Herzklopfen in der Bergpraxis - Jana Lukas - E-Book

Herzklopfen in der Bergpraxis E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Bei Risiken und Nebenwirkungen verliebe dich in deinen Arzt – Der Auftakt der gefühlvollen Trilogie inmitten der malerischen Alpen

Sanna Thaler ist Landärztin aus Leidenschaft. Die Patienten stehen für sie im Mittelpunkt. Geschickt ergänzt sie Schulmedizin mit dem, was ihre Heimat in den Alpen an Kräutern und Heilpflanzen zu bieten hat. Ganz im Gegensatz zu Mats Lindberg, Arzt in der Notaufnahme und brillant in seinem Job. Beruflich wie privat wahrt er stets Distanz. Kein Wunder, dass Sanna wenig von der Idee ihres Bruders Simon begeistert ist, seinen Freund Mats in ihrer Bergpraxis aushelfen zu lassen. Die sturen Bewohner von Waldkirch und Sannas Interesse an Naturmedizin stellen Mats vor so manche Herausforderung, weswegen sie ständig aneinandergeraten. Doch bald merkt er, dass es gar nicht so schlimm ist, Gefühle zuzulassen.

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Seitenzahl: 497

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

»Griaß di, Aloisa. Was ist denn hier los?«

Ihre Arzthelferin zuckte die Schultern beim Anblick der Menge Patientinnen, die ihnen offenbar an diesem Morgen die Bude einrannten. »Sind alle wegen dem Wikinger-Doc hier«, raunte sie Sanna zu, als sie hinter den Empfangstresen trat.

»Nennst du ihn jetzt auch noch so?«, fragte Sanna und bemühte sich, nicht schon wieder genervt zu klingen.

»Jeder nennt ihn so«, erwiderte Aloisa.

Sie hatte natürlich nicht ganz unrecht, wenn sie Mats mit einem Wikinger verglich. Er sah gut aus. Viel besser noch als zu Studentenzeiten, als seine Muskeln noch nicht so ausgeprägt gewesen waren. Mit seinem Handtaschenhund müsste er absolut lächerlich wirken – tat er aber nicht. Wenn das überhaupt möglich war, nahm sein Sexappeal mit dem Zwergspitz auf dem Arm nur noch zu. Sie hatte keine Ahnung, wie das möglich war. Aber im Gegensatz zu den Frauen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht, wusste Sanna, was für ein Typ Mensch Mats war. Da half auch kein gutes Aussehen. Idiot blieb Idiot.

Zur Autorin

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten Roman und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Das gilt auch für die Romane, die sie unter dem Pseudonym Ella Thompson veröffentlicht, und in denen sie uns mitnimmt an die malerische Ostküste der USA. Ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

Lieferbare Titel

Landliebe

Herz und Tal

Windstärke Liebe

Die Mühlenschwestern – Die Liebe kennt den Weg zurück

Die Mühlenschwestern – Die Hoffnung wird dich finden

Die Mühlenschwestern – Das Glück wartet auf dich

Die Alte Schule – Wo dein Herz zuhause ist

Die Alte Schule – Wo du das Glück findest

Die Alte Schule – Wo die Liebe dich küsst

JANA LUKAS

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 04/2025

© 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Diana Mantel

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

unter Verwendung von © FinePic®, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31312-8V001

www.heyne.de

Liebe Leserinnen und Leser,

wie Sie sich vermutlich denken können, habe ich von Medizin und Kräuterkunde so viel Ahnung wie jeder andere Laie, der Doc Google um Rat fragt und regelmäßig den Bergdoktor schaut.

Ich habe mir deshalb für die Geschichten meiner Bergpraxis professionellen Rat geholt und mich bemüht, keine Fehler zu machen, wenn es um die Arbeit meiner Protagonisten geht. Trotzdem sind die Romane genau das: Geschichten. Wenn Sie die gleichen Symptome wie die Patienten in der Waldkircher Hausarztpraxis haben, gehen Sie bitte zu Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt oder fragen Sie in Ihrer Apotheke. Ich kann Ihnen leider weder ein Rezept ausstellen, noch kann ich Sie krankschreiben. ;-)

Die einzige Medizin, die ich guten Gewissens verordnen kann, sind ein gutes Buch und eine schöne Tasse Tee. Deshalb herzlich willkommen in der Bergpraxis von Waldkirch!

Ihre Jana Lukas

PROLOG

(Postkarte aus Venedig)

Liebe Sanna, lieber Simon,

die Karte beweist es! Wir haben es endlich getan. Vielleicht nicht auf die Art, wie ihr euch das gewünscht habt. Und ganz sicher haben wir das so nicht geplant. Aber wir sind so glücklich, dass wir diese Entscheidung getroffen haben.

Abenteuer, wir kommen! Vielleicht werden wir jetzt Weltreise-Blogger oder Travelfluencer (oder wie das heißt).

Ciao und Amore, Mama und Papa

1

Waldkircher Landfrauen-Ratsch

Steiger Moni: Der Thaler Laurenz hat letzte Nacht die Stadt verlassen. Ist einfach davongedüst.

