Herz und Tal - Jana Lukas - E-Book
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Herz und Tal E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Wenn dein Herz Kopf steht ist alles möglich ...

Emilia Jonasson braucht einen Neuanfang. Einen, der sie so weit von Bremen wegbringt, wie möglich. Doch ihr neuer Lebensabschnitt im wunderschönen Chiemgau beginnt mit einer mittleren Katastrophe: Ihre zukünftige Wohnung steht unter Wasser und sie muss vorübergehend in den Kastanienhof ziehen. Dort lernt sie nicht nur die sympathische Wirtin Theresa Leitner kennen, sondern auch deren faszinierenden Zwillingsbruder Max. Emilias Herz stolpert, wenn Max sie ansieht, ihre Finger kribbeln, wenn sie sich berühren. Als ihr jedoch bewusst wird, dass Max so seine Geheimnisse hat, beschließt sie, auf Abstand zu gehen. Nicht noch einmal wird sie sich das Herz von einem Mann brechen lassen. Doch für manche Dinge lohnt es sich vielleicht, über seinen Schatten zu springen ...

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Seitenzahl: 424

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DAS BUCH

Emilia Jonasson braucht einen Neuanfang. Einen, der sie so weit von Bremen wegbringt, wie nur möglich. Doch ihr neuer Lebensabschnitt im wunderschönen Chiemgau beginnt mit einer mittleren Katastrophe: Ihre zukünftige Wohnung steht unter Wasser, und sie muss vorübergehend in den Kastanienhof ziehen. Dort lernt sie nicht nur die sympathische Wirtin Theresa Leitner kennen, sondern auch deren faszinierenden Zwillingsbruder Max. Emilias Herz stolpert, wenn Max sie ansieht, ihre Finger kribbeln, wenn sie sich berühren. Als ihr jedoch bewusst wird, dass Max so seine Geheimnisse hat, beschließt sie auf Abstand zu gehen. Nicht noch einmal wird sie sich das Herz von einem Mann brechen lassen. Doch für manche Dinge lohnt es sich vielleicht, über seinen Schatten zu springen …

DIE AUTORIN

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber in ihren Romanen ist zumindest ein Happy End garantiert. Immer! Herz und Tal ist ihr zweiter Roman bei Heyne.

LIEFERBARE TITEL

Landliebe

JANA LUKAS

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 by Jana Lukas Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Friederike Arnold Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung, München unter Verwendung von Gettyimages/Silke Zander; Shutterstock/Edilus

meiner Seelenschwester

1

»Notrufzentrale.«

»Hallo? Hören Sie? Ich brauche die Feuerwehr.«

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, und nennen Sie den Grund Ihres Notrufes.«

»Sendlmayr ist mein Name. Elisa Sendlmayr. Dieser Dackel über mir hat wahrscheinlich wieder einmal zu viel von seinem Grünzeugs geraucht. Ich meine, es ist mir ja egal, was er in seinem Schlafzimmer anbaut oder ob er die Pflanzen im Sommer auf den Balkon stellt. Die Sonne tut ihnen gut, behauptet er immer. Und ich muss schon sagen, so rein optisch sehen die ja schon hübsch aus, aber …«

»Frau Sendlmayr, nennen Sie mir bitte den Grund Ihres Notrufes. Warum benötigen Sie die Feuerwehr?«

»Ach so, ja. Ich glaube, die Bewässerungsanlage der Hanfplantage ist kaputt. Es tropft durch meine Decke, und zwar direkt auf meinen Biedermeier-Sekretär. Er ist ein Erbstück …«

Emilia schloss die Wohnungstür ab und ging langsam die Treppe hinunter. Die dritte Stufe von oben knarrte, wie sie es an jedem Tag der vergangenen viereinhalb Jahre getan hatte. Im Sonnenlicht, das durch das schmale Oberlicht fiel, tanzten Staubkörner um sie herum, als freuten sie sich, dass Emilia endlich auszog und die Stadt verließ.

Ein letztes Mal ließ sie ihre Finger über das alte Holzgeländer gleiten, das die jahrzehntelangen Berührungen unzähliger Hände glatt geschliffen hatten. Im Erdgeschoss atmete sie tief ein und zog die Haustür auf. Der Schritt über die Schwelle symbolisierte das Ende ihres bisherigen Lebens – und den Neuanfang, den sie so dringend brauchte.

Der sentimentale Moment wurde durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. Emilia schüttelte über sich selbst den Kopf, trat in den kühlen, norddeutschen Sommermorgen und fischte das Telefon aus der Handtasche. »Jonasson.«

»Miriam Leitner hier. Gut, dass ich Sie erreiche, Frau Jonasson.«

Emilia runzelte die Stirn. Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten. Wie von selbst fuhr ihr Zeigefinger über die Stelle, an der bis gestern ihr Namensschild geklebt hatte.

Dann riss sie sich zusammen. Wenn die künftige Vermieterin am Tag des Umzuges anrief, verhieß das nichts Gutes. »Gibt es ein Problem mit der Wohnung?«

Die Frau am anderen Ende seufzte. »Das kann man wohl sagen. Ihr Nachbar hat sich als Gärtner betätigt und sich an ein paar illegalen Substanzen versucht. Um es kurz zu machen, die Bewässerungsanlage seiner Hanfplantage hat das halbe Haus unter Wasser gesetzt.«

»Meine Wohnung steht unter Wasser?« Emilia warf einen Blick auf den Umzugswagen. Die Männer mit den blauen Latzhosen luden gerade die letzten drei Kartons auf die Ladefläche. Sie hatte bewusst darauf verzichtet, für den Auszug um Hilfe zu bitten. Ihre Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, war auf Unverständnis gestoßen und galt in ihrem Familien- und Freundeskreis gemeinhin als Kurzschlussreaktion, die sie in einer Woche zutiefst bereuen würde.

»Unter Wasser stehen ist gut«, holte Frau Leitner sie aus ihren Gedanken. »Der Bauinspektor war da. Das Haus ist im Moment nicht bewohnbar. Es tut mir wirklich leid.«

»Aber …«

Miriam Leitner schien sie nicht zu hören. »Dieser Vollidiot. Alle haben mich gewarnt. Habe ich auf irgendjemanden gehört? Natürlich nicht. Ich wollte diesem armen Philosophiestudenten eine Chance geben, auch wenn er schon im dreizehnten Semester war. Und er hat ja immer pünktlich seine Miete gezahlt. Jetzt weiß ich, wie er an das Geld dafür gekommen ist. Hätte er nicht Peyote-Kakteen anbauen können? Die machen auch high – und brauchen kein Wasser.«

»Frau Leitner!«, unterbrach Emilia den Redeschwall.

»Oh, ja. Entschuldigung. Ich schweife ab. Wie gesagt, die Wohnung steht unter Wasser und wird für etwa zwei Monate nicht bewohnbar sein. Das Haus muss komplett saniert werden.«

Emilia rieb mit dem Zeigefinger über die Stelle zwischen ihren Brauen, die bedenklich zu pochen begann. »Was soll ich jetzt tun? Der Umzugswagen ist bereit zur Abfahrt. Wie soll ich denn bis heute Abend eine neue Bleibe finden?« Sie könnte sich zwar in einem Hotel einmieten, aber wo sollte sie ihre Möbel lassen?

»Das ist überhaupt kein Problem. Ich habe eine Unterkunft für Sie organisiert. Auf dem Kastanienhof. Das ist eine wirklich hübsche Pension. Nicht direkt in der Stadt, aber wirklich sehr schön gelegen. Und Ihre Möbel können Sie einlagern. Packen Sie nur ein, was Sie in den nächsten Wochen dringend brauchen. Den Rest stellen wir unter. Auf unsere Rechnung natürlich. Ich schicke Ihnen eine SMS mit der Adresse, und wir unterhalten uns, wenn Sie hier sind. Eine gute Fahrt wünsche ich Ihnen.« Sie legte auf, bevor Emilia noch etwas erwidern konnte.

