Wo du das Glück findest - Jana Lukas - E-Book

Wo du das Glück findest E-Book

Jana Lukas

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zuhause ist, wo das Glück auf dich wartet

Für Jule Hansen ist der Einzug in das alte Schulhaus am Starnberger See ein wahrer Segen und der perfekte Start für ihren neu gegründeten Concierge-Service. Jule liebt es, Dinge in Ordnung zu bringen – kaputte Kaffeemaschinen ebenso wie die Leben ihrer Mitmenschen. Genau dafür mögen ihre Kunden sie. Bis auf den Unternehmer Christian Thalbach, mit dem sie wegen jeder Kleinigkeit aneinandergerät. Doch nach einem Unfall ist er plötzlich auf Jules Hilfe angewiesen. Was als ständiges Kräftemessen zweier Streithähne beginnt, entwickelt sich zu einem Sommer, der Jules Gefühlswelt auf den Kopf stellt. Bis ein Geheimnis um Christians Vergangenheit ans Licht kommt, das ihr das Herz bricht. Und diesmal wird es weit mehr als Jules Allzweckwaffe Sekundenkleber brauchen, um die Scherben wieder zusammenzufügen.

Der zweite Band der Alte-Schule-Saga

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 517

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Jule spürte den winzigen Stich in ihrem Herzen, den der Anblick dieses verliebten Pärchens ihr versetzte, und zwang sich, nicht die Hand zu heben und über diese Stelle zu reiben. Es war keine Eifersucht. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Sie gönnte ihren Freunden, was sie hatten. Aber manchmal, in Momenten wie diesem, sehnte sie sich danach, ebenfalls zu lieben. Entschlossen kippte sie den Rest des Weines auf ex und schenkte sich nach. Die Liebe hatte keinen Platz in ihrem Leben. Sie war nicht der Typ Frau, der sein Herz verschenkte. Nicht mehr. Jule hatte ganz andere Ziele. Sie wollte als Privat-Concierge voll durchstarten – und sie war auf dem besten Weg. Christian Thalbach mochte sie anknurren, weil sie seine Tür repariert hatte. Aber sobald er wieder klar denken konnte, wäre er ihr dankbar, dass sie ihm diese Aufgabe abgenommen hatte. Denn genau das war es, worum es in ihrem Job ging: anderen das Leben leichter zu machen.

Die Autorin

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

JANA LUKAS

WO DU DAS GLÜCK FINDEST

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 10/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von Trevillion Images (Drunaa, Lee Avison); FinePic®, München

ISBN: 978-3-641-28659-0V001www.heyne.de

Prolog

HERZLICHWILLKOMMEN, WELCOME, BIENVENUEUNDNATÜRLICHSERVUS!SCHÖN, DASSSIEDASIND!

Suchen Sie jemanden, der Ihr Haus betreut, wenn Sie im Urlaub sind?Der die perfekte Feier für Sie organisiert?Dafür sorgt, dass die Location geschmückt und das Essen wunderbar ist?Dass alle Gäste glücklich sind und Sie alles entspannt genießen können?Wünschen Sie sich eine leidenschaftliche Dienstleisterin mit den besten Kontakten, die mit Ihnen gemeinsam plant, entwirft und umsetzt?Was für ein Glück! Sie haben mich gefunden! Ihre Wunscherfüllerin und Luxusbetreuerin. Ich arbeite rund um den Starnberger See und habe jahrelange Erfahrung im Concierge-Bereich. Ein »Nein« gibt es bei mir nicht (solange Ihr Wunsch nicht illegal oder unmoralisch ist). Ich bin absolut zuverlässig, flexibel, souverän und erfinderisch. Ich liebe Herausforderungen jeglicher Art, und am wichtigsten: Ich freue mich auf Sie!

Bis bald, Ihre »gute Fee am See«, Jule Hansen

1

Die kühle Luft des Morgens hing wie ein zarter Schleier über der Seepromenade. Jule Hansens Füße trafen im Rhythmus von Kanye Wests Stronger auf den Asphalt, der bald von der Sonne aufgeheizt und von unzähligen Füßen bevölkert werden würde. In Flip-Flops. Birkenstocks. Und Trackingsandalen mit Tennissocken. Aber im Moment waren es nur Jule und ihre knallpinken Asics. Ihre Muskeln brannten. Die Lunge pumpte im steten Rhythmus ihres Atems Sauerstoff durch ihren Körper. Sie ließ die auf dem Wasser schaukelnden Boote des Segelvereins hinter sich und nickte einem älteren Paar zu, das seinen Hund Gassi führte.

Jule verlangsamte ihr Tempo nicht, als ihr Handy in der Tasche ihrer Laufshorts zu vibrieren begann. Sie lief am H’ugo’s Beachclub vorbei und zwinkerte einem der Hausmeister zu, der vor dem Eingang fegte. »Hansen – Die gute Fee am See«, meldete sie sich einen Moment später, nachdem sie Kanye West mit einem Fingertippen auf ihr Headset den Saft abgedreht und den Anruf angenommen hatte.

»Jule«, tönte ihr Name in einem schweren chinesischen Akzent in ihr Ohr.

»Tian«, grüßte sie den persönlichen Assistenten eines chinesischen Industriellen, der zu ihren Stammkunden gehörte. »Sie rufen an, um mich nach den Karten für die Schwanensee-Premiere zu fragen.« Was unnötig war. Sie hatte den Wunsch des superreichen Asiaten problemlos erfüllen können und hätte Tian Liu die Reservierungen gemailt, sobald sie zu Hause gewesen wäre. Aber sie verstand, dass der junge Mann sichergehen wollte, dass alles funktionierte, bevor sein Boss einen Fuß in seinen Privatjet setzte.

»Das freut mich zu hören«, antwortete er mit seiner schweren, tiefen Stimme, die so gar nicht zu seinem Alter von Mitte zwanzig passen wollte. »Können Sie mir die Unterlagen mailen?«

»Sie finden sie in spätestens einer halben Stunde in Ihrem Postfach. Einen schönen Tag, Tian, und guten Flug nach München. Wenn ich noch etwas für Sie und Ihren Boss tun kann, lassen Sie es mich wissen.«

»Xièxiè«, sagte er und wiederholte seinen Dank dann auf Deutsch. Mit einem »Auch Ihnen einen schönen Tag«, beendete er das Gespräch.

»Dieser Tag ist jetzt schon perfekt«, murmelte Jule und ließ Kanye weiterrappen. Sie lief an den kleinen Bootshäusern vorbei, in denen die ortsansässigen Fischer Tret- und Elektroboote an Touristen verliehen. In einer dieser Hütten, die auf Stelzen über das Wasser gebaut worden waren, befand sich eine der coolsten Bars der Stadt.

Ihre Füße trugen sie weiter am Ufer des Starnberger Sees entlang. Das Wasser glitzerte silbern unter den frühen Sonnenstrahlen, und drei Entendamen glitten wild schnatternd über das Wasser. Jule grinste, als sie an ihnen vorbeilief. Ein bisschen wie Felicia, Lina und ich, dachte sie. Dann winkte sie Carlo zu. Der Barista, der den kleinen Caféstand an der Anlegestelle der Ausflugsschiffe hatte, trat mit einem Pappträger mit vier Kaffeebechern aus der Seitentür, als er sie entdeckte.

Jule wurde langsamer und blieb schließlich vor dem rundlichen, gut gelaunten Italiener stehen. »Ciao, Carlo.«

»Ciao, Bella. Eine kleine Stärkung für dich und deine Freunde«, sagte er und überreichte ihr die Kaffeebecher mit einem strahlenden Lächeln.

»Danke, Carlo. Du weißt, dass das nicht nötig ist«, antwortete sie, nahm den Kaffee aber entgegen. Weil der Barista sonst beleidigt wäre. Und weil sie seinen Cappuccino mindestens so sehr liebte wie den, den ihre Freundin Felicia zubereitete.

Carlo legte die Hand auf sein Herz. »Du hast mich gerettet, Bella. Ich werde für immer in deiner Schuld stehen. Dieser Tag wird wundervoll. Genieß ihn!«

»Das werde ich«, versprach Jule und verfiel in den leichten Trab, in dem sie immer das letzte Stück ihrer sieben Kilometer langen Joggingstrecke zum Auslaufen zurücklegte. Ein Tempo, bei dem sie keinen Tropfen Kaffee verschütten würde. »Dir auch einen schönen Tag. Mögen die Touristen in Massen an deinem Stand anstehen, bevor sie auf die Ausflugsschiffe strömen.« Sie winkte dem Barista über die Schulter zu und lief in Richtung der Unterführung, die unter den Bahngleisen hindurchführte. Carlo war ein Fan von ihr, seit sie vor ein paar Monaten die Siebträgermaschine in seiner Cafébar mit ein paar Handgriffen wieder zum Laufen bekommen hatte, nachdem diese ihren Dienst verweigert hatte. Seitdem hatte sie bei Carlo ein lebenslanges, kostenloses Koffein-Abo.

»Hey, Jule«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. Peter Hummel stand vor seinem Laden Blütenpracht und winkte sie zu sich herüber.