Faulhaber Gerda: Von gedüst kann keine Rede sein mit dieser alten Klapperkiste.🚙 Gemütlich davongetuckert ist der.

Müller Liesl: Aber seine Frau ist heute in aller Herrgottsfrühe davongerast, als wäre der Teufel hinter ihr her. Das hat mir die Geißler Marlene erzählt. Und die hat es von der Schweglerin.

Steiger Moni: Beide weg? Der Laurenz und die Josefine? 😳 Wer kümmert sich denn jetzt um seinen Garten? Und um ihre Patienten?

Sanna Thaler blinzelte in die Sonne, die sich hinter den weiß bedeckten Zacken der Allgäuer Hochalpen emporgeschoben hatte. Der Himmel über ihr war so knallblau, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, als sie den warmen Kokon der Bäckerei am Dorfplatz verließ und die Brötchentüte in ihren Fahrradkorb legte.

»Griaß di, Doc!«

Sanna hob den Blick und entdeckte Luis Meininger, der in seinem üblichen Outfit aus Flanellhemd, Engelbert-Strauss-Arbeitshose und Gummistiefeln über den Dorfplatz geschlurft kam und ihr zuwinkte. »Servus, Luis. Wie geht es deiner Tochter?«

Er verdrehte die Augen, als er sie erreichte. »Viel besser. Ich glaube ja nicht an dieses ganze Kräuterzeug, aber wenn dein Kind zum Pubertier wird … Kruzifix!« Er kratzte sich mit einer ratlosen Bewegung am Bart. »Fünf Söhne habe ich großgezogen, und keiner von ihnen hat Probleme gemacht. Und dann wird diese Marie fünfzehn, und unser Haus verwandelt sich in den Vorhof der Hölle. Wir konnten wirklich machen, was wir wollten. Waren wir streng, wollte sie uns beim Jugendamt anzeigen. Haben wir ihr Freiräume gelassen, hat sie uns vorgeworfen, dass sie uns völlig egal ist.« Luis seufzte. »Von den Tobsuchtsanfällen, weil ein T-Shirt, das sie unbedingt anziehen wollte, in der Wäsche war, oder den verbalen Attacken auf ihre Brüder ganz zu schweigen.« Er beugte sich ein wenig vor, als wollte er Sanna ein Geheimnis verraten. »Manchmal hat es schon gereicht, dass wir atmen, um sie austicken zu lassen. Es war ein bisschen, als balancierten wir in unserem eigenen Zuhause die ganze Zeit auf rohen Eiern.«

Sanna grinste. »Die Hormonexplosion, die die Pubertät so mit sich bringt, ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Auch für die Marie. Sie versteht gerade selbst nicht, was mit ihrem Körper passiert.« Sie legte Luis in einer kameradschaftlichen Geste die Hand auf den Unterarm. »Ich freue mich, dass ihr das Mädesüß geholfen hat.«

»Der beste Tee, den wir ihr je eingeflößt haben. Ich habe das Zeug gleich meinem Bruder empfohlen. Der hat drei Töchter, und im Moment probt jede Einzelne von ihnen den Aufstand. Auf ihre Weise. Ohne dich hätten wir vermutlich irgendwann einen Exorzisten gebraucht. Warum können diese Mädels nicht einfach so sein wie du?«, fragte er.

Sanna lachte überrascht auf. »Wie ich?«

Luis zuckte mit der linken Schulter, als wäre völlig klar, von was er sprach. »Du bist so ausgeglichen und ruhst in dir. Du denkst nach, bevor du etwas sagst, statt dein Gegenüber einfach nur anzubrüllen. Könntest du nicht in der Schule Kurse für Teenagerinnen geben, wie man seine innere Mitte findet – und behält – oder irgend so was?«

Sanna schüttelte den Kopf. Sie wirkte vielleicht ruhig und geerdet, aber auch sie hatte ihre temperamentvollen Ausbrüche. Zugegeben, das passierte nicht andauernd. Aber ihr Bruder hatte ihre Emotionen hin und wieder zu spüren bekommen. Von ihrem Mitbewohner zu Studienzeiten ganz zu schweigen. Der war wirklich oft das Ziel eines ihrer Wutausbrüche gewesen – und der Verursacher. Regelmäßig. Doch das war Jahre her, und inzwischen hatte Sanna sich unter Kontrolle. Genau wie auch Marie und ihre Cousinen irgendwann in die Hormone hineinwachsen würden, die durch ihre Körper tobten. »Tut mir leid, Luis. Solche Kurse kann ich wirklich nicht geben. Dafür ist vermutlich höchstens Paulina geeignet.« Ihre Freundin war wirklich spirituell. Außerdem betrieb sie nicht nur Sannas liebste Mischung aus Café und Bar im Ort, die Alpenliebe, sondern auch einen ziemlich erfolgreichen Instagram-Kanal, dem die Mädchen folgen konnten.

