter Traum. Schon als Kind konnte sie stundenlang mit ihren beiden Schwestern auf dem Dachboden der alten Dorfmühle ihrer Tante Lou zubringen und sich ihre zukünftigen Abenteuer ausmalen. Kaum volljährig verwirklichte sie ihren Traum und entdeckte die Welt durch das Objektiv ihrer Kamera. Doch nun, mit Ende zwanzig, kommt Hannah zutiefst traumatisiert an den Sternsee zurück: Bei einer Auftragsreise in Brasilien überlebte sie nur knapp einen Unfall. Sie hofft, in der alten Mühle ihrer geliebten Tante Lou Frieden und Trost zu finden. Dabei hat sie jedoch nicht bedacht, dass ihre Schwestern bereits Pläne schmieden, um sie aus dem Bett zu bekommen. Und dass ihre Mutter Rena sie mit ihrer Überfürsorglichkeit schnell in den Wahnsinn treibt. Und auch nicht, dass Lou und Rena ein Geheimnis hüten, das Hannahs Leben verändern wird. Vor allem aber hat Hannah nicht damit gerechnet, ihrer Jugendliebe Jakob wiederzubegegnen …

Der Autor

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

JANA LUKAS

DIE LIEBE KENNT DEN WEG ZURÜCK

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständige Erstausgabe 4/2020

Copyright © 2020 by Jana Lukas

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Diana Mantel

Umschlaggestaltung: © zero-media.net, München

unter Verwendung von plainpicture/Michaela Ninic, GettyImages/Ulrike Schmitt-Hartmann, FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25961-7V001www.heyne.de

Ein Mühlstein und ein Menschenherzwird stets herumgetrieben.Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben.

(Friedrich Freiherr von Logau)

Prolog

Sommer 2009

Glatt wie Glas lag der Sternsee im frühen Licht des Tages. Über den Bergspitzen des Tals färbte sich der Himmel in einem zarten Rosa. Hannah Falkenbergs alte Chucks waren nass vom taufeuchten Gras, durch das sie gelaufen war. Sie drehte sich um. Die Fußspuren, die sie auf der Lichtung hinterlassen hatte, waren nicht zu übersehen. Dann blickte sie wieder auf das Wasser hinaus. Smaragdgrün schloss es die zwei kleinen Felseninseln ein, auf denen sich Kiefern, Moose und Farne gegen die raue Witterung der Berge behaupteten. Nebelfetzen tanzten über das Wasser wie Feen.

Hannah starrte auf das Szenario, als könne sie ein Negativ davon in ihren Erinnerungen verankern. Sie war dabei, die Welt zu entdecken, hinter die Gipfel zu schauen, die das Tal einrahmten. Manche nannten es Flucht, sie bezeichnete es als Aufbruch. Sie war in Sternmoos aufgewachsen, hatte die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens hier verbracht. Doch in der letzten Zeit nahmen ihr die Berge die Luft zum Atmen. Das Tal verursachte ihr Platzangst. Das Gefühl, auf der Stelle zu treten, wurde von Tag zu Tag mächtiger. Sie musste hier raus. Einfach weg. Sie wollte die schönsten Orte der Welt fotografieren. In Berchtesgaden hatte sie jedes Motiv, jeden Stein, ja, jeden verdammten Grashalm schon einmal im Bild festgehalten. Hier gab es nichts mehr, womit sie ihre Kreativität füttern konnte.

Warum nur fiel es ihr so schwer, den Blick vom See abzuwenden? Ihre Tante Louisa wartete auf dem Hof der alten Mühle auf sie. Ihr großer Rucksack und ihre Kameratasche waren bereits in Lous Wagen verstaut. Sie mussten bald aufbrechen, wenn Hannah ihren Zug nicht verpassen wollte. Es blieb nur eine Sache … sie blickte auf den Brief, den sie in der Hand hielt, und atmete tief durch. Es war feige, das Tal auf diese Weise zu verlassen. Jakob würde ihr nicht verzeihen. Wahrscheinlich würde er sie sogar hassen. Sie schluckte. Doch egal, wie sie es drehte und wendete, er würde sie nicht verstehen. Seine Zukunft lag hier. In der Werkstatt seines Vaters. Bei seinen Freunden, der Bergwacht. Hannah hingegen – ihr gehörte die Welt, wie Louisa es immer formulierte. Und die wollte sie erobern.

Entschlossen wandte sie sich um und ging zu der knorrigen Kiefer hinüber, in deren Spalt Jakob und sie immer kleine Botschaften für den anderen hinterließen. Ihre Hand zitterte, als sie den Umschlag in das Versteck schob. Die Baumrinde fühlte sich rau an unter ihren Fingern. Ein kleiner Klecks Harz blieb an ihrer Haut haften und hüllte sie in den unverkennbaren Duft der Lichtung.

Vielleicht würde Jakob sie ja doch irgendwann verstehen. Ein letztes Mal blickte sie auf den See. Die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die Wasseroberfläche und verwandelten sie in eine Fläche aus glitzernden Diamanten. Hannah straffte die Schultern und schlug den Weg zur Mühle ein. Hinter ihr lösten sich die letzten Nebelfetzen und verschwanden in der klaren Luft, als hätte es sie nie gegeben.

1

Sommer 2019

Sie kam aus dem Nichts und riss den Jeep mit sich, als sei er ein winziges Spielzeugauto. Eine Walze aus Geröll und zähem Schlamm, die den Berg hinunterschoss, alles unter sich begrub und in einem dunklen Brei aus Erde und Steinen erstickte.

Hannah hatte Glück. Wenn man das so nennen konnte. Die Schlammlawine katapultierte den Jeep von der Straße, statt ihn unter sich zu zerquetschen. Sie überschlug sich. Wieder und wieder. Bis der reißende Fluss, der sich neben der Straße ins Tal stürzte, ihren Aufprall abfing. Für den Bruchteil einer Sekunde atmete Hannah durch. Der Wagen hing schief in den wilden Fluten des Flusses, irgendetwas stoppte ihn, sorgte dafür, dass sie nicht davontrieb. Vielleicht ein Baumstamm, ein Felsvorsprung. Es war ihr egal. Ihr Sicherheitsgurt hielt sie fest auf dem Beifahrersitz. Sie war am Leben. »Das war knapp«, keuchte sie, atemlos vor Schock. Ihr Herz raste und schickte Unmengen Adrenalin durch ihre Venen. Sie hörte, wie der Schlamm an verschiedenen Stellen des Tals noch immer in überwältigender Geschwindigkeit den Berg hinunterrauschte und diesen abgelegenen Teil des brasilianischen Regenwaldes unter sich begrub. Sie hörte das Brodeln des Wassers um sich herum. Sie hörte das Blut in ihren Adern. »Finn?«, flüsterte sie. So leise, dass sie es selbst kaum hören konnte. Er antwortete nicht. Dabei antwortete er ihr immer. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen seiner witzigen Sprüche. Irgendetwas, was sie beruhigen und vielleicht sogar zum Lachen bringen würde. Vielleicht hatte er sie nicht gehört.

Langsam, unendlich langsam, wand Hannah den Kopf zum Fahrersitz. Dort, wo ihr Freund und Kollege hätte sitzen müssen, sah sie nur die zerborstene Scheibe, durch die das Wasser in den Jeep lief. »Finn!« Diesmal schrie sie seinen Namen aus voller Lunge.

Hannah musste bewusstlos gewesen sein. Vielleicht hatte sie auch einfach nur geträumt. Vom Sternsee. Von ihrem Zuhause. Noch sah sie das Tal vor ihrem inneren Auge. Die Sonne war bereits hinter die hohen, steinernen Zacken des Hochkalter gesunken, aber sie hatte ihre Farben zurückgelassen. Das leuchtend helle Gelb und das tiefe Orange spiegelten sich im fast unwirklichen Türkisblau des Wassers. Genau wie die beiden Kiefern auf der kleinen Felseninsel, nur ein paar Meter vom Ufer entfernt. Ihre älteste Schwester, Antonia, hatte sich an den vom Wasser glatt geschliffenen Steinen emporgehangelt und winkte zu ihr herüber wie ein Pirat, der ein Königreich erobert hatte.

Hannah blendete den Schmerz aus. Solange sie die Berge vor sich sah, die letzten Schneereste, die sich noch an die Nordwände der Felsnadeln klammerten, würde auch sie es schaffen. Das hoffte sie zumindest, selbst wenn sich ihr Körper taub anfühlte. So taub und kalt. Die Wellen des Bergsees schwappten um sie herum, schlugen über ihr zusammen. Das Glucksen, das sonst so beruhigend war, wirkte gespenstisch. All das war nicht schlimm, versuchte Hannah sich selbst zu beruhigen. Wasser war eben kalt. Sie würde gleich ans Ufer schwimmen und sich neben ihrer mittleren Schwester Rosa in der heißen Sommersonne ins Gras legen, bis ihr wieder warm war. Egal, welche Temperatur der See hatte, Rosa hatte mit Sicherheit nicht einmal den großen Zeh ins Wasser getaucht.