»Peter.« Jule machte einen kleinen Schlenker in seine Richtung und überquerte die Straße. »Wie geht es dir?«, fragte sie. »Und dem Drucker?« Vor ein paar Tagen hatte er gestreikt, als Jule gerade eine Bestellung im Laden abgeholt hatte. Es war nicht weiter schwierig gewesen, ihn neu einzurichten. Sie hatte die Rechnung schließlich gebraucht. Und ja, okay, sie konnte an keinem kaputten Gegenstand vorbeigehen, ohne nicht wenigstens zu versuchen, ihn zu reparieren.

»Schnurrt wie ein Kätzchen«, bestätigte Peter, dass er die Einstellungen nicht wieder völlig durcheinandergebracht hatte. Er zog eine leuchtend gelbe Gerbera aus einem Eimer neben der Tür und reichte sie ihr mit einer angedeuteten Verbeugung. »Ich wollte dir nur schnell einen schönen Tag wünschen.«

»Danke.« Jule joggte auf der Stelle und nahm die Blume entgegen, die sie an die viktorianische Blumensprache erinnerte, die eine große Rolle in der Liebesgeschichte ihrer Freunde Felicia und Ben gespielt hatte. Eine Gerbera – die erste Blume, die Ben seinem Herzblatt geschenkt hatte – stand für Freundschaft und dafür, dass mit den Menschen um einen herum alles schöner wurde. Genau dafür stand ihr neues Zuhause, die alte Schule am See, in das sie vor ein paar Wochen eingezogen war. Und dafür standen ihre neuen Nachbarn, die längst zu Freunden geworden waren. Peter hatte also instinktiv die richtige Blüte ausgesucht. »Ich muss weiter, bevor der Kaffee kalt wird«, entschuldigte sie sich bei dem Blumenhändler. »Ich melde mich diese Woche noch bei dir wegen ein paar extravaganter Sträuße, die eine meiner Kundinnen für ihr Haus haben möchte.«

Jule legte das letzte Stück zurück und schob dann mit einer Hand eine Seite des schmiedeeisernen Tores auf, das zu der alten Villa im Knittl-Stil führte, die jahrzehntelang eine Schule beherbergt hatte – und seit Kurzem Jules Wohnung und Büro. Lange Zeit hatte am linken Torflügel nur das Schild gehangen, das auf die Küchennachhilfe, Felicias Kochschule, hingewiesen hatte. Inzwischen war darunter eine Tafel mit der Aufschrift Ben Lindner – Landschaftsarchitekt angebracht und daneben das Schild von Linas Nanny-Service und ihr eigenes Logo der Guten Fee am See. Denn genau das war ihr Job als Privat-Concierge: Wünsche erfüllen. Am liebsten solche, die unmöglich schienen. Denn was wäre das Leben ohne Herausforderungen?

Jule trabte um das Haus herum auf die kleine Terrasse, die hinter der Hausmeisterwohnung lag, in der Felicia lebte. Und die meiste Zeit Ben, auch wenn er im ersten Stock eine eigene Wohnung hatte. »Guten Morgen«, rief sie und stellte den Pappträger mit dem Kaffee auf den Bistrotisch. Die Gerbera steckte sie vorübergehend in die kleine rote Gießkanne mit den weißen Punkten, die an der Natursteinmauer stand, die den Sitzplatz vom Rest des Gartens trennte. Felicia zog auf dem Mäuerchen Kräuter in kleinen Töpfen, und obwohl sie sonst alles tötete, was grün war, schienen diese Pflanzen nachsichtig mit Jules Freundin zu sein – und sich hartnäckig an das Leben zu klammern.

»Morgen.« Felicia klappte ihren Laptop zu und legte ihn neben sich auf die verwitterten Holzdielen. »Kaffee von Carlo?«, fragte sie und zog einen der Becher aus der Halterung. Sie trug Leggins und eine Tunikabluse, und ihre wilden roten Locken waren auf ihrem Kopf zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst. Ein gutes Indiz dafür, dass Felicia heute von zu Hause aus arbeiten würde, statt im Hosenanzug und sittsam geglätteten Haaren in die Steuerkanzlei nach München zu fahren, in der sie angestellt war.

»Er hat mir regelrecht aufgelauert.« Jule grinste. »Ich konnte mich nicht dagegen wehren.«

»Und die Blume?«, wollte Felicia mit Blick auf die Gerbera wissen.

»Aus dem Blütenpracht.« Als ob ihre Freundin sich das nicht denken konnte.

»Passt zum Auftritt des Postboten«, verkündete Lina, die mit einem Tablett aus dem Haus kam, auf dem sie Schüsseln, Müsli und Milch balancierte. »Guten Morgen«, sagte sie, als sie das Tablett neben die Becher auf den Bistrotisch stellte und den Starnberger Merkur darunter hervorzog. »Er hat uns die Zeitung bis hinter das Haus gebracht, aus lauter Dankbarkeit über das Flicken seines Fahrradreifens neulich.«

»Wie nett von ihm.« Jule zog ebenfalls einen Kaffeebecher aus der Halterung, nippte daran und stellte ihn dann auf die Mauer, um noch ein paar Dehnübungen zu machen.

Lina bediente sich ebenfalls am Kaffee. Vermutlich hatte sie bereits die erste Fuhre Kinder in der Stadt verteilt. Ihren Nanny-Service erreichten meist schon früh am Morgen die ersten Notrufe, bei denen es um kranke Kinder oder Eltern ging. Probleme, für die sie Lösungen finden musste. Jemandem wie Lina raubte so etwas allerdings nie die gute Laune. Wahrscheinlich war sie schon allein deshalb gut drauf, weil die großen, bunten Blumen auf ihrem Kleid so fröhlich aussahen. Genau wie die Flechtfrisur, zu der sie ihre langen blonden Haare zusammengefasst hatte.

Bens Hund Poldi stürmte an ihr vorbei und ließ sich neben Elfriede, der großen orangefarbenen Hauskatze – und Poldis großer Liebe – auf den Boden fallen. Er war pudelnass, also hatte er wahrscheinlich wieder die Enten im See erschreckt. Ben folgte seinem Hund etwas langsamer den Pfad vom See herauf. Er trug Boardshorts und ein zerknittertes T-Shirt. Auf Schuhe hatte er verzichtet, und seine Haare hatten nach dem Aufstehen sicher noch keinen Kamm gesehen. »Morgen«, sagte er in die Runde, küsste Felicia auf die Schläfe und angelte sich den letzten Kaffeebecher aus dem Pappträger. »Hast du heute wieder deinen Verehrer-Club abgeklappert?«, fragte er Jule grinsend.

»Hey!« Jule boxte ihn gegen den Oberarm. »Ich kann nichts dafür, dass ich viele Freunde in der Stadt habe, die mich gerne mal mit einer netten Aufmerksamkeit überraschen.«

»Die dich lieben«, korrigierte Felicia.

»Und anbeten, weil du jedes Problem für sie löst«, ergänzte Ben. »Ich mag deine Taktik.« Lina schnipste mit dem Finger gegen die Gerbera und schwenkte ihren Kaffeebecher. »Wie es schon der Joker sagte: Wenn du gut in etwas bist – mach es nie umsonst!«

*

Chris Thalbach drückte die Taste, mit der er das Tempo erhöhte. Das Laufband im Büro seiner Maisonettewohnung in München war nicht gerade sein Lieblingssportgerät, denn wie die meisten anderen Läufer zog er das Joggen unter freiem Himmel vor. Aber gerade war wieder einer dieser Tage, an dem sich die Besprechungen bis in den Abend hineingezogen hatten – und noch nicht vorbei waren.

Er scrollte auf dem Tablet, das er auf der Ablage vor sich aufgebaut hatte, weiter durch die E-Mails, die über Bluetooth an den großen Monitor an der Wand vor ihm übertragen wurden, und las die Wünsche seiner Kunden konzentriert, ohne das Tempo zu verlangsamen.

Erst als er die sieben Kilometer hinter sich gebracht hatte, die er nach Möglichkeit dreimal pro Woche lief, und alles gelesen hatte, was sich in seinem Postfach befunden hatte, drosselte er die Geschwindigkeit. Er trank einen Schluck Wasser und angelte sich eines der Schokobons, die in einer Schale neben seinem Tablet auf der Ablage standen. Ernährungsexperten würden jetzt wahrscheinlich die Augen verdrehen, aber bis Chris Zeit haben würde, etwas Richtiges zu essen, würde es noch eine Weile dauern. Er angelte nach seinem Handtuch, rieb sich den Schweiß aus dem Gesicht und hängte es sich um den Nacken. »Hey, Siri«, sagte er und trank noch einen Schluck Wasser. »Ruf Miles an.«

»Ich rufe Miles King Handy an«, antwortete sie prompt.

Sein Kumpel – und Kollege – nahm seinen Anruf am anderen Ende der Welt nach dem zweiten Klingeln entgegen. »Chris, mein Freund«, sagte er mit seinem deutlichen amerikanischen Akzent. Chris bot ihm immer wieder an, Englisch zu sprechen, aber Miles hatte drei Jahre in München verbracht und legte großen Wert darauf, sein Deutsch nicht zu verlernen. »Rufst du mich schon wieder an, während du auf dieser Treadmill bist?« Wenn ihm allerdings ein deutsches Wort fehlte, ersetzte er es einfach durch seine Muttersprache, statt lange darüber nachzudenken. »Geh in diesem Englischen Park laufen«, begann er seine übliche Leier.