Ihr Herz klopfte hektisch. Sie ließ das Handy sinken, und plötzlich verstand sie die Einwände ihrer Freunde. Was war in sie gefahren? Einfach so von Bremen nach Rosenheim zu ziehen war eine verdammte Schnapsidee. Sie hatte die Wohnung, die jetzt ein Schwimmbad war, noch nicht einmal in natura gesehen. Hatte sich nur auf Internetfotos verlassen, die ein modernes, helles Apartment versprachen. Das hatte ja nicht gut gehen können.

Die Hydraulik des Möbelwagens summte. Langsam hob sich die Ladeklappe.

»Stopp!«, rief sie und wedelte mit dem Arm. Wenigstens nach außen wollte sie den Eindruck vermitteln, dass sie wusste, was sie tat.

Die Möbelpacker drehten sich irritiert zu ihr um.

»Es tut mir leid, meine Herren, aber es gibt eine kleine Auftragsänderung.« Sie drückte die Schultern durch, zog ihren Notizblock aus der Handtasche und schrieb die Adresse des Möbellagers auf, die Frau Leitner ihr gerade geschickt hatte. Mit zitternden Fingern riss sie das Blatt ab und reichte es dem Fahrer. »Die Ladung muss dorthin geliefert werden. Und vorher müssten Sie bitte meine Kleidung und meine Schuhe wieder ausladen.«

Die Männer von der Umzugsfirma standen vor ihr und starrten sie an. Eine blaue Wand blanker Fassungslosigkeit. »Ihre Klamotten?«, fragte der Fahrer. »Und Ihre Schuhe?«

»Ja. Wenn es Ihnen keine Umstände macht.« Ihre Stimme klang so elend, wie sie sich fühlte.

»Macht es überhaupt nicht«, knurrte er. »Wir haben sie ja nur als Erstes eingeladen.«

Emilias Augenlid begann zu zucken. Was für ein fantastischer Start in ein Leben, das eigentlich so viel einfacher und unproblematischer werden sollte.

Vierzehn Stunden, tausend Kilometer und sechs Staus später lenkte Emilia ihren Mini auf den gekiesten Hof vor einem alten, typisch bayrischen Bauernhaus, das einem Schild an der Abzweigung zufolge Kastanienhof hieß. Nicht direkt in der Stadt, wie Frau Leitner es beschrieben hatte, war eine maßlose Untertreibung. Sie hatte den Chiemsee umrundet, war in ein Bergtal gefahren und – als ihr Navi plötzlich aussetzte – sogar kurzzeitig in Österreich gelandet. In der Nähe von Aschau hatte sie schließlich das Örtchen Lindenmoos gefunden. Und nach einigem Herumirren auch die Pension und damit ihr Zuhause für die nächsten Wochen.

Emilia beugte den Kopf über das Lenkrad und warf einen skeptischen Blick durch die Windschutzscheibe. Das Haus sah genauso aus, wie sie sich eine bayrische Pension vorstellte. Weiße Wände und dunkles Holz. Vor den Sprossenfenstern im Erdgeschoss und der verwitterten Loggia im ersten Stock hingen Blumenkästen, die vor knallroten Geranien nur so überquollen. Links neben der Tür stand eine Bank, die aus groben Stämmen gezimmert war. Nicht einmal die Fensterläden mit ihren ausgesägten Herzen in der Mitte wagten es, den Klischees zu widersprechen. Die Unterkunft hätte in jeden Heimatfilm gepasst.

Gegenüber dem Haus fiel das Gelände zunächst sanft und dann steil ab. Über die Wiese hinweg öffnete sich das Tal und gab den Blick auf den Chiemsee frei. Zugegeben, diese Aussicht ließ Emilias Atem stocken. Eingeschlossen von den Bergketten der Alpen lag der See vor ihr und funkelte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Eine angemessene Entschädigung für die nicht enden wollende Fahrt und das Herumirren im Chiemgau.

Emilia stieg aus und atmete tief durch. Die Luft war klar und kühl. Anders als an der Küste, aber angenehm. Die Sonne, ein Meer von Rosa, Orange und Flieder, schickte ihre letzten wärmenden Strahlen über die Bergkuppen. Magisch von dem Schauspiel angezogen, trat sie auf die Wiese. Vor ihr stand eine kleine Sitzecke, bestehend aus zwei ebenfalls roh gezimmerten Bänken und einem Tisch. Sie legte ihre Hände auf das warme Holz einer Banklehne, die tröstlich an das Treppengeländer ihres Mietshauses in Bremen erinnerte, und genoss den stillen Moment. Wenn sie die Entfernung zur nächsten Stadt ausblendete, befand sie sich an einem wirklich fantastischen Fleckchen Erde.

Die Sonne war schon fast untergegangen, als sie hörte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete. Fußtritte knirschten auf dem Kies, und eine Frau stellte sich neben sie. »Wunderschön, nicht wahr?«, murmelte sie.

Emilia wandte sich zu ihr um. Sie war etwa in ihrem Alter, trug eine Flechtfrisur, ein bezauberndes Dirndl und Gummistiefel mit einem angesagten Blümchenmuster. Ob das Dirndl modern war, vermochte Emilia nicht zu sagen, aber von Regenbekleidung hatte sie als Nordlicht mehr Ahnung, als ihr manchmal lieb war.

»Sie müssen Dr. Jonasson sein. Meine Tante hat Sie bereits angekündigt. Herzlich willkommen auf dem Kastanienhof. Ich bin Theresa Leitner und hoffe, wir können es Ihnen hier so angenehm wie möglich machen, bis Sie Ihre Wohnung beziehen.«

Emilia schüttelte die Hand, die die Frau ihr reichte. Frau Leitner war ihr auf Anhieb sympathisch, und die Geste war warm und beruhigend. Sie schaffte es fast, den Anflug von Panik zu vertreiben, der sie hartnäckig von Bremen bis hierher begleitet hatte. Aber eben nur fast.

»Möchten Sie noch einen Moment draußen bleiben?«

Der letzte Zipfel Sonne verschwand und ließ sie im Dämmerlicht zurück. Als hätten sie nur darauf gewartet, schalteten sich mit einem leisen Klicken nostalgisch anmutende Kutscherlampen ein und tauchten den Hof in warmes, gelbes Licht. Pure Romantik. Etwas, was sie momentan überhaupt nicht gebrauchen konnte. »Nein, ich komme mit hinein.«

»Wunderbar.« Gut gelaunt klatschte ihr Gegenüber in die Hände. »Dann zeige ich Ihnen jetzt das Haus und Ihr Zimmer.«

Emilia ließ sich in den kühlen Eingangsbereich führen, vorbei am Empfangstresen und dem Frühstücksraum, wie ihr Theresa Leitner im Vorbeigehen erklärte. Sie folgte der Wirtin in den ersten Stock und in das für sie vorgesehene Zimmer.

»Noch einmal herzlich willkommen.« Theresa machte einen Schritt zur Seite und ließ sie vorgehen.

Emilia trat zum zweiten Mal an diesem Tag über eine Türschwelle. »Wow«, entfuhr es ihr. Angesichts des Äußeren des Hauses hatte sie etwas anderes erwartet. Ein altmodisches, spießiges Zimmer mit braunem Teppich und dunklen, massiven Schränken. Doch sie erblickte glänzende, goldgelbe Dielenböden, rustikale, helle Möbel und eine mit Holz getäfelte Wand am Kopfende des Bettes, die so ganz anders war, als sie sich eine Holzvertäfelung bisher vorgestellt hatte. Die Bretter waren quer verlegt, wurmstichig und alt. Emilia konnte nicht anders, als die Hand auszustrecken und über das warme Material zu fahren.

»Fantastisch, nicht wahr?«, fragte Theresa hinter ihr. Emilia hörte den Stolz in ihrer Stimme. »Unser Schreiner hat ein ziemliches Talent dafür, wiederverwertbare Materialien aus alten Häusern zu retten. Die Wand hier«, sie strich ebenfalls mit den Fingerspitzen über die Bretter, »stammt aus einer zweihundert Jahre alten Scheune, die abgerissen wurde. Hier drüben finden Sie das Bad«, sagte Theresa fast feierlich und öffnete eine weitere Tür.