Der metallische Geschmack von Blut passte nicht hierher, also ignorierte Hannah ihn. Sie musste schwimmen, doch sie war so müde. Die Kälte hielt sie in einem eisernen Griff. Die Strömung riss an ihr. Das konnte nicht sein, schoss es ihr durch den Kopf. Der Sternsee hatte keine Strömung. Für einen Augenblick wandelte sich das klare Türkisblau in schlammig braune Fluten, die sie immer wieder überspülten, sie gefangen hielten und ihr die Luft zum Atmen nahmen. Nein! Sie musste in ihre Erinnerung an Zuhause zurückkriechen. Musste ihre Gedanken auf die Berge richten. Auf ihre Schwestern. Auf den Sonnenuntergang. Sicher würden jeden Moment die ersten Sterne über den Gipfeln auftauchen.

Irgendjemand sagte etwas zu ihr. Schrie sie an. In einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann wechselte die Stimme zu Portugiesisch. »Senhorita, me escute? Senhorita!« Bevor sie es in einem stark lateinamerikanisch eingefärbten Englisch probierte. »Miss? Can you hear me?«

Touristen, dachte Hannah. Dieser Teil des Seeufers gehörte zur Alten Mühle. Zum Grundstück ihrer Tante Louisa. Hier hatte niemand etwas verloren, aber hin und wieder verirrte sich einer der Urlauber, die aus der ganzen Welt in diese Gegend strömten, in das kleine, private Paradies ihrer Familie.

»Miss? Open your eyes, please!«, versuchte es die penetrante Stimme schon wieder.

Nein, das konnte sie nicht. Sie kniff die Lider noch fester zusammen. Wenn sie die Augen öffnete, würde alles verschwinden. Rosa und Antonia. Das grasbewachsene Ufer. Die Bergkette hinter dem klaren See. Der Wald. Egal, wie sehr der Schmerz wuchs, der die Taubheit in ihrem Körper ablöste. Sie durfte ihre Lichtung nicht verlassen. Sie durfte auf keinen Fall die Augen öffnen. Denn dann wäre sie zurück in der Hölle aus Schlamm, Geröll und reißendem Wasser. Zurück im brasilianischen Urwald.

*

Rosa Falkenberg fuhr aus dem Schlaf. Mit wild klopfendem Herzen setzte sie sich im Bett auf und rieb sich über das Gesicht. Sie hatte geträumt. Etwas Schreckliches. Auch wenn sie sich bereits nicht mehr an die Details erinnern konnte.

Ihr Freund Julian drehte sich auf die Seite. »Was ist los?«, murmelte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Nichts«, flüsterte sie. Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam wieder. Die Vorhänge vor dem Fenster bauschten sich in der lauen Brise, die von den Bergen herunterwehte. Rosa schlug die Bettdecke zurück und setzte ihre nackten Füße auf den kühlen Dielenboden.

»Wo willst du hin?«, nuschelte Julian und tastete nach ihrer Hand.

Rosa schob seine Finger von ihrem Arm. »Ich hole mir nur schnell etwas zu trinken«, beruhigte sie ihn und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Es reichte schließlich, wenn sie hellwach war.

In der Küche hielt sie ein Glas unter den Wasserhahn und trank es in großen Schlucken aus. Ihr Puls verlangsamte sich wieder. Trotzdem blieb die innere Unruhe, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Vielleicht sollte sie einfach einen Blick auf ihr Handy werfen, um sicherzugehen, dass es ihrer Familie gut ging. Wenn jemand angerufen hätte, hätte sie das zwar in ihrem Schlafzimmer gehört, aber sicher war sicher. Rosa füllte das Glas noch einmal und nahm es mit ins Wohnzimmer. Ihr Telefon lag auf dem Couchtisch. Sie wischte über den Touchscreen, doch das Display blieb dunkel. »Mist«, murmelte sie und kramte ihr Ladekabel aus dem kleinen Korb auf der Ablage. Das Handy war gestern Abend ausgegangen, als sie ihrer Tante dabei geholfen hatte, die letzten Bestellungen zu verpacken. Sie hatte es Julian mitgegeben und ihn gebeten, es aufzuladen. Offenbar hatte er sich ihre Bitte während der wenigen Schritte vom Mühlenladen bis zu ihrer Wohnung nicht merken können. Mit einem Seufzen stöpselte sie das Telefon ein und wartete, bis sich das Display einschaltete. Einige WhatsApp-Nachrichten, die unwichtig waren, erschienen. Und sieben Anrufe in Abwesenheit. Sieben? Rosa klickte die Nummer an. Die Zahlenfolge schien zu irgendeinem ausländischen Anschluss zu gehören, der ihr nichts sagte. Aber der Anrufer hatte eine Nachricht hinterlassen. Sie rief ihre Mailbox ab und wartete ungeduldig, bis die Ansage endete und die Nachricht begann.

»Rosa?«, hörte sie die leise Stimme ihrer Schwester Hannah. Ihre Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut. Allein an der Art, wie Hannah ihren Namen aussprach, konnte sie hören, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Hannah zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr, als müsse sie überlegen, wie sie die nächsten Worte formulieren sollte. »Ich … ich hatte einen Unfall«, brachte sie schließlich heraus. Kein Wort davon, was passiert war. Ob sie verletzt war. Oder wie schwer. Typisch Hannah. »Mein Handy ist weg, und ich hatte nur deine Nummer im Kopf. Ich habe einen Flug von São Paulo nach Frankfurt erwischt.« Sie ratterte die Flugdaten herunter. »Vielleicht … vielleicht kannst du mich abholen?« Die Stimme ihrer Schwester war zu einem kaum noch wahrnehmbaren Flüstern geschrumpft. Dann klickte es in der Leitung, und die Automatenstimme wollte wissen, ob Rosa die Nachricht noch einmal abhören wolle.

Ihr Herz begann abermals zu rasen. Sie ließ das Handy sinken und starrte auf das Display. Hannah hatte den Auftrag für eine Fotodokumentation im brasilianischen Dschungel bekommen und war vor ein paar Tagen nach Südamerika geflogen. Was, zur Hölle, war dort passiert? Rosa klickte die Nummer an, von der aus ihre Schwester angerufen hatte.

Sie wartete eine kleine Ewigkeit, bevor ein etwas gehetzt klingender Mann den Anruf entgegennahm. »Deutsche Botschaft, Brasilia. Sie sprechen mit Herrn Neumann.«

»Ich …« Rosa stockte und atmete tief durch, ehe sie noch einmal begann. Mit Panik erreichte sie nicht viel. Sie musste einen kühlen Kopf behalten. »Mein Name ist Rosa Falkenberg. Meine Schwester hat mich von diesem Apparat aus angerufen. Hannah Falkenberg«, ergänzte sie, falls der Mann nicht wusste, wen sie meinte.

»Frau Falkenberg«, grüßte Herr Neumann sie. »Ihre Schwester hat Sie tatsächlich aus der Botschaft angerufen. Sie ist inzwischen allerdings nicht mehr hier.«

»Natürlich! Entschuldigen Sie! Hannah hat mir ja ihre Flugdaten durchgegeben.« Rosas Stimme kletterte eine Oktave nach oben, und sie zwang sich, abermals tief durchzuatmen. »Es ist nur … sie klang so … Ich kenne meine Schwester, und dieser Anruf hat mir wirklich Angst gemacht.« Todesangst. Rosa musste sich zusammenreißen, um den Mann über das Rauschen des Blutes in ihren Adern hinweg zu verstehen.

»Frau Falkenberg hat gegen unseren ausdrücklichen Rat auf eigene Faust einen Flug nach Deutschland gebucht und ist bereits abgeflogen.«

Rosa rieb sich über die Stirn. »Was bedeutet ›gegen Ihren ausdrücklichen Rat‹? Können Sie mir sagen, was überhaupt passiert ist?«

»Ihre Schwester hat sich an die Botschaft gewandt, weil sie Ersatzpapiere gebraucht hat, um ihren Flug umbuchen und ausreisen zu können. Sie ist bei einem Erdrutsch in einer unzugänglichen Regenwaldregion verunglückt. Das Fahrzeug, mit dem sie unterwegs war, wurde in einen Fluss gespült, wo sie einige Stunden ausharren musste, bis sie aus dem Wrack gerettet werden konnte. Der Fahrer des Jeeps kam ums Leben.«

»O Gott!« Der Fahrer? Wer war das gewesen? Ein einheimischer Führer? Ihr Agenturkollege, mit dem sie für diesen Auftrag unterwegs gewesen war? Übelkeit stieg in Rosas Speiseröhre nach oben, und sie verfluchte sich dafür, Hannah vor ihrer Reise nicht nach den Details ihres Auftrags gefragt zu haben. Verzweifelt schluckte sie den Speichel hinunter, der sich in ihrem Mund sammelte. Hannah lebte. Das war alles, was zählte. Sie konnte jetzt nicht daran denken, dass jemand anders gestorben war. Ihre Schwester war am Leben. »Wie schwer ist sie verletzt?«