»Englischer Garten«, korrigierte Chris.

»Anyway. Du darfst dich nicht immer in diesem Büro verschanzen und gleichzeitig arbeiten und Sport machen. Ich wette, du isst schon wieder diese Bons. So wirst du nie eine Frau finden, mein Freund.«

Chris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und gönnte sich noch ein zweites Schokobon. »Schon möglich. Lass uns zum Geschäft kommen, bevor ich dich ausfrage, wie es Pam und den Kids geht«, versuchte er das Gespräch wieder auf den Grund seines Anrufes zu lenken. In seinem Arbeitszimmer verschanzt, mit Siri als einziger Gesellschaft, würde er wirklich keine Frau finden. Da er aber auch keine Zeit für eine Beziehung hatte, war das völlig egal. Immerhin war es auch heute schon wieder halb zehn Uhr am Abend. Die Zeitverschiebung zwang ihn, die Gespräche mit seinen amerikanischen Geschäftspartnern immer erst spät zu führen. Vermutlich würde es keine Frau besonders lustig finden, mit dem Abendessen zu warten, bis er irgendwann Feierabend machte. Oder das Essen gleich durch Süßigkeiten ersetzte.

»Also gut«, lenkte Miles ein. »Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet. Hast du die Antwort von Carter Perry zu deinem Angebot gelesen?«

»Gerade eben.« Chris joggte locker weiter und griff nach noch einem Schokobon. »Damit lässt sich arbeiten, auch wenn wir noch ein bisschen mehr rausholen sollten. Ich habe eine Werbekampagne im Kopf, die Perry gefallen dürfte, wenn er bereit ist, das Budget noch ein bisschen anzuheben.«

»Wenn ihn jemand davon überzeugen kann, dann du«, sagte Miles. Chris hörte, wie er durch ein paar Papiere blätterte. »Er landet am Donnerstag in München. Vermutlich nicht nur mit seiner Frau, sondern mit einer ganzen Entourage. Soweit ich weiß, ist die Gruppe zu sechst. Ist das ein Problem?«

»Nein, das bekomme ich hin. Ich werde Perry in mein Wochenendhaus am Starnberger See einladen und ihn mit einer perfekten Präsentation von den Socken hauen.« Chris schaltete die Geschwindigkeit noch ein wenig weiter herunter und ging im Schritt weiter. »Und dann leiern wir ihm hoffentlich das größere Budget aus dem Kreuz.«

»Hm.« Miles schwieg für einen Moment. »Du hast mein Memo über Perrys Extravaganzen bekommen?«

»Du meinst eher die Extravaganzen seiner Frau. Ja, habe ich bekommen.« Chris wickelte noch ein Schokobon aus – sein Abendessen hatte er inzwischen definitiv ersetzt. »Alle seine Frauen waren anspruchsvoll.«

»Ja«, stimmte Miles ihm zu. »Aber die aktuelle Mrs. Perry schlägt sie alle. Um Welten«, fügte er nach einer bedeutungsschweren Pause an.

»Kein Problem«, sagte Chris. Er hatte längst aufgehört, sich über die Spleens und Ticks seiner Kunden Gedanken zu machen. Als er neu gewesen war in der Werbebranche, hatte er oft staunend festgestellt, dass es nichts gab, was es nicht gab. Dass es keinen Wunsch gab, der nicht geäußert werden konnte – und wurde. Solange es um eine Kampagne, Pitches und kreative Arbeit ging, war er bereit, sich kopfüber in die Arbeit zu stürzen und jeden Traum seiner Kunden wahr werden zu lassen, so absurd er auch war. Wenn es um die persönlichen Bedürfnisse ging, kam er oft genug an seine Grenzen. Umso dankbarer war er, vor ein paar Wochen eine Frau kennengelernt zu haben, die genau diese Probleme für ihn lösen konnte: Jule Hansen – Die gute Fee am See. »Ich habe da jemanden, der sich um die Bedürfnisse meiner Gäste kümmert.«

Chris schaltete das Laufband aus. Er hatte seine ersten Schritte in der Werbung an Miles’ Seite in den USA gemacht. Was einer der Gründe war, warum er amerikanische Firmen so gut verstand. Er konnte sein Wissen mit dem verbinden, was der europäische Markt verlangte – und wie er es verlangte. Seine Firma – Deep Blue Horizon – war die beste Wahl, wenn es darum ging, amerikanische Produkte auf dem europäischen Markt zu etablieren.

Miles schnaubte. »Jemanden, der all diese Sonderwünsche im Blick hat? Angefangen vom schwarzen Geschirr und dem goldenen Besteck bis hin zu … was weiß ich alles?«, sparte er es sich, die Details aufzuzählen.

»Ja, mach dir keine Sorgen.« Als er Jule Hansen zum ersten Mal gesehen hatte, auf dem Empfang von Rupert Freiherr von Lemberg, hatte er sie vom ersten Moment an interessant gefunden. Dieser unauffällige Hosenanzug. Die dunklen Haare, die in einen tief in ihrem Nacken sitzenden Knoten geschlungen waren. Und vor allem diese klugen, bernsteinfarbenen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Fast hätte er einen der Ratschläge seines Kumpels Miles befolgt und sie auf einen Drink eingeladen. Doch dann hatte er begriffen, dass sie diejenige war, die diese ganze Party vorbereitet hatte. Und am Laufen hielt. Sie hatte ihm mit einem professionellen Lächeln ihre Karte in die Hand gedrückt, als er sie angesprochen hatte. Chris würde lügen, wenn er behauptete, dass nicht wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde Enttäuschung durch seine Gedanken gejagt war. Doch dann hatte er begriffen, was es bedeutete, eine Privat-Concierge zu beschäftigen. Das war viel mehr wert als sein persönliches Vergnügen. »Ich habe jemanden an der Hand, der jeden einzelnen Sonderwunsch der jungen Mrs. Perry erfüllen wird.« Eine Frau, in deren Wortschatz es das Wörtchen »Nein« nicht gab.

2

Jule tippte den Sicherheitscode in das Display neben dem Tor und wartete, bis sich der rechte Flügel weit genug geöffnet hatte, dass sie hindurchfahren konnte. Sie stellte ihren Jimny neben der Doppelgarage ab, in der im Moment neben einem Motorrad nur ein E-Bike, ein Mountainbike ohne Trethilfe und ein paar weitere Sportgeräte wie Paddleboards und ein Kanu untergebracht waren.

Sie zog ihre Handtasche vom Beifahrersitz und hängte sie sich über die Schulter. Dann hievte sie die Box mit dem speziell für dieses Wochenende benötigten Geschirr und Besteck aus dem Kofferraum und folgte dem gekiesten Weg zu dem flachen modernen Bungalow, der Christian Thalbach als Wochenendhaus diente. Normalerweise entsprachen ihrem Geschmack eher Häuser mit Geschichte, ein paar Makeln und einer eigenen Persönlichkeit. So wie die alte Schule, in der sie wohnte, die einer Knittl-Villa nachempfunden war und die keine gerade Wand zu haben schien. Überraschenderweise mochte sie Thalbachs Wochenendhaus trotzdem. Die Mauern hätten kalt und abweisend gewirkt, wären sie nicht komplett mit hellem Holz verkleidet gewesen. Ein Detail, das Jule gut gefiel. Vielleicht lag es aber auch an dem Übermaß an technischem Schnickschnack, der hier verbaut worden war und mit dem sie so gern herumspielte. Vielleicht waren es die atemberaubenden Glaswände, die den Wohnbereich zum See hin offen wirken ließ. Oder die Olivenholzböden, auf die die Sonne goldene Flecken malte, als Jule den großen Wohnbereich betrat.

Sie war bereits am Tag zuvor hier gewesen, um sich mit dem Caterer zu besprechen, der leider nicht ihre Freundin Felicia war. Wenn Christian Thalbach weiter mit Jule zusammenarbeiten sollte, würde sie ihn früher oder später von der Qualität der Küchennachhilfe überzeugen. Aber erst einmal hatte sie den Auftrag so angenommen, wie Marie-Luise Gessler, die Assistentin von Herrn Thalbach, ihn ihr angeboten hatte. Die Frau hatte am Telefon geklungen, als ob sie nicht mehr viele Jahre von der Rente trennten. Aber sie hatte genau gewusst, was sie wollte – und wie sie es wollte. Ihre resolute Art war Jule sofort sympathisch gewesen.

Jule stellte die Kiste auf dem lang gezogenen Küchentresen aus Beton ab und drehte sich zu der Fensterfront um. Über dem See wehte ein leichter Wind, der die Wellen gegen das Ufer trieb. Die Sonne stand aber trotz allem hoch am Himmel und versprach ein warmes Wochenende. Christian Thalbach und seine Gäste würden eine fantastische Zeit am Starnberger See verbringen. Nur Thalbachs Bootssteg war Jule ein Dorn im Auge … das morsche Holz erinnerte fast ein wenig an den Steg hinter der alten Schule, den ihre Freunde und sie erst vor Kurzem repariert hatten. Das erbärmliche Stück Holz passte auf jeden Fall kein bisschen zum Rest des Anwesens. Aber das ging sie nichts an, erinnerte sie sich selbst daran, dass Gedanken wie diese sie schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatten. Entschlossen drehte Jule sich wieder um und nahm das Geschenk, das sie ihren Kunden gerne als kleine Aufmerksamkeit hinterließ, aus der Transportkiste, bevor sie die Teller und das Besteck auspackte. Sie würde auf jeden Fall dazu beitragen, dass die nächsten Tage für ihren Kunden unvergesslich wurden.

