Windstärke Liebe - Jana Lukas - E-Book

Windstärke Liebe E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Wenn der Wind dreht, dann mach dich bereit für das Glück!

Claras Leben ist aus den Fugen geraten. Sie verliert ihren Job als Goldschmiedin und wird von ihrem Freund verlassen. Für einen Sommer müsste das Drama genug sein. Doch dann zwingen die Umstände Clara, die Ferien gemeinsam mit ihrer pubertierenden Schwester Sophie im Haus ihrer Großmutter am Bodensee zu verbringen. Der spektakuläre Blick über das Wasser und der alte Bootssteg, von dem man die Füße baumeln lassen kann, helfen da wenig. Bootsbauer Justus scheint in diesem Chaos die einzige angenehme Abwechslung zu sein. Das Kribbeln, das seine Blicke in ihrem Bauch auslösen, kommt einem Feuerwerk gleich. Kann er Clara helfen, zu sich selbst zurückzufinden?

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Seitenzahl: 501

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DAS BUCH

Claras Leben ist aus den Fugen geraten. Sie verliert ihren Job als Goldschmiedin und wird von ihrem Freund verlassen. Für einen Sommer müsste das Drama genug sein. Doch dann zwingen die Umstände Clara, die Ferien gemeinsam mit ihrer pubertierenden Schwester Sophie im Haus ihrer Großmutter am Bodensee zu verbringen. Der spektakuläre Blick über das Wasser und der alte Bootssteg, von dem man die Füße baumeln lassen kann, helfen da wenig. Bootsbauer Justus scheint in diesem Chaos die einzige angenehme Abwechslung zu sein. Das Kribbeln, das seine Blicke in ihrem Bauch auslösen, kommt einem Feuerwerk gleich. Kann er Clara helfen, zu sich selbst zurückzufinden?

DIE AUTORIN

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber in ihren Romanen ist zumindest ein Happy End garantiert. Immer! Windstärke Liebe ist ihr dritter Roman bei Heyne.

LIEFERBARE TITEL

Landliebe

Herz und Tal

JANA LUKAS

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 07/2019

Copyright © 2019 by Jana Lukas

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Diana Mantel

Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung, München,

unter Verwendung von plainpicture/Elektrons 08

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21955-0V002

www.heyne.de

Prolog

Clara Ritters uralter VW-Bus Rosti ächzte, als sie den Motor abstellte. Die Äste der riesigen Trauerweide, unter der sie geparkt hatte, strichen wie sanfte Finger über das blassblaue Dach ihres alten Gefährten und verfingen sich für einen Augenblick sogar in ihren wilden Locken, als sie ausstieg. Sie streckte sich und strich ihren zerknitterten Baumwollrock glatt. Das Rauschen des Windes in den Blättern passte zum Plätschern der Wellen, die an den Kiesstrand schlugen. Sie konnte das Wasser von hier aus nicht sehen, aber sie konnte es hören. Und riechen. Der Duft des Bodensees, unverkennbar und nicht in Worte zu fassen, gemischt mit dem der Bäume, unter denen sie stand.

Sie atmete tief ein. Irgendwo brannte ein Holzfeuer, dessen rauchige Note unter den Weiden hindurchwehte. Und über ihr hatten sich ein paar Vögel zu einem fröhlichen, lauten Konzert zusammengefunden. Wie viele Male hatte Clara hier gestanden, am Rande der Wiese? Wie oft war sie über die zerbrochenen, verwitterten Gehwegplatten zum Haus ihrer Großmutter gerannt? Sie gab dem Impuls aus Kindertagen nach und schlüpfte aus ihren Flipflops. Barfuß folgte sie dem schmalen Pfad, spürte das weiche Kitzeln der Grashalme und die von der Sonne aufgewärmten Steinplatten unter ihren nackten Fußsohlen. Viel zu schnell hatte sie die Wiese hinter sich gelassen und erklomm die drei Stufen zur Haustür. Sie lagen im Schatten und fühlten sich kühl und glatt an.

Clara bückte sich und schob den Blumentopf zur Seite, in dem in jedem Sommer ein Teeröschen blühte. Und unter dem schon immer der Haustürschlüssel versteckt war. Sie hob ihn auf und steckte ihn ins Schloss.

»Ich hoffe, du hast das WLAN-Passwort. Sonst muss ich in diesem alten Kasten echt sterben.« Clara zuckte zusammen. Ihre Schwester Sophie sackte mit finsterer Miene neben ihr gegen die Hauswand, als hätte sie keinen funktionierenden Knochen im Körper.

Für einen Moment hatte sie den übellaunigen Teenager vergessen, hatte sich in der Vergangenheit verloren, war wieder ein sorgloses, fröhliches Kind gewesen. Aber Sophie schaffte es ohne große Mühe, sie in die Wirklichkeit zurückzuholen.

Clara seufzte und drehte den Schlüssel um. Sie schob die Tür auf und sah sich dem Wesen gegenüber, das noch zickiger war als ihre kleine Schwester: Charlottes rabenschwarzer Katze Diva. Das Tier saß mitten im Windfang. Es sah sie aus schmalen Augen an, peitschte einmal mit dem Schwanz auf den Boden und erhob sich majestätisch. Mit einem vernichtenden Blick über seine Schulter stolzierte es davon.

Clara folgte Diva und betrat das Haus. Sie war eine Weile nicht mehr hier gewesen, aber es hatte sich nichts verändert. Die honiggelben Dielen knarrten unter ihren Füßen, als sie den Flur durchquerte und in das lichtdurchflutete Wohnzimmer trat. Staubkörnchen tanzten in den stillen Sonnenstahlen, die durch die großen Sprossenfenster fielen. Im Wintergarten dahinter konnte sie Signore Albero da Noli ausmachen, Charlottes geliebten Zitronenbaum – und wahrscheinlich das einzige Gewächs dieser Art, das einen Vor- und Zunamen besaß. Der Anblick der großen gelben Früchte ließ ein glückliches Lächeln in ihr aufsteigen, das tief aus ihrem Herzen zu kommen schien und ihre Mundwinkel hob. Zuversicht hüllte sie auf einmal ein wie eine weiche Decke. Und zumindest für diesen Moment konnte Clara daran glauben, dass sich das Schicksal nicht vollständig gegen sie verschworen hatte. Hier, im Haus ihrer Großmutter am Bodensee, würde sie zu sich selbst zurückfinden. Und zu Sophie, die hinter ihr einen genervten Seufzer ausstieß, vermutlich, weil sie es noch immer nicht geschafft hatte, das WLAN-Passwort zu knacken.

1

Fünf Stunden zuvor

Clara stand reglos im Flur ihrer WG. Ihr Herz hämmerte im gleichen Rhythmus wie der Deep-House-Sound aus dem Zimmer ihres Maschinenbau studierenden Mitbewohners Adrian. Ihre Gedanken hingen in einer Nebelwolke fest. Gut möglich, dass die illegalen Substanzen, die ihr zweiter Mitbewohner Torben, ein frischgebackener Sozialpädagoge, gerade zu konsumieren schien, nicht ganz unschuldig daran waren. Die Hauptursache gründete aber in dem Anruf, den sie soeben erhalten hatte. Ein Telefonat, das sie gefürchtet hatte. Von dem sie gehofft hatte, es noch viele Jahre lang nicht führen zu müssen. Charlotte, ihre wunderbare Großmutter … Seit dem Tod von Claras Mutter vor sieben Jahren rissen ihr Nachrichten wie die, die sie gerade erhalten hatte, den Boden unter den Füßen weg. Gegen die Angst, die ihr den Hals zuschnürte, kam sie einfach nicht an.

Es klingelte an der Tür. Clara hob den Blick vom zerschundenen Linoleumboden und betrachtete das schief hängende Garderobenbrett. Ashley, die einzige Frau, die außer ihr hier wohnte, eine Verkäuferin in einem von Stuttgarts angesagtesten Klamottenläden, lag Adrian regelmäßig in den Ohren, das Möbelstück ordentlich an die Wand zu schrauben. Es war bereits zweimal unter ihrer Sammlung farbenfroher Mäntel zusammengebrochen.

Das Türklingeln steigerte sich zu einem verärgerten Stakkato. Doch Clara konnte sich nicht bewegen. Ihr Blick wanderte weiter zum Flurspiegel, dessen obere Ecke blind war. Ein Spinnennetz aus geborstenem Glas in seiner Mitte zeugte von einer besonders wilden Party aus der Zeit, bevor Clara hier eingezogen war. Er hing an der vergilbten Wand wie ein stolzes Artefakt aus einer anderen Epoche.

Das Klingeln verstummte. Noch bevor Clara erleichtert aufatmen konnte, wurde es von einer penetranten Faust ersetzt, die gegen das spröde Holz mit dem Anti-Stuttgart 21-Aufkleber schlug.

»Mach doch endlich die verdammte Tür auf, Alter«, schrie Torben aus seinem Zimmer.