»Na ja, macht nichts.« Luis hielt Sanna ein Glas Honig entgegen, der von seinen Bienen stammte. »Fragen kostet ja nichts. Ich wollte mich aber auch noch bei dir bedanken. Du bist die beste Kräuterhexe der Gegend.«

»Dankeschön.« Lachend nahm Sanna das Glas und legte es zu den Brötchen in den Fahrradkorb. »Aber lass das besser nicht die kassenärztliche Vereinigung hören. Ich freue mich, dass es mit Marie besser läuft.« Sie blickte zur Arztpraxis ihrer Familie hinüber, die auf der anderen Seite des Dorfplatzes lag. »Aber jetzt muss ich los. Ich bin schon ganz schön spät dran. Pfiat di, Luis.«

»Pfiat di, Sanna.«

Sie stieg auf ihr Rad und umrundete den kleinen Dorfplatz, der von der Heilsamen Linde, dem Maibaum und der ausrangierten Bergbahngondel dominiert wurde, die jetzt ein Kässpatzen-Imbiss war. Ihre Freundin Paulina, an die sie gerade noch gedacht hatte, kehrte auf der Terrasse vor ihrem Café, der Alpenliebe, den Gehweg und winkte ihr zu, als sie vorbeirauschte. »Vergiss den Mountainbikerstammtisch nicht wieder«, rief sie Sanna hinterher.

Mit einem »Versprochen« wandte Sanna den Kopf noch einmal zu ihrer Freundin um und sah die riesigen Kristalle, die an ihren Ohrläppchen baumelten, im frühen Sonnenlicht aufblitzen. Vielleicht hatte Paulina tatsächlich mal Lust, ein paar Beiträge zum Thema Pubertät auf ihrem Account zu posten. Sanna würde sie darauf ansprechen, wenn sie sich das nächste Mal auf ein Glas Wein oder einen Aperol Spritz trafen.

Viel war um diese Tageszeit noch nicht los in Waldkirch. Die Touristen lagen noch träumend in ihren Betten oder gönnten sich ein üppiges Bergfrühstück. Aber in der Praxis Thaler würden trotzdem schon jede Menge Leute warten. Sie kurvte mit ihrem Fahrrad auf die Rückseite des Hauses und stellte es unter der Außentreppe ab, die zur Wohnung ihres Bruders hinaufführte. Mit den Brötchen und dem Honig in der Hand betrat sie kurz darauf den Empfang der Praxis. »Guten Morgen«, grüßte sie fröhlich. Und bemerkte im nächsten Moment, dass sie im Tollhaus gelandet war.

»Schön, dass du auch mal auftauchst«, zischte ihr Bruder, der in dem für ihn so typischen bunten Kasack (heute türkisblau und mit breit grinsenden Katzen bedruckt), eine Patientenakte in der Hand, an ihr vorbeistürmte. Sanna sah ihm nach und ließ dann den Blick über den offenen Wartebereich schweifen, in dem es keinen freien Sitzplatz mehr zu geben schien. Vor der Anmeldung standen die Patienten zweireihig, und dahinter verzog Mila das Gesicht in einer verzweifelten Grimasse, während Aloisa mit der für sie typischen Gelassenheit – und im Ein- bis Zwei-Finger-Suchsystem – auf die Tastatur ihres Computers einhackte.

Aus den Augenwinkeln sah Sanna, wie ihr Bruder Frau Haldenwanger in sein Behandlungszimmer schickte, bevor er noch einmal in Richtung Empfang hastete.

Sanna runzelte die Stirn. Frau Haldenwanger war ungefähr siebzig Jahre zu alt, um als Simons Patientin durchzugehen. Offenbar nahm sich ihr Bruder gerade der dringendsten Probleme an. »Was ist los?«, fragte sie, als er erneut an ihr vorbeirauschte. »Heute ist doch Mamas früher Dienst.«

»Nur ist sie leider nicht aufgetaucht«, grummelte Simon und hielt auf Mila und Aloisa zu. »Sie hat mir eine Nachricht geschickt und mich gebeten einzuspringen. Und du sollst heute ihre Patienten mit übernehmen. Könntest du also endlich mal deinen Kittel anziehen und anfangen zu arbeiten? Die Leute steigen uns langsam aufs Dach«, schimpfte er über seine Schulter.

»Ist ja schon gut.« Sanna hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Josefine Thaler kam nie zu spät zur Arbeit. Oder nahm sich einen Tag frei, ohne das vorher mit Simon oder mit ihr zu besprechen. Sanna warf einen Blick auf ihr Handy, aber ihre Mutter hatte weder angerufen, noch eine Nachricht hinterlassen. Aber klar, wenn sie sich bei Simon gemeldet hatte, hatte sie es vermutlich nicht mehr für notwendig gehalten, auch noch Sanna zu informieren. Trotzdem war das merkwürdig. Und für ihre Mutter völlig untypisch. Sannas Herzschlag beschleunigte sich ein wenig bei dem Gedanken, dass mit ihrem Vater Laurenz etwas nicht in Ordnung sein könnte. Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab. Wenn es Papa nicht gut ginge, hätten ihre Eltern ihnen das nicht verheimlicht. Sie würde ihre Mutter einfach anrufen und fragen, was los war. Bis dahin würde sie sich vor den genervten Blicken ihres Bruders in Sicherheit bringen und ihren Job machen.