Der offene Raum wurde durch einen frei stehenden Kamin aus Flusssteinen in einen Wohn- und einen Essbereich unterteilt. Der Glaseinsatz, der erlaubte, das Feuer von allen Seiten zu betrachten, würde an kühlen Herbst- oder stürmischen Winterabenden für jede Menge Gemütlichkeit sorgen. Das Grau der Steine passte perfekt zu dem der Küchentheke, über der drei große Messinglampen im Industrial Style hingen. Die modernen, klaren Linien waren mit ein paar rustikalen Elementen kombiniert worden, um den Raum trotz seiner Schnörkellosigkeit warm und behaglich wirken zu lassen. Jule vermutete, dass das eher das Werk eines Innenarchitekten als Christian Thalbachs war. Denn so schön dieses Haus auch war, Persönliches fand sich hier nicht.

Jule schaltete eine ihrer Gute-Laune-Playlists auf dem Handy ein, ließ sie über ihr Headset laufen und begann, die Teller und das Besteck zu spülen, bevor sie es noch einmal aufpolierte und dann Baumwollhandschuhe anzog, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, als sie es auf dem vom Caterer bereits vorbereiteten Esstisch platzierte.

Sie wackelte zu Sias Unstoppable ein bisschen mit den Hüften, als plötzlich zwei Dinge gleichzeitig geschahen: Die Jalousien vor der riesigen Glasfront beschlossen offenbar, dass die Sonne hell genug schien und es Zeit wurde herunterzufahren, damit sich der Raum nicht zu sehr aufheizte. Und … sie war nicht mehr allein.

Erschrocken fuhr sie herum – und erkannte Christian Thalbach, der hinter ihr stand. Und den sie fast mit einer der goldenen Gabeln aufgespießt hätte.

Er machte einen Satz nach hinten, während Jule die Hand auf ihr wild schlagendes Herz presste. »Herr Thalbach!«, keuchte sie.

Er antwortete etwas, das sie nicht verstand, weil Sia gerade begann, zum letzten Mal darauf hinzuweisen, dass es nichts gab, was sie stoppen konnte.

Jule zog das Headset herunter. »Verdammt! Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, konnte sie sich nicht bremsen zu sagen. »Was machen Sie hier?«

Einen stummen Moment lang standen sie sich in dem dämmrigen Raum gegenüber. Dann klappten die Lamellen der Jalousien auf und fluteten den Raum wieder mit Licht. Thalbach zog den rechten Mundwinkel zum Ansatz eines sarkastischen Grinsens hoch. »Ich wohne hier«, erinnerte er Jule daran, in wessen Haus sie stand. »Und ich habe Sie nicht engagiert, damit Sie mich erstechen.«

»Dass Sie hier wohnen, ist mir klar.« Jule wurde sich bewusst, dass sie die Hand mit der Gabel noch immer abwehrend vor sich hielt, und ließ sie langsam sinken. »Ich frage mich, was Sie jetzt schon hier wollen. Frau Gessler hat nicht erwähnt, dass Sie anwesend sein würden.« Jule betrachtete ihn einen Moment. Bisher hatte sie Christian Thalbach nur im Anzug gesehen. Einmal bei der Gemäldepräsentation des Freiherrn von Lemberg. Und ein zweites Mal bei der Abendschein-Hochzeit, einem der Society-Highlights dieses Sommers am Starnberger See, die im Garten der alten Schule veranstaltet worden war. In Jeans, einem weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und Sneakers sah er wie ein ganz normaler Typ aus und kein bisschen wie ein millionenschwerer Werbeagenturbesitzer. Die Ringe unter seinen Augen und die blonden Haare, die in alle Richtungen abstanden, als wäre er in den letzten Minuten nicht nur einmal hindurchgefahren, ließen ihn ein wenig überarbeitet aussehen. Aber diese dunklen Augen … die waren in der Lage, sein Gegenüber in seinen Bann zu ziehen. Jule hatte das bereits bei Lemberg gemerkt. Sie hatte seine Blicke gespürt, bevor sie gewusst hatte, wer er war. Als ihr schließlich klar geworden war, wer da vor ihr stand und im Begriff war, sie auf einen Kaffee oder ein Glas Wein einzuladen, hatte sie blitzschnell entschieden. Gegen einen Moment, in dem sie der gegenseitigen Anziehung nachgegeben hätten, denn mehr hätte es zwischen ihnen sicher nicht gegeben. Für eine Geschäftsbeziehung, die ihr junges Unternehmen weit bringen konnte. Und Geschäftspartner waren für eine Liaison tabu. Ganz automatisch unattraktiv. Sie gehörten für Jule zu der Sorte Mann, die sie persönlich kein bisschen anziehend fand. Dieses sarkastische, aber trotzdem sexy Lächeln von gerade eben zu bemerken, bedeutete schließlich nicht automatisch, dass er ihr gefiel. Seine inzwischen wieder missbilligend zusammengepressten Lippen erinnerten sie daran, dass sie den Hausherren störte, der offenbar erwartet hatte, dass sie längst verschwunden war, wenn er hier auftauchte. Mit einer bedachten Bewegung legte sie die Gabel neben den letzten Teller und zog die Handschuhe aus. Dann griff sie nach ihrem Handy, schaltete die Playlist aus und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Display. »Ich entschuldige mich, wenn ich Sie gestört habe«, sagte sie und hob die Geschirrbox von der Kücheninsel, bevor sie sich wieder zu ihrem Auftraggeber umdrehte und sich abermals seinem intensiven Blick stellte. »Ich bin jetzt weg, und alles ist vorbereitet. Der Champagner ist kalt gestellt, und der Caterer kommt in zwei Stunden, um das Essen anzurichten.« Sie lächelte. Professionell. Und so, wie sie auch jeden anderen Kunden anlächeln würde. »Ich wünsche Ihnen und Ihren Gästen ein wundervolles Wochenende am See. Wenn Sie noch etwas brauchen, wissen Sie ja: Die gute Fee am See kümmert sich darum.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging, Thalbachs bohrenden Blick im Nacken. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, etwas zu sagen. Und sie sollte das nicht von ihm erwarten. Aber es störte sie, dass er ihr einfach nur nachstarrte und ihm nicht einmal ein höfliches »Danke« über die Lippen bekam. Andererseits hatte sie schlecht gelaunte Miesepeter schon immer zu ihren Lieblingskunden gezählt. Ganz einfach, weil sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie mit ihrer Arbeit so zu begeistern, dass sie ihre schlechte Laune ablegten – und manchmal sogar ihre Grundeinstellung änderten. Christian Thalbach war definitiv ein Kandidat aus dieser Kategorie. Eine echte Herausforderung.

*

Chris gab Siri den Befehl, der erst das Tor zu seinem Grundstück und dann die Garage öffnete. Er kam von einem Besuch bei seiner Mutter und hatte das Gefühl, dass ihm im nächsten Moment der Kopf platzen würde. Alles, was er wollte, war Ruhe. Und wenigstens noch für eine Stunde in seinem abgedunkelten Schlafzimmer liegen und die Augen schließen, bis diese verdammten Kopfschmerzen verschwanden, bevor er versuchen musste, Carter Perry von seinem Werbekonzept für Europa zu überzeugen.

Für einen Moment blieb er in seinem Tesla sitzen, lehnte sich zurück und atmete tief durch. Das Garagentor fuhr hinter ihm herunter und verbreitete für einen Moment ein angenehmes Dämmerlicht, bevor sein intelligentes Haus bemerkte, dass er da war, und das Licht aufflammen ließ. Eine Helligkeit, die ihn vor Schmerz die Augen zusammenkneifen ließ. Sein Wunsch nach Ruhe und Dunkelheit würde ebenfalls nicht in Erfüllung gehen. Der Jimny von Jule Hansen, der neben seiner Garage stand, war nicht zu übersehen gewesen. Nicht nur wegen des Logos der guten Fee am See auf der Fahrertür, sondern vor allem wegen der unerträglich grellen gelb-grünen Lackierung des Wagens. Was wollte sie hier? Seine Assistentin MaLu hatte doch einen klaren Auftrag erteilt, der nicht beinhaltete, dass die Concierge jetzt noch hier herumlungerte.