Clara zuckte zusammen. Ich bin nicht dein Alter, dachte sie, wie jedes Mal, wenn er diese Formulierung benutzte. Aber immerhin hatte sein Brüllen sie aus ihrer Erstarrung befreit. Sie überwand die zwei Schritte, die sie von der Tür trennten, und riss sie auf. »Lena!« Pure Erleichterung durchfuhr sie beim Anblick ihrer älteren Schwester. Was durchaus nicht häufig geschah. »Gott sei Dank! Du bist hier!« Clara presste die Hand, mit der sie noch immer ihr Handy umklammert hielt, gegen ihr wild klopfendes Herz, als könne sie so verhindern, dass es ihr vor lauter Panik aus der Brust sprang. »Hast du auch einen Anruf bekommen?«

»Was für einen Anruf?« Ihre Schwester zog auf ihre leicht überhebliche Art die Nase kraus und schnüffelte an Clara vorbei. »Sag mal, kiffst du neuerdings?«

»Was? Nein! Das ist der Sozialpädagoge«, ging Clara automatisch in Verteidigungshaltung. Sie trat einen Schritt in den schäbigen Hausflur hinaus und lehnte die Tür an, um ihrer Schwester den Blick in die noch schäbigere Wohnung zu versperren.

»Dann schmeiß den Typen raus. Ich will nicht, dass wir Ärger mit dem Jugendamt bekommen, wenn Sophie hier ist.«

Als ob ich irgendjemanden rauswerfen könnte, dachte Clara bitter. »Sophie ist nie hier«, korrigierte sie Lena.

»Ab jetzt schon.« Ihre ältere Schwester trat einen Schritt zur Seite, und erst jetzt wurde Clara bewusst, dass sie nicht allein waren. Hinter Lena standen ihre kleine Schwester Sophie und Lenas Lebensgefährte Benedikt. Er ignorierte sowohl Clara als auch Sophie und betrachtete stattdessen seine sauber manikürten Fingernägel. Benedikt war ein Arsch. Und ein Snob. Überheblich und selbstverliebt. Was ihn automatisch zum perfekten Partner für ihre Schwester machte.

Benedikt tippte ungeduldig mit der Schuhspitze auf den Boden. »Das Taxi wartet«, erinnerte er Lena leise daran, dass sie es offenbar eilig hatten.

Clara interessierte sich nicht dafür. »Hey Süße«, sagte sie und trat auf ihre Schwester Sophie zu, die automatisch einen Schritt zurückwich, um zu verhindern, dass Clara sie umarmte. Was dazu führte, dass sich Claras Herz schon wieder schmerzhaft zusammenzog. Mühsam schluckte sie an dem Kloß vorbei, der in ihrem Hals festsaß.

Und dann entdeckte sie den riesigen schwarzen Koffer mit dem Totenkopf aus Strasssteinchen, den jemand in den fünften Stock geschleppt hatte. Er lehnte neben der Todesverachtung ausstrahlenden Sophie an der Wand.

Im Stockwerk unter ihnen wurde eine Tür geöffnet und nicht wieder geschlossen. Na super, Frau Hallhuber gab sich die Ehre. Die Kehrwochenhexe, wie Clara sie insgeheim nannte, konnte nur eine Sache besser als das Überprüfen, ob man das Treppenhaus sauber geputzt hatte: nämlich ihre Nachbarn belauschen. Doch auch sie würde Clara nicht dazu bringen, das Gespräch in der verwahrlosten Wohnung fortzuführen, in der sie hauste. Ihr Zimmer war zwar sauber, aber so winzig, dass vier Personen und ein riesiger Koffer keinesfalls gleichzeitig hineinpassten. »Was soll das?«, fragte Clara mit einem Blick auf das schwarze Ungetüm. Es war ihr egal, wer etwas sagte. Sie wollte so schnell wie möglich eine Antwort, damit sie sich wieder auf die Sorge um ihre Großmutter konzentrieren konnte.

»Wir sind auf dem Weg zum Flughaften, wir fliegen doch heute auf die Malediven«, erklärte Lena. Sie hob den Arm und warf einen Blick auf die funkelnde Uhr an ihrem Handgelenk. »Und wir müssen jetzt los, wenn wir unseren Flieger nicht verpassen wollen. Sophie verbringt den Sommer mit dir.«

»Aber …« Clara zwang das Karussell in ihrem Kopf für einen Moment zum Stillstand. »Ihr wolltet zusammen mit Sophie fliegen. Die Ferien haben doch gerade erst begonnen.«

»Wir haben es uns anders überlegt. Wir wollen schließlich Benedikts vierzigsten Geburtstag feiern. Das passt nicht ganz zu einem Kinderferienprogramm. Jedenfalls konnten wir Sophies Ticket in ein Upgrade tauschen.«

Clara blickte zu ihrer jüngeren Schwester hinüber. Das Grufti-Outfit, das sie neuerdings trug, täuschte nicht darüber hinweg, dass sie erst vierzehn Jahre alt war. Sophie presste ihre schwarz angemalten Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ihre dick mit Kajal umrandeten Augen starrten über der Tür an die Decke. Genau dorthin, wo das Spinnennetz hing, das schon vor Wochen von seiner Bewohnerin verlassen worden war. Nichtsdestotrotz hatte sich vor zwei Tagen eine Fliege in die Falle verirrt und war ihrem Schicksal erlegen. Wahrscheinlich fühlte Sophie sich gerade nicht anders als das Insekt. Die Einsamkeit hinter Sophies finsterem Blick brach Clara das Herz. »Du hast das Ticket unserer Schwester gegen die erste Klasse getauscht?« Fassungslos starrte sie in Lenas kühles, emotionsloses Gesicht. Der kinnlange, karottenrote Bob saß perfekt. Nicht ein Härchen traute sich, aus der Reihe zu tanzen. Genau wie das schlichte, aber mit Sicherheit sündhaft teure Sommerkleid es niemals wagen würde, eine Falte zu werfen. Nicht bei Lena.

»Businessklasse«, verbesserte Sophie in dem für sie so typisch sarkastischen Tonfall. »Mehr haben sie für mich nicht bekommen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte sowohl Lena als auch Clara mit einem feindseligen Blick.

Lena ignorierte den Einwurf. »Ich hatte sie fast im Ferienprogramm des Internats untergebracht, aber dann hat sie es geschafft, von der Schule zu fliegen. Jetzt ist sie dein Problem.«

»Du bist von der Schule geflogen?« Clara fuhr zu Sophie herum. Sie hatte das Internat von Anfang an für keine gute Idee gehalten. Mit diesem Rauswurf war das die zweite Schule innerhalb eines Schuljahres. »Wie konnte das passieren?«

»Das kann sie dir dann in Ruhe erzählen. Ihr habt ja jetzt Zeit genug dafür.«

Zeit genug, dachte Clara. Sie schob sich die Locken aus dem Gesicht und hielt sie mit einer Hand auf dem Kopf fest. Sie würde gar keine Zeit haben, weil sie innerhalb der nächsten sechs Wochen eine neue Schule für Sophie finden musste. Sechs Wochen, von denen sich Lena zwei verdrücken würde. Erst jetzt wurde Clara bewusst, dass Lena gar nicht hier war, weil sie sich Sorgen um ihre Großmutter machte. Sie wollte ihre kleine Schwester, für die Lena das Sorgerecht hatte, bei ihr abladen.

Sophie stieß mit den Stahlkappen ihrer Doc Martins gegen die Wand, was den losen Putz nur so rieseln ließ. Wohl dem, der diese Woche mit der Kehrwoche dran war. »Ich habe ihr gesagt, dass ich allein zu Hause bleiben kann …«, brummte sie.

»Kannst du nicht!«, fuhren Clara und Lena sie gleichzeitig an. Offenbar der einzige Punkt, in dem sie sich einig waren.

»Können wir jetzt endlich?« Benedikt legte seine gepflegte Hand auf das Geländer, das ebenso heruntergekommen war wie der Rest des Treppenhauses. Vielleicht bohrte er sich so einen Splitter in die Haut. Einen, der nur chirurgisch wieder entfernt werden konnte. Oder noch besser: der festsitzen und sich entzünden und am Ende eine dicke Eiterbeule bilden würde. Clara schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Seit wann war sie so bösartig? Sie hielt Lena am Arm zurück, die sich ebenfalls der Treppe zuwandte. »Du hast das mit Charlotte nicht gehört?«, fragte sie ihre Schwester leise.

»Was soll ich gehört haben?« Lena schien sichtlich genervt, dass sie noch immer nicht auf dem Weg zum Taxi waren. Sophie hingegen hob schlagartig den Blick und fixierte Clara mit ihrer finsteren Miene. Sie sagte nichts, aber sie hörte jedes Wort, das Clara sagte.

»Eine Freundin hat sie gefunden. Bewusstlos in ihrem Haus.« Clara hob ihr Handy hoch, als könnte es ihre Aussage bestätigen. »Sie ist auf dem Weg in die Klinik. Im Moment weiß noch niemand, was passiert ist.«

Für einen Moment huschte so etwas wie Sorge und Mitgefühl durch Lenas Blick. Doch es verschwand so schnell, dass Clara es sich durchaus auch eingebildet haben konnte. »Aber sie lebt?«, wollte ihre Schwester wissen.

»Sie lebt.«

»Gut. So schnell haut Charlotte nichts um. Sie lässt sich nicht kleinkriegen von …«, Lena wedelte mit der Hand. »Was auch immer das war, du wirst dich darum kümmern«, bestimmte sie.