Sanna winkte ihren Mitarbeiterinnen an der Anmeldung mit der Brötchentüte und dem Honigglas zu und brachte die Lebensmittel dann in die Kaffeeküche. Auf dem Weg nach draußen nahm sie einen Hundekeks aus dem offen auf der Anrichte stehenden Glas und steckte ihn Schiller zu, der auf seinem Hundekissen hinter dem Empfangstresen vor sich hindöste. Sie strich dem alten Retriever über den Kopf und zog sich dann in ihr Sprechzimmer zurück, um sich die Hände zu waschen und ihren Rechner hochzufahren. »Hey, Siri«, sagte sie, während sie in ihren Arztkittel schlüpfte.

»Hmm«, antwortete die Stimme aus ihrem Handy.

»Ruf Mama an.« Sie hörte, wie nach einem Moment das Freizeichen ertönte, aber ihre Mutter nahm den Anruf nicht an. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen, erinnerte sich Sanna noch einmal selbst. Wenn etwas mit ihrer Mutter wäre, hätte ihr Vater sich längst in der Praxis gemeldet – und anders herum genauso.

Sie öffnete ihre Sprechzimmertür und nahm von Aloisa die erste Patientenakte des Tages entgegen. »Frau Pirschner«, rief sie die Patientin nach einem Blick auf den Namen auf. »Mila«, wandte sie sich dann an ihre Sprechstundenhilfe und Freundin, bevor sie ihrer Patientin zurück in ihr Zimmer folgte, »kannst du weiter versuchen, meine Mutter zu erreichen? Ich will einfach nur wissen, warum sie heute fehlt, ohne etwas gesagt zu haben.«

»Klar, mach ich.« Mila winkte ihr kurz zu. »Gleich, nachdem ich Herrn Lobinger Blut abgenommen habe.«

»Also, wenn Sie Ihre Mutter suchen,«, sagte Frau Pirschner, kaum dass Sanna die Tür des Sprechzimmers hinter sich geschlossen hatte, »die ist heute Morgen weggefahren. Das habe ich von der Geißler Marlene. Die weiß es von der Schweglerin, die gesagt hat, dass die Thaler Josefine weg ist. Und die hat es ja wohl selbst gesehen.«

Sanna nickte. »Frau Schwegler wohnt meinen Eltern genau gegenüber.«

»Ihre Mutter hatte einen Koffer dabei«, fuhr Frau Pirschner fort. »So einen blauen.«

Sannas Magen zog sich unangenehm zusammen. Tratsch hin oder her, der Koffer ihrer Mutter war tatsächlich blau. Wohin, um Himmels willen, war sie unterwegs? Einfach so. Nur mit einer kryptischen Nachricht an Simon.

»Ich weiß ja nicht, wo sie hin ist«, sagte Frau Pirschner, als hätte sie Sannas Gedanken gelesen. »Aber vermutlich hat das was damit zu tun, dass Ihr Vater schon gestern Abend weggefahren ist. Mit diesem hässlichen alten Bus. Das hat mir auch die Marlene erzählt, die es von der Ida hat.«

»Aha.« Sannas Gedanken rasten. Man brauchte wirklich keine Polizei, wenn man Nachbarn hatte, wie sie in Waldkirch Standard waren. Aber viel wichtiger war die Frage, wohin ihr Vater unterwegs war. Er benutzte seinen VW-Bulli nie im Alltag, sondern hegte und pflegte dieses Schätzchen, bis ihre Eltern irgendwann ihre große Reise antreten würden. Bis dahin besuchte er damit Ausstellungen und Bulli-Treffen – zu denen ihre Mutter ihn aus Prinzip nie begleitete, weil sie diese Events für alberne Zeitverschwendung hielt.

Sanna schüttelte die Gedanken ab, griff nach der Patientenakte und las die letzten Eintragungen. »Bei Ihnen ist wieder eine kardiologische Kontrolle fällig, Frau Pirschner. Machen Sie sich bitte schon mal frei.«

Während ihre Patientin begann, ihre Bluse aufzuknöpfen, zog Sanna ihr Handy vom Schreibtisch und schrieb ihrer Mutter eine Nachricht. Ist alles in Ordnung bei euch? Frau Schwegler sagt, Papa und du seid beide verreist.

Fast umgehend kam Josefines Antwort. Mach dir keine Sorgen. Melde mich nachher gleich bei dir. Es ist alles okay. Oder zumindest so gut wie. Eine Antwort, die nicht weniger kryptisch war als die, die sie Sannas Bruder geschickt hatte, und die es schaffte, für ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Magen zu sorgen. Aber darum konnte sie sich nicht kümmern, solange eine der größten Tratschtanten des Dorfes auf ihrer Untersuchungsliege saß und das Wartezimmer voller Patienten war.

*

Mats Lindberg schüttelte Professor Dr. Gärtner die Hand. Der Chefarzt schlug ihm mit der anderen jovial auf die Schulter. Eine Geste, die Mats an seinen Vater erinnerte und die er allein aus diesem Grund hasste.