»Genau da liegt das Problem: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie hat sich auf eigene Faust bis Brasilia durchgeschlagen und ist von hier nach São Paulo weitergereist. Sie hat nur die Möglichkeit genutzt, in der Botschaft zu duschen, ihre Kleidung zu wechseln und Sie anzurufen. Meiner Meinung nach wäre es zwingend erforderlich gewesen, dass sie sich von einem Arzt durchchecken oder sogar in ein Krankenhaus einliefern lässt. Aber sie hat sich geweigert.«

»Und Sie haben sie nicht aufgehalten?« Rosas Stimme überschlug sich fast. Vor Empörung. Sorge und Angst. »Was ist, wenn sie zusammenbricht? Wenn sie innere Verletzungen hat?«

»Frau Falkenberg«, begann Herr Neumann in einer ruhigen, neutralen Stimme, in der all die Geduld mitschwang, die er sicher bereits in unzähligen ähnlichen Telefonaten an den Tag gelegt hatte. »In traumatischen Situationen wie der, in die Ihre Schwester geraten ist, haben die Menschen oft nur einen Gedanken im Kopf: Weg hier! Weg, um jeden Preis! Ihre Schwester ist«, er machte eine kurze Pause, »nennen wir es: sehr durchsetzungsstark. Sie wollte auf der Stelle nach Hause und war mit nichts von diesem Ziel abzubringen.«

Das stimmte. Hannah war verdammt starrsinnig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht so vorwurfsvoll klingen.« Rosa schloss die Augen und ließ sich gegen die Sofalehne sinken.

»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Ich weiß, dass Ihre Schwester den Flieger nach Deutschland erreicht hat. Holen Sie sie am Flughafen ab. Seien Sie für sie da. Sie wird jetzt die Unterstützung ihrer Familie brauchen.«

»Ja, da haben Sie recht. Danke.«

»Alles Gute.« Der Mann legte auf, und Rosa blieb mit der Stille im Raum zurück.

Sie wusste nicht, wie lange sie so dasaß, bis ihr bewusst wurde, dass sie etwas tun musste. Hannahs Flieger würde in etwa sechs Stunden landen – nach Frankfurt brauchte sie mindestens fünf Stunden. Sie stand auf und blickte auf den Hof der Mühle hinaus, während sie noch einmal ihre Mailbox abhörte. Mit zitternden Fingern notierte sie sich die genauen Flugdaten. Der Tag dämmerte bereits herauf. Rosa lehnte für einen Moment die Stirn gegen das kühle Fensterglas und versuchte, ihre wild durcheinanderrasenden Gedanken zu beruhigen. Was musste sie als Erstes tun? Antonia. Sie musste ihre andere Schwester informieren. Und ihre Eltern. Sie blickte über den Hof und sah in der Wohnung ihrer Tante Louisa Licht brennen. Lou. Sie würde wissen, was zu tun war. Ehe Rosa bewusst wurde, was sie tat, rannte sie barfuß und im Pyjama aus der Mühle. Über das unebene Pflaster des Hofes. Vorbei an der dunkel gestrichenen Holzbank, auf der in ein paar Stunden die drei Alten – wie sie Pangratz, Korbinian und Gustl nannten – Platz nehmen würden, um über Gott und die Welt zu philosophieren. Sie stürmte die Treppen zur Wohnung ihrer Tante hinauf und hämmerte an die Tür.

*

Jakob Mandel fuhr aus dem Schlaf. Sein Hund Laus stand neben seinem Bett und starrte ihn aus seinen im Dämmerlicht unnatürlich hellblauen Augen an, während er leise fiepte. Einen Moment wusste Jakob nicht, was ihn geweckt hatte, doch dann setzte es wieder ein. Das Hämmern gegen seine Tür. Plötzlich hellwach sprang er aus dem Bett und hastete aus dem Schlafzimmer. Laus folgte ihm auf dem Fuß. Jakob war nicht umsonst Mitglied der Bergwacht. Er konnte mit Notfällen umgehen und war in der Lage, in einer Sekunde zur anderen von Tiefschlaf auf Hellwach umzuschalten. Und wenn jemand Hilfe brauchte … Im nächsten Moment riss er die Tür auf. Antonia Falkenberg stand vor ihm und konnte sich gerade noch bremsen, bevor sie statt auf das Holz auf seinen Kopf klopfte. »Tonia! Was ist passiert?« Die Frau, die vor ihm stand, ließ sich normalerweise von nichts aus der Ruhe bringen. Weder von einer der herausfordernden Kletterrouten, die sie regelmäßig bezwang, noch von einer schwierigen Geburt, mit denen sie als Hebamme immer wieder konfrontiert war. Ihr panischer Gesichtsausdruck bestätigte seine Befürchtungen: Irgendetwas Schlimmes war geschehen. »Ist etwas mit Lou?« Antonias Tante war zwar über sechzig, aber fit wie ein Turnschuh und das blühende Leben in Person. Vielleicht hatte es in der Mühle einen Unfall gegeben. »Oder mit deinen Eltern? Ist mit Rena und Josef alles okay?«

»Ja. Nein.« Antonia schüttelte heftig den Kopf. »Hannah«, brachte sie heraus. »Es geht um Hannah.«

»Was?« Jakobs Herzschlag setzte aus. Zumindest fühlte es sich so an. Sein Brustkorb zog sich zusammen, und sein Oberkörper sackte gegen den Türrahmen. Mit der Hand schob er Laus zurück, der Anstalten machte, die offene Tür als Einladung zu einem kleinen Spaziergang zu betrachten. »Hannah?« Seine Stimme klang wie ein Krächzen.

»Wir brauchen deinen Bus«, redete Antonia einfach weiter. »Wir treffen uns alle bei Lou. Sie hat mich gebeten, auf dem Weg zu ihr zu fragen, ob wir ihn leihen können.«

»Was ist mit ihr?« Jakob hörte nicht auf das, was Antonia sagte, doch sie war offenbar noch nicht fertig mit ihrem Monolog.

»Wir passen doch nicht alle in einen Pkw. Wenn meine Eltern mitfahren und Rosa. Und dann Lou. Wie soll das denn gehen?«

»Antonia!«, fuhr Jakob sie an. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie, bis sie ihm direkt in die Augen sah. »Was, verdammt noch mal, ist mit Hannah passiert?«

»Oh«, brachte sie schwach heraus. »O Gott, Jakob. Tut mir leid. Ich wollte dir nicht so einen Schreck einjagen.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Wahrscheinlich entdeckte sie in seinem Gesicht den Schock, der den in ihren eigenen Augen spiegelte. »Hannah hatte einen Unfall. In Brasilien. Sie sitzt im Flieger nach Hause, und wir müssen sie in ein paar Stunden in Frankfurt abholen.«

»Geht es ihr gut?«, war alles, was Jakob wissen wollte. Zehn Jahre alte Erinnerungen blitzten vor seinem inneren Auge auf. Ihr Lachen. Die blonden Haare, die sie mit einer unbewussten Geste hinter ihre Schulter schob. Das fröhliche Blitzen in ihren blaugrünen Augen. Laus schmiegte sich an sein Bein und fiepte leise, so als wäre ihm klar, in welchem inneren Aufruhr sich sein Herrchen befand.

»Nein.« Wieder schüttelte Antonia den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie ist verletzt. Aber ich weiß nicht, wie schwer.« Die Panik in ihren Augen begann wieder zu wachsen.

Jakob drehte sich um und nahm die Schlüssel seines Mercedes-Vans vom Sideboard neben der Tür. »Ist jemand von euch in der Lage zu fahren?« Antonia jedenfalls sollte im Moment kein Fahrzeug lenken, wenn sie nicht noch einen zweiten Unfall provozieren wollte.

Endlich wurde ihr Kopfschütteln von einem Nicken ersetzt. »Lou«, sagte sie. »Lou fährt.«

»Gut.« Jakob drückte ihr den Schlüssel in die Hand. Eigentlich hatte er der Schulband versprochen, dass sie den Bus heute ausleihen konnten, um zu einem Auftritt nach Ramsau zu fahren, aber er würde einen Ersatz für die Jungs auftreiben. Einen Moment hielt er den Wagenschlüssel fest. Er wollte Antonia anbieten, ihn selbst zu fahren. Er musste mit eigenen Augen sehen, dass es Hannah gut ging. Doch er wusste, dass er kein Recht darauf hatte. Und dass er mit Sicherheit der Letzte war, dem Hannah gegenübertreten wollte, wenn sie aus dem Flieger stieg. Jakob schluckte und ließ los. Antonias Finger schlossen sich um das kühle Plastik. »Du hältst mich doch auf dem Laufenden?«, fragte er.

»Natürlich.« Antonia umarmte ihn. »Danke«, sagte sie und rannte davon.