»Ja, ich wollte jetzt gleich zu ihr fahren.«

»Wunderbar. Nimm den Vampirlehrling mit.« Lena warf Sophie einen abschätzigen Blick zu, ehe sie sich umdrehte und Benedikt das Zeichen zum Verschwinden gab. »Ferien am Bodensee. Das hat doch was«, rief sie über die Schulter, während sie die knarzenden Treppen hinunterhasteten. »Grüß Charlotte von mir. Und halte mich auf dem Laufenden.«

In Windeseile, und ohne groß darüber nachzudenken, was sie in den nächsten Tagen – oder auch Wochen – am Bodensee brauchen würde, warf Clara Kleider, Toilettenartikel und Schuhe in einen Koffer und ihre große Reisetasche. Dann hängte sie sich ihre Laptoptasche über die Schulter und schleppte ihr Gepäck vor die Wohnungstür. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Mitbewohner zu informieren. Keinen von ihnen kümmerte, was sie trieb. Das schien ihre kleine Schwester zwar auch nicht zu interessieren, aber im Gegensatz zu Adrian, Torben und Ashley war sie gezwungen, die nächsten Wochen mit Clara zu verbringen. Sophie hockte mit bockig verschränkten Armen neben ihrem Koffer auf dem obersten Treppenabsatz. Als Clara die Tür hinter sich zuzog, machte sie sich nicht mal die Mühe aufzusehen. Aber sie erhob sich zumindest. Mit einer Bewegung, die Clara und die ganze Welt wissen lassen sollte, wie scheiße sie ausnahmslos alles fand. Sie schnappte sich ihren Koffer und ließ ihn auf dem Weg nach unten Stufe für Stufe auf die ausgetretene Holztreppe krachen. Clara seufzte innerlich und folgte ihr. Frau Hallhuber drückte sich immer noch im Hausflur herum, als sie den vierten Stock erreichten. Sie warf Sophie einen missbilligenden Blick zu, der nicht nur auf den Lärm zurückzuführen war, den sie veranstaltete, sondern auf die furchteinflößende Erscheinung ihrer kleinen Schwester im Allgemeinen.

»Hallo, Frau Hallhuber«, grüßte Clara die Nachbarin atemlos und manövrierte um die alte Frau herum, die mit Feuereifer die Sprossen des Treppengeländers wienerte. Das Gepäck schnitt in ihre Hände, und sie war froh, dass sie am vergangenen Abend entschieden hatte, ihre Goldschmiedeausrüstung nach dem Kurs, den sie gegeben hatte, nicht mehr aus ihrem VW-Bus zu räumen. So musste sie wenigstens diese Sachen nicht auch noch durch das ganze Haus schleifen.

»Sie verreisen?« Frau Hallhubers schlecht gelaunter Blick traf Clara mit voller Kraft. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Mitbewohner darauf hingewiesen, dass sie nächste Woche mit der Kehrwoche dran sind. Das letzte Mal wurde sie nicht gemacht. Und das Mal davor war die Kellertreppe ganz schlampig gewischt.«

»Ja, klar. Hab ich«, log Clara. Eines war sicher: Wenn sie sich nicht selbst darum kümmerte, stand der Treppe eine weitere ungeputzte Woche bevor. Niemand in der WG befasste sich mit solchen Nebensächlichkeiten wie Sauberkeit oder Hausregeln. »Einen schönen Tag noch«, log Clara zum zweiten Mal und folgte Sophie aus dem Sichtbereich der Kehrwochenhexe.

Die Fahrt an den Bodensee war anstrengend. Offenbar hatte ganz Stuttgart beschlossen, den Ferienbeginn zu einer Fahrt in den Süden zu nutzen, sodass aus den üblichen eineinhalb Stunden mehr als drei wurden. Mehr als drei Stunden bei strahlendem Sonnenschein in ihrem T3, der weder über eine Servolenkung noch eine Klimaanlage verfügte. Ihre schweigende Schwester neben sich. Clara hatte versucht, mit ihr zu reden und herauszufinden, was im Internat vorgefallen war. Das hatte lediglich dazu geführt, dass Sophie ihre Kopfhörer aufgesetzt hatte, um irgendeine Death-Metal-Musik zu hören, die direkt aus der Hölle zu kommen schien. Und diese laut genug aufzudrehen, um auch Clara daran teilhaben zu lassen.

Bis sie die Autobahn in Stockach verlassen hatten, um als Erstes zu Charlotte ins Krankenhaus zu fahren, war Clara ein nervliches Wrack. Wenigstens war der Besuch in der Klinik weniger schlimm verlaufen als erwartet. Als sie die Tür zu Charlottes Zimmer geöffnet und sie klein und blass in ihrem Bett entdeckt hatte, war ihr für einen Augenblick das Herz in die Hose gerutscht. Doch die grauen Haare ihrer Großmutter, die zu einer perfekten Jane-Fonda-Frisur geföhnt waren, waren ein gutes Indiz dafür, dass es ihr einigermaßen gut ging. Charlotte hatte gelächelt und sie beruhigt. Sie sei doch nur gestolpert und die Treppe hinuntergestürzt, versicherte sie. Dabei hatte sie sich die linke Schulter gebrochen und würde am nächsten Tag operiert werden. Außerdem hatte sie sich einen Bänderriss am Knöchel zugezogen. Charlotte rechnete fest damit, nur ein paar Tage in der Klinik bleiben zu müssen, und wies ihre Enkelinnen an, nicht so einen Wirbel um sie zu veranstalten, sondern nach Stuttgart zurückzufahren und mit ihrem Leben weiterzumachen. Keine verlockende Idee. Besonders, wenn Sophie die nächsten Wochen bei Clara leben sollte. In ihrem WG-Zimmer war das ausgeschlossen. Ob sie wollten oder nicht, Lenas achtlos dahingesagte Bemerkung über die Ferien am Bodensee schien im Moment die einzig sinnvolle Option zu sein. Auch wenn Sophie es für die reinste Folter hielt, Zeit mit ihr verbringen zu müssen, ihre kleine Schwester liebte immerhin Charlotte. Und Clara war sich sicher, dass ihre Großmutter immun war gegen das Verhalten pubertierender Nachwuchsgruftis.

Mit der Ankunft in Charlottes Haus war zumindest ein Teil der Erschöpfung von Clara abgefallen. Hier war sie früher immer so glücklich gewesen. Verband wundervolle Erinnerungen mit diesem Stückchen Paradies am Wasser. Seit Sophie in die Schule gekommen war, hatten Clara und Lena ihre Urlaubstage so aufteilen müssen, dass sie mit Sophie wegfahren konnten. Charlotte hatte sie dafür oft in Stuttgart besucht. Aber hier gewesen waren die Ritter-Schwestern schon seit ein paar Jahren nicht mehr.

Die Küche war neu, stellte Clara fest, als sie Diva in den Raum mit den geschmackvollen Landhausmöbeln folgte. Kräuter hingen zum Trocknen in kleinen Sträußen von einem Regal und verbreiteten einen aromatischen Duft, auch wenn Clara nur Minze aus dem Potpourri herausriechen konnte. Die Sprossentür, die auf die Veranda hinausführte, war von geschmackvollen, bodenlangen weißen Vorhängen eingerahmt, und auf dem weiß lasierten Tisch stand die große Tonschale, die Clara in der siebten Klasse im Kunstunterricht getöpfert und Charlotte zu Weihnachten geschenkt hatte. Auf der Arbeitsplatte lagen zwei Zucchini und ein paar Zitronen, die sicher von Signore Albero da Noli stammten. Eine halbvolle Tasse Kaffee stand auf der Anrichte. Wahrscheinlich hatte ihre Großmutter gerade erst einen Schluck getrunken, ehe sie ins Obergeschoss gegangen und anschließend gestürzt war. Sie goss das kalte Koffein in den Ausguss und stellte die Tasse in die Spülmaschine.

Diva stand vor ihrem Futterplatz und gab einen unwilligen Laut von sich. Clara warf einen Blick in die Schüsseln. Halb gefüllt mit Trockenfutter, das ihrer vierbeinigen Hoheit nicht anzustehen schien. Ein Problem, das sie später lösen würde. Clara holte die Katzenmilch aus dem Kühlschrank, die Charlotte immer für ihren Liebling parat hatte, und goss sie in das Trinkschälchen. Diva schob ihren Kopf neben den Tetrapak, schnüffelte und versetzte Clara einen Hieb mit ihren messerscharfen Krallen, weil es ihr offenbar nicht schnell genug gegangen war, bevor sie genüsslich begann zu trinken. »Gern geschehen«, murmelte Clara und drehte sich nach Sophie um, die durch den Flur geschlurft war und sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen lehnte. »Lass uns das Auto ausladen«, schlug Clara vor.

»Erst wenn du mir das WLAN-Passwort gegeben hast.«

»Vielleicht hat Charlotte ja gar keinWLAN«, konterte sie.