Im Auto sitzen zu bleiben würde ihm allerdings auch nicht helfen. Er musste Frau Hansen wegschicken und versuchen, in seinem Haus eine Kopfschmerztablette zu finden. Also stieg er aus, schloss den Tesla an die Ladestation an und programmierte die Ladezeit über sein Handy, bevor er die Garage durch die Seitentür verließ. Das Haus, das er nur an den Wochenenden benutzte, lag wie ein höhnisches Grinsen des Schicksals vor ihm. Er hatte es nicht für sich gebaut, sondern für seine Mutter. Technisch auf dem neuesten Stand. Mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach und einer Smarthome-Steuerung, mit der er seine Mutter auch aus München hätte unterstützen können, wenn sie mit der Technik nicht zurechtgekommen wäre. Das Haus war barrierefrei und umweltfreundlich. Die Raumplanung offen, sah man von den drei Schlafzimmern ab, die eher Gästesuiten glichen. Chris war sich sicher, seine Mutter hätte sich hier wohlgefühlt. Zumindest hatte sie den Luxus, mit dem er sie hier umgeben konnte, mehr als verdient nach den harten Jahren, die hinter ihr lagen. Aber sie war nie hier eingezogen. Nur einmal hatte sie ein Wochenende in dem Haus verbracht. Als sein Gast. Chris’ Blick glitt zu der Werkstatt hinüber, die er sich im Nebenraum der Garage eingerichtet hatte. Mehr als ein Gast würde seine Mutter in diesem Haus nie mehr sein.

Chris rieb sich über die Schläfen, als könne er den Schmerz, der in seinem Schädel tobte, wegmassieren. Er kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen und blickte zum See. Der Steg könnte ein bisschen mehr Aufmerksamkeit vertragen, dachte er nicht zum ersten Mal. Sobald er etwas Zeit erübrigen könnte, würde er ihn reparieren. Aber das konnte warten. Der Rasen leuchtete in einem satten Grün. Die Mischung aus großen Laub- und Nadelbäumen, die hinter dem Haus aufragten, schirmten es perfekt gegen neugierige Blicke ab. Ein Pluspunkt, den Carter Perry zu schätzen wissen würde.

Mit langsamen Schritten ging Chris auf sein Haus zu und drückte seinen Daumen auf das Touchpad neben dem Eingang. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Chris lauschte in die Stille, die ihn empfing. Dann hörte er das leise Klappern von Geschirr und folgte dem Geräusch in den offenen Wohn- und Essbereich.

Jule Hansen war eine Erscheinung, das hatte er bereits bei ihrem ersten Treffen gedacht. Sie in seinem Haus anzutreffen, ohne dass sie sich dessen bewusst war, war allerdings noch einmal etwas völlig anderes. Ein bisschen fühlte er sich wie ein Stalker, als er ihr dabei zusah, wie sie zu einer Melodie tanzte, die nur sie in ihrem Headset hören konnte. Sie hatte ihre Haare zu einem glatten, hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, der fröhlich hin- und herwippte. Ihre langen Beine steckten in engen Jeans, die sie mit schwarzen Absatzstiefeletten und einem schwarzen Blazer mit aufgekrempelten Ärmeln kombiniert hatte. Chris seufzte und rieb sich abermals über die schmerzende Schläfe. Er konnte ja nicht ewig hier rumstehen und sie anstarren. »Frau Hansen?«

Keine Reaktion.

Chris sprach sie noch einmal an. Offenbar hatte sie die Musik so laut aufgedreht, dass sie ihn nicht hörte, während sie das Besteck polierte, das sich Perrys aktuelle Ehefrau zu schwarzen Tellern gewünscht hatte. Er trat näher, um ihr auf die Schulter zu tippen, und zuckte ein wenig zusammen, als seine Smarthome-Steuerung genau in diesem Moment die Jalousien herunterfuhr. Allerdings erschreckte er sich nicht so sehr wie seine Concierge, die mit einem kleinen Aufschrei zu ihm herumfuhr – und Chris zwang, einen Satz nach hinten zu machen, damit sie ihn nicht mit der goldenen Gabel erwischte, die sie in der Hand hielt. Einen Moment standen sie sich stumm im dämmrigen Licht des Raumes gegenüber. Mit dem Öffnen der Jalousien kehrte nicht nur Licht in sein Haus zurück, sondern auch Leben in Jule Hansen. Was ihn daran erinnerte, dass er eigentlich allein sein wollte. Er musste dringend mit seiner Assistentin darüber sprechen, wie sie die Termine des Personals legte, damit es ihm nicht auch noch den letzten Nerv raubte, den seine Kopfschmerzen noch übrig gelassen hatten.

Sein Gegenüber war offenbar nicht begeistert, dass er weder zu Small Talk aufgelegt war, noch überhaupt das Bedürfnis hatte, mit ihr zu diskutieren. Aber Chris wollte einfach nur, dass sie verschwand. Als endlich die Tür hinter ihr zufiel und nichts zurückblieb außer Ruhe und einem Hauch ihres Duftes, der ihn an Zitrusfrüchte erinnerte, atmete er erleichtert auf. Jetzt würde er nach der dringend benötigten Kopfschmerztablette suchen und die Zeit bis zum Eintreffen seiner Gäste damit verbringen, seinen Körper, der ihn gerade im Stich ließ, wieder unter Kontrolle zu bekommen. Soweit er sich daran erinnerte, hatte die Innenarchitektin, die das Haus eingerichtet hatte, den Erste-Hilfe-Kasten im Gästebad deponiert. Chris zog die Tür vorsichtig auf, weil er wusste, dass der Türknauf locker war. Eigentlich müsste er den heute noch reparieren, bevor Perry kam, damit dieser das Ding nicht plötzlich in der Hand hielt. Überrascht bemerkte Chris, dass der Knauf bereits festgeschraubt worden war. Aber wer …? Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatten sich nur die Putzfrau, der Caterer und seine Concierge hier aufgehalten. Seine Putzfrau würde keine Reparaturen an seinem Haus vornehmen. Der Caterer sicher auch nicht.

Chris drehte sich auf dem Absatz um und war mit ein paar schnellen Schritten an der Haustür. »Frau Hansen!«, rief er, noch während er die Tür aufriss.

Sie hatte die Hand bereits am Türgriff ihres Wagens. Doch diesmal fuhr sie nicht zusammen wie in seinem Wohnzimmer. Sie wandte ruhig den Kopf zu ihm um, ihre Augen hinter einer Pilotenbrille verborgen. »Herr Thalbach«, gab sie zurück. Deutlich leiser als er. Und im Gegensatz zu ihm kein bisschen aufgebracht.

»Haben Sie den Türknauf an der Gästetoilette angeschraubt?«

Sie stellte die Kiste, in der sie offenbar das Geschirr transportiert hatte, in ihren Wagen und kam zu Chris zurück. Anders als er würde sie nicht über das halbe Grundstück brüllen, um mit ihm zu reden. »Ja«, sagte sie, als sie ihn erreichte, »ich habe den Türknauf festgeschraubt. Als ich mich gestern mit dem Caterer getroffen habe, habe ich das Haus noch einmal überprüft und nachgeschaut, ob der Kühlschrank gefüllt ist und die Betten frisch bezogen sind.« Sie legte den Kopf schief und schenkte ihm ein schmales Lächeln. »Wenn man eine Tür öffnen möchte und den Knauf in der Hand hält, ist es für mich eine Frage der Selbstverständlichkeit, ihn wieder hinzuschrauben«, sagte sie, und Chris hatte das deutliche Gefühl, dass sie mit ihm sprach, als erkläre sie einem kleinen Kind, wie die Dinge liefen.

Chris warf einen Blick zu seiner Werkstatt hinüber. Sie hatte doch nicht etwa in seinen Sachen herumgeschnüffelt? »Und welches Werkzeug haben Sie benutzt?«, wollte er wissen.

Unmerklich reckte sie das Kinn und klopfte mit der flachen Hand auf ihre riesige Handtasche. »Ich habe alles, was ich brauche, dabei.«

Chris’ miese Laune kochte über. Er hatte sich seit Wochen vorgenommen, die Tür zu reparieren, war aber einfach nicht dazu gekommen. Und dann tauchte diese Frau einfach so hier auf und löste das Problem, ohne zu fragen, ob er das wollte. »Ich habe Sie nicht beauftragt, den Knauf anzuschrauben«, knurrte er.

Jetzt wurde ihr Lächeln breit und echt. »Deshalb stelle ich es Ihnen auch nicht in Rechnung. Herr Thalbach?« Sie kramte in ihrer riesigen Handtasche und fischte ein kleines Erste-Hilfe-Set heraus, aus dem sie einen Tabletten-Blister zog. »Nehmen Sie eine Paracetamol. Oder besser gleich zwei.« Sie trennte zwei Tabletten ab und griff nach seiner Hand. Bevor Chris etwas dagegen tun konnte, hatte sie die Tabletten auf seine offene Handfläche gelegt und schloss seine Finger darum. Einen Moment hielt sie seine Hand in ihrer. Kühl und glatt lag ihre Haut auf seiner. Was sich irgendwie … beruhigend anfühlte. »Das hilft gegen Ihre Kopfschmerzen.« Wieder dieses Lächeln. »Und gegen Ihre Laune. Gute Besserung.« Sie ließ los und wandte sich zum Gehen. »Und wenn Sie irgendetwas brauchen«, ergänzte sie über die Schulter und wiederholte dann ihren Slogan, »fragen Sie einfach Die gute Fee am See.«

*

Jule atmete tief durch, als sich das Tor von Thalbachs Anwesen hinter ihr schloss. Ihr Kunde war nicht gut drauf gewesen. Sie hatte einen Moment gebraucht, um zu begreifen, dass er nicht per se genervt gewesen war von ihr, sondern unter einem Migräneanfall oder zumindest starken Kopfschmerzen gelitten hatte. Das war unverkennbar gewesen, so oft wie er sich unbewusst über die Schläfen gerieben hatte und vor dem Licht zusammengezuckt war. Natürlich war er viel zu sehr Mann, um das zuzugeben.