Emilia drehte sich zu ihr um und sagte zum zweiten Mal »Wow«. Der Kastanienhof schien ihr Sprachzentrum gelöscht zu haben. Sie wollte sich von dieser Bleibe wirklich nicht beeindrucken lassen, aber das Bad setzte dem außergewöhnlichen Design die Krone auf. Der Spiegel über dem Waschtisch war in einen alten Fensterrahmen eingepasst worden, und die Dusche … »Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Emilia und starrte durch die Glasabtrennung auf die Wand, die aus einem riesigen Foto zu bestehen schien. Sie hatte das Gefühl, auf einer tief verschneiten Bergspitze zu stehen und auf einen weiter entfernten Bergkamm zu blicken, hinter dem gerade die Sonne versank. Alle Farbtöne zwischen Gelb und Orange verteilten sich über den dunkelblauen Himmel und bildeten einen weichen Kontrast zu den silberblauen Schneeflächen.

»Das ist der totale Wahnsinn, oder?« Theresa strahlte. »Auch eine Idee unseres Schreiners. Das Foto haben wir selbst gemacht. Es ist am Gipfel der Kampenwand aufgenommen. Mit Blick auf die Berchtesgadener Alpen. Jedes Zimmer hat ein eigenes Bergmotiv. Blühende Bäume im Frühjahr. Bunte Bergwiesen im Sommer. Und natürlich Herbstbilder. Wir haben die Motive auf spezielle Folien ziehen lassen und in die Duschkabinen geklebt.«

»Wirklich außergewöhnlich«, musste Emilia zugeben.

Die fröhliche Pensionswirtin wandte sich zu ihr um und ergriff ihre Hand. »Mir tut so leid, was mit Ihrer Wohnung passiert ist. Ein Umzug ist Stress genug. Ich hoffe, dass Sie sich bei uns wohlfühlen und der Wasserschaden bald behoben ist.«

»Danke.« Mehr fiel Emilia nicht ein. Sie spürte, wie sich die Panik abermals wie eine Schlinge um ihren Hals legte und sich langsam zusammenzog.

Theresa drückte ihre Hand. »Frühstück gibt es von halb sieben bis zehn Uhr. Sie werden unsere selbst gemachten Aufstriche und Marmeladen lieben. Falls Sie Unverträglichkeiten haben oder ein veganes Frühstück wünschen, lassen Sie es mich wissen.«

»Nein. Ein ganz normales Frühstück ist wunderbar.«

»Perfekt. Dann sehe ich Sie morgen früh. Packen Sie in Ruhe aus, gewöhnen Sie sich ein. Wenn ich etwas für Sie tun kann, drücken Sie einfach die Klingel am Empfang.«

»Danke«, sagte Emilia noch einmal.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Abend.« Theresa ließ sie allein. Emilia schloss die Zimmertür und atmete tief durch. Die Pensionswirtin war eine Art gut gelaunter Orkan, der sie völlig überrumpelt hatte. So nett sie war, Emilia freute sich über die nun eingetretene Stille. Sie öffnete die Balkontür, durch die bereits fahles Mondlicht fiel, und trat auf die Loggia hinaus. Vorsichtig berührte sie die Blüten der Geranien und schluckte. Die Leere in ihrem Inneren hatte sie wieder einmal fest im Griff. Sie konnte die Tragweite ihrer Flucht noch gar nicht wirklich erfassen. Was hatte sie nur zu dem irren Schritt bewogen, ihr Leben aufzugeben und ans andere Ende Deutschlands zu ziehen? Wann hatte sie sich zum letzten Mal so einsam und allein gefühlt? Sie wusste es genau, aber sie wollte nicht daran zurückdenken.

Das leise Brummen und ein paar Scheinwerfer, die sich den Berg hinauftasteten, rissen sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Ein Geländewagen kam knirschend auf dem Kies zum Stehen. Die Wagentür wurde im selben Moment geöffnet wie die Tür der Pension. Emilia blieb gerade noch Zeit, den Mann, der ausstieg, kurz in Augenschein zu nehmen, bevor Theresa mit einem »Da bist du ja endlich!« auf ihn zueilte und in seine Arme sprang. Die Beine um seine Hüften, die Hände um seinen Hals geschlungen, klammerte sie sich fest an ihn. Kräftige Arme schlossen sich um sie. Er war groß und muskulös. Seine kurzen, blonden Haare schimmerten im Mondlicht nahezu silbern. Von seinem Gesicht konnte Emilia nicht viel erkennen, aber sie spürte die Liebe, die sich darin spiegeln musste. Kein Wunder bei einer Frau wie Theresa Leitner. Es versetzte ihr einen Stich, den sie neuerdings jedes Mal fühlte, wenn sie ein glückliches Pärchen zusammen sah. Theresa und ihr Mann waren vermutlich ein perfektes Paar, und Emilia war noch nie missgünstig oder neidisch gewesen. Aber in letzter Zeit ertrug sie diese offenen Liebesbekundungen nicht besonders gut. Für einen Augenblick hatte der Blick auf den See und ihr traumhaftes, außergewöhnliches Zimmer sie vergessen lassen, warum sie hier gestrandet war. Nicht wegen der Landschaft. Und nicht, um Ferien zu machen.

Mit einem leisen Seufzen wandte sie sich ab und ging wieder hinein. Sie blätterte durch die Broschüren, die auf dem Tischchen neben der Couch lagen. Fahrradtouren, Wanderungen. Vielleicht würde sie einen Segeltörn auf dem Chiemsee buchen. Solange sie sich beschäftigte, musste sie nicht so viel nachdenken.

Max lenkte seinen neuen Jeep über die Schotterstraße. Er war sie in seinem Leben so oft entlanggefahren, dass er jede Kurve mit verbundenen Augen nehmen könnte. Zugegeben, in den vergangenen zehn Jahren hatte er nicht häufig Gelegenheit gehabt, nach Hause auf den Kastanienhof zu kommen. Aber das würde sich jetzt ändern. Endlich war er zurück. Bereit, den nächsten Abschnitt seines Lebens in Angriff zu nehmen. Bei dem Gedanken senkte sich Ruhe über ihn. Ein glückliches Grinsen stahl sich in seine Mundwinkel.

Er überwand die letzte Steigung und ließ den Wagen auf dem Hof neben einem Mini mit Bremer Kennzeichen ausrollen.

Kaum war er ausgestiegen, wurde die Tür der Pension aufgerissen, ein bunter Farbwirbel schoss aus dem Haus und warf sich mit einem Begeisterungsschrei in seine Arme. Theresa. Vertrauensvoll wie immer, schlang sie die Arme und Beine um ihn. »Da bist du ja endlich.«

Max legte seine Arme um das Energiebündel und presste es fest an sich. »Es ist ja nicht so, als ob ich zehn Jahre zur See gefahren wäre.«

Das weibliche Pendant seines Wesens legte den Kopf in den Nacken und grinste ihn an. »Es fühlt sich so an.«

»Jedenfalls habe ich in den letzten zehn Jahren nicht genug Muskeln aufgebaut. Runter von mir. Du bist nicht mehr so leicht wie mit zwölf.«

»Hey.« Theresa sprang auf den Boden, legte den Arm um seine Taille und den Kopf an seine Schulter. Automatisch zog Max sie enger an sich und legte sein Kinn auf ihren Scheitel. Ohne etwas zu sagen, blickten sie ins Tal hinunter, betrachteten den See, der im Mondlicht wie flüssiges Blei schimmerte. Sie mussten nicht sprechen. Ihre Herzen schlugen im Gleichklang. Ihre Seelen atmeten auf, so dicht nebeneinander. Stumm ließ Theresa ihn wissen, dass er ja nicht wieder auf die Idee kommen sollte, sich zu verdrücken. Und er beruhigte sie und versprach zu bleiben. Er war zurückgekehrt und von jetzt an für sie da. Für ihren Großvater. Und für den Hof.