Sophie verdrehte die Augen und hielt ihr ihr Smartphone unter die Nase. »Ein Netz mit vollem Ausschlag, benannt nach Charlottes Lieblingsoper. Sie hat sehr wohl WLAN.«

Zauberflöte las Clara den Netzwerknamen auf dem Display ab. Sie wusste das Passwort. Und wenn ihre Schwester auch nur einen Millimeter über den Rand ihres schwarz angemalten Tellerrandes hinausschauen würde, käme sie ebenfalls von selbst drauf. Sie rieb sich über die Schläfen. Ein Streit mit Sophie war das Letzte, was sie heute noch gebrauchen konnte. Sie wollte nur noch ihr Zeug ins Haus räumen, ins Bett kriechen und schlafen, bis die Sonne zum nächsten Mal aufging. »Erpressung steht dir nicht, kleine Schwester. Erst wird ausgepackt, dann bekommst du den Code.«

Sophie verdrehte die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon. Clara lehnte sich gegen den Küchentresen und holte tief Luft. Schließlich stieß sie sich dort ab und kehrte zu ihrem Bus zurück, den Sophie zu einer Zeit, in der Clara für sie noch der wichtigste Mensch im Leben gewesen war, liebevoll Rosti getauft hatte. Höchste Zeit, sich für die nächsten Wochen einzurichten.

Im Obergeschoss des Hauses befanden sich neben einem Bad Charlottes Schlafzimmer und die beiden Räume, die Clara und Lena schon als Kind bewohnt hatten, wenn sie die Sommer bei ihrer Großmutter verbrachten. Von ihrem Fenster hatte Clara einen wundervollen Blick auf den Bodensee. Sophie und sie verbrachten den Abend damit, sich in ihrem vorübergehenden Zuhause einzurichten. Clara räumte ihre Kleider ordentlich in den Schrank und stellte dabei erleichtert fest, dass die Blusen, Röcke und Hosen, die sie wahllos in ihre Tasche und den Koffer gestopft hatte, für ein paar Wochen am Bodensee durchaus geeignet waren. Sophie hatte ihre Klamotten in den penibel aufgeräumten Raum geschmissen, der früher Lena gehört hatte. Sie würde mit Sicherheit keinen Tag brauchen, das zwanghaft saubere Zimmer ihrer ältesten Schwester in blankes Chaos zu verwandeln.

Nachdem sie ihre Sachen ausgepackt hatte, schleppte Clara ihre Goldschmiedeausrüstung und -werkzeuge in das Dachgeschoss – ohne Sophies Hilfe, die sich abermals die Stöpsel ihres iPods in die Ohren geschoben hatte und sie ignorierte. Charlotte hatte in Claras Teenagerjahren eine große Gaube ins Dach einbauen lassen. Dadurch wurde aus dem Raum, der früher ihr Spielzimmer an regnerischen Tagen gewesen war, ein helles, luftiges Atelier. Sie hatte Clara immer angeboten, hier oben zu arbeiten. Insbesondere nachdem sie den fatalen Schritt in die Selbständigkeit gewagt hatte. Clara hatte immer abgelehnt, um in Stuttgart für Sophie da sein zu können – was im letzten halben Jahr nicht mehr der Fall gewesen war. Vor allem, weil Lena beschlossen hatte, die Kleine in ein Internat zu verbannen. Jetzt waren sie also hier. Blieb die Frage, ob sich dieses wunderschöne Atelier positiv auf Claras Kreativität auswirken würde. Sie baute ihren halbrunden, abgewetzten Arbeitsplatz auf und brachte die Lederschürze an, die die Abfälle auffing und die Oberschenkel vor erhitztem Metall schützte. Sie ordnete die Zangen und Feilen ordentlich an, stellte das Säurebad auf und stapelte die Kästen mit ihren Rohmaterialien in die Billy-Regale, die die Wand säumten. Auch nachdem sie alles verstaut hatte, blieb noch genug Platz in dem großen, offenen Raum. Platz, um zum Beispiel die Staffelei aufzubauen, die einsam in der Ecke lehnte. Clara wusste, dass Charlotte sie gekauft hatte, um Sophie eine Freude zu machen. Ihre Schwester malte wundervoll. Aber soweit Clara sich erinnern konnte, hatte sie die Staffelei nicht ein einziges Mal benutzt. Clara warf einen letzten Blick in den Raum und schickte noch einmal den inständigen Wunsch gen Himmel, dass sie hier ein paar schöne Schmuckstücke erschaffen würde. Sie machte mit dem Handy ein Foto und schickte es ihrer Großmutter. Eingerichtet, schrieb sie darunter. Dann kehrte sie ins Erdgeschoss zurück und kümmerte sich um das Abendessen.

Später am Abend, nachdem Clara die Hitze des Tages in der Dusche von ihrem Körper gespült hatte und in ihren Pyjama geschlüpft war, setzte sie sich in den Wintergarten ihrer Großmutter, der sich an das Wohnzimmer anschloss. Von hier aus konnte man bei schönem Wetter auf die Veranda treten. Oder es sich bei Regen oder Schnee gemütlich machen und die Wetterkapriolen von drinnen beobachten. Clara hatte sich bewusst dagegen entschieden, nach draußen zu gehen. Sie wollte hier sitzen, inmitten der schönen Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend. Außerdem hatte sie darauf verzichtet, das Licht einzuschalten. Die Dunkelheit war tröstlich. In der Luft hing noch ein Hauch von Chanel No. 5, Charlottes Parfüm, solange Clara sich erinnern konnte. Sie nippte an dem Malbec, den sie aus dem Weinvorrat in der Küche stibitzt hatte, und ließ den Blick über die Silhouetten im Raum schweifen. Clara brauchte keine Lampe, sie konnte all die Dinge um sich herum mit geschlossenen Augen sehen. Signore Albero neben dem Flügel vor der Fensterfront, an dem Charlotte noch immer Gesangsunterricht erteilte. Die geschmackvoll gerahmten Poster aus der Zeit, in der ihre Großmutter als berühmte Sopranistin in allen großen Opernhäusern der Welt gastiert hatte. Die wuchtige Couch, auf der Clara saß. Charlotte liebte es, es sich hier mit ihrem Morgenkaffee oder einem Brandy am Abend gemütlich zu machen und durch die großen Fenstertüren des Wintergartens auf den See hinauszublicken. Sogar jetzt, im Dunkeln, konnte Clara das Wasser ausmachen. Die Wellen funkelten im Mondlicht wie eine silberne Decke, die ständig in Bewegung war.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie drehte den Kopf und entdeckte Sophie, die mit gespenstisch bleichem Gesicht im Türrahmen stand. Auf dem Arm Diva, die sich so wohl zu fühlen schien, wie es eine zickige Katze nur konnte. Unbewusst strich Clara über den Kratzer, den das Tier ihr vorhin verpasst hatte, weil sie nicht schnell genug Milch in ihr Schälchen gefüllt hatte. War ja klar, dass die beiden schwarzen Prinzessinnen auf der Erbse sich prächtig verstanden. »Was tust du hier?«, fragte Clara ihre Schwester.

»Ich will mir nur ein Glas Wasser holen. Es stellt sich wohl eher die Frage, was du hier tust.« Sophie machte einen Schritt in den Raum und fixierte das Weinglas, das im Mondlicht aufleuchtete. »Ein kleines, trauriges Besäufnis der unverstandenen Künstlerin?«

Ätzend. Ätzend war alles, was Clara zu ihrer kleinen Schwester einfiel. Sophie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Clara zu provozieren. Auch wenn sie begriff, warum das so war, konnte sie die Umstände nicht ändern. Sophie litt. Aber Clara fühlte sich innerlich genauso zerrissen. Um es nicht noch schlimmer zu machen, biss sie sich auf die Zunge. Der Tag hatte ihr genug Energie geraubt, sie wollte für diese Nacht ihre Ruhe. Frieden. Vorsichtig ließ sie die schmerzenden Schultern kreisen und nippte an ihrem Wein.

Sophie hatte bisher keine Mühen gescheut, Clara auf die Palme zu bringen. Das aus Käsebroten bestehende Abendessen war ihrer Meinung nach, mit der sie selbstverständlich nicht hinter dem Berg hielt, fantasieloser Fraß. Nach zwei Bissen hatte sie es auf ihren Teller geschleudert und war in ihrem Zimmer verschwunden. Nicht einmal ein Glas von Charlottes hausgemachter Zitronenlimonade, von der sie einen Krug im Kühlschrank gefunden hatte, hatte Sophie besänftigen können.

Clara hob ihr Weinglas erneut, hielt aber auf halbem Weg inne, als sie im Garten eine Bewegung wahrnahm. Aus den Schatten der Trauerweiden tauchte eine Gestalt auf. In der Dunkelheit konnte Clara nur erkennen, dass sie offenbar eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Gänsehaut breitete sich über ihre Arme und ihren Rücken aus. »Siehst du das?«, flüsterte sie in Sophies Richtung. Ihre Schwester trat einen Schritt in den Raum, um neugierig durch die Fenster zu spähen. »Nein, nein, nein.« Hektisch wedelte Clara sie mit der Hand zurück. »Bleib stehen. Komm nicht näher, sonst sieht er uns noch.«

Ihre kleine Schwester gab einen abfälligen Ton von sich. Offenbar überwog ihre Sensationsgier ihre Angst. Im Gegensatz zu Clara, die nichts als blanke Furcht empfand. »Woher willst du wissen, dass das ein Mann ist?«

Weil Frauen selten so groß sind, dachte Clara und ließ die Gestalt, die direkt auf den Wintergarten zusteuerte, nicht aus den Augen. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, sich auf eine Diskussion mit Sophie einzulassen. Es wurde höchste Zeit, die Polizei zu rufen – und sich zu verstecken. »Geh zurück«, fauchte sie ihre kleine Schwester noch einmal an, rollte sich vom Sofa und kroch hinter die Lehne, um von außen nicht gesehen zu werden. Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die 110.