»Wir sind sehr stolz auf Sie, Dr. Lindberg, und dankbar, dass Sie Teil unseres Teams gewesen sind. Sie werden eine große Lücke im Mitarbeiterstab der Uniklinik Frankfurt hinterlassen. Die Aufgabe, in einem der größten und modernsten Traumazentren der USA arbeiten zu können, ist mit Sicherheit eine große Herausforderung. Wir sind uns allerdings sicher, Sie werden dem genauso gewachsen sein wie den Aufgaben, die Ihnen unsere Notaufnahme gestellt hat. Wir wünschen Ihnen alles Gute.«

Wie steif und unpersönlich konnte eine Rede eigentlich sein, dachte Mats. »Danke.« Er nickte in die Runde und bemühte sich, seine Ungeduld nicht zu deutlich zu zeigen. Er hasste Momente wie diesen. Was erwartete Gärtner von ihm? Dass er eine Dankesrede hielt? Im Wartezimmer der Notaufnahme saßen Patienten, die auf ihre Behandlung warteten, und sein Chef hatte das gesamte Team hier versammelt, um seine kleine Ansprache zum Besten zu geben.

Die Tür zum Besprechungsraum wurde aufgeschoben, und zwei Schwestern trugen einen großen flachen Kuchen herein, auf dessen Fondant-Hülle neben einer USA-Flagge die Worte Bye, bye, Dr. Lindberg standen.

»Wir haben hier noch ein kleines Abschiedsgeschenk für Sie.« Gärtner zog einen cremefarbenen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts. »Es wird Ihnen Ihren Neustart in Boston hoffentlich ein wenig erleichtern.« Er reichte Mats den Umschlag mit einer förmlichen Geste. Die Kollegen klatschten pflichtschuldig und höflich und warfen dabei verstohlene Blicke auf ihre Armbanduhren. Was Mats in diesem Moment am liebsten selbst getan hätte.

Er kam nicht umhin zu bemerken, dass beim Abschied von Dr. Schwarz letzten Monat verdammt viele Tränen geflossen waren. Sie hatte eine mehrstöckige, von einigen Schwestern und Ärztinnen selbst gebackene Torte und jede Menge herzliche, liebevoll ausgesuchte Geschenke überreicht bekommen. Unter noch mehr Tränen, verstand sich. Mats hätte wetten können, dass in dem Umschlag, den Gärtner ihm überreicht hatte, nur ein Gutschein steckte. Nicht, dass ihn das störte. Dr. Schwarz war eine der emphatischsten Ärztinnen ihres Teams gewesen, die wegen ihres Engagements und ihres Mitgefühls Patienten gegenüber bereits einen Burn-out erlitten hatte. Ihr war erst mit Ende dreißig aufgefallen, dass sie sich für die Klinik aufgeopfert und dabei vergessen hatte, die Familie zu gründen, von der sie ihr Leben lang geträumt hatte.

Mats konnte seine Position in der Notaufnahme nicht einmal im Ansatz mit ihrer vergleichen. Und wollte das auch gar nicht. Dr. Schwarz war immer freundlich gewesen. Mitfühlend. Immer nahe am Patienten und an den Kollegen. Was ganz automatisch dazu geführt hatte, dass jeder seinen Scheiß bei ihr abgeladen hatte.

Was bei Mats niemand wagen würde. Er war, und so sah er sich ohne den geringsten Hauch von Arroganz, brillant in seinem Job. Sonst hätte Boston ihn nicht ausgewählt. Na gut, das lag natürlich auch an seinen Zusatzqualifikationen in der inneren Medizin, Anästhesie und der chirurgischen Ambulanz. Und an den Einsätzen im Notarztwagen, die er ein paar Jahre lang gefahren war. Seine Begabung hatte Mats nur verfeinern können, weil er distanziert blieb. Er war fantastisch darin, es mit jedem Notfall aufzunehmen, der in die Klinik eingeliefert wurde. Er hatte sich einen Namen gemacht, weil er in höchst dramatischen Situationen einen kühlen Kopf behielt. Aber er wusste, dass er die Patienten und ganz sicher einen Teil seiner Kollegen einschüchterte. Seine Kollegen plauderten mit ihm höchstens über das Wetter und die Fußballergebnisse vom Wochenende. Niemand erzählte ihm etwas über seine Kinder oder den Hund. Und genau so wollte er es haben. »Ähm … danke«, reagierte er mit leichter Verspätung auf den Kuchen, als ihm bewusst wurde, dass er sich in seinen Gedanken verloren hatte. »Ich …« Bevor Mats die richtigen Worte fand, um sich für den Abschied, den sein Team ihm bescherte, zu bedanken, begann das Telefon zu klingeln, das er mit einem Clip an seinem Gürtel befestigt hatte. »Tut mir leid«, sagte er und nahm den Anruf an. Ein Autounfall. Stumpfes Bauchtrauma. »Schwester Ingrid, wir müssen.« Er arbeitete am liebsten mit der älteren, erfahrenen Schwester zusammen, die genauso pragmatisch war wie er selbst. Als er schon zwei Schritte Richtung Tür gemacht hatte, fiel ihm der Umschlag in seiner Hand ein. Er drehte sich im Gehen noch einmal zu seinen Kollegen um und winkte damit. »Vielen Dank noch mal. Lassen Sie sich den Kuchen schmecken.« Dann schob er den Gutschein in die Brusttasche seines blauen Kasacks, schloss zu Ingrid auf und eilte an ihrer Seite Richtung Einlieferung.