Allerdings änderte das nichts an der Frage, ob sie wieder einmal über das Ziel hinausgeschossen war, als sie den Türgriff der Gästetoilette repariert hatte. »Ach was«, sprach sie sich selbst Mut zu und ignorierte das flaue Gefühl in ihrem Magen. Thalbach hatte überreagiert, weil es ihm nicht gut ging. Jeder Kunde war froh, wenn sie Probleme sah und anging. Ihr Job war es schließlich, das Leben anderer zu erleichtern. Trotzdem blieb dieses unangenehme Ziehen in ihrem Bauch. In dem Luxus-Hotel, in dem sie bis vor ein paar Monaten angestellt gewesen war, war sie ein paar Mal zu oft ungebeten zur Tat geschritten, um zu helfen. Deshalb bemühte sie sich, nicht mehr so instinktiv zu handeln. Spätestens seit die Gattin eines russischen Oligarchen ausgeflippt war, weil sie im Bad einen tropfenden Abfluss repariert hatte und nur noch die untere Hälfte von Jules Körper aus dem Unterschrank des Waschbeckens herausgeschaut hatte, obwohl sie eigentlich nur ein paar Theaterkarten in der Suite hatte deponieren wollen, versuchte sie, ihre Kunden nicht zu sehr zu überraschen. Sie hatte nur helfen wollen. Aber ihr guter Wille hatte sie ihren Job gekostet. Ein reparierter Türknauf hingegen war nun wirklich kein Grund, sich aufzuregen. Jule beschloss, nach Hause zu fahren und die Verunsicherung abzustreifen, die sie seit ihrem Rauswurf im Hotel bei Situationen wie dieser immer überkam. Vielleicht würde sie einfach noch eine Runde joggen, um diese innere Anspannung abzubauen, die an ihren Nerven zehrte.

Jules Freunde hatten offenbar eine andere Vorstellung davon, wie man seine Anspannung an einem warmen Sommerabend loswurde. Als sie ihren Wagen an der alten Schule abstellte, konnte sie bereits das Lachen und die Musik hinter dem Haus hören. Sie nahm immer zwei der knarzenden Stufen auf einmal. Hinauf in den zweiten Stock, wo ihre Wohnung und ihr Büro lagen. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Vermutung: Die ganze Schul-Gang hatte sich am Strand versammelt: Felicia und Ben, Lina und Bens Cousin Sam. Jule schlüpfte in ein Tanktop, Shorts und Flip-Flops. Dann schob sie ihr Tablet in eine Hülle voller bunter, glitzernder Schmetterlinge, um ihre Stimmung ein bisschen aufzuhellen, griff nach ihrem Handy, ohne das sie nirgends hinging, und gesellte sich zu ihren Freunden.

Sie hatten es sich wirklich gemütlich gemacht, stellte Jule fest. Ein paar Picknickdecken waren um ein Lagerfeuer drapiert. In einer kleinen Zinkwanne waren Bier und Weißwein auf Eis gelegt, und aus einer kleinen Bluetooth-Box erklang Musik. Dem aktuellen Titel nach musste jemand die Playlist eingeschaltet haben, die sie für die alte Schule angelegt hatte und in der sich die Lieblingssongs aller Hausbewohner befanden. Da im Moment Whitney Houston voller Inbrunst vor sich hin trällerte, war gerade einer von Felicias Lieblingssongs dran. Jule würde sich ein Glas Weißwein einschenken und dieses Lied genau wie der Rest ihrer Freunde einfach ertragen. Es konnte schließlich nur besser werden. Und da Felicia und Ben eng umschlungen am Strand tanzten, war es das Opfer definitiv wert. Wobei, Felicia und Ben schienen sowieso ständig miteinander zu tanzen.

Als sie die kleine Party erreichte, hielt Lina ihr bereits ein Glas gekühlten Wein entgegen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das brauche«, sagte Jule, nahm ihrer Freundin das Glas ab und trank einen großen Schluck.

»Ärger mit einem Kunden?«, fragte Lina.

»Nicht wirklich.« Jule trank noch einen Schluck und ignorierte das unangenehme Kribbeln in ihrem Magen. »Ich hatte nur mit einem übel gelaunten Brummbären zu tun, der mich ein bisschen gefordert hat.« Sie legte Lina den Arm um die Schultern und blickte über den See, während sie noch einmal tief durchatmete. Auf gar keinen Fall würde sie Christian Thalbach und seine schlechte Laune in die alte Schule und zu ihren Freunden holen. »Ich hoffe, die Musik wird noch besser«, rief sie Ben und Felicia zu, die sich gerade voneinander lösten und Hand in Hand zu ihnen herüberkamen. Die beiden strahlten so verliebt, dass sich Jule gar nicht sicher war, ob sie die Musik, zu der sie getanzt hatten, überhaupt gehört hatten.

Sie spürte den winzigen Stich in ihrem Herzen, den der Anblick dieses verliebten Pärchens ihr versetzte, und zwang sich, nicht die Hand zu heben und über diese Stelle zu reiben. Es war keine Eifersucht. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Sie gönnte ihren Freunden, was sie hatten. Aber manchmal, in Momenten wie diesem, sehnte sie sich danach, ebenfalls zu lieben. Entschlossen kippte sie den Rest des Weines auf ex und schenkte sich nach. Die Liebe hatte keinen Platz in ihrem Leben. Sie war nicht der Typ Frau, der sein Herz verschenkte. Nicht mehr. Lina war diejenige unter ihren neuen Freundinnen, die sich danach sehnte, eine Beziehung zu führen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Das hatte sie neulich nach einem Gin Tonic zu viel verraten. Aber Jule hatte ganz andere Ziele. Sie wollte als Privat-Concierge voll durchstarten – und sie war auf dem besten Weg. Christian Thalbach mochte sie anknurren, weil sie seine Tür repariert hatte. Aber sobald er wieder klar denken konnte, wäre er ihr dankbar, dass sie ihm diese Aufgabe abgenommen hatte. Denn genau das war es, worum es in ihrem Job ging: anderen das Leben leichter zu machen.

Lina ließ sich neben sie fallen. »Mit ›mein Tanzbereich – dein Tanzbereich‹ ist da jedenfalls nicht viel«, sagte sie lachend.

»Ha!« Jule zeigte mit dem Finger auf ihre Freundin. »Den kenne ich! Das ist aus Dirty Dancing.«

»Du wirst ja immer besser.« Lina prostete ihr mit ihrem Weinglas zu. Beim Thema Filmzitate war Lina einfach unschlagbar.

Jule sah sich um, nachdem sie mit Lina angestoßen hatte. Ben und Felicia diskutierten darüber, welcher Song als Nächstes laufen sollte. Sam saß auf dem Bootssteg und ließ die Füße über dem Wasser baumeln, während er telefonierte. Nur zwei Bewohner der alten Schule fehlten. »Wo sind Poldi und Elfriede?«, fragte Jule. Die große orangene Katze, die sich für die Hausherrin hielt, und Bens etwas tollpatschiger Schäferhundmischling, der die Diva anbetete, waren vom ersten Moment an ein Herz und eine Seele gewesen. Aber in der Regel waren sie dort zu finden, wo auch ihre Menschen waren.

Ben seufzte und nickte mit dem Kinn in Richtung des Rosenpavillons, den er in diesem Frühjahr hinter riesigen Hecken und Büschen gefunden hatte und an dem noch die alten Sorten emporrankten, die auch auf der Roseninsel zu finden waren.

Jule folgte seinem Blick und verschluckte sich an dem Wein, von dem sie gerade genippt hatte, als sie anfing zu lachen. Hund und Katze saßen einträchtig nebeneinander im Pavillon und schauten auf den See hinaus. Es hatte den Anschein, als sähen sie zusammen dabei zu, wie die Sonne hinter die gezackte Linie der Berge am Horizont sank. »Die beiden sind wirklich das hübscheste Paar in der alten Schule«, zog Jule ihre Freunde auf.

Felicia legte ihren Kopf an Bens Schulter und grinste ihn an. »Sieht so aus, als müsstest du dich bald auf die Suche nach einem Trauzeugen für deinen Hund machen.«

3

Chris sog den unverwechselbaren Duft nach Wasser, Sonne und klarer Luft tief ein. Das Treffen mit Carter Perry war anstrengend gewesen, auch wenn Chris seine Kopfschmerzen mit Jule Hansens Paracetamol-Spende in den Griff bekommen hatte. Der Unternehmer war eine schwer zu knackende Nuss. Aber Chris war einen Schritt weiter, auch wenn er den Abschluss noch nicht in der Tasche hatte. Nicht zuletzt dank eines Fläschchens Zitronen-Rosmarin-Sirup, den seine Concierge als kleinen Gruß in Chris’ Kühlschrank hinterlassen hatte. Die blutjunge Mrs. Perry hatte das Zeug entdeckt und voller Begeisterung in ihren Champagner gekippt. Und offenbar war für die Verhandlungen alles von Vorteil, was Melody Perry glücklich machte. Chris war Jule Hansen wirklich zu Dank verpflichtet. Und vielleicht war er auch ein wenig zu hart zu ihr gewesen, weil sie, ohne zu fragen, etwas erledigt hatte, was er sich bereits seit Wochen vorgenommen hatte. Aber sie hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Er würde MaLu bitten, ihr seinen Dank zu übermitteln, weil er die Concierge wahrscheinlich nicht noch einmal persönlich zu Gesicht bekommen würde.