»Das ist gut«, murmelte Theresa. Sie löste sich aus der Umarmung, nahm seine Hand und zog ihn mit sich. »Komm, wir suchen Hannes und Pops.«

»Ich muss meine Sachen aus dem Auto räumen«, protestierte er.

»Ach was, das kannst du später noch. Jetzt stoßen wir mit der Familie auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes an.«

Theresa schleppte ihn an der Pension vorbei über den kleinen Hof zur Scheune. Auf dem Hang hinter dem Gebäude erhob sich die große alte Kastanie, der der Hof seinen Namen verdankte. Seit die Leitners keine Landwirtschaft mehr betrieben, hatte die Scheune leer gestanden. Theresa und er hatten vor ein paar Jahren beschlossen, sie zu ihrem Wohnhaus umzubauen. Jetzt strahlte durch die großen Bogenfenster, die früher einmal Scheunentore gewesen waren, einladendes Licht in die Nacht. Max sah seinen Großvater Joseph in der Küche hantieren, bevor ein leuchtender Farbklecks in der Dämmerung seinen Blick anzog.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein.« Max’ Schritte verlangsamten sich, und er blieb vor dem grellorangen Jeep mit dem stilisierten Kastanienblatt auf der Fahrertür stehen. »Das ist nicht dein Ernst.«

Theresa strahlte ihn an. »Tadaa, mein neuer Wagen. Moser hat mir davon abgeraten, meinen Corsa auch nur einen Tag länger zu fahren. Wir mussten uns trennen, oder seine Bremsen hätten mich umgebracht. Dann habe ich dieses Schätzchen gesehen und mich verliebt.«

»Hmm. Nach fünfunddreißig Jahren sollte man sich langsam daran gewöhnt haben, aber manchmal macht es mir trotzdem Angst.« Max wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Ist dir mein neues Auto aufgefallen?«

Theresa starrte ihn einen Moment an, dann zuckten ihre Mundwinkel. »Ehrlich?« Sie tänzelte ein paar Schritte zurück, warf einen Blick um die Hausecke – und brach in schallendes Gelächter aus, als sie das schwarze Gegenstück zu ihrem Jeep erblickte. »Ich habe vorhin überhaupt nicht darauf geachtet, vor lauter Freude, dass du wieder hier bist. Aber hey, meiner hat eindeutig die coolere Farbe.«

»Meiner hat garantiert mehr PS.« Max nahm Theresa in den Schwitzkasten und steuerte auf die Scheune zu. Sein Großvater hatte seine Wohnung noch immer im Bauernhaus, das die Pension beherbergte. Wenn er sich in ihrer Küche herumtrieb, wartete er wahrscheinlich auf seine Ankunft. »Wenn Pops schon bei uns rumlungert, fehlt nur noch einer«, murmelte er.

Er blickte zu dem Häuschen neben der Scheune hinüber, der früheren Käserei. Inzwischen befand sich dort die Schreinerwerkstatt seines besten Freundes. Fenster und Türen standen offen. Der uralte rote Transporter mit der Aufschrift »Holzwunder«, den sie schon vor Jahren »rote Zora« getauft hatten, war neben einem Stapel Bretter geparkt.

Alles war so, wie es sein sollte. Max war zu Hause. Bei seiner Familie, seinen Freunden. Bereit für das, was die Zukunft bringen würde. Er zwinkerte Theresa zu und legte die Hände zu einem Trichter an den Mund. »Johannes Gruber, hier spricht die Polizei«, rief er über den Hof. »Kommen Sie ganz langsam aus dem Haus, und halten Sie mit beiden Händen ein Weißbier über Ihren Kopf.«

Johannes war noch nie besonders gesetzestreu gewesen, zumindest wenn die Befehle von Max kamen. Ohne Getränk trat er aus der Werkstatt. Die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, lehnte er sich mit der Schulter an den Türrahmen. Hinter ihm tauchte ihr Familienhund Einstein auf. Er gähnte und trottete an Johannes vorbei. Offenbar hatte er wieder einmal ein Nickerchen in einem Haufen Sägespäne gehalten.

Johannes beachtete das Tier gar nicht. Seine Aufmerksamkeit galt Max und Theresa. »Gnade uns Gott«, sagte er und grinste breit. »Die Leitner-Zwillinge sind wieder vereint.«

2

»Polizeinotruf.«

»Hier spricht Magda Augustin. Sie werden es nicht glauben, aber auf der Innstraße steht ein Elefant.«

»Frau Augustin! Ich habe Ihnen schon tausend Mal gesagt, dass der Polizeinotruf nur für Notfälle ist und Sie nicht aus Langeweile bei uns anrufen sollen!«

»Langeweile? Sie sind mir einer. Ich langweile mich überhaupt nicht. Ich bin mit der Else und Lydia in der Bäckerei in der Innstraße. Die haben da seit Neuestem diese Sitzecke, wo man frühstücken kann. Ich sage Ihnen, die haben dort die besten Plunderstückchen der Stadt.«

»Frau Augustin!«

»Ach so, ja, der Elefant. Deswegen rufe ich Sie ja an. Mein Enkel hat mir dieses Handy geschenkt. Priepäd oder so ähnlich. Für Notfälle, hat er gesagt. Ich bin wirklich froh, dass ich es dabeihabe. Wegen dem Elefanten.«

»Dem Elefanten.«

»Aber ja. Stellen Sie sich vor, ich habe tatsächlich meine Brille vergessen, als ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin. Das passiert mir sonst nie. Zum Glück hat mir Else ihre geliehen. Wir haben ja fast die gleiche Stärke. Und ich sage Ihnen: Da steht ein Elefant!«

Der feuchte Atem, der Max ins Gesicht schlug, stammte nicht von einer Frau. Falls doch, hatte er sich für diese Nacht eindeutig die falsche ausgesucht. Das Hecheln machte es nicht besser. Mühsam öffnete er die Augen und erblickte die Schnauze von Einstein, höchstens drei Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.

»Verdammt, Steini. Verschwinde.« Er schob den Hundekopf ein Stück zur Seite, um nach seinem Handy zu greifen und nach der Uhrzeit zu sehen. Vier Minuten vor dem Wecker. »Du hast mir vier Minuten geraubt, Köter«, brummte er und kraulte Einstein zwischen den Ohren. Der Retriever bedankte sich mit einem Hundekuss auf sein Handgelenk, dann marschierte er zur Tür, sprang nach oben und drückte mit der Pfote die Klinke hinunter. Einen Augenblick später war er verschwunden.

»Gern geschehen.« Max ließ sich in die Kissen zurückfallen. Es hatte wenig Sinn, die verbleibenden dreieinhalb Minuten noch liegen zu bleiben. Also schaltete er den Wecker aus, bevor der seine Pflicht erfüllt hatte. Sein Zimmer und Bad lagen wie die offene Wohnküche, in der er seine Schwester bereits rumoren hörte, im Erdgeschoss der ehemaligen Scheune. Im oberen Stockwerk befand sich Theresas Schlafzimmer, das ihr gleichzeitig als Nähatelier diente und nur über eine Außentreppe zu erreichen war. Ein bauliches Detail, das ihm nicht wichtig war, worauf seine Schwester aber vehement bestanden hatte. Ihren letzten Rest Privatsphäre hatte sie es genannt. Damals hatte er gelacht, weil er nur an seinen freien Wochenenden auf dem Hof war und sie sich ansonsten in der Scheune vor Privatsphäre gar nicht retten konnte. Aber wie immer hatte sie vorausgedacht. Er setzte sich auf und ließ den Blick durch das spärlich eingerichtete Zimmer und über die wenigen Kartons und Reisetaschen schweifen, die er aus München mitgebracht hatte. Er hatte sein Leben in der Großstadt aufgelöst. Seine IKEA-Möbel hatte er seinem Nachmieter vermacht. Er war wieder zu Hause, und es wurde Zeit, die Kommode in der Ecke durch einen Kleiderschrank zu ergänzen. Im Moment hatte er keine Lust, die Kisten nach seinen Klamotten zu durchwühlen. Also schwang er die Beine aus dem Bett und verließ das Zimmer.