2

Alles war falsch. Hannahs ganze Welt war nicht nur aus den Fugen geraten, sie schien überhaupt nicht mehr zu existieren. Sie hatten sie aus einem Jeep gezogen, der gerade dabei gewesen war, gemeinsam mit ihr in den reißenden Fluten des Flusses zu versinken. Sie hatten darauf bestanden, sie in eines dieser winzigen Krankenhäuser irgendwo im Nirgendwo zu bringen. Aber sie hatte nur die Platzwunde an ihrer Stirn von einem der Sanitäter vor Ort mit ein paar Schmetterlingspflastern klammern lassen und sich dann bis zur Botschaft in Brasilia durchgekämpft. Ihre erste Mitfahrgelegenheit war die Ladefläche eines Pritschenwagens gewesen, zusammengequetscht zwischen drei Familien, die aus dem Tal gebracht wurden. Dann ein klappriger Bus, für eine kurze Strecke ein Zug, und wieder ein Bus – diesmal sogar mit einer Klimaanlage, die die schwüle Hitze für eine Weile vertrieb. Ihre Odyssee endete im uralten VW-Bus belgischer Hippies, die ganz Südamerika bereisten. Sie gabelten sie in einem Ort auf, dessen Namen Hannah wieder vergaß, und setzten sie direkt vor der deutschen Botschaft ab. Das leuchtend grüne Dickicht der Regenwälder war an ihr vorübergeglitten. Kleine Dörfer aus Wellblechhütten, auf deren Straßen zottelige Hunde und johlende Kinder mit den Fahrzeugen um die Wette rannten. Kleine Städte, größere Städte. Wieder Urwald und schließlich riesige Weideflächen und Sojafelder so weit das Auge reichte. Irgendwann hatte sie das Gefühl für die Zeit verloren. Sie musste über mehrere Tage unterwegs gewesen sein. Aber wie viele waren es? Zwei? Oder drei? Sie wusste es nicht. Jede Menge Leute hatten auf sie eingeredet. Wollten genau wissen, was geschehen war. Wollten ihr helfen. Wussten, was am besten für sie war. Aber sie waren vor ihren Augen zu einer hellen Masse verschmolzen, die sie nicht auseinanderhalten konnte. Was daran liegen mochte, dass sie tatsächlich die Gehirnerschütterung hatte, vor der der Sanitäter sie gewarnt hatte. Oder einfach nur daran, dass sie das Geschehene ausblenden wollte. Hannah war allein. Sie hatten sie allein aus dem Wagen geholt. Sie hatten sie allein weggebracht. Und sie hatte es geschafft, sich auf einen Lufthansa-Flug von São Paulo nach Frankfurt zu buchen. Allein. Dabei hätte Finn neben ihr sitzen müssen. Im Auto. Im provisorischen Lazarett neben der Schlammlawine. Und vor allem in diesem verdammten Flieger. Der sie nach Hause brachte. Und ihn nicht.

Alles, was abgesehen von Hannahs nacktem Leben gerettet werden konnte, war der silberne Koffer gewesen, in dem sich neben ihren Kameras und ihrem Laptop auch drei Briefe befanden. Briefe von Finn an seine Frau und seine Kinder. Die er vorübergehend in Hannahs Gepäck verstaute, weil sein Koffer ganz unten im Jeep gelegen hatte.

Einhunderteinundzwanzig Tote – hieß es in den Nachrichten, wenn sie sie richtig verstanden hatte. Das war die Opferzahl des Bergrutsches, der ein ganzes Dorf und die Straße unter sich begraben hatte, auf der sie unterwegs gewesen waren. Finn war eines von ihnen.

Die Flugbegleiterinnen kümmerten sich rührend um Hannah, als sie ihren erbärmlichen Zustand bemerkten. Sie überzeugten einen fast zwei Meter großen Mann davon, den Platz am Notausgang frei zu machen, damit sie es mit ihrem geschundenen Körper einigermaßen bequem hatte. Jetzt hockte er in einer der Sitzreihen hinter ihr und konnte sich vermutlich mit den Knien die Ohren zuhalten. Hannah sollte ihm danken, aber sie brachte die Kraft dazu einfach nicht auf. Sie wollte nur die Augen schließen, um den wachsamen Blicken der Stewardessen zu entgehen, die ihr ein paar Schmerztabletten gebracht hatten und versuchten, ihr jeden Wunsch vom Gesicht abzulesen. Aber wenn sie die Augen schloss, sah sie Finn vor sich. Sein breites Grinsen, die tiefen Lachfältchen, die sich neben seinen strahlend blauen Augen in die gebräunte Haut gegraben hatten. Finn müsste auf ihrem Platz sitzen. Er hatte Familie. Eine Frau und zwei Kinder, die darauf warteten, dass er zu ihnen zurückkehrte. Die ihn brauchten. Doch er war fort. Mitgerissen von der mörderischen Strömung. Erschöpft blickte sie aus dem Fenster. In der Nacht, durch die sie flogen, sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild. Eine Mischung aus dunklen Schatten unter den Augen und tiefen Linien, die sich durch ihre Haut zogen. Die Platzwunde an ihrer Stirn war unter einem weißen Pflaster versteckt. Der Schmerz in ihrer Hüfte und in ihrem linken Arm (den sie vorsichtig auf einem der Kissen in ihrem Schoß gebettet hatte, das die Flugbegleiterin ihr gebracht hatte) pochte trotz der Schmerzmittel im gleichen Rhythmus wie ihr schneller Puls.

Im Flugzeug wurde das Licht gedimmt. Die meisten Passagiere stellten sich darauf ein, die Zeit in der Luft zu verschlafen. Die Dunkelheit brannte in Hannahs Augen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon wach war, wie lange sie dem Schlaf schon widerstand. So sehr sie versuchte, ihre Augen offen zu halten, sie verlor den Kampf. Ihre Lider senkten sich, und im nächsten Augenblick überrollte der Schlaf sie mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Schlammlawine. Wehrlos war sie den Träumen ausgeliefert, die sie wie ein Sog in den brasilianischen Dschungel zurückzogen.

Hannah zuckte zusammen – und blinzelte die Tränen des Schmerzes weg, die die ruckartige Bewegung ihr in die Augen trieb. Um sie herum war es dunkel, und für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Dann erkannte sie das schemenhafte Gesicht der Flugbegleiterin vor sich.

»Entschuldigen Sie«, sagte die Frau leise. Das typische, unverbindliche Lächeln war echtem Mitgefühl gewichen. »Sie haben so unruhig geschlafen. Ich wollte nur kurz nach Ihnen sehen, falls Sie einen Albtraum haben.«

Keinen Albtraum. Nur Erinnerungen an die letzten Tage. Was viel furchtbarer war, als es ein Traum jemals sein könnte. »Danke«, sagte Hannah. Der Schmerz war allgegenwärtig, genau wie das Rasen ihres Herzens.

»Möchten Sie etwas trinken?«, bemühte sich die Stewardess weiter.

»Nein. Danke.« Hannah schloss einfach wieder die Augen, bis sie spürte, wie sich die Frau aufrichtete und den Gang hinunterlief.

Als sie allein war, hob sie die Lider wieder und starrte in die Dunkelheit hinaus. Finn hatte sich nicht angeschnallt. Und jetzt war alles, was von ihm geblieben war, drei Briefe an seine Frau und seine Kinder. Mit den Adressen versehen und frankiert. In ihrem völlig verbeulten Kamerakoffer, der jetzt im Frachtraum der Boeing 747 lag, die sie zurück nach Deutschland brachte.

Hannah schaffte es, alle Gedanken an das, was kommen würde, zu verdrängen, bis sie den europäischen Luftraum erreichte. Sie hatte noch von der Botschaft aus Rosa angerufen. Auch wenn sie nur die Mailbox erreicht hatte, musste ihre Schwester die Nachricht inzwischen abgehört haben. Ihre Familie wusste also Bescheid. Ihr wäre es am liebsten, Rosa würde allein kommen, um sie abzuholen. Aber so, wie sie die Falkenbergs kannte, würden sie alle versammelt in der Ankunftshalle stehen, wenn der Flieger landete. Dabei wollte sie nur allein sein, nach Hamburg fahren und sich in ihrer Wohnung verkriechen. Das war leider unmöglich. Nicht nur, weil sie ihr Apartment für die geplante Dauer ihrer Reise untervermietet hatte, ihre Mutter würde sich auch durch nichts davon abhalten lassen, sich jetzt um sie zu kümmern.