Aber jetzt war es höchste Zeit, die Arbeit wenigstens für ein paar Stunden zur Seite zu schieben und das Leben zu genießen. Momente wie dieser kamen in seinem Alltag viel zu kurz, woran Miles ihn erst neulich erinnert hatte. Er wusste, dass sein Freund recht hatte und er sich hin und wieder eine Auszeit gönnen musste, wenn er nicht auf direktem Weg in einen Burn-out schlittern wollte. Deshalb hatte er sich mit seinem alten Kumpel Lorenz Wolfstetter zum Segeln verabredet. Die Zeit auf dem See hatte Chris schon immer geerdet. Seine Eltern und Großeltern waren fantastische Segler gewesen. Schon als kleines Kind hatte er stundenlang auf einem Boot liegen und dem Wasser dabei zusehen können, wie es vom Bug geteilt wurde.

Chris hob die Hand zum Gruß, als Lorenz seine kleine Jacht an den Bootssteg manövrierte, und balancierte dann über die etwas angeschlagenen Bohlen auf das Boot zu.

Lorenz schlug ihm in einer kräftigen Bewegung auf den Rücken, als Chris an Bord sprang. Seine Art der Begrüßung. »Gut, dich zu sehen, Mann«, sagte er und nickte dann mit dem Kopf in Richtung Bootssteg. »Du weißt, dass du dieses morsche Teil in Ordnung bringen musst? Die Behörden verstehen bei ungepflegten Stegen keinen Spaß.« Er schnippte mit den Fingern. »Zack ist die Lizenz weg.«

»Ich weiß.« Chris rieb sich über den Nacken. Noch so eine Aufgabe, die er seit einer Ewigkeit vor sich herschob. Weil er in seinem Alltag keine Zeit dafür freischaufeln konnte. Und weil er an einem Sonntag wie heute die Kreissäge nicht anschmeißen durfte. »Ich kümmere mich darum, sobald ich dazu komme.«

Lorenz steuerte das Boot vom Anleger weg. »Ich kann dir eine gute Firma empfehlen«, schlug er vor.

Chris schüttelte den Kopf. »Ich mach das selbst.«

Lorenz warf ihm einen Seitenblick zu, nickte dann aber einfach nur, statt ihn davon überzeugen zu wollen, den Steg lieber von Profis restaurieren zu lassen. Er kannte Chris. Und er kannte Chris’ Geschichte. Es gab Dinge, die musste er einfach selbst in Angriff nehmen. »Hast du deine Mutter besucht?«, wollte er prompt wissen.

Chris richtete den Blick auf die Bergkette, die wie eine Barriere zwischen dem See und dem leuchtend blauen Horizont lag. »Hm«, murmelte er. »Am Freitag.«

»Geht es ihr gut?« Lorenz steuerte das Boot auf den See hinaus.

Der Wind griff in das Segel und schob sie vorwärts. Ein Gefühl von Ruhe und Freiheit breitete sich in Chris aus, wie immer, wenn er auf dem Wasser war. Ein Gefühl, das es ihm auch erlaubte, sich für seine Mutter zu freuen, auch wenn es ihm das Herz brach. »Sie hat glücklich gewirkt.«

Lorenz zuckte mit den Schultern. »Dann ist sie es auch«, sagte er schlicht. Ganz der gute Barkeeper, der er war. »Ich habe gehört, Jule Hansen arbeitet jetzt für dich«, erinnerte er Chris daran, dass Starnberg ein großes Dorf war, in dem der Tratsch schneller die Runde machte, als ein Boot brauchte, um nach Tutzing zu segeln.

»Du kennst sie?«, fragte Chris statt einer Antwort.

»Kennen?« Lorenz lachte, was ganz automatisch dazu führte, dass sich Chris’ Magen auf unangenehme Weise zusammenzog. Ein völlig irrationales Gefühl, das sich aber nicht leugnen ließ. Sein Kumpel und die Concierge waren doch nicht etwa … »Jule hat mir schon mal echt den Arsch gerettet, als ich ein Problem in der Bar hatte«, fuhr Lorenz fort. »Wenn du jemanden brauchst, der die Kohlen aus dem Feuer holt, ganz egal, wie heiß sie sind, dann ist sie genau die Richtige.«

Chris atmete tief durch, und das merkwürdige Gefühl verschwand. »Ich habe auch den Eindruck, dass sie wirklich gut ist. Ich arbeite allerdings noch nicht lange mit ihr zusammen. Wie hast du sie kennengelernt?« Lorenz war eher nicht der Typ, der sich eine Concierge leisten konnte – und wollte.

Lorenz holte zwei Starnberger Hofbräu aus der Kühlbox am Heck des Bootes, öffnete sie und reichte eine Flasche an Chris weiter. »Du weißt doch, wie das ist: Geschäftsleute. Früher oder später kennt man jeden in der Gegend. Jule hat in diesem Fünf-Sterne-Hotel drüben auf der anderen Seeseite gearbeitet und dann beschlossen, in Starnberg ihren eigenen Concierge-Service aufzuziehen. Ich kann dir sagen, das Wort ›Nein‹ gibt es für diese Frau nicht.«

Chris nickte und trank einen Schluck. Das hatte er selbst schon bemerkt.

»Du weißt ja, wie das ist«, fuhr Lorenz fort. »Eine Geschäftsgründung braucht Zeit, Energie und Geld. Jule war auf der Suche nach günstigen Wohn- und Geschäftsräumen. Genau zu der Zeit hat Felicia Sommerfeldt Wohnungen annonciert. Ihr gehört dieses alte Schulhaus am See. Sie kennst du vielleicht nicht, aber ihr Freund, Ben Lindner, war in der Schule ein paar Klassen unter uns.«

»Ben Lindner«, überlegte Chris laut. »War nicht sein Cousin früher hinter deiner kleinen Schwester her?«

»Nein. Sam Lindner und Marie sind wie Hund und Katze. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, kann man die beiden nicht in die Nähe des anderen lassen, ohne dass sie die Krallen ausfahren. Die haben früher alle in dieser grauenvollen Punkband gespielt: Die Scheißwürste.«

Chris nickte. Er erinnerte sich nur ganz dunkel an die Band. Und Ben Lindner hatte er in seiner Schulzeit auch nicht wirklich wahrgenommen. Aber damals hatte er auch sonst nicht viel um sich herum mitgekriegt. Er hatte versucht, auf ein brillantes Abitur hinzuarbeiten und in jeder freien Minute gejobbt, um seine Mutter und sich über Wasser zu halten. Die meisten Starnberger in seinem Alter wussten nicht einmal, dass er hier aufgewachsen war. Sie hielten ihn für einen waschechten Münchner, der mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war. Es machte ihm nichts aus, so gesehen zu werden, schließlich öffnete es ihm jede Menge Türen. »Diese alte Schule kenne ich. Da hat doch die Abendschein-Hochzeit stattgefunden.« Jetzt erinnerte sich Chris, dass er auch Felicia Sommerfeldt kennengelernt hatte. Sie hatte auf der Vernissage des Freiherrn von Lemberg gecatert, und bei der Abendschein-Hochzeit hatte er sie auch gesehen.

»Ja, genau.« Lorenz stieß mit seiner Schulter gegen Chris’. »Ich hatte ganz vergessen, dass du jetzt in diesen Kreisen verkehrst.«

Chris lachte. »Ich verkehre nicht mit ihnen. Ich arbeite für sie.« Aber in gewisser Weise hatte sein Freund recht. Er hatte über die Jahre viele Kontakte in die Welt der Schönen und Reichen geknüpft. Und die waren ihm auch wichtig, weil das für ihn der Beweis war, dass er es ganz nach oben geschafft hatte. Etwas, was er sich als Fünfzehnjähriger nicht hätte träumen lassen. Trotzdem war das nichts, womit er angab.

»Sollen wir im Nordbad Tutzing anlegen und uns eine Currywurst Seeluxe gönnen?«, fragte Lorenz.

»Gute Idee.« Das Restaurant, in dem man über dem Wasser sitzen und vor allem mit dem Boot direkt anlegen konnte, servierte die beste Currywurst weit und breit. »Ich wollte sowieso noch etwas mit dir besprechen.«

»Das klingt ernst.« Lorenz warf ihm abermals einen Seitenblick zu.

Chris grinste ihn an. »Das kommt darauf an, ob du Wettkämpfe immer noch so ernst nimmst wie früher.«

Lorenz zog die Augenbrauen hoch.