Kaum hatte er den Wohnbereich betreten, tauchte wie durch ein Wunder eine Tasse Kaffee vor seinem Gesicht auf. So sehr die Zwillingsverbindung manchmal nervte, in solch einem Augenblick war sie Gold wert.

Er blieb stehen und sah Theresa dabei zu, wie sie Muffinteig in Förmchen füllte und in den Backofen schob. Nebenbei nippte sie an ihrem Kaffee und summte den Robin-Schulz-Song aus dem Radio mit. Natürlich entging ihr seine Stimmung nicht. »Du bist aufgeregt«, stellte sie fest.

Max zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen, vermutlich. Es ist komisch, als Dienstgruppenleiter zu der Dienststelle zurückzukehren, wo man als Frischling seine ersten Schritte gemacht hat.«

Theresa sah ihn ernst an. »Du bereust es doch nicht?«

Er musste nicht einmal in sich hineinhorchen, um zu wissen, dass die Antwort Nein war. Er ging zu Theresa hinüber und küsste sie auf die Stirn. »Keine Sekunde, Schwesterchen.« Nach der Ausbildung landeten alle jungen Polizisten im Ballungsraum. Ob sie wollten oder nicht. Zehn Jahre hatte Max gebraucht, bis er aus München zur Polizeiinspektion Rosenheim zurückkonnte. Die Zeit in der Großstadt war super gewesen. Aber jetzt war er froh, wieder hier zu sein. Nein, er bereute nichts.

»Gut. Ich hoffe, dein erster Tag wird toll. Ich hatte für heute Abend die Familie eingeladen, aber das Tantchen war der Meinung, wir sollten uns im Bootshaus treffen. Gar keine so schlechte Idee. Dann können wir im Anschluss noch mit den Cousins ins Blue Nights gehen.«

»Ach wirklich?« Max konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Seine Tante Miriam spielte in fünfundneunzig Prozent aller Fälle die Bestimmerin und behandelte sie nicht selten so, als wären sie noch immer zehn Jahre alt. »Was glaubst du? Ob wir wohl Alkohol trinken dürfen?«

»Vielleicht, wenn sie nicht hinsieht.« Theresa zwinkerte ihm zu und hielt ihm die leere Teigschüssel hin.

Als Max sie ausschleckte, gesellte Einstein sich zu ihm und wies ihn mit einem leidvollen Hundeblick darauf hin, dass beste Freunde alles teilten. Max zeigte ihm die leere Schüssel. »Tut mir leid, Kumpel. Da ist nix mehr zu holen.« Er stellte sie in die Spülmaschine, weil seine Schwester es hasste, wenn benutzte Sachen herumstanden. »Ich muss mich fertig machen«, ließ er sie wissen und verzog sich ins Bad.

Eine halbe Stunde später kam Max in Uniform in die Küche. Theresa war immer ein bisschen überwältigt, wenn sich ihr Bruder in einen Gesetzeshüter verwandelte.

»Das riecht fantastisch.« Er schnupperte an den Muffins, die sie dekorativ in einem Korb gestapelt hatte.

»Finger weg«, warnte sie ihn und schob den Teller mit den zwei Gebäckstücken, die sie für ihn zur Seite gelegt hatte, über den Tisch. Er schnappte sich einen Muffin und verdrückte ihn mit drei großen Bissen. Den zweiten teilte er sich mit Einstein.

»Kannst du die Muffins mit in die Pension nehmen? Falls schon jemand Frühstück haben will, sag ihnen, ich komme gleich.«

»Mach ich.«

»Okay. Dann wünsche ich dir viel Spaß. Genieß deinen ersten Tag, und vergiss die Familie heute Abend nicht.«

»Auf keinen Fall.« Er zwinkerte ihr zu und nahm den Korb und seine Autoschlüssel von der Anrichte. »Bis später.«

Theresa sah Max nach, als er hinausging. Plötzlich hörte sie das leise Klappern einer Tür. Automatisch stellte sie eine Tasse unter den Kaffeeautomaten. Als Johannes in die Küche trat, war der Kaffee bereits mit einem Schuss Milch versehen, so wie er ihn mochte.

Ohne von der Einkaufsliste aufzusehen, die sie gerade schrieb, schob sie die Tasse über den Tresen. Sie musste den Blick nicht heben, um zu wissen, dass Johannes begierig nach dem Kaffee griff. Garantiert trug er alte Jeans, die tief auf der Hüfte saßen. Sein zerknittertes T-Shirt wies mindestens einen Farbfleck auf, und seine Haare hatten an diesem Morgen mit Sicherheit noch keinen Kamm gesehen. Sie war versucht, seine Anwesenheit zu ignorieren. Schließlich arbeitete sie gerade. Und doch sah sie zu ihm hinüber. Sie könnte als Hellseherin auftreten. Johannes war bestimmt nur mit den Fingern durch seine dunklen Locken gefahren. Sie widerstand dem Drang, eine Bürste zu holen und sich selbst darum zu kümmern, wie sie auch das sanfte Ziehen in ihrer Magengegend ausblendete. Entschlossen konzentrierte sie sich wieder auf ihre Einkaufsliste.

»Ist er schon weg?«, wollte Johannes wissen.

»Gerade eben.«

»Verdammt.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nachricht. Wahrscheinlich seine ganz persönliche Version von Toi, toi, toi. Dann warf Johannes einen Blick in den Kühlschrank, der gähnend leer war. »Hast du was zu essen?«, fragte er.

Theresa seufzte. »In der Pension sind Muffins. Geh schon mal vor. Ich komme gleich.«

Max trug die Muffins in das Frühstückszimmer der Pension. Wie immer faszinierte es ihn, wie sehr der Raum sich durch den Umbau verändert hatte. Sein Blick wanderte zu den dunklen Deckenbalken, in die Kastanienblätter geschnitzt worden waren. Die Balken waren neben dem knarzenden Dielenboden und dem Kachelofen die einzig original erhaltenen Bestandteile des hellen und luftigen Raums. Sonnenstrahlen brachen sich in den blitzsauberen Sprossenfenstern, verfingen sich in den Vorhängen, eigens genäht von seiner Schwester. Sie suchten sich ihren Weg über die glatten, hellen Oberflächen der Tische und Stühle, die Max gemeinsam mit seinem Freund gebaut hatte. Die Sturmlampen, die Theresa in einem Katalog bestellt hatte, wirkten wie ein Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert und ergaben mit den Blumen eine perfekte Tischdekoration. Er hatte keine Ahnung, wo seine Schwester diese kleinen Gläser, Vasen, Zylinder und Schüsseln herhatte. Voller Hingabe füllte sie sie mit Margeriten, Rosen und anderem Kram und verteilte sie im ganzen Haus. Er war nur froh, dass es ihm erspart blieb, sich um diese kleinen Details kümmern zu müssen. Andere Aufgaben, beispielsweise das Frühstück, waren da einfacher zu meistern.

Die Leitner-Gang, wie er seine Familie manchmal nannte, hatte eine goldene Regel, was die Versorgung ihrer Gäste anging. Jeder war abwechselnd für das Frühstück verantwortlich. Brötchen wurden morgens frisch geliefert. Wurst und Käse kaufte Theresa zweimal pro Woche in Lindenmoos, und Marmeladen kochte sie im Sommer und Herbst aus dem, was der Garten hergab. Das »i-Tüpfelchen«, wie seine Schwester immer sagte, teilten sie unter sich auf. Meistens buk Theresa irgendetwas Leckeres. Johannes war zwar nicht mit ihnen verwandt. Aber wer zu einer äußerst erschwinglichen Miete auf dem Hof wohnte und hier seine Werkstatt betrieb, sollte sich seiner Schwester zufolge auch einbringen. Und so servierte Johannes in der Regel Rührei und Speck, während Max’ Großvater ein wahrer Experte im Erwärmen von Weißwürsten war. Nachdem Max ab sofort dazugehörte, würde er sich ebenfalls etwas einfallen lassen. Vielleicht Leberkäse. Den konnte er in der Küche in der Scheune abends in den Backofen schieben und den Timer einstellen. Dann musste er ihn morgens nur noch in den Frühstücksraum bringen.