»Polizeinotruf«, meldete sich eine professionell klingende Stimme, die Clara augenblicklich ein wenig beruhigte.

»Ich bin im Haus meiner Großmutter, Charlotte Ritter, in Bodman.« Sie rasselte flüsternd die Adresse herunter. »Hier schleicht ein Mann auf dem Grundstück herum. Ich vermute, er will einbrechen.«

»Bleiben Sie bitte im Haus, konfrontieren Sie die Person nicht. Wir schicken jemanden.«

»Vielen Dank.« Bevor die Stimme noch etwas sagen konnte, legte Clara auf.

»Du bist echt irre.« Clara musste den Gesichtsausdruck ihrer Schwester nicht sehen, um zu wissen, dass sie verächtlich den Mund verzog. Sophie lehnte wieder im Türrahmen. »Du rufst die Bullen, weil jemand über das Grundstück läuft? Wahrscheinlich ist das nur irgendein Typ, der eine Abkürzung nimmt.«

Im selben Moment bewies die Gestalt, dass sie keineswegs nur eine Abkürzung nahm. Clara hörte die drei schweren Schritte, mit denen sie die Holztreppe zur Terrasse hinaufstieg. Einen Augenblick später rüttelte sie an der verschlossenen Tür des Wintergartens. Plötzlich war die Abenteuerlust aus Sophie verschwunden. Sie ließ sich am Türrahmen hinuntergleiten, die Augen vor Schreck so weit aufgerissen, dass das Weiß in der Dunkelheit leuchtete. »Verfickte Scheiße«, hauchte sie, ganz die kreative Teenagerin.

Clara wagte einen Blick um die Sofakante. Die Gestalt hatte die Hände gegen den Glaseinsatz der Tür gelegt und spähte in den Raum. Dann wandte sie sich ab. Erleichterung durchflutete Clara. Für den Bruchteil einer Sekunde. Denn ihr wurde bewusst, dass der Einbrecher nicht verschwand, sondern über die Terrasse nach links ging. Zur Hintertür, die in die Küche führte. Dort hatte Charlotte, genau wie an der Haustür, einen Schlüssel deponiert. Unter dem hellblauen Topf mit den weißen Punkten und der üppig blühenden Geranie. Das wusste – jeder. Clara versuchte, die Panik zur Seite zu schieben. Wenn der Mann den Schlüssel fand, waren Sophie und sie ihm schutzlos ausgeliefert. Er würde sie ausrauben. Vielleicht sogar … daran durfte sie nicht einmal denken. Wenn der Einbrecher sie ermordete, würde Lena es schaffen, sie ins Leben zurückzuholen, um sie eigenhändig ein zweites Mal umzubringen, weil sie nicht auf Sophie aufgepasst hatte. Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Auf allen vieren setzte sie sich in Bewegung, krabbelte an ihrer Schwester vorbei und wies sie an, sich auf keinen Fall auch nur einen Millimeter zu bewegen. Dann kroch sie in die Küche. Sie hörte, wie der Mann auf der anderen Seite der Tür die Blumentöpfe anhob, bis er offenbar fand, was er suchte. Jetzt blieb wirklich keine Zeit mehr. Er hatte riesig ausgesehen, als er auf das Haus zugekommen war. Clara hingegen war gerade mal einen Meter zweiundsechzig, wenn sie sich ganz aufrecht hinstellte. Ihr blieb nur das Überraschungsmoment. Zitternd richtete sie sich auf und griff nach dem ersten Gegenstand, den sie zu fassen bekam, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Die gusseiserne Pfanne, die über dem Herd hing. Gut. Die würde weh tun. Der Schlüssel wurde ins Schloss geschoben, und sie umfasste den Griff der Pfanne mit beiden Händen, hob sie an wie einen Baseballschläger. Der Schlüssel drehte sich. Clara atmete ein. Das Schloss schnappte auf. Ihr Herz überschlug sich vor Angst. Dann schob der Mann die Tür auf – und Clara holte aus. Mit einem dumpfen Laut traf ihre schwere Waffe den Kopf des Einbrechers. Einen Augenblick lang, der sich ewig in die Länge zu ziehen schien, geschah gar nichts. Der Mann sah sie erstaunt an, soweit sie das in der Dunkelheit und unter seiner Kapuze beurteilen konnte, dann knickten seine Knie ein, und er schlug mit einem weiteren dumpfen Knall auf der Terrasse auf.

»O Gott«, entfuhr es Clara. Sie spürte Sophie hinter sich, die ihr über die Schulter spähte.

»Ist er tot?«, flüsterte ihre Schwester.

Clara warf ihr einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. »Woher soll ich das wissen?« Ihre Stimme war nur einen Hauch davon entfernt, sich hysterisch zu überschlagen. Sie blickten auf den Mann hinunter, der vor ihnen auf der Terrasse lag. Er war groß. Und schlaksig. Für einen Einbrecher trug er ein etwas untypisches Outfit, bestehend aus einer Laufhose und einem Hoodie, unter dessen Kapuze eine braune Locke hervorblitzte. Wobei Clara natürlich keine Ahnung hatte, was Einbrecher zurzeit so trugen, wenn sie zur Arbeit gingen. Dieser hier würde in den nächsten Tagen zumindest eine Beule am Kopf als Accessoire mit sich herumschleppen, die er der gusseisernen Bratpfanne in Claras Hand verdankte. Im Gefängnis würde sie ihm sicher gut stehen.

Sophie tippte das Bein des Mannes mit ihrer Schuhspitze an und sprang beinahe gleichzeitig einen Schritt zurück. Der Einbrecher rührte sich nicht. »Ich glaube, du hast ihn umgebracht.« Klang da ein Hauch von Ehrfurcht in der Stimme ihrer jüngeren Schwester mit? Normalerweise verzichtete sie nur dann darauf, Clara zu verachten, wenn sie tief und fest schlief.

»Er lebt noch!« Zumindest hoffte Clara das.

2

Justus Petersen hielt die Augen geschlossen. Er spürte die Frauen, die sich über ihn beugten, um zu prüfen, ob sie ihn umgebracht hatten. Was würde passieren, wenn er sich bewegte? Würde der rothaarige Derwisch noch einmal zuschlagen? Höchstwahrscheinlich. Er zog es vor, einfach hier liegen zu bleiben und zu warten, bis die Polizei kam, von der sie sprachen. Dabei würde er liebend gern einen Eisbeutel auf die Stelle pressen, an der sie ihn erwischt hatte. Viel hatte er nicht von der Frau gesehen. Er hatte den Schlüssel unter dem Blumentopf hervorgeholt, von dem jeder wusste, dass er dort lag. Kaum hatte er die Tür geöffnet, war ihm ein harter Gegenstand entgegengeflogen und hatte ihn ausgeknockt. Dahinter hatte er für den Bruchteil einer Sekunde seine Angreiferin wahrgenommen. Ein Wirbel rostfarbener Haare, blasse Haut und Sommersprossen. Viel mehr hatte er nicht gesehen.

Eine der Frauen tippte ihn mit dem Fuß an. Wie einen Rehbock, den man erlegt hatte und von dem man nicht sicher war, ob er wirklich hinüber war. »Ich glaube, du hast ihn umgebracht«, flüsterte eine der beiden. Klang da ein Hauch Ehrfurcht in ihrer Stimme mit?

»Er lebt noch!« Wirklich sicher hörte seine Angreiferin sich allerdings nicht an. Wenn er sie unter anderen Umständen kennengelernt hätte, zum Beispiel bei einem morgendlichen Plausch am Steg oder einem zufälligen Treffen am Briefkasten, hätte er diese Stimme gemocht. Dunkel und ein kleines bisschen rau. Ihr Lachen war mit Sicherheit in der Lage, einem Mann eine Gänsehaut zu verpassen. Nichts, worüber er im Zusammenhang mit diesem gewalttätigen Wesen nachdenken wollte.

»Hallo?«

Na endlich, dachte Justus, als er Peter Jägers Stimme erkannte.

Die Frauen schienen das ähnlich zu sehen. Er konnte das erleichterte Aufatmen geradezu hören. »Gott sei Dank! Wir sind hier drüben. Auf der Terrasse«, rief die mit der rauchigen Stimme. »Ich habe gemerkt, wie der Räuber ums Haus geschlichen ist«, redete sie auf den Polizisten ein, und ihre Stimme überschlug sich dabei fast vor Aufregung. »Wir sind so froh, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich musste den Mann außer Gefecht setzen, als er sich an der Hintertür zu schaffen gemacht hat.«

Justus hörte Jäger näher kommen. Durch seine Kleider spürte er die Hitze des Tages, die noch in den Brettern des Verandabodens hing.