Mit einem harten Ruck, der wie ein schmerzhafter Stich durch ihren ganzen Körper fuhr, setzte die Boeing in Frankfurt auf. Hannah ließ sich aus ihrem Sitz helfen, wehrte sich nicht einmal, als die Flugbegleiter ihr resolut auf einen der kleinen Wagen halfen, die für ältere Herrschaften und Fälle wie sie zur Verfügung standen. Sie wurde zum Zoll gefahren, aber erst als der Fahrer ihr anbot, sie bis zum Ausgang zu bringen, erwachten ihre Lebensgeister wieder, und sie lehnte dankend ab. Wenn sie so den Ausgang erreichte, würde ihre Mutter in Ohnmacht fallen. Sie bedankte sich, schob sich den Gurt ihres schweren Koffers über die Schulter und humpelte in Richtung Ausgang. Die Schiebetüren öffneten und schlossen sich im Sekundentakt bei all den Passagieren, die geschäftig an ihr vorbeieilten. Hannah konnte ihre Familie schon von Weitem sehen. Wie sie es befürchtet hatte, waren sie alle hier. Ihre beiden Schwestern. Rosa nicht wie sonst oft, in einem Dirndl, sondern in Jeans und T-Shirt. Die Haare, statt der für sie so typischen Flechtfrisuren, zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden. Aber immerhin ohne ihren Freund Julian, der mit Sicherheit alle drei Minuten auf seine teure Armbanduhr blicken und leise fragen würde, wann sie denn endlich verschwinden konnten. Neben Rosa stand Antonia, die Älteste von ihnen. In Shorts und Turnschuhen, als würde sie im nächsten Moment losjoggen und eine Runde um den Flughafen drehen. Ihre Mutter Rena gehörte zu den Frauen, die im Alter noch schöner wurden, auch wenn ihr Blick im Moment dunkel war vor Sorge. Ihre grauen Haare legten sich in sanften Wellen um ihr Gesicht und strichen über die Schulter von Hannahs Vater, an die sie sich lehnte. Wie ein Fels stand Josef inmitten der Frauen seiner Familie, hielt die Hand ihrer Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das es nicht schaffte, die Furcht aus ihrem Blick zu vertreiben. Und dann war da Tante Louisa. Das lange Haar offen, um den Hals ein buntes Tuch geschlungen, war sie auch mit Anfang sechzig noch immer eine bemerkenswerte Erscheinung, nach der sich die Männer umdrehten. Mit beunruhigten Gesichtern starrten sie in Richtung der Schiebetüren. Noch hatten sie Hannah nicht gesehen. Dafür entdeckte Hannah etwas hinter ihnen. Einen Briefkasten. Ihre Schritte stockten. Jemand rempelte sie im Vorbeigehen mit seinem Koffer an, und sie zuckte vor Schmerz zusammen.

Ein Briefkasten. Ihr Herz begann zu rasen. Alles war falsch gelaufen, ging es ihr zum tausendsten Mal durch den Kopf. Sie hätte hinter dem Steuer des Jeeps sitzen müssen. Sie hätte sterben müssen. Sie hatte keine Kinder, keinen Partner, der auf ihre Rückkehr wartete. Finn schon. Wenn seine Familie herausfand, dass Hannah schuld an seinem Tod war, würde sie sie hassen. Sie trat aus dem Strom der Reisenden und setzte den Koffer ab. Ein wenig inzwischen getrockneter Schlamm rieselte auf den Boden. Hannah kniete sich neben die verbeulte Aluminiumkiste und bettete ihren nutzlosen Arm auf den Oberschenkel. Mit einer Hand zerrte sie an den Schlössern, bis sie schließlich widerwillig nachgaben. Eine Wolke modrigen Geruchs hüllte sie auf einmal ein. Hannah war sich nicht sicher, ob sie aus dem Inneren des Gepäckstücks kam oder nur ihrer Fantasie entsprang. Sie atmete gegen die Panik an, die wie eine weitere Welle über ihr zusammenschlagen wollte. Mit den Fingerspitzen tastete sie durch den kleinen Spalt, den sie am Koffer aufgeschoben hatte. Finn hatte die Briefe obenauf … da waren sie. Hannah zog sie heraus und machte sich an die mühevolle Aufgabe, die Verschlüsse mit einer Hand wieder in die richtige Position zu bringen und zuschnappen zu lassen.

Mühsam richtete sie sich wieder auf. Wenn sie die Umschläge jetzt in den Briefkasten warf, würde Finns Familie denken, jemand hätte sie gefunden und einfach verschickt, weil sie bereits adressiert und frankiert waren. Niemand musste wissen, dass sie die Briefe hatte. Dass sie noch lebte und Finn deswegen tot war.

Einige Herzschläge lang stand sie einfach nur da, die Briefe in der Hand, und beobachtete ihre Familie durch die sich öffnende und schließende Tür. Tiefe Sorgenfalten hatten sich auf ihrer Stirn in die Haut gegraben. Louisa legte ihre Hand um Rosas Schulter, die wiederum nach Antonias Hand griff. Ihr Vater strich sich mit einer Geste über seinen steingrauen Bart, die seine Nervosität verriet. Sie waren alle besorgt, wurde Hannah klar. Nicht nur ihre Mutter. Jeder in ihrer Familie wartete ängstlich auf sie.

Die Schiebetüren schlossen sich wieder. Der Moment, in dem sie abermals auseinanderglitten, war auch der, in dem ihre Tante sie entdeckte. Louisa hielt ihren Blick fest. Sie lächelte nicht, sie winkte nicht. Sie rief nicht nach ihr. Tante Lou ließ sie einfach nur mit ihrem ruhigen Blick und einem winzigen Nicken wissen, dass sie für Hannah da sein würde. Wann immer sie sie brauchte.

Rosa sah Louisa an und folgte dann ihrem Blick. »Hannah!« Sie riss sich los und stürmte auf die Tür zu. Der Moment des Zögerns war vorbei. Hannah schob die Briefumschläge in die Gesäßtasche ihrer Jeans und griff mit der rechten Hand nach ihrem Kamerakoffer. Sie hievte ihn sich wieder über die Schulter und humpelte die letzten Meter, die sie noch von ihrer Familie trennten.

Rosa war die Erste. Sie stand direkt hinter der Tür, schlang Hannah die Arme um den Nacken und hüllte sie in eine tröstliche Wolke aus Zitrusduft, der von ihrer Haut aufstieg. »Da bist du ja«, flüsterte sie in Hannahs Haar. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

Der Oberkörper ihrer Schwester drückte gegen Hannahs linken Arm, der Blitze aus Schmerz durch ihren Körper zucken ließ. Sie biss die Zähne zusammen und wich so weit zurück, wie sie konnte. »Ich bin auch froh, wieder hier zu sein«, erwiderte sie. Ihr Blick verschwamm, aber sie drängte die Tränen zurück. Sie würde nicht mitten in der Ankunftshalle heulend zusammenbrechen. Inzwischen wurde sie von ihrer gesamten Familie umringt. Ihr Vater nahm ihr den Koffer ab, und sie ließ sich von Antonia und ihrer Mutter umarmen, die das Schmerzinferno in ihrem Körper nur noch mehr anheizten, auch wenn sie das nicht mit Absicht taten. Louisa rahmte Hannahs Gesicht mit den Händen ein und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie sagte nichts, genau wie Hannahs Vater, der ihr einfach nur in einer zärtlichen Geste mit den Fingerknöcheln über die Wange strich.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte ihre Mutter mit Tränen in den Augen und unterzog sie einer ausführlichen Musterung.

»Danke, Mama«, murmelte Hannah. »Das baut mich wirklich auf.« Die Tränen, die in ihren Augen brannten, waren der Welle aus Schmerz geschuldet, die der erneute Körperkontakt auslöste. Versuchte sie sich zumindest selbst glauben zu machen.

»Josef?« Hannahs Mutter drehte sich nach ihrem Mann um. »Das Kind muss in ein Krankenhaus«, entschied sie. Ihre Sorge schien Entschlossenheit gewichen zu sein. Dem Tatendrang, für den Rena Falkenberg über die Grenzen von Sternmoos hinaus bekannt war. »Dass sie dich in diesem Zustand haben fliegen lassen! Völlig unverantwortlich.«

Hannah hätte die Augen verdreht, wenn sie dafür noch genug Energie hätte aufbringen können. »Mama, lass gut sein«, versuchte sie es. »Mir geht es gut.«

»Dir geht es ganz sicher nicht gut. Josef! Nun sprich doch mal ein Machtwort.« Abermals drehte sie sich zu Hannahs Vater um und fixierte ihn mit ihrem Blick, der normalerweise dazu führte, dass er tat, was sie wollte.

Er räusperte sich. »Rena, Schatz.« Die Hand beruhigend auf die Schulter seiner Frau gelegt, trat er einen Schritt vor. »Lassen wir Hannah erst einmal ankommen.« Er wies zu einer Sitzgruppe, ein Stück entfernt. »Sollen wir uns für einen Moment setzen?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Ich will einfach nur nach Hause, okay?«

»Deine Mutter hat nicht unrecht. Du bist verletzt, und wir haben eine ziemlich lange Strecke vor uns«, versuchte er, an Hannahs Vernunft zu appellieren.

»Keine Umwege«, bat Hannah. »Ich gebe zu, dass ich ziemlich erledigt bin. Der Jetlag ist auch nicht gerade ein Spaß. Aber ich möchte jetzt auf gar keinen Fall in irgendeinem Krankenhaus herumsitzen.«

»Vielleicht kann Papa etwas arrangieren, damit wir nicht so lange warten müssen«, schlug Antonia vor. Sie wippte auf ihren Zehenballen auf und ab. In ihr brodelte ungebändigte Energie, und sie hasste es, tatenlos herumzustehen.

»In Frankfurt?« Hannahs Vater hatte im Berchtesgadener Land jede Menge Kontakte zu seinen Kollegen, von Hausärzten über Orthopäden und Chirurgen bis hin zu Klinikleitern. Aber hier würde ihm das wenig helfen.