»Hab ich mir gedacht«, antwortete Chris auf diese Geste. »Ich habe mir überlegt, beim Fischerstechen mitzumachen und brauche noch einen Ruderer. Bist du dabei?« Diese Idee war Chris ganz spontan gekommen. Um nicht zu sagen, überstürzt. Aber Miles hatte recht. Er musste mehr raus. Eines der Highlights am Starnberger See, das nur alle fünf Jahre stattfand, war genau das Richtige, um Spaß zu haben, das Leben zu genießen. Und gegen ein bisschen Wettkampf, so ganz nebenbei, war sowieso nichts einzuwenden. »Also, kann ich auf dich zählen?«

Lorenz biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ich würde gern sagen, ich bin zu alt für diesen Scheiß. Überlass das den jungen Kerlen, die kein Problem damit haben, in Klamotten baden zu gehen. Aber verdammt, ich habe tatsächlich Lust, da noch mal mitzumischen.«

»Pff.« Chris trank einen Schluck Bier. »Ich habe nicht vor, in Klamotten baden zu gehen.«

*

Hinter Jule lag ein ruhiges Wochenende. Ihre Kunden hatten nicht besonders viele Wünsche gehabt, die erfüllt werden mussten. Sie hatte die Zeit genutzt, ihre Buchhaltung auf den neuesten Stand zu bringen und die nützlichen Informationen, die sie in den letzten Tagen über ihre Kunden gesammelt hatte, in ihr Cardex einzutragen – ihr Tablet, in der sie alle Vorlieben, Extravaganzen und sonstigen Details ihrer Klienten eingetragen hatte. Sie erlaubte niemandem, auch nur die Finger in Richtung dieses Geräts auszustrecken, das ihre Freunde deshalb das Geheimniskrämer-Tablet nannten.

Aber jetzt wurde es Zeit für eine Joggingrunde. Bevor sie sich mit Felicia und Lina zum Rosamunde-Pilcher-Abend traf, wollte sie den milden Sommertag draußen genießen und sich noch ein bisschen die frische Luft um die Nase wehen lassen. Sie wechselte in ihre Laufklamotten, setzte ihr Headset auf und trabte die Treppen hinunter, während sie ihre Playlist aufrief. Sie nahm Poldi mit, weil ihm Bens Meinung nach ein bisschen Sport guttun würde. Schließlich lungerte er in letzter Zeit hauptsächlich neben Elfriede auf der Terrasse herum, statt wie sonst durch die Gegend zu rennen, zu schwimmen und die Enten auf dem See zu jagen.

Mit dem Hund an ihrer Seite lief Jule zum Anleger der Ausflugschiffe und schlug dann die Richtung zum Jachtclub ein. Die Sonne glitt langsam in Richtung Horizont. Die meisten Tagestouristen hatten die Stadt bereits verlassen. Nur diejenigen, die auf dem Weg in ein Restaurant oder eine Bar noch einen kleinen Spaziergang machten, bevölkerten die Strandpromenade. Jule war schon fast auf Höhe des Jachtclubs, als ihr Handy klingelte. »Jule Hansen – Die gute Fee am See«, meldete sie sich, nachdem sie das Gespräch mit einem Knopfdruck auf ihrem Headset angenommen hatte.

»Jule? Ich bin’s.«

»Mama?« Jule regulierte die Lautstärke ein wenig nach unten, weil ihre Mutter am Handy immer ziemlich laut sprach. »Ist alles in Ordnung?« Sie telefonierte zwar regelmäßig mit ihren Eltern und schickte ihrem kleinen Bruder hin und wieder eine WhatsApp, aber sie konnte an den Vibrationen in der Stimme ihrer Mutter hören, dass sie aufgeregt war.

»Nicky …«, sagte Jules Mutter Hanne, machte eine bedeutungsvolle Pause und atmete dann tief durch.

»Was ist passiert?« Jules Schritte stockten, bevor sie sich wieder fing. Ihr Bruder lag vermutlich nicht nach einem traumatischen Unfall im Koma auf der Intensivstation – in diesem Fall hätte ihre Mutter noch mal ganz anders geklungen. »Hat er etwas angestellt?«, schob sie nach, weil die Wahrscheinlichkeit recht hoch war, dass sich Niclas in Schwierigkeiten gebracht hatte. In letzter Zeit schien das öfter vorzukommen. Jule war sich nicht sicher, inwieweit er sich wie ein typischer Sechzehnjähriger verhielt, oder ob er hin und wieder über das Ziel hinausschoss.

»Wir mussten ihn vorhin bei der Polizei abholen.« Hanne gab einen empörten Laut von sich. »Stell dir das vor! Bei der Polizei! Schon wieder!«

Jule verlangsamte ihr Tempo. Dieses Gespräch schien ein längeres zu werden, und ihre Mutter forderte ihre Aufmerksamkeit. »Nicky wurde festgenommen?«

»Man konnte ihm nichts nachweisen. Aber trotzdem mussten wir ihn auf der Wache abholen«, erzählte ihre Mutter. »Er war wieder mit diesen furchtbaren Jungs unterwegs, diesen … Gangstern.« Hanne sprach das Wort aus, als hätte Jules kleiner Bruder sich einer Gang in Chicago angeschlossen. »Sie haben Graffiti an das Haus des Bürgermeisters gesprüht. Und natürlich wurden sie erwischt. Um es noch mal zu betonen: das Haus des Bürgermeisters!«

»Dann war Nicky dabei, hat aber nicht gesprayt?«, fragte Jule schnell, bevor sich ihre Mutter darüber ausließ, dass sie und ihr Vater den Bürgermeister doch kannten und das unglaublich peinlich war.

»Ja, so ist es wohl gewesen. Er hatte keine Sprühdosen bei sich, und auf seinen Kleidern waren keine Farbpartikel. Dabei hätte er beim Fußballtraining sein sollen, das er einfach geschwänzt hat.«

Jule überholte ein junges Pärchen mit einem großen Schäferhund, der neugierig zu Poldi herübersah. Aber ihr Begleiter schaute stur gerade aus und zog ein wenig an der Leine, um vorwärtszukommen. Jule hatte den Eindruck, Poldi versuchte, so schnell wie möglich zu Elfriede zurückzukommen. Sie lächelte den Leuten zu und redete erst weiter, als sie an ihnen vorbeigelaufen war, schließlich wollte sie nicht für jemand gehalten werden, der mit sich selbst sprach. »Habt ihr mit Nicky geredet? Was sagt er?«, fragte sie ihre Mutter dann. »Es muss doch einen Grund geben, warum er sich plötzlich mit diesen Gangstern herumtreibt«, benutzte sie Hannes Bezeichnung für die Jungs, mit denen Nicky sich angefreundet zu haben schien.

»Da liegt ja das Problem. Er redet nicht mehr mit uns. Wir haben wirklich alles versucht …« Jules Mutter seufzte resigniert. »Es ist die Pubertät. Du warst so anders damals. Um dich haben wir uns nie Sorgen machen müssen.«

Weil ich schlauer war als mein kleiner Bruder und mich nicht habe erwischen lassen, dachte Jule. Sie war nicht so dämlich gewesen, Graffiti an das Haus des Bürgermeisters zu sprayen. Aber sie hatte genug Blödsinn angestellt in dieser Zeit. Genau genommen hatten ihre Eltern gar nicht mitbekommen, was sie so getrieben hatte. Schließlich war ihr kleiner Bruder damals gerade erst zur Welt gekommen, und Hanne und Fietje hatten alle Hände voll zu tun gehabt mit dem Baby. Solange Jules Noten gestimmt hatten, hatten sie ihr so ziemlich alles durchgehen lassen. »Ich glaube, ihr könnt nur etwas ändern, wenn ihr mit ihm redet. Wenn ihr herausfindet, was ihn quält. Sonst wird er vielleicht demnächst derjenige sein, der die Spraydose in der Hand hält.«

»Genau. Jemand muss mit ihm reden. Da kommst du ins Spiel«, sagte ihre Mutter prompt.

»Was?« Jule blieb abrupt stehen? »Ich?«

Die nächsten Worte hörte sie nicht, weil jemand von hinten in sie hineinlief.

»Au, verdammt! Vorsicht! Hier laufen noch andere Leute.« Jule fuhr herum – und blickte in Christian Thalbachs dunkle Augen, die unwillig zusammengepresst waren. »Hast du keine Augen im Kopf?«, entfuhr ihr der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf ging. »O … ähm … Entschuldigung«, stammelte sie, als ihr bewusst wurde, wen sie da vor sich hatte. »Ich wollte Sie nicht … das Du tut mir leid.«

Sein rechter Mundwinkel hob sich zu diesem halben Lächeln, das sie schon öfter an ihm bemerkt hatte. »Kein Problem. Jetzt, wo du mich schon geduzt hast, lass uns doch dabei bleiben. Chris.«

Jule blickte auf die Hand, die er ihr entgegenstreckte. »Jule«, erwiderte sie und wurde sich bewusst, dass sie ihre Mutter am Telefon hatte.

»Jule? Hallo? Ist etwas passiert?«, tönte Hannes Stimme schon wieder aufgeregt durch das Headset. »Hallo?«

»Ich muss auflegen, Mama«, sagte sie.