»Polizeihauptmeister Jäger«, brummte der Beamte. »Machen Sie mal Licht, junge Frau.«

Zeit, zu den Lebenden zurückzukehren, befand Justus. Er öffnete die Augen und setzte sich dann langsam auf. »Wurde Zeit, dass du auftauchst«, sagte er zu Jäger, während er sich blinzelnd an die sanfte Helligkeit gewöhnte, die die Kutscherlampe neben der Verandatür in die Nacht strahlte. Vorsichtig tastete er über die Beule an seiner Stirn. »Ich habe befürchtet, dass mir diese Verrückte den Schädel bricht, wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewege.«

»Verrückte?« Der rothaarige Derwisch schnappte nach Luft. Jetzt überschlug sich ihre Stimme tatsächlich. »Sie … Sie Verbrecher!«

Justus musste zugeben, dass er fasziniert war. Er betrachtete die Locken der Rothaarigen, die ein Eigenleben zu führen schienen. Er konnte sich nicht daran erinnern, schon mal eine so wilde Mähne gesehen zu haben. Geschweige denn pinkfarbene Pyjamahosen mit Einhörnern, die über Regenbögen balancierten. Ihr Augen schienen grün zu sein, wenn er sich in dem schwachen Licht nicht täuschte. Dunkelgrün. Die Augenfarbe schien das Einzige zu sein, das sie mit dem jungen Mädchen gemein hatte, das ziemlich gelangweilt an der Tür lehnte. Es wäre mit Sicherheit auf einem Gothic-Festival besser aufgehoben als im Haus seiner Nachbarin. Die Frauen waren eine faszinierende Kombination. Justus war oft genug bei Charlotte zu Gast gewesen, um in ihnen zwei der drei Enkelinnen wiederzuerkennen, die auf jeder Menge im Haus verteilter Bilder zu sehen waren.

»Jetzt ist Schluss mit den Anschuldigungen!«, sprach Jäger ein Machtwort. Justus sah eine Schlafanzughose unter seiner Uniform hervorblitzen. Seine nackten Füße steckten in ausgetretenen Sneakers. Offenbar hatte ihn der Notruf aus dem Bett geklingelt. »Justus, du erklärst mir, was hier los ist«, entschied er.

»Sie kennen ihn? Natürlich!« Die Rothaarige schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Menschen, die regelmäßig in Handschellen auf die Wache geschleppt werden, sind den Beamten natürlich persönlich bekannt. Ich werde Ihnen erzählen, was vorgefallen ist«, setzte sie an.

»Wohl kaum.« Justus stand auf und baute sich in seiner vollen Größe vor der Frau auf, die automatisch einen Schritt zurückwich. »Du hast mitbekommen, dass Charlotte Ritter einen Unfall hatte?«, fragte er Jäger.

Der Beamte nickte. »Schlimme Sache. Schulterbruch. Operation. Das ganze Programm. Sie wird noch ein paar Tage in der Klinik bleiben müssen.«

»Ein Umstand, den sich dieser Widerling zu Nutze machen wollte, um in das Haus meiner Großmutter einzubrechen«, wartete die Rothaarige mit der nächsten Anschuldigung auf.

»Und was ist wirklich passiert?«, fragte Jäger daraufhin Justus mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihn schien der Gegenstand dieses Notrufes von Minute zu Minute mehr zu nerven.

Justus drehte sich zu den Frauen um. Die Bewegung ließ den Schmerz wie einen Blitz durch die Beule an seiner Stirn schießen und erinnerte ihn daran, dass er eigentlich ziemlich sauer über den Angriff war. Sein Blick fixierte die vorlaute Frau, und für einen Moment starrte sie ihn mit aufgerissenen Augen an und schien das Atmen vergessen zu haben. Dann schluckte sie und senkte den Blick. »Ich war auf dem Rückweg vom Joggen«, sagte er. »Und wollte noch schnell nach Charlottes Katze sehen.«

»Gut, gut.« Peter klatschte in die Hände. »Wir gehen jetzt alle hinein. Sie kochen einen Kaffee.« Er stach mit dem Zeigefinger vor der Rothaarigen in die Luft. »Schließich haben Sie mich unnötigerweise aus dem Bett geschmissen.«

»Der kommt nicht ins Haus!« Die Locken schienen sich elektrostatisch aufzuladen und in Richtung Himmel zu streben.

Peter zog die Augenbrauen nach oben und schwieg, bis sich die Frau mit einem unwilligen Laut auf dem Absatz umdrehte und ins Haus marschierte. Ihre Schwester schien die Show zu genießen und hielt ihnen mit einer kleinen Verbeugung die Tür auf. »Setz dich, Justus«, kommandierte Peter auch ihn herum, kaum dass sie die Küche betreten hatten. »Haben Sie etwas zum Kühlen für diese Beule?«, fragte er die Schwestern. Die Jüngere zog einen Beutel Erbsen aus dem Gefrierfach und warf ihn Justus zu. Er fing das Gemüse und presste es gegen seinen Kopf. Den erleichterten Seufzer, als der Schmerz ein wenig nachließ, verkniff er sich. »Als Erstes hätte ich gern gewusst, wer Sie sind«, begann Peter, nachdem er umständlich einen Notizblock aus seiner Tasche gezogen und am Küchentisch Platz genommen hatte.

»Ich bin Clara Ritter. Und das ist meine Schwester Sophie. Wir sind Charlottes Enkelinnen.«

Clara Ritter. Justus ließ den Namen in seinem Kopf nachhallen. Er klang gut. So normal. Zu dieser Amazone passte er kein bisschen. Genau wie Sophie nicht zu dem kleinen Vampir neben ihr passte.

»Können Sie sich ausweisen?«

Clara Ritter starrte den Polizisten an, bis er sich räusperte und den Blick senkte. Sie hatte dieses Amazonending echt drauf. Es wurde Zeit, dem Gesetzeshüter ein wenig unter die Arme zu greifen. »Ich bin Justus Petersen und wohne seit einem Vierteljahr nebenan.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des Bungalows, den er gemietet hatte. »Als ich von Charlottes Unfall gehört habe, habe ich mir vorgenommen, nach Diva zu sehen. Aber dann wurde ich in der Manufaktur aufgehalten, kam später als sonst zu meiner Joggingrunde – und deshalb auch später als geplant hierher. Es tut mir leid, wenn mein Auftauchen Sie erschreckt hat.« Nicht dass er nicht trotz allem stinksauer war, dass sie ihn niedergeschlagen hatte.

»Was für eine Manufaktur?«, fragte Clara Ritter skeptisch.

»Die Bootsmanufaktur von Simon Brandstetter.«

»Was ich bestätigen kann«, bemühte sich Peter zu bezeugen. Der Polizist und Justus kannten sich von einem Freizeitfußballturnier, dass vor ein paar Wochen in Bodman stattgefunden hatte und bei dem die Mannschaft der Bootsmanufaktur die des Rathauses mit sieben zu null plattgemacht hatte.

»Nun gut.« Clara Ritter verschränkte die Arme vor der Brust und verzog das Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte sie und meinte es offenbar kein bisschen so. »Ich habe Sie für einen Einbrecher gehalten. Vielleicht nutzen Sie nächstes Mal einfach den Vordereingang und klingeln, wie es sich gehört.«

»Sicher. Jetzt, da ich weiß, dass außer der Katze jemand da ist, der die Tür auch öffnen kann.« Justus erhob sich und wandte sich zur Hintertür, durch die er versucht hatte, das Haus zu betreten. »Was dagegen, wenn ich diesen Ausgang nehme?«

»Nein.« Sie streckte die Hand aus. Wollte sie seine schütteln? Frieden schließen? »Die Erbsen.«

»Was?« Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon sie sprach.

»Ich möchte meine Erbsen zurück.«

Das biologische Kühlpack. Sie musste ihn wirklich härter erwischt haben als gedacht, wenn er so lange brauchte, um das zu kapieren. »Sicher.« Justus zog den Gemüsebeutel von seiner Beule und reichte ihn ihr, bevor er das Haus verließ. Keine Frage, Charlotte Ritter war eine große Dame. Faszinierend. Anbetungswürdig. Ihre Enkelinnen hingegen erschienen ihm wie eine einzige Herausforderung. Fesselnd, aber alles andere als harmlos.

In seinen eigenen vier Wänden gönnte sich Justus eine Dusche, bevor er die Beule, die Clara Ritter ihm verpasst hatte, im Spiegel begutachtete. Nicht so dramatisch, beschied er. Nichts, was sich nicht mit einem kalten Bier behandeln ließ. Er zog Shorts und ein altes T-Shirt an, nahm ein Ruppaner aus dem Kühlschrank und schob die Terrassentür auf. Justus mochte diese Wand des modernen, minimalistisch eingerichteten Bungalows, die komplett aus Glas bestand und sich zur Hälfte aufschieben ließ. Sie gab ihm das Gefühl, auch im Wohnzimmer Teil der Szenerie draußen zu sein. Barfuß lief er über die Terrasse und den taufeuchten Rasen zum See hinunter. Seine Schritte klangen dumpf auf den rohen Planken, aus denen der Bootssteg gezimmert war. Er wirkte uralt und marode, war aber tatsächlich ziemlich stabil. Das Schilf links von ihm raschelte im Nachtwind, und die Wellen schlugen glucksend gegen die Pfosten des Stegs. Charlottes kleines Motorboot und das Kanu des Nachbarjungen schaukelten sacht vor sich hin. Justus ging bis ans Ende des Stegs und setzte sich. Er ließ die Beine Zentimeter über der Wasseroberfläche baumeln. Die eine oder andere Welle schaffte es trotzdem, seine Fußrücken angenehm kühl zu überspülen. Auf der gegenüberliegenden Seeseite funkelten die Lichter Ludwigshafens. Über ihm die Sterne. Ein Käuzchen krächzte irgendwo, und die Grillen zirpten.