In der Pension gab es zwar noch eine alte Bauernküche, der Ofen zickte allerdings bereits seit Jahren herum. Pops war der Einzige, der sich standhaft weigerte, das Frühstück in der Scheune zuzubereiten.

Max stellte die Muffins in die Ecke auf den Frühstückstresen, drehte sich um – und prallte mit etwas Weichem zusammen. Einem weiblichen Körper, um genau zu sein. Einem, der noch besser duftete als die Muffins. »Hoppla.«

Die Frau hob den Kopf und blickte ihn an. Sie war groß. Sicher fast einen Meter achtzig und schmal, wie seine Hände feststellten, die er reflexartig an ihre Hüfte gelegt hatte. Ihr Haar war lang und schwarz, die Augen von einem faszinierenden Dunkelblau. Sie hatte einen wunderschön geschwungenen Mund, der sicher noch hübscher aussah, wenn sie ihn zu einem Lächeln verzog. Seine Hände begannen zu kribbeln, und widerstrebend löste Max sie von ihrer Taille.

»Entschuldigen Sie.« Ihre Stimme war so kühl wie der Blick, mit dem sie ihn bedachte. Dem Akzent nach war sie ein Nordlicht. Sagte man diesen Leuten nicht nach, grundsätzlich etwas distanziert zu sein?

Max zwinkerte ihr zu. »Guten Morgen. Sie sollten die Muffins probieren. Sie sind die besten im ganzen Tal.«

Ohne auf seinen Kommentar einzugehen, drehte sie sich zur Seite, drängte sich an ihm vorbei und nahm sich eine Schüssel für das Müsli. »Einen schönen Tag noch«, beendete sie das Gespräch, bevor er es in Gang bringen konnte.

Max schüttelte innerlich den Kopf. Typisch für die unhöflichen Touristen aus den Regionen nördlich des Weißwurstäquators. In Bayern ignorierte man einander nicht. Man stand für ein paar Minuten zusammen, tauschte den neuesten Klatsch und Tratsch aus oder redete wenigstens über das Wetter. Sie musste ja nicht gleich mit ihm flirten. Ein netter Plausch hätte schon genügt. Erstaunlicherweise ärgerte ihn das ein bisschen. Er hätte sich gern ein wenig mit ihr unterhalten.

Vielleicht mochte sie keine Polizisten, überlegte er. Auch wenn sie es nicht merkwürdig zu finden schien, einen Uniformierten im Frühstücksraum vorzufinden. Aber wahrscheinlich hatte seine Schwester längst mit ihm angegeben.

Emilia beobachtete den Mann, als er die Pension verließ. Der Freund – oder Ehemann – der Pensionswirtin war ein Polizist. Sie hatte in der Notaufnahme oft genug mit der Polizei zu tun gehabt, um zu wissen, was drei silberne Sterne bedeuteten – er war Polizeihauptkommissar. Am Abend hatte sie nur einen kurzen Blick auf ihn erhascht. Im Dunkeln. Bei Tageslicht kam sie nicht umhin, zu bemerken, wie attraktiv er war. Ein blonder Hüne, und seine grauen Augen hatten etwas Magisches. Er hatte ihr zugezwinkert und versucht, mit ihr zu flirten. Was ihr sofort einen Stich versetzt hatte und ihm einen fetten Minuspunkt einbrachte. Männer, die hinter dem Rücken ihrer Partnerin mit anderen Frauen herumschäkerten, stießen ihr übel auf. Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, einen letzten Blick von hinten auf ihn zu werfen, ehe sie die noch immer leere Müslischüssel zur Seite stellte und sich stattdessen einen der fantastisch duftenden Muffins aus dem Korb nahm.

Max drehte die X Ambassadors, die aus dem Radio dröhnten, auf und klopfte mit dem Finger den Takt auf dem Lenkrad mit. Es war ein warmer, sonniger Morgen. Der perfekte Tag für einen dienstlichen Neustart. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen anderen Berufswunsch als Polizist gehabt zu haben. In Rosenheim hatte er seine ersten dienstlichen Schritte gemacht, bevor es ihn wie jeden jungen Kollegen in die Großstadt verschlagen hatte. Jetzt freute er sich darauf, neue Fußabdrücke neben seine alten zu setzen.

Er bog in die Innstraße ein – und trat geistesgegenwärtig auf die Bremse. »Was zum Teufel …« Langsam schob er die Sonnenbrille nach oben. Ungläubig blickte er auf den Elefantenrüssel, der bis über seine Motorhaube reichte. Das dazugehörige Tier stand mit großen Augen und einem netten Lächeln vor ihm und regte sich nicht. »Du bist ein Idiot, Leitner«, beschied sich Max und musste über sich selbst lachen. Er lehnte seinen Kopf gegen die Nackenstütze und wartete darauf, dass sich das Adrenalin aus seiner Blutbahn verflüchtigte. Im ersten Moment hatte er tatsächlich geglaubt, einem echten Tier zu begegnen. Nachdem er geblinzelt hatte, erkannte er jedoch, dass es sich um eine Karussellfigur handelte, die offenbar von dem Jahrmarkttransporter ein paar Meter entfernt gefallen war. Der Elefant hatte sich ein paarmal überschlagen, und der Lack war an einigen Stellen abgeplatzt. Von der anderen Seite hielt ein Streifenwagen auf den außergewöhnlichen Unfallort zu. Er kam kurz hinter dem Elefanten zum Stehen, und Polizeihauptmeister Leonard Steiner stieg mit einem breiten Grinsen aus.

Max konnte nicht anders, als es zu erwidern. Das war wirklich typisch, dass ihm ausgerechnet sein alter Ausbilder an einem so skurrilen Schauplatz über den Weg lief.

»Tja, Junge.« Leonard stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete Dumbo. Er hatte in den letzten Jahren ein kleines Bierbäuchlein angesetzt, schien aber ansonsten so fit wie eh und je. »Ich dachte, wir bekommen dich erst zu sehen, wenn das ganze Tamtam mit offizieller Begrüßung und diesem Quatsch vorbei ist. Aber wie es aussieht, hast du es nicht erwarten können, dich ins Dienstgeschehen zu stürzen.« Er umarmte Max kurz und schlug ihm auf den Rücken. »Schön, dass du wieder da bist.«

»Danke, Leo. Um korrekt zu sein, der Elefant hat mir den Weg versperrt.«

»Verstoß gegen die Ladungssicherung«, brummte Leo. »Und das schon vor dem Frühstück.« Er sah sich nach dem Fahrer des Karusselltransporters um. Als er ihn entdeckte, winkte er ihn heran. »Willkommen in der Kleinstadt. Hier hat der Irrsinn System«, sagte er zu Max. »Sieh zu, dass du verschwindest und den Teil mit den Reden und den Butterbrezeln hinter dich bringst. Wir sind froh, dass du endlich zurück bist. Aber wir wollen dich auf der Straße sehen, verstanden?«

Max nickte. »Bis später.« Er stieg in seinen Wagen und manövrierte vorsichtig um den Elefanten herum. Sein Herzschlag beruhigte sich. Seine Nervosität verflog. Leo hatte ihn spüren lassen, dass er willkommen war. Damit löste sich seine letzte Befürchtung in Luft auf. Er war angekommen.

Sein erster Arbeitstag bei der Polizeiinspektion Rosenheim war lang. Offizielle Begrüßungen. Inoffizielle Begrüßungen. Fotos und Händeschütteln. Max traf Kollegen wieder, die er aus seiner Ausbildungszeit kannte, und versuchte sich jede Menge neuer Gesichter zu merken.