»Gerade noch mal davongekommen«, murmelte Ingrid neben ihm.

Mats warf ihr einen Seitenblick zu, aber sie sah geradeaus, die Tür zur Notaufnahme im Visier.

Sie hatte recht. Was hätte Mats sagen sollen über die Jahre, die er in der Notaufnahme der Frankfurter Uniklinik verbracht hatte? Es waren lehrreiche Jahre gewesen. Er hatte gern hier gearbeitet. Aber die Kollegen, mit denen er sich die Dienste geteilt hatte, waren nie zu Freunden geworden. Was natürlich nicht hieß, dass Mats keine Freunde hatte. Sie liefen ihm nur nicht auf den Fluren dieser Klinik über den Weg und gingen nach Feierabend in Frankfurt ein Bier mit ihm trinken.

Der Unfall war glimpflich ausgegangen. Das vermutlich stumpfe Bauchtrauma stellte sich als Bluterguss der Bauchwand heraus. Dafür war er im Anschluss zu einem Schlaganfall in den Schockraum gerannt. Nur um dann die Bisswunde zu versorgen, die ein siebenjähriges Mädchen vom Nachbarshund verpasst bekommen hatte.

Inzwischen war es ein wenig ruhiger geworden, und Mats setzte sich mit einer Tasse des unsagbar schlechten Kaffees, den er auf keinen Fall vermissen würde, an seinen Arbeitsplatz im Ärztezimmer, um seine Befunde zu dokumentieren. Wo er schon mal hier saß und über Freundschaft nachdachte … er öffnete sein Mailprogramm und begann grinsend zu tippen.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Letzte Worte

Sehr geehrter Dr. Thaler,

hiermit übersende ich die letzte E-Mail von diesem Account. Bitte antworten Sie nicht auf diese Nachricht, und verzichten Sie künftig darauf, diese Adresse anzuschreiben. Ich bin ab jetzt zwei Monate im Urlaub. Künftige Kommunikation richten Sie bitte an meine neue Arbeitsstelle in Boston.

Hochachtungsvoll 😉

Dr. Mats Lindberg

Universitätsklinikum Frankfurt – Notfallzentrum

Die Push-up-Mitteilung, dass eine E-Mail eingegangen war, ploppte mitten in Mats’ Arztbericht auf. Er klickte zu Outlook.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Aw: Letzte Worte

Mats??? Hallo??? Urlaub? Zwei Monate? Wurdest du von Aliens entführt? Gib mir ein Zeichen, dass du okay bist und kein Außerirdischer von dir Besitz ergriffen hat.

Kontrollfrage: Was ist passiert, als wir meine Schwester auf dieser Studentenparty mit einer Mischung aus Rotwein, Red Bull und Rum abgefüllt haben?

Dein sehr besorgter Freund S.

Mats grinste. Es war einfach Simons Art, völlig übertriebene Nachrichten zu schicken. Die Kontrollfrage, die bewies, dass er weder von Aliens entführt worden war, noch den Verstand verloren hatte, wie sein Freund wahrscheinlich vermutete, ließ sich jedenfalls schnell beantworten. Auch wenn er bei der Erinnerung daran leicht das Gesicht verzog.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Ha ha, Aliens!

Antwort Kontrollfrage: Sanna hat im Strahl gekotzt (gefühlt zwei Tage lang ;-) )

Im Ernst, Simon, ich habe alle meine Urlaubstage eingereicht. Heute ist tatsächlich mein letzter Arbeitstag im Klinikum. Ich muss gestehen, dass ich es auch noch nicht so ganz glauben kann. Aber ich habe Alina einen Urlaub auf den Malediven versprochen. Also werden wir auf die Malediven fliegen, bevor es nach Boston geht.

M.

Dr. Mats Lindberg

Universitätsklinikum Frankfurt – Notfallzentrum

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Aw: Aw: Ha ha, Aliens!

Nie im Leben fliegst du auf die Malediven.

(Liege lachend unter meinem Schreibtisch. Schiller liegt neben mir. Er lacht auch.)

S.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Aw: Aw: Aw: Ha ha, Aliens!

Die Reise ist gebucht. Alina hat es verdient, dass ich mich ein bisschen mehr um sie kümmere. Wenn wir erstmal in den USA sind, werde ich wahrscheinlich noch weniger Zeit für sie haben als jetzt. Ich werde in den Urlaub fahren – so erschreckend du das auch findest. Du wirst schon sehen.

M.

Dr. Mats Lindberg

Universitätsklinikum Frankfurt – Notfallzentrum

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Aw: Aw: Aw: Aw: Ha ha, Aliens!

Es sollen ja schon Menschen vor lauter Langeweile gestorben sein. Und du, mein Freund, wirst einer von ihnen sein. Es sei denn, ihr bleibt auf der Hauptinsel, die ein Krankenhaus hat, in dem du ein bisschen aushelfen kannst.

S.