»Hört mal zu, ich habe eine Idee«, mischte sich nun auch Louisa ein. »Warum gehen Hannah und Josef nicht einfach schon mal zum Auto? Die Scheiben sind getönt, da müsste es doch möglich sein, dass du einen Blick auf deine Tochter wirfst und entscheidest, ob sie reisefähig ist. Wir trinken so lange einen Kaffee und kommen dann nach.« Sie strich Hannah mit den Fingerspitzen eine lose Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte sie an. »Bei deinem Sturkopf stehen wir sonst morgen noch hier und diskutieren. Oder du lässt uns einfach stehen und nimmst den Zug nach Hause.«

»Gute Idee, Lou.« Antonia rieb Hannah über den Rücken. »Ich verstehe, dass du nach Hause willst, aber wenn Papa sagt, du musst in ein Krankenhaus, dann hörst du auf herumzustreiten. Einverstanden?«

»Von mir aus«, murmelte Hannah. Jede Minute, die sich die Diskussion in die Länge zog, brachte sie näher an einen Zusammenbruch. Sie wollte hier weg. So schnell wie möglich.

»Aber … Hannah!«, versuchte ihre Mutter es noch einmal. »Du musst in ein Krankenhaus!«

»So oder gar nicht«, widersprach Hannah. »Bist du so weit, Papa?«

Ihr Vater nickte. »Wir können.« Er warf Louisa einen Seitenblick zu. »Kann ich den ausleihen?«, fragte er und deutete auf den bunten Schal, den sie um den Hals geschlungen hatte.

»Natürlich.« Sie zog ihn herunter und reichte ihn Josef. »Lass mich das nehmen, Schätzchen«, sagte Lou, als sie sah, wie Hannah ihren Kamerakoffer schultern wollte.

Hannah ließ los, als ihre Tante nach dem Tragegurt griff. Blieben die Briefe, die in ihrer Gesäßtasche steckten. Sie schätzte die Entfernung zu dem Briefkasten, den sie zuvor entdeckt hatte. Plötzlich schien er meilenweit entfernt. Und ihr Vater hatte sich bereits in Richtung Parkhaus umgedreht. Entschlossen zog Hannah die Umschläge aus der Tasche und hielt sie Rosa hin. »Kannst du die für mich da drüben einwerfen?« Sie nickte zu der gelben Säule.

Rosa folgte ihrem Blick, ehe sie ihn wieder auf die Briefe in ihrer Hand senkte. »Was ist das?« Sie drehte die Kuverts so, dass sie die Adressen lesen konnte.

»Könntest du sie einfach nur einwerfen? Bitte?« Hannah wartete die Erwiderung oder weitere neugierige Fragen ihrer Schwester nicht ab. Sie drehte sich um und folgte ihrem Vater.

Der Weg ins Parkhaus zog sich endlos hin. Hannahs Vater passte sich ihrem Tempo an und achtete darauf, dass die um sie herumhastenden Reisenden sie nicht anrempelten. Im trüben Licht des Parkhauses steuerte er auf einen schwarzen Mercedes-Van mit Berchtesgadener Kennzeichen zu. »Neues Auto?«, fragte sie. Davon hatte niemand etwas in den Telefonaten oder E-Mails der vergangenen Monate erzählt.

»Von einem Freund geliehen«, sagte ihr Vater. »Wir hätten nicht alle in meinen BMW gepasst.«

Erst jetzt sah Hannah den Aufdruck auf der Seite des Busses. Alter Milchwagen – Classic Cars, eine Firma, die ihr nichts sagte. Aber das musste nichts heißen. Josef kannte Gott und die Welt. Sie hingegen kannte in dem Zuhause ihrer Kindheit vermutlich so gut wie niemanden mehr. Ihr Vater schob die Seitentür auf, und Hannah kletterte mühsam ins Wageninnere.

Josef folgte ihr und zog die Tür ins Schloss. Er legte Louisas Schal neben ihr auf die Sitzbank und kniete sich halb vor sie hin. »Ich nehme an, du weißt, dass dein Arm gebrochen ist?«, fragte er.

Hannah zog eine Grimasse. »Ja, aber ich kann es aushalten, bis wir zu Hause sind.«

»Solange wie du die Schmerzen jetzt schon durchstehst, glaube ich dir das.« Hannah konnte die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln sehen. Sie waren in den vergangenen Jahren tiefer geworden, aber sie spiegelten den fröhlichen, sanften Charakter ihres Vaters, der seine Patienten dazu brachte, ihm zu vertrauen. Sie wünschte sich, dass er etwas Lustiges, Leichtes sagen würde. Stattdessen sah er sie viel zu ernst an. »Hör zu, Kleines. Ich kann natürlich nicht nachempfinden, was dir zugestoßen ist. Aber ich kann verstehen, dass du dort wegwolltest, auch wenn ich dich als Arzt am liebsten schütteln würde, weil du nicht sofort in eine Klinik gegangen bist. Flucht ist bei einer solchen Katastrophe einer unserer ersten Urinstinkte, der einsetzt. Bei manchen stärker als bei anderen. Du bist deinen Instinkten gefolgt, die dich nach Hause gebracht haben. Du bist in Sicherheit. Ab jetzt übernehme ich, und du musst dich auf mich verlassen. Okay?«

Hannah war in Sicherheit. Dieses Gefühl hatte es noch nicht geschafft, sich in ihrem Gehirn zu verankern. Aber ihr Vater hatte recht. Sie musste ihm vertrauen. Er wusste, was von nun an das Beste für sie war. Auch wenn es sich furchtbar anfühlte, die Kontrolle abzugeben. Zögerlich nickte sie.

»Gut.« Josef hob den Schal, den Louisa ihm gegeben hatte. »Wir können daraus eine Trageschlinge machen. Aber um einen Arztbesuch kommst du nicht herum, und das weißt du auch.« Ihr Vater zog die Augenbrauen nach oben, bis sie fast unter seinem grauen Haarschopf verschwanden, und sah sie abwartend an.

»Ich weiß, Papa. Irgendwie … keine Ahnung … Ich will nur weg hier«, brachte sie schließlich schwach heraus.

»Keine Sorge. Ich sehe mir deine Verletzungen an, und wenn ich zu dem Schluss komme, dass wir dich nach Hause bringen können, dann machen wir das so schnell wie möglich.« Er kramte in seiner rechten Hosentasche herum und zog einen Tablettenblister heraus. Mit der anderen Hand fischte er eine Wasserflasche aus dem Getränkehalter in der Mittelkonsole. »Die hier nimmst du aber auf jeden Fall. Schmerzmittel und Entzündungshemmer.« Er drückte eine Tablette aus der Verpackung in Hannas rechte Hand und schraubte die Flasche auf.

Hannah schluckte die Pille und lehnte sich im Sitz zurück. Erschöpft schloss sie ihre brennenden Augen. »Danke, Papa. Danke, dass ihr mich abgeholt habt.«

3

Hannah kam um eine Untersuchung im Krankenhaus nicht herum. Ihr Vater hatte auf der Fahrt von Frankfurt nach Bayern telefonisch seine Kontakte spielen lassen, um ihren Aufenthalt in der Klinik in Berchtesgaden so kurz wie möglich zu halten. Sie hatte von seinen Bemühungen nicht viel mitbekommen. Die Schmerztablette, die er ihr gegeben hatte, hatte sie in einen weichen Mantel aus Gleichgültigkeit gehüllt. Sobald der Rest der Familie eingetrudelt war und sich Plätze in dem geräumigen Mercedes-Bus gesucht hatte, hatte Hannah den Kopf an die Schulter ihrer Tante gelehnt und die Augen geschlossen. Die Trageschlaufe, die ihr Vater aus Louisas Schal gebastelt hatte, entlastete ihren verletzten Arm. Die Gespräche im Wagen drifteten wie eine sanfte Melodie um sie herum, die sie mit ihrer Wärme und Vertrautheit in eine tröstliche Geborgenheit einhüllte. Solange sie nicht über die Gründe nachdachte, aus denen sie in diesem Van saß …

Die Diagnose der Ärzte im Krankenhaus verwunderte Hannah nicht, auch wenn sich die Mediziner erstaunt darüber zeigten, dass sie die Reise aus Brasilien unter diesen Umständen angetreten hatte.

»Sie sind in diesem Zustand einmal um die halbe Welt geflogen?«, fragte Dr. Rossberger, den ihr Vater mit einem jovialen ›Anton‹ begrüßt hatte, mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Hmm«, brummte Hannah, als er ihr half, ihr Shirt über den Kopf zu ziehen. Wie sollte sie erklären, warum sie das gemacht hatte? Er hatte mit Sicherheit keine Ahnung, was es bedeutete, einfach nur weg zu wollen. Einfach zu – entkommen.

Sie hatte ihren Vater vor der Untersuchung aus dem Zimmer verbannt und ließ Dr. Rossberger die Verletzungen abtasten, die sich überall an ihrem Körper befanden.

»Wird das lange dauern?«, fragte sie, als der Arzt entschied, dass der Arm geröntgt werden musste.