Seine Tante Miriam, die neben ein paar Immobilien in der Stadt auch ein Restaurant und eine Bar besaß, hatte es sich nicht nehmen lassen, mit einem großen Topf Weißwurst und Brezeln auf dem Revier aufzutauchen, damit er den Einstand in seiner neuen Dienstgruppe gebührend feiern konnte.

Jetzt war er endlich auf dem Weg nach Hause. Wie seine Schwester es angekündigt hatte, war die Familie im Restaurant ihrer Tante, dem Bootshaus, zu einem Essen zusammengekommen. Anschließend waren Hannes, Theresa und er gemeinsam mit seinen Cousins Philip und Julius im Blue Nights noch etwas trinken gegangen. Als kleine Überraschung hatten Charlie und Nic in der Bar auf sie gewartet. Die Freunde, die bereits mit Max, Theresa und Johannes die Schulbank gedrückt hatten, ließen es sich nicht nehmen, ihn ebenfalls zu Hause willkommen zu heißen. Keine Frage, dass der Abend ein wenig später endete, als Max es eigentlich vorgesehen hatte.

Angenehm erschöpft lenkte er den Jeep den Berg zum Kastanienhof hinauf. Die Scheinwerfer schnitten durch die Dunkelheit. Er hatte das Fenster heruntergelassen und atmete den Geruch des Waldes ein. Johannes saß neben ihm und starrte geradeaus. Seit Max’ Rückkehr war er ziemlich still.

Theresa klebte mit ihrem Wagen an seiner Stoßstange. Bei Gelegenheit musste er ein Gespräch über die Einhaltung des Mindestabstandes mit ihr führen. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, ließ sie sich zurückfallen und brachte ihn damit zum Lächeln.

Johannes warf ihm einen Seitenblick zu. »Warum grinst du so?«

»Ich habe mir grad überlegt, dass Resi nicht so dicht auffahren soll, und prompt …«

»… passiert dieses Zwillingsding«, beendete Johannes den Satz.

»Und was ist mit dir? Alles in Ordnung?«

»Klar«, antwortete sein Freund ein wenig zu schnell.

Soweit Max wusste, lief die Schreinerei gut. Johannes hatte im vergangenen Jahr Möbel für mehrere Kindergärten und zwei Restaurants gebaut. »Sicher?«

»Ja. Ich freu mich einfach, dass du wieder da bist.« Er drückte kurz Max’ Schulter.

»Ich freue mich auch.« Und du bist ein verdammter Lügner, mein Freund, fügte Max in Gedanken hinzu. Er hatte zu Johannes nicht die gleiche Verbindung wie zu seiner Schwester. Aber sie waren Freunde, seit Johannes als Dreijähriger seine Sandburg zerstört und er sich mit einer Schippe voller Erde gerächt hatte. Leider hatte die Schaufel eine hässliche Platzwunde an Johannes’ Stirn hinterlassen. Sein Großvater zwang Max, sich zu entschuldigen, sobald die Wunde genäht war. Von diesem Augenblick an waren sie unzertrennlich gewesen. Die kleine Narbe über der Augenbraue bezeugte noch heute den Beginn ihrer Freundschaft.

Johannes war das, was einem Seelenverwandten am nächsten kam. Max merkte es sofort, wenn er nicht die Wahrheit sagte. Schon bei seinem letzten Besuch auf dem Kastanienhof hatte er sich so komisch verhalten. Er war verschlossen und distanziert.

Max parkte den Wagen auf dem Hof und stieg aus. Die Loggia im ersten Stock war hell erleuchtet. Das kühle Nordlicht stand dort und telefonierte. Das weiße Top, das sie trug, wurde vom warmen Licht aus ihrem Zimmer angeleuchtet. Zusammen mit dem glatten schwarzen Haar wirkte sie fast wie ein Fabelwesen. Ein Anblick, der ihn dazu bewog, seinen Blick einen Moment zu lange auf ihr ruhen zu lassen. Sie starrte zu ihm herunter. Irgendetwas an ihr fesselte seine Aufmerksamkeit. Grüßend hob er die Hand, was zur Folge hatte, dass sie sich wortlos umdrehte und in ihrem Zimmer verschwand. Da war er wieder. Der Beweis, dass Norddeutsche nicht gerade zu den höflichsten Menschen gehörten. Wenn sie ihn ignorieren wollte, bitte. Nur weil sie schön war und sich rätselhaft gab, musste er diesem Interesse an ihr noch lange nicht nachgeben. Er legte Johannes den Arm um die Schultern. Der Zeitpunkt war perfekt, um den Abend bei einem Weizenbier vor der Schreinerwerkstatt ausklingen zu lassen. Und seinem Freund ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

3

»Notrufzentrale.«

»Schicken Sie einen Krankenwagen in die Galerie Stadler. Hier ist eine ältere Frau kollabiert.«

»Können Sie mir Einzelheiten nennen?«

»Ja, Kruzifix. Diese Verrückte kam mit einem Edding und hat ein Kunstwerk verschandelt. Kennen Sie Kreuz die Worte von Bernhard Langenhorn? Es stellt ein Kreuzworträtsel dar. Sie hat es einfach ausgefüllt. Und noch dazu falsch. Fluss, der durch Norddeutschland fließt, mit fünf Buchstaben. Weser. Das ist die Weser, nicht die Ellbe.«

»Ähm … mit Details meinte ich eigentlich den Gesundheitszustand der Patientin. Wie ist ihr Puls? Hat sie Atembeschwerden? Kreislaufprobleme?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin Galeristin! Als ich ihr sagte, dass ich die Polizei rufe und dafür sorge, dass sie den Rest ihres Lebens weggesperrt wird, ist sie einfach umgekippt.«

»Wir schicken einen Rettungswagen.«

Emilias erster Dienst in der Notaufnahme des Klinikums Rosenheim begann ruhig. Sie war am Morgen in ihre türkisfarbene Krankenhauskluft und die Crocks geschlüpft, womit automatisch ihre Zuversicht gestiegen war. In einem Krankenhaus fühlte sie sich wohl. In einer Notaufnahme war sie in ihrem Element. Auch wenn es hier bisher ein wenig gemächlicher zuging, bewegte sie sich auf einem Territorium, auf dem sie sich auskannte. Ganz anders als in ihrem neuen Leben auf dem Kastanienhof und mit dem Mann ihrer Wirtin. Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Ihre Antennen waren möglicherweise sensibler als die anderer Menschen, aber er hatte im Frühstücksraum der Pension geflirtet. Ganz eindeutig. Ein Verhalten, das sie mehr als dreist fand. Besonders, da Theresa irgendwo in der Nähe gewesen sein musste. Sein Winken hatte sie geflissentlich ignoriert. Er war eine Komplikation bei ihrem Jobwechsel, genauso wie ihre unter Wasser stehende Wohnung. In dem Moment, in dem sie aus der Pension auszog, wäre er vergessen.

Am Tag zuvor hatte die Krankenhausleitung ihr einen freundlichen Empfang bereitet. Man hatte sie herumgeführt und mit den Gegebenheiten der Klinik vertraut gemacht, sodass sie heute direkt mit ihrer – tatsächlich sehr ruhigen – Schicht beginnen konnte. Es war beinahe Mittag, und sie hatte bisher nur Bauchschmerzen, die sich als leichte Magenverstimmung herausstellten, eine Platzwunde und zwei verstauchte Knöchel behandelt. Wenn das hier normal war, musste sie sich ziemlich umgewöhnen. In der Bremer Notaufnahme, in der sie bis jetzt gearbeitet hatte, war es immer sehr hektisch zugegangen.

Emilia schenkte sich in der schmalen Küche am Ende des Flurs gerade einen Kaffee ein, als ihr Piepser sich zum fünften Mal an diesem Tag meldete. Sie stellte die Tasse neben die Maschine und hastete zur Einlieferung. In dem Moment, in dem sie die Verbindungstür öffnete, zogen die zwei Sanitäter die Trage aus dem Rettungswagen. Hinter der älteren Patientin erschien der Kopf des Notarztes.