Mats’ Grinsen wurde zu einem lauten Lachen, das er nicht zurückhalten konnte. Und das ihm einen skeptischen Blick einer der Assistenzärztinnen einbrachte, die am anderen Ende des Raumes über den Monitor ihres Rechners blickte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte sie ihn wahrscheinlich noch nie lachen sehen.

Er las die Antwort-Mail noch einmal. Simon war sein ältester, bester Freund. Niemand kannte ihn so gut wie er. Und niemand hielt so wenig hinter den Berg mit seiner Meinung wie Simon Thaler. Und er hatte da durchaus einen Punkt. Aber Mats zog es vor, das seinem Freund gegenüber nicht zuzugeben. Genauso wenig wie vor sich selbst.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Aw: Aw: Aw: Aw: Aw: Ha ha, Aliens!

Ich finde das Stinkefinger-Emoji gerade nicht. Also denke es dir einfach. Bye, bye, mein Freund. Ich schick dir eine Karte.

Dein schon fast tiefenentspannter Freund Mats

Dr. Mats Lindberg

Universitätsklinikum Frankfurt – Notfallzentrum

Mats schickte die Mail ab und schloss das Programm, um seinen Arztbrief zu Ende zu schreiben. Heute war es ungewöhnlich ruhig in der Notaufnahme. Seinen letzten Dienst in Frankfurt hatte er sich turbulenter vorgestellt. Egal. Er würde jetzt einfach eine Runde drehen und schauen, wo er unterstützen konnte. Stillstand war wirklich nicht sein Ding. Wenn er heute Dienstende hatte, musste er dringend googeln, womit man sich eigentlich auf den Malediven die Zeit vertreiben konnte.

*

Sanna arbeitete die Mittagspause durch und hatte sich nur zwischen Tür und Angel ein halbes Brötchen mit Meininger-Honig in den Mund geschoben. Erst am frühen Nachmittag wurde es ruhiger in der Praxis, dafür hing ihr der Magen inzwischen in den Kniekehlen. Als sie sich eine frische Tasse Kaffee und die Reste ihres Frühstücks in der Teeküche holen wollte, fand sie ihren Bruder an dem kleinen wackligen Tisch in der Ecke.

Simon schob sich gerade ein großes Stück Croissant in den Mund, von dem der Honig tropfte, den sie am Morgen geschenkt bekommen hatte. »Lecker«, nuschelte er um das Gebäck herum. »Der Honig ist der Hammer.«

»Hmm.« Sanna goss sich Kaffee aus der Warmhaltekanne in ihre pinkfarbene Tasse mit dem Aufdruck Ruhe bewahren … die Ärztin regelt das und kippte einen Schluck Milch hinterher. »Den hat mir der Meininger Luis geschenkt.«

»Ah.« Simon nickte. »Mädesüß für das Pubertier?«

»Das Pubertier heißt Marie«, ermahnte Sanna ihn.

»Ich schwöre dir, ich kannte das nette kleine Mädchen, das Marie Meininger hieß. Aber zumindest zwischenzeitlich schien sie von einem Dämon besessen zu sein«, widersprach ihr Bruder, der Luis’ Tochter schon behandelt hatte, bevor sie zur Teenagerin mutiert war.

»Na ja«, widersprach Sanna. »Du warst in dem Alter die männliche Version von Marie. Immer nur deine Gitarre im Kopf, auf der du grauenvolle Lieder gesungen hast, wie uncool, ungerecht und überhaupt unwissend die gesamte Welt war.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Du warst in diesen Pubertätsfantasien der Einzige, der es geblickt hat.«

Simon grinste. »Manche Dinge ändern sich einfach nie«, zog er sie auf. »Ich bin immer noch der, der es blickt.«

»Und immer noch nicht aus der Pubertät raus«, ergänzte Sanna. »Erwachsen werden ist gar nicht so einfach, nicht wahr, Brüderchen? Apropos Erwachsene.« Sanna zog ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. »Ich wollte gerade noch mal Mama anrufen.«

Simon gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie das machen sollte und er mithören wollte, weil er gerade noch einmal ein riesiges Stück von seinem Croissant abgebissen hatte und mit vollem Mund kaute.

Also setzte sich Sanna zu ihm an den Tisch, wählte die Nummer ihrer Mutter und stellte auf Lautsprecher. Sie war fast überrascht, als Josefine den Anruf annahm, statt ihn wie alle anderen an diesem Tag an die Mailbox weiterzuleiten.

»Hallo, mein Schatz, ist in der Praxis alles klar?«, fragte sie. Sanna fand, dass Josefine gehetzt klang. Sie rieb mit ihren plötzlich feuchten Händen über ihre Jeans und versuchte, ihren schnellen Puls zu ignorieren. Das Verhalten ihrer Mutter machte ihr Angst. Irgendwas stank hier gewaltig. Sie würden hoffentlich gleich erfahren, was.

»Simon ist hier und hört mit«, wies sie Josefine darauf hin, dass sie den Lautsprecher angeschaltet hatte, und wartete, bis ihr Bruder ihrer Mutter Hallo gesagt hatte.