»Sie meinen, weil Ihre Familie draußen auf Sie wartet?« Dr. Rossberger lächelte gut gelaunt. »Keine Sorge, die Falkenbergs haben das Schwesternzimmer übernommen und trinken dort gemütlich Kaffee. Schwester Anna hatte Geburtstag, also fällt vermutlich sogar noch das eine oder andere Stück Kuchen für sie ab.« Er beugte sich vertraulich zu ihr herüber. »Es ist zwar nicht üblich, aber Josef ist wirklich ein geschätzter Kollege in dieser Klinik. Wenn Sie also möchten, besorge ich Ihnen auch ein Stück. Sie sind wahrscheinlich am Verhungern.«

Das war es nicht, was Hannah mit ihrer Frage gemeint hatte. Sie wollte nur so schnell wie möglich hier raus, und bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr der Magen um. »Das ist sehr nett«, murmelte sie. »Aber danke. Ich habe keinen Hunger.« Sie konnte für ihre Familie nur hoffen, dass der Kaffee im Schwesternzimmer auch nur ansatzweise besser war als der, mit dem die restlichen Wartenden in der Notaufnahme vorliebnehmen mussten. Sie war jedenfalls froh, allein zu sein.

Natürlich würde ihr Vater auf seine Weise herausbekommen, was ihr fehlte. Aber so konnte zumindest ihre Mutter nicht schon jetzt zu viel Aufhebens um sie machen. Was Rena auf jeden Fall tun würde, wenn sie erführe, dass Hannah eine Gehirnerschütterung erlitten hatte – die inzwischen aber so gut wie abgeklungen war. Ihre Hüfte war geprellt, was sie ihrem Sicherheitsgurt zu verdanken hatte. Der wiederum für ihr Überleben gesorgt hatte, wie Dr. Rossberger nicht müde wurde zu erwähnen, nachdem sie ihren Unfall in groben Zügen geschildert hatte. Oder zumindest den Teil, über den sie sprechen konnte.

Wie Hannah es geschafft hatte, sich den Arm zu brechen, wusste sie nicht mehr. Dafür war alles viel zu schnell gegangen, selbst wenn sie jetzt das Gefühl hatte, die komplette Katastrophe würde in Zeitlupe an ihr vorbeiziehen, wenn sie auch nur die Augen schloss. Aber selbst da hatte sie unglaubliches Glück gehabt. »Das hätte schlimm ausgehen können«, sagte Dr. Rossberger und betrachtete die Röntgenbilder vor sich mit einem wissenden Nicken, ehe er sich mit einem breiten Strahlen im Gesicht zu ihr umdrehte. »Statt einer komplizierten Verletzung haben wir es nur mit einer einfachen Fraktur von Ulna und Radius zu tun. Elle und Speiche«, verbesserte er sich, als ihm klar wurde, dass er ins Medizinerlatein abrutschte. »Ein glatter Unterarmbruch. Keine Komplikationen. Ein paar Wochen Gips und Sie sind wie neu«, versicherte er ihr.

Wie war das möglich, fragte Hannah sich zum millionsten Mal. Wie konnte sie fast wie neu sein, während Finn tot war?

»Wir legen Ihnen einen leichten Castverband an, einen Kunststoffgips«, erklärte Dr. Rossberger weiter. »Sie müssen sich nur noch eine hübsche Farbe aussuchen und dann warten, bis der Bruch verheilt ist. Also, welche wählen Sie?« Erwartungsvoll wies er mit dem Kinn in Richtung einer kleinen Farbskala an der Wand, die ein bisschen an die Miniversion der Mischpaletten im Baumarkt erinnerte, und sah sie dann wieder an.

»Was soll ich wählen?«, fragte sie.

»Die Farbe Ihres Castverbandes. Sie wird die nächsten vier Wochen zu Ihnen gehören, also suchen Sie sie mit Bedacht aus.«

War das sein Ernst? Hannah schüttelte den Kopf. »Völlig egal«, brachte sie heraus.

Dr. Rossberger seufzte. Offenbar gehörte das Aussuchen der Gipsfarbe zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. »Okay, dann entscheide ich«, sagte er. »Nehmen wir etwas, das zu Ihren Augen passt.« Er zwinkerte ihr zu. »Türkis.«

Hannah versuchte, auf der Untersuchungsliege, auf der sie saß, eine etwas angenehmere Position zu finden. Sie war sich sicher, keine türkisfarbenen Augen zu haben. Aber Männer und Farben, das war manchmal so eine Sache. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie Jakob als Junge immer Rosa mit Orange verwechselt hatte. Vielleicht ging es dem Arzt ähnlich.

Sie hatte ihr Zeitgefühl irgendwo zwischen Frankfurt und Berchtesgaden verloren. Die Mischung aus Schmerzmitteln und Jetlag brachte das bisschen Gleichgewicht, das in ihrem Körper noch geherrscht hatte, völlig aus dem Takt. Als ihre Platzwunde an der Stirn neu geklebt und ihr Armbruch in türkisfarbene Glasfaser gehüllt war, konnte sie das Krankenhaus endlich verlassen. Die Sonne stand bereits tief über den Bergrücken, die das Tal einrahmten. Sie stiegen ein letztes Mal in den Van und machten sich auf den Weg, um die verbliebenen Kilometer das Tal hinauf hinter sich zu bringen. Hannah lehnte den Kopf gegen das Seitenfenster und betrachtete die Lichtreflexe, die durch das dichte, grüne Dach der hohen Baumkronen fiel. Das Tal verengte sich zu einer Schlucht. Links neben der schmalen Straße stürzte sich die Ramsauer Ache abwechselnd über kleine, von der Natur verteilte Staustufen oder schlängelte sich durch ihr Flussbett aus glattgeschliffenem Geröll und schüttete kleine Sandbänke auf. Das Wasser war – im Gegensatz zu Hannahs Augen – wirklich türkis, was es dem losen Kalkstein verdankte, der sich Ramsauer Dolomit nannte und die Touristen zum Staunen brachte. Der Sender, den ihr Vater im Autoradio eingestellt hatte, kratzte, wie er es schon immer getan hatte, wenn man sich zwischen den steilen, grauen Felswänden das Tal emporschlängelte. Alles hier war Hannah so schmerzlich vertraut, dass ihre Augen brannten.

Sie ließen Ramsau hinter sich, wo das Tal sich noch einmal ein wenig weitete. Die Straße führte sie an den saftig grünen Wiesen vorbei, die sanft zum Zauberwald hin abfielen. Als Kind hatten sie immer die Sekunden gezählt, bis das kleine, moosbewachsene Schutzmäuerchen auftauchen würde, das um die letzte scharfe Linkskehre führte. Der Holzlagerplatz. Und noch eine Rechtskurve. Josef bremste wegen eines Mountainbikers ab, der sich den Berg hinaufquälte. Dann überholte er, und im nächsten Augenblick lichtete sich der Wald, und Hannahs Herzschlag beschleunigte sich, ohne dass sie das wirklich gewollt hätte. Der Sternsee lag vor ihnen. In seiner glatten Oberfläche spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen. Je nach Tageslicht glich er einem Meer aus Diamanten, glänzte türkisgrün oder wie jetzt in einem dunklen, satten Farbton, der an Smaragde erinnerte. Eingebettet in die hohen Bergketten, die das Tal einschlossen, war er ihr Zuhause. Hier war sie geboren, aufgewachsen. Und aus der beklemmenden Enge hatte sie gar nicht schnell genug verschwinden können. Jetzt fühlten sich die Schneereste auf den Spitzen des Hochkalter und der Reiteralpe so vertraut an, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.

Josef bremste wegen eines weiteren Fahrradfahrers ab, was Hannah Zeit gab, nach rechts zu blicken. Zwischen den Kiefern und Buchen am Seeufer konnte sie die Alte Mühle ausmachen, das Refugium ihrer Tante, in dem sie in ihren Kinder- und Jugendjahren so viel Zeit verbracht hatte. Als ob sie die Gefühle spüren würde, die Hannah innerlich aufwühlten, legte Louisa vom Sitz hinter ihr die Hand auf ihre Schulter und drückte sanft. Hier zu sein würde nicht einfach werden. Hier zu bleiben war schlicht unmöglich.

Ein paar Minuten später hielt Josef vor dem Haus, in dem ihre Familie lebte, seit sie zwei war und ihre Eltern beschlossen hatten, dass das Apartment über der Gärtnerei ihrer Mutter zu klein geworden war. Mit dem Wissen, dass Hannah nur noch wenige Meter von einem Bett trennten, konnte sie die abgrundtiefe Erschöpfung nicht mehr aufhalten. Sie war unglaublich dankbar, dass ihr Vater sich gegen Dr. Rossberger durchgesetzt und verhindert hatte, dass sie die Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus verbringen musste. Mit letzter Kraft quälte sie sich aus dem Van und ließ sogar zu, dass ihre Mutter ihr unter die Arme griff und beim Aussteigen half. Seit Hannah untersucht worden war, wirkte auch Rena ein wenig gefasster. Hannah wusste, dass sie sich seit ihrer Ankunft in Frankfurt ihrer Mutter gegenüber undankbar verhalten hatte, dass ihre Einsilbigkeit und ihr Schweigen unhöflich waren. Ihr war klar, wie groß die Sorgen waren, die Rena und der Rest der Familie sich um sie gemacht hatten. Sie wäre gern fröhlicher gewesen, sie hätte sich gern mehr an den Gesprächen um sich herum beteiligt, aber sie konnte das tiefe schwarze Loch, über dem sie balancierte, einfach nicht wegzaubern. Morgen vielleicht. Morgen, wenn sie einmal richtig ausgeschlafen hatte, würde sie sich mehr Mühe geben. Ihre Familie konnte ihr nicht die Schuld nehmen, die sie am Tod eines anderen Menschen hatte. Abgesehen davon war alles, was sie wollte, die Reise nach Brasilien zu vergessen oder zumindest auszublenden.