Simon hatte heute in einem exotischen Hafen in der Karibik angelegt. Eine Stelle, an der er glücklicherweise WLAN-Empfang hatte, was ihnen die Möglichkeit gegeben hatte zu skypen. Justus trank einen Schluck Bier. Simon Brandstetter lebte seinen Traum. Keine Frage. Die Welt zu umsegeln in einem Boot, das man selbst entworfen und gebaut hatte, war für die meisten Menschen ein wahr gewordenes Wunder. Und es erlaubte Justus, ebenfalls seinen Traum zu leben. Boote zu entwerfen und zu bauen. Simon und er hatten in Kiel zusammen studiert und waren auch danach Freunde geblieben, selbst wenn die Werkstatt, die Simon von seinem Vater übernommen hatte, am anderen Ende des Landes lag. Als er Justus anrief, weil er auf der Suche nach einer Vertretung für die Dauer seiner Weltreise war, hatte er nicht eine Sekunde gezögert. Er hatte sich nicht überlegt, was seine Eltern – und Arbeitgeber – zu dieser Entscheidung sagen würden. Er hatte sich keine Gedanken gemacht, wie es wäre, in Süddeutschland zu leben. Natürlich waren seine Mutter und sein Vater alles andere als begeistert gewesen. Hatten alles versucht, um ihn umzustimmen. Justus war schließlich der Erbe der Petersen-Werft. Er sollte Eva heiraten und damit zwei Kieler Industrieimperien vereinen. Allein das hatte gereicht, die Flucht nach vorn anzutreten und Schleswig-Holstein hinter sich zu lassen.

Seit einem Vierteljahr lebte und arbeitete er inzwischen am Bodensee. Er hatte es nicht bereut. Nicht eine Sekunde. Bis heute Abend. Er rollte die kühle Bierflasche vorsichtig über seine Stirn und sah über die Schulter zu Charlottes Haus zurück. Die ehemalige Opernsängerin hatte er bereits in dem Moment in sein Herz geschlossen, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Am Tag seines Einzuges, als sie, perfekt frisiert, geschminkt und gekleidet, mit einem noch warmen Apfelkuchen vor seiner Tür gestanden hatte. »Bodenseeäpfel«, hatte sie erklärt. »Herzlich willkommen in Bodman.«

Es war unmöglich, ihr aus dem Weg zu gehen oder sich ihrer Präsenz zu entziehen. Charlotte teilte sich den Rasen und den Bootssteg mit ihm und den Strassers, die das restaurierte Fachwerkhaus neben Charlotte bewohnten. Workaholics, die ihren Teenagersohn Anton fünfundneunzig Prozent der Zeit vernachlässigten, soweit Justus das beurteilen konnte. Die drei Häuser am Rand des Ortes, versteckt hinter den großen Trauerweiden am Ende der Straße, an der die Bootsmanufaktur lag, hatten etwas von einer geheimen Lichtung. Sie passten nicht zusammen. Das jahrhundertealte restaurierte Fachwerkhaus der Strassers. Das Sommerhaus mit der luftigen Terrasse und dem Wintergarten aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, das irgendwann zu Charlottes ganzjährigem Wohnsitz geworden war. Und der moderne, schlichte und geradlinige Bungalow, den er gemietet hatte. Das Einzige, das sie verband, war die Ruhe, die sie hier umgab, die Wiese und der Steg. Niemand störte sie. Die Wanderer, die auf dem Weg zur Marienschlucht waren und im Sommer scharenweise am See entlangströmten, bemerkten nicht einmal, dass hier noch jemand wohnte. Charlotte tat ein Übriges, dass er sich in ihrer versteckten kleinen Einöde wohl fühlte. Die Oper gehörte eigentlich nicht gerade zu seinen favorisierten Musikrichtungen. Ehrliche Gitarren und heiser gebrüllte Refrains, zu denen man, ohne viel zu denken, mit dem Kopf wippen konnte, waren eher sein Ding. Aber er war neugierig genug gewesen und hatte sich auf YouTube ein paar ihrer Auftritte angesehen. Und er war ehrlich genug zuzugeben, dass sie ihm eine Gänsehaut über den Rücken gejagt hatten. Es war erstaunlich, was für eine Stimme aus dieser kleinen, zarten Frau kam. Beeindruckend. Hin und wieder wehten klassische Melodien leise aus den offenstehenden Türen ihres Wintergartens durch seine Terrassentür, ohne dass er sich davon gestört fühlte. Charlotte war eine Diva. Allerdings eine ohne Allüren. An ihren Enkelinnen hingegen war nichts divenhaft. Und er war sich sicher, dass es mit der Ruhe in ihrem kleinen Refugium ab sofort vorbei war. Zumindest solange Clara und Sophie Ritter hierblieben. Justus trank sein Bier aus und erhob sich.

Auf dem Weg zu seinem Bungalow blickte er ein letztes Mal zu Charlottes Haus hinüber. Es lag im Dunkeln. Lediglich aus dem großen Dachfenster drang Licht. Welche der beiden Schwestern wohl noch auf war? Und was sie da oben trieb?

Am nächsten Tag erwachte Justus im Morgengrauen. Beim Blick auf seinen Wecker entfuhr ihm ein unwilliger Laut. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und so getan, als sei es mitten in der Nacht, bis er wieder einschlief, so wie er es als kleiner Junge getan hatte. Leider funktionierte das nicht mehr. Justus kannte seinen Körper nur zu gut. Er war hellwach, obwohl er viel zu spät ins Bett gekommen war. Es half nichts. Also stand er auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Während er seine Zähne putzte, heizte sie auf, sodass er nur noch auf den Knopf drücken musste, nachdem er eine Tasse unter den Auslauf gestellt hatte. In den Rahmen seiner Terrassentür gelehnt, genoss er das Koffein, während die Sonne über dem See aufstieg. Dann holte er sein Paddelboard aus dem Schuppen und zog es zum Wasser. In der Werft würde sich noch mindestens eine Stunde keine Menschenseele blicken lassen. Zeit genug, eine ausgedehnte Runde auf dem Wasser zu drehen und direkt zur Bootswerkstatt zu paddeln. Er kletterte auf das Brett, balancierte seinen Stand aus und begann, das Paddel im gleichmäßigen Rhythmus ins Wasser zu tauchen. Es tat gut, die glasklare Luft tief ein- und auszuatmen und auf den blass fliederfarbenen Horizont zuzusteuern. Er spürte das angenehme Brennen seiner Armmuskeln und zerteilte mit dem Board die schmalen Nebelfetzen, die über dem Wasser schwebten. Als er etwa die Hälfte der Distanz zum anderen Ufer hinter sich gebracht hatte, wechselte er die Richtung und hielt auf die Bootsmanufaktur zu. Sein Blick fiel auf den Steg in der Bucht vor seinem Haus, auf dem eine einsame Gestalt hockte. Sophie, wie er an den schwarzen Klamotten und den im leichten Wind wehenden tiefschwarzen Haarsträhnen zu erkennen glaubte. Zusammengesunken saß sie da und malte oder schrieb irgendetwas in ein Buch. Was sie genau tat, konnte Justus nicht erkennen. Dazu war sie zu weit entfernt. Was er aber sehr wohl erkennen konnte, war die Einsamkeit, die sie zu umgeben schien wie eine schimmernde, undurchdringliche Aura.

3

Clara saß am Küchentisch ihrer Großmutter und starrte auf den Bildschirm ihres Laptops vor sich. Die Zahlen – genau genommen waren es ausschließlich Nullen –, die sie aufgerufen hatte, verschwammen langsam vor ihren Augen. Aber sie verschwanden nicht. Sie hatte nichts verkauft. Absolut nichts. Kein einziges Schmuckstück. Es war keine Bestellung für eine ihrer Ketten oder wenigstens einen Ring oder ein paar Ohrringe bei ihrem Label Perlenglück eingegangen. Nicht einmal eine Anmeldung zu einem der Schmuckkurse, die sie vertretungsweise übernahm, wann immer es möglich war, blinkte ihr entgegen. Was nicht ungewöhnlich war. Während der Sommermonate waren die Leute lieber auf Reisen. Selbst die Kneipe, in der sie jobbte, hatte zurzeit mehr Kellnerinnen als Gäste. Ihrem Chef war die Erleichterung anzusehen gewesen, als sie ihn gebeten hatte, ihr ein paar Wochen freizugeben. Clara fuhr sich durch die Haare, als würde das helfen, ihre Locken zu bändigen. Sie zog den Haargummi von ihrem Handgelenk und band die wilde Mähne zu einem Knoten zurück. Dann griff sie nach ihrer Kaffeetasse. Sie war erschöpft. Todmüde. Die halbe Nacht hatte sie im Atelier unter dem Dach gesessen. Hatte sich an Skizzen versucht, Rohmaterialien in die Hand genommen, immer in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Geschaffen hatte sie nichts. Nicht eine einzige Idee hatte ihre Gedanken gestreift. Ihre Kreativität schien noch immer wie weggeblasen. Sie sparte es sich, ihren Kontostand aufzurufen. Ihr war auch so klar, dass sie tief in den roten Zahlen steckte.