»Was haben wir?«, fragte sie mit einem Blick auf die Frau.

»Dreiundsiebzigjährige Patientin. Kreislaufkollaps. Offenbar keine Vorerkrankungen. Blutdruck leicht erhöht, Puls ebenfalls. Auf den ersten Blick scheint ihr nichts zu fehlen.« Der Notarzt überreichte Emilia das Klemmbrett mit den Informationen.

»Frau Wagner?«, las sie den Namen ab.

Die Frau öffnete ihre Augen einen Spalt. »Hmm«, brachte sie schwach heraus.

»Ich bin Dr. Jonasson. Mein Team und ich werden uns um Sie kümmern. Wir bringen Sie jetzt in die Notaufnahme, und dann finden wir heraus, was Ihnen fehlt.«

Die Frau stöhnte ein weiteres Mal schwach, und Emilia trat einen Schritt zur Seite, damit die Sanitäter die Trage in einen der Untersuchungsräume schieben konnten.

»Wie kam der Notruf rein?«

Der Notarzt zuckte mit den Schultern. »Sie ist in einer Galerie zusammengebrochen. Es gab irgendeinen Tumult, aber was genau vorgefallen ist, habe ich nicht so ganz verstanden.«

»Mal sehen, was ich aus ihr herausbekomme.«

»Wenn das alles war, Frau Kollegin, dann fülle ich den Papierkram aus und bin weg. Viel Glück.«

»Danke.« Emilia nickte dem geschäftigen Notarzt zu und folgte den Sanitätern.

Eine Viertelstunde lang untersuchte sie Agnes Wagner, die sie vor ein Rätsel stellte. Sie schien kerngesund – und für ihr Alter äußerst rüstig. »Im Augenblick kann ich nichts feststellen. Wir warten Ihre Blutwerte ab. Dann sehen wir weiter«, erklärte Emilia ihr.

»Hmm«, machte die alte Frau wieder.

Emilia nahm die Nierenschale mit den Blutproben. »Hier ist der Notrufknopf. Drücken Sie bitte sofort, wenn etwas ist.« Sie lehnte die Tür des Zimmers an und schickte die Proben vom Schwesternzimmer aus ins Labor. Da sie keine anderen Patienten hatte, um die sie sich im Moment kümmern musste, und ihr Kaffee inzwischen sowieso kalt war, entschied sie sich, noch einmal nach Frau Wagner zu sehen und die Herzfrequenz und die Sauerstoffversorgung im Blut zu überprüfen. Sie schob die Zimmertür auf – und blieb wie angewurzelt stehen. Das durfte ja wohl nicht wahr sein.

Frau Wagner lag mit dem Rücken zu ihr im Bett und telefonierte. Mit einem iPhone. Gerade eben noch sterbenselend, wirkte sie jetzt quietschfidel. Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Mission erfüllt. Ich habe es schon auf Facebook geteilt.« Sie hielt inne und lauschte in den Hörer. »Nein, nein. Ich denke, das wird auf jeden Fall für Aufmerksamkeit sorgen. Dummerweise hat diese Galerie-Heuschrecke ein wenig überreagiert und die Polizei gerufen. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen Schwächeanfall vorzutäuschen. Jetzt bin ich im Krankenhaus.«

Emilia räusperte sich. Frau Wagner erstarrte und wandte langsam den Kopf. »Ich muss Schluss machen«, flüsterte sie in ihr Handy. »Melde mich später noch mal.« Mit einem reumütigen Lächeln beendete sie das Gespräch und legte das Telefon auf den Nachttisch. »Erwischt.«

Emilia verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann man wohl sagen. Sie haben einen Kreislaufzusammenbruch vorgetäuscht? Wie kommen Sie dazu, so etwas zu tun? Sie beschäftigen dadurch unnötig Rettungskräfte.«

»In dem Moment schien es mir eine wirklich gute Idee. Ich habe mich tatsächlich ein bisschen zittrig gefühlt.«

»Frau Wagner«, setzte Emilia noch einmal an, wurde aber von einem Klopfen unterbrochen. »Frau Doktor?« Eine Schwester steckte den Kopf durch die Tür. »Da sind zwei Herren von der Polizei.«

»Ich komme gleich.« Emilia wartete, bis die Schwester verschwunden war, und drehte sich wieder zu Frau Wagner um. »Kommen die Beamten wegen Ihnen?«

»Höchstwahrscheinlich.« Kämpferisch reckte die Seniorin ihr Kinn.

»Ich werde mit ihnen sprechen. Sie bleiben hier. Und schalten Sie Ihr Handy aus. Mobiltelefone sind im gesamten Krankenhaus verboten.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie in den Flur und schloss die Zimmertür hinter sich. Als sie den Blick hob, stand plötzlich der Mann ihrer Pensionswirtin vor ihr. »Oh …«, sagte sie überrascht.

»Frau …« Er kniff die Augen ein wenig zusammen, studierte das Schild an der Brusttasche ihres Kittels und zog die Augenbrauen nach oben. »Dr. Jonasson. Sie sind die behandelnde Ärztin von Frau Wagner?«

Sie nickte, bevor ihr noch ein weiterer, sinnentleerter Laut entschlüpfen konnte.

»Entschuldigen Sie. Als wir uns gestern Morgen im Frühstücksraum getroffen haben, hielt ich Sie für einen Feriengast.«

Natürlich. Plötzlich begriff Emilia seine Masche. Er baggerte Touristinnen an und betrog seine Frau mit ihnen. Wenn die Damen nach einer Woche in den Bergen wieder verschwanden, hatte er seinen Spaß gehabt und lief keine Gefahr, aufzufliegen. So ein widerlicher Mistkerl. Tja, da würde er bei ihr Pech haben. »Ich wohne vorübergehend auf dem Kastanienhof, aber ich nehme an, das hat nichts mit Ihrem Besuch im Klinikum zu tun.« Sie klang schnippisch und unhöflich, aber sie konnte das nicht abstellen. Männer, die so mit Frauen umgingen, ekelten sie an. »Lassen Sie uns über Frau Wagner sprechen.«

»Gute Idee«, murmelte der zweite Polizist, den Emilia bisher noch gar nicht beachtet hatte. Neugierig sah er zwischen seinem Partner und ihr hin und her. Kein Wunder, die Spannung zwischen ihnen schien mit den Händen zu greifen. Emilia mochte ihn nicht, und doch hatte er eine eigenartige Anziehungskraft auf sie. Seine Größe, die breiten Schultern und der eindringliche Blick ließen den sonst so geräumigen Flur schrumpfen. Verärgert über sich selbst, straffte sie die Schultern und konzentrierte sich auf seinen Kollegen. Klein, untersetzt und freundlich. Wahrscheinlich Ende vierzig. Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Hand entgegen. »Emilia Jonasson. Ich habe heute meinen ersten Tag in der Notaufnahme.«

»Leonard Steiner. Ist mir ein Vergnügen. Wir werden öfter miteinander zu tun haben. In Rosenheim arbeiten die Polizei und die Rettungsdienste eng zusammen. Und nun lassen Sie uns Frau Wagner einen Besuch abstatten.«

»Natürlich.« Gemeinsam gingen sie zum Zimmer der Patientin zurück. Diesmal klopfte Emilia und wartete, bis von drinnen ein leises »Herein« zu vernehmen war. Die alte Dame saß im Bett. Entgegen der Anweisung hatte sie ihr Handy nicht ausgeschaltet, sondern tippte auf dem Display herum. Beim Anblick der Uniformierten ließ sie das Gerät sinken. In ihr Gesicht schlich sich ein zerknirschter Ausdruck.

Steiner blieb stehen und gab Emilia mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie bleiben sollte. Ihr war nicht wohl dabei, Leitner auf die arme Frau loszulassen, trotzdem hielt sie sich zurück. Vorerst. Sie würde sofort eingreifen, wenn er es zu weit trieb.

Leitner trat an das Bett. »Darf ich?«, fragte er Frau Wagner und setzte sich auf ihr zögerliches Nicken hin auf die Bettkante.