Statt in den Erinnerungen zu versinken, sah sie an der Fassade des Hauses hinauf. Wie es sich für das Heim einer Blumenhändlerin und Gärtnereibesitzerin gehörte, quoll ein Meer aus Geranien über das hölzerne Geländer des Balkons im ersten Stock.

»Hat sich nicht verändert, stimmt’s?«, flüsterte Antonia neben ihr.

Hannah zwang sich zu einem Lächeln. »Kein bisschen«, gab sie zurück. Das einst helle Holz war über die Jahre nachgedunkelt und verpasste dem Haus einen angenehmen, leicht verwitterten Charme. Mit den bunt sprießenden Blumenkästen auf den Fensterbänken im Erdgeschoss und den großen Pflanztrögen zu beiden Seiten der Haustür wirkte es bewohnt. Und vor allem geliebt.

»Bist du bereit?«, fragte ihr Vater und lud ihren Kamerakoffer aus.

Sie blickte auf das verbeulte Aluminium, an dem noch immer Schlammreste hafteten, und ihr lief ein eisiger Schauder über den Rücken, der das beruhigende Gefühl, das ihr Elternhaus für einen Moment ausgelöst hatte, auf grausame Weise eliminierte. Sie schluckte und nickte.

Rosa umarmte sie so vorsichtig wie am Flughafen. »Ich bringe das Auto zurück«, erklärte sie und nickte über ihre Schulter zu dem Bus. »Wir sehen uns morgen.«

Der Rest ihrer Familie schien keine Anstalten zu machen, seiner Wege zu gehen, also folgte Hannah ihnen ins Haus.

Josef stellte den Koffer in den Raum, der früher ihr Kinderzimmer gewesen war. Hannah war froh, dass ihre Mutter eine Übernachtungsmöglichkeit für Gäste daraus gemacht hatte und es nicht nach ihrem Weggang in eine Art Schrein verwandelt hatte. Wäre sie zu allem Übel beim Betreten des Raumes in die Zeit von vor zehn Jahren zurückkatapultiert worden, wäre sie wahrscheinlich trotz ihrer Erschöpfung schreiend in die Berge gerannt. Der freundliche, helle Landhausstil, der die Poster an den orange-gelb gestrichenen Wänden ihrer Jugend ersetzte, gab dem Zimmer Ruhe und ließ Hannah durchatmen.

»Ich habe dir ein paar Sachen rausgesucht«, sagte Antonia und legte einen Stapel Kleidungsstücke auf die blumenbestickte Überdecke des Bettes.

»Danke.« Hannah versuchte sich abermals an einem Lächeln.

»Wenn du was brauchst«, murmelte ihre Schwester. »Jederzeit.«

»Ich weiß.« Und das war nicht gelogen. Ihre Familie hatte sich ein großes Auto besorgt und war nach Frankfurt gefahren. Sie hatten sie mit nach Hause genommen. Sie waren für sie da. Immer. Ganz egal, dass sie vor zehn Jahren alles hinter sich gelassen hatte und abgehauen war. Ganz egal, wie wichtig es ihr in diesem Jahrzehnt gewesen war, einen gesunden Abstand zu diesem einsamen Tal in den Bergen – und damit auch zu ihrer Familie – zu halten. Ihre Familie würde ihr niemals das Gefühl geben, nicht mehr zu ihnen zu gehören. Obwohl das vielleicht so war. Hannah hatte keine Ahnung, wie sich die Situation verändern würde, wenn sie erst einmal ein paar Wochen hier wäre.

»Möchtest du noch etwas essen?«, fragte ihre Mutter. Ein wenig unsicher stand sie neben Louisa im Türrahmen, so als wäre sie nicht sicher, ob es Hannah recht war, wenn sie hereinkam.

»Nein.« Hannah schüttelte den Kopf und betrachtete das Bett mit dem schlichten Holzkopfteil, das vor der hellgrau gestrichenen Wand stand. Darüber hingen zwei große, gerahmte Schwarzweißfotos von alten Bauernhäusern, die Hannah in Südfrankreich gemacht und ihrer Mutter vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. »Ich möchte nur noch duschen und mich dann ein bisschen ausruhen.« Sie hielt ihren Arm hoch, als ihr der Gips wieder einfiel. »Hast du eine Plastiktüte für meinen Arm?«

»Natürlich.« Froh, eine Aufgabe zu haben, verschwand Rena und kehrte kurz darauf mit einem Plastikbeutel zurück.

Hannah wartete, bis sich nach und nach alle verabschiedet hatten und das Zimmer verließen. Sie schloss die Tür hinter ihnen und atmete tief durch. Dann stellte sie sich für eine gefühlte Ewigkeit unter die Dusche und wusch den Rest des brasilianischen Schmutzes und Schweißes von ihrem Körper. Wenigstens den Dreck konnte sie zusammen mit dem gurgelnden Wasser im Ausfluss versenken. Sie vermied es, einen Blick in den Spiegel zu werfen, als sie sich abtrocknete. Mit ihren Verletzungen hatte sie sich heute bereits genug befasst. Zurück in ihrem Zimmer nahm sie die Schmerztablette, die ihr Vater neben einem Glas Wasser auf das Nachtschränkchen gelegt hatte, und zog die Bettdecke über sich. Im nächsten Moment schlief sie tief und fest.

*

Louisa stand neben ihrer Schwester an Hannahs Zimmertür und spähte hinein.

»Sie schläft«, sagte Rena und stieß langsam den Atem aus, als hätte sie ihn seit Stunden angehalten. Louisa spürte regelrecht, wie die Anspannung und Sorgen von ihrer Schwester abfielen, als sie sah, wie ihre Tochter ruhig im Bett lag.

Louisa fühlte mit Rena. Sie verstand die Angst, die ihre Schwester um ihr Kind hatte. Und auch wenn sie selbst keine Kinder hatte, verstand Louisa ihre Nichte vermutlich besser als jeder andere in der Familie. Sie dachte an ihren eigenen Ausbruch aus der heilen Welt dieses Tals. Hannah war es ähnlich ergangen. Obwohl sie von allen bedingungslos geliebt wurde – oder auch vielleicht genau deswegen – hatte sie die Enge nicht ertragen. Als sie die Chance auf eines der begehrten Praktika bei einem angesagten Hamburger Fotografen ergattert hatte, hatte sie nichts mehr in Sternmoos gehalten. Obwohl es dem Mädchen damals das Herz zerrissen hatte, war sie gegangen, ohne zurückzublicken.

Und jetzt war sie wieder da. Und sogar das hatte Hannah mit Louisa gemeinsam. Auch sie war nach ihrer Flucht aus dem Tal zurückgekehrt. Am Boden zerstört. Verzweifelt. Louisa blickte ihre Schwester von der Seite an. Rena würde alles für ihr Kind tun. Es umsorgen. Beschützen. Und doch würde es vieles geben, was sie nicht begriff. Einfach weil sie es nicht begreifen konnte. Weil diese Gedanken nicht in Renas Welt passten. Aber Louisa konnte es. Und sie würde für Hannah da sein. »Na komm«, sagte sie, zog ihre Schwester zurück und schloss die Tür. »Lassen wir sie bis morgen früh in Ruhe.«

*

Hannah fuhr mit einem Keuchen aus dem Schlaf. Ihr Herz raste, und für einen Moment hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand. Dann begriff sie, dass sie in Sternmoos war. Im Haus ihrer Eltern, nicht in der Schlammlawine, die sie in den Fluss gerissen und Finn für immer verschluckt hatte. Sie lag in die weiche Bettdecke ihrer Mutter gehüllt, roch den frischen Duft des Waschmittels und würde wieder gesund werden. Die eisige Nässe des Flusses in Brasilien, der Schlamm und das Geröll, die sie wegrissen, waren mit dem Aufwachen nur noch der schale Nachgeschmack eines Albtraums.

Sie tastete nach der Nachttischlampe und blinzelte gegen die Helligkeit an. Einen Moment überlegte sie, den pulsierenden Schmerz in ihrem Arm mit noch einer der Tabletten zu vertreiben, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen schob sie die Decke zur Seite und stand auf. Sie trat ans Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Von hier aus müsste sie den See sehen können, aber in der Scheibe konnte sie nur ihr verzerrtes Spiegelbild erkennen.

*