Clara setzte ihre Kaffeetasse wieder ab – und fuhr erschrocken zurück, als Divas schwarzer Kopf über dem Monitor des Laptops auftauchte und sie stumm anstarrte. »Was wollen Eure Hoheit mir mitteilen?«, murmelte Clara. »Soll das Schälchen gefüllt werden? Na komm schon.« Sie stand auf, um die Katze zu füttern, damit sie sich nicht noch einmal den Zorn dieser Kreatur des Teufels zuzog. Diva sprang über den aufgeklappten Bildschirm des Laptops auf die Tastatur. Was Clara ein zweites Mal zusammenzucken ließ. »Hey, ich habe nur den einen PC. Der sollte noch eine Weile halten«, erklärte sie der Katze. Diva schien das allerdings nicht besonders zu interessieren. Sie sprang vom Tisch, stolzierte zu ihrem Napf und dankte der Hand, die sie fütterte, mit einem weiteren tiefen Kratzer. Clara stützte ihre Hände auf den Küchentresen und ließ den Kopf hängen. Eine halbe Minute Selbstmitleid pro Tag war erlaubt. Eine Regel, die sie selbst aufgestellt hatte und eisern befolgte. Als sie sich wieder gefangen hatte, schüttete sie ihren lauwarmen Kaffee in die Spüle und stellte die Tasse ein zweites Mal unter die Kaffeemaschine. Als ihr das starke, heiße Aroma in die Nase stieg, trat sie mit ihrem Becher an die offenstehende Tür zur Terrasse. Der Holzboden glänzte noch feucht vom morgendlichen Tau. Nichts ließ erkennen, dass sie hier erst vor ein paar Stunden einen Mann niedergeschlagen hatte. Sie war froh, ihn nicht umgebracht zu haben. Die Beule hatte er sich allerdings verdient. Wer schlich sich schon so an ein Haus an? Sie versuchte, ihr schlechtes Gewissen zur Seite zu schieben. Woher hätte sie wissen sollen, dass er der Nachbar war und nur die Katze hatte füttern wollen? Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hatte er sie mit seinen dunkelblauen Augen auf eine Art taxiert, die von vornherein klarmachte, dass ihr nachbarschaftliches Verhältnis auf sehr wackligen Beinen stand, noch bevor sie einander überhaupt vorgestellt worden waren.

Ihr Handy piepste mit einer eingehenden Nachricht. Sie zog es aus der Hosentasche und las Charlottes Frage, wie es ihnen am ersten Abend am See ergangen war. Clara würde ihr nicht jetzt, kurz vor der anstehenden Operation, beichten, dass sie den Nachbarn k.o. geschlagen hatte. Sie würde nichts davon erzählen, wie sie erfolglos versucht hatte, ein Schmuckstück zu kreieren. Und von Sophies Zickeneinlage berichtete sie besser auch nicht. Als Antwort schoss sie ein Foto von der Katze und schickte es ihrer Großmutter. Sie nahm die kleine Gießkanne neben der Verandatür und goss die Tontöpfe, die, auf einer kleinen Pflanztreppe arrangiert, Charlottes Kräutergarten ausmachten, während sie ein Daumen-Hoch-Emoji zu ihrer Nachricht hinzufügte.

Hatten eine ruhige erste Nacht, tippte sie. Diva geht es gut. Wir wünschen dir viel Glück für die OP. Sophie und Clara.

Nachdem das Sendenzeichen aufleuchtete, schob Clara das Handy zurück in ihre Tasche und hielt ihr Gesicht in die Sonne, die gerade erst ihren Weg über den Bergrücken gefunden hatte. Sie genoss den leichten Wind, der den Geruch des Sees an ihr vorbei in die Küche trug und der die Vorhänge bauschte, die sie zur Seite geschoben hatte. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Der Tag versprach wunderschön und warm zu werden. Perfekt für Shorts und ein T-Shirt. Nichts für das schwarze Grufti-Outfit ihrer Schwester, die im Schneidersitz auf dem Steg hockte und in ihr Skizzenbuch zeichnete. Sophie musste schon seit einer Ewigkeit wach sein. Clara hatte sie nicht gehört. Dabei hatte sie nicht besonders gut und auch nicht besonders tief geschlafen. Nachdem sie im Atelier aufgegeben hatte, hatte sie in ihrem Bett an die dunkle Decke gestarrt und war irgendwann in unruhige, wirre Träume gestürzt, aus denen sie immer wieder erwacht war.

Clara rieb über die Stelle ihres Brustkorbes, an der sie den dumpfen Schmerz spürte, wann immer sie an die Zeit zurückdachte, in der Sophie und sie sich unglaublich nahegestanden hatten. In der ihre kleine Schwester ihr jede einzelne Zeichnung zeigte, die den Weg in ihr Skizzenbuch gefunden hatte. In der sie Stuttgarts Geschäfte für Malbedarf geplündert hatten. Sie waren vorbei und würden auch nicht zurückkehren. Mit einem Seufzer wandte Clara den Blick von ihrer Schwester ab und schaute auf den See hinaus. Um Sophie musste sie sich keine Sorgen machen, solange sie hier waren. In Bodman konnte sie weiß Gott nichts anstellen und sich in Schwierigkeiten bringen. Auch wenn sie noch immer nicht wusste, was ihre Schwester angestellt hatte, um vom Internat zu fliegen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet war es gar nicht schlecht, den Sommer hier zu verbringen.

Ein einsamer Stand-up-Paddler glitt weiter draußen über den glatt vor ihr liegenden See. In zügigen, athletischen Bewegungen tauchte er sein Paddel ins Wasser. Ein Bild wie aus einem Ferienkatalog, fand sie. Sie hatte diese Sportart schon längst einmal ausprobieren wollen. Vielleicht nahm sie sich die Zeit dafür, solange sie am Bodensee waren. Aber im Moment hieß es erst einmal, Zeit totzuschlagen. Charlotte wurde im Moment für ihre OP vorbereitet. Bis sie Neuigkeiten aus dem Krankenhaus bekamen, würden noch Stunden vergehen. Clara kehrte an den Esstisch zurück und zog ihren Laptop zu sich heran. Träumen brachte ihr – und vor allem ihrem Konto – überhaupt nichts. Was sie brauchte, war ein Job für die Wochen, die sie hier verbringen würde, um sich um ihre Großmutter zu kümmern. Entschlossen öffnete sie Google und tippte die ersten Begriffe in die Suchmaschine.

Eine Stunde später schob sie ihren Laptop entnervt zur Seite und stand auf. Im Internet ließ sich kein einziger Job in der Gegend finden. Und solange Charlotte im OP lag, konnte sie sich sowieso auf nichts konzentrieren. Die nervöse Energie, die durch ihren Körper summte, brauchte ein Ventil. In Stuttgart war sie die meiste Zeit mit dem Fahrrad unterwegs, was bei den steilen Straßen als perfektes Training durchging. Zeit totzuschlagen war nicht gerade ihre Spezialität. Sie blickte zum Steg hinaus. Sophie hatte ihre Position nicht um einen Millimeter verändert, seit sie das letzte Mal nach ihr gesehen hatte. Claras Blick wanderte weiter in Richtung des Dorfes und den Hang, an den es sich schmiegte. Über den Häusern thronte die Burgruine Altbodman. Als Jugendliche hatte sie ziemlich viel Zeit in den alten Gemäuern verbracht. Die Atmosphäre auf dem Berg hatte ihr immer gutgetan. Wahrscheinlich tat sie das noch immer. Erleichtert, endlich eine Beschäftigung gefunden zu haben, die sie nicht frustrieren würde, tauschte sie ihren Schlafanzug gegen ein T-Shirt, Shorts und Turnschuhe. Sie rief Sophie zu, dass sie zur Ruine hinaufgehen würde, und erntete nur ein desinteressiertes Schulterzucken. Clara versuchte, den Stich, den Sophies Reaktion ihr versetzte, zu ignorieren und lief los. Vorbei an der Kirche, durch den Schlosspark, nahm sie schließlich den steilen Aufstieg in Angriff.

❊ ❊ ❊

Sophie überhörte geflissentlich, dass Clara auf die Burg klettern wollte. Eine lahme Idee. Es interessierte sie genausowenig wie alles andere, was Clara vorhatte. Sie hasste ihre Schwestern. Lena dafür, dass sie sie einfach in ein beschissenes Internat mit einem dummen Nazi als Schulleiter gesperrt hatte. Und natürlich dafür, sich einfach auf die Malediven zu verpissen, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Clara – einfach dafür, wie sie war. Wie sie sie im Stich gelassen hatte. Bei Lena wusste wenigstens jeder, dass sie nur an sich und ihre dämliche Karriere dachte. Aber Clara hatte immer so getan, als wäre Sophie der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Tja, war ja wohl nicht so.

Sophies Kohlestift glitt über das Papier, ließ die Konturen des gegenüberliegenden Seeufers in ihrem Skizzenbuch entstehen. Sie hatte coole Pläne für den Sommer gehabt. Die hauptsächlich darin bestanden hätten, Zeit ohne ihre nervigen Verwandten zu verbringen. Doch anstatt mit i