Was er auch tat. Auf seine Weise. »Rück mal raus mit der Sprache, Mama. Wo treibt ihr euch rum? Die Leute sind uns echt aufs Dach gestiegen, weil du nicht da warst«, brachte er flapsig heraus.

»In der Praxis ist alles in Ordnung«, beschönigte Sanna die Worte ihres Bruders und warf ihm einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. »Aber wir haben uns Sorgen gemacht, weil du einfach so verschwunden bist. Und Papa auch.« Sanna hörte im Hintergrund eine Lautsprecherdurchsage. »Bist du am Flughafen?«, fragte sie überrascht.

Josefine seufzte. »Mein Boarding beginnt. Ich habe also nicht mehr viel Zeit. Es tut mir leid, dass ich wegmusste. Aber euer Vater, dieser verdammte Sturkopf …« Sie seufzte noch einmal. »Er ist einfach losgefahren. Hat sich in seinen Bulli gesetzt und ist zu dieser Weltreise aufgebrochen, von der er schon seit fünfunddreißig Jahren spricht.«

»Na ja, war zu erwarten, dass er nicht ein Leben lang nur davon spricht, sondern irgendwann auch mal losfährt«, erwiderte Simon, als wäre das das Logischste der Welt und kein bisschen bedenklich, dass er seine Frau einfach so zurückließ.

Nicht hilfreich, gab Sanna ihm stumm und mit einem Augenverdrehen zu verstehen.

»Aber doch nicht ohne mich!«, empörte sich ihre Mutter am anderen Ende der Leitung prompt. »Jetzt muss ich alles stehen und liegen lassen und ihm hinterher, als wäre ich irgendein verrückter Hippie.«

Sanna, die gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, ließ die Tasse sinken. »Du gehst mit Papa auf Weltreise?« Erschrocken sah sie ihren Bruder an. Simons Augen spiegelten ihre Gedanken. Das war so ziemlich die schlechteste Idee, die ihre Mutter gehabt hatte, seit … seit sie beschlossen hatte, eine Schamanenausbildung zu machen, und sich beim Gang über heiße Kohlen beide Fußsohlen verbrannt hatte. Sie konnte doch nicht einfach abhauen und sie mit der Praxis alleine lassen. Den Ansturm der Patienten konnten Simon und sie allein gar nicht bewältigen. Insbesondere, weil ihr Bruder Kinderarzt war und die Wehwehchen der älteren Patienten nicht unbedingt zu seinem Fachgebiet gehörten. Waldkirch mochte auf den ersten Blick nicht besonders groß wirken, aber ihr Einzugsgebiet war riesig. Der Großteil der Patienten würde an ihr hängen bleiben. Sie scheute sich zwar nicht vor der Arbeit, aber sie würde sich in die Akten ihrer Mutter einlesen müssen, und die Patienten waren gezwungen, längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Dabei waren sie verdammt stolz, dass das in ihrer Praxis kein Problem war.

»Nein, nein. Ich fliege nur nach Venedig und fange Laurenz dort ab, um ihn wieder mit nach Hause zu nehmen«, beruhigte Josefine sie.

Sanna stieß erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte, und sah, wie sich auch der Brustkorb ihres Bruders unter einem tiefen Atemzug bewegte. Das klang nach einem Zeitraum, der sich überbrücken ließ. Schließlich hatten auch Ärzte mal frei, machten Urlaub oder wurden selbst krank. Ein paar Tage bekamen Simon und sie das hin. Und dann wäre wieder alles beim Alten.

Sie hörten, wie abermals zum Boarding für Josefines Flug aufgerufen wurde. »Ich würde Laurenz nicht hinterherrennen, wenn ich mir nicht sicher sein könnte, dass die Praxis bei euch in guten Händen ist. Für ein paar Tage kommt ihr ohne mich klar. Sanna, du musst dran denken, dass bei Herrn Redler ein großes Blutbild gemacht wird. Und schau bei der Sichler Anni vorbei. Die hat bestimmt wieder nicht an ihre Teststreifen gedacht.« Es raschelte in der Leitung, als würde ihre Mutter ihre Sachen zusammensuchen. »Es tut mir wirklich leid, dass ich so überstürzt aufgebrochen bin. Aber … Laurenz und ich … Wir sind jetzt über vierzig Jahre zusammen, fünfunddreißig Jahre verheiratet. Er hat zwar dauernd von dieser Reise geredet, aber ich konnte doch nicht wissen, dass er irgendwann ernst macht. Einfach so.«

Simon lehnte sich über das Telefon. »Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte er. »Das war zwar etwas kurzfristig. Aber wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegen würden. Mach dir mit Papa ein paar schöne Tage in Venedig und schickt uns ein paar Fotos.«

»Das machen wir. Hab euch lieb. Ruft mich an, wenn irgendetwas ist oder ihr meine Schrift in einer Akte nicht entziffern könnt. Ich werde auf jeden Fall versuchen, euch aus der Ferne zu unterstützen, auch wenn das vermutlich nicht zu der Art von Reise gehört, die euer Vater sich vorgestellt hat«, murmelte sie. »Jetzt muss ich aber wirklich los. Bis in ein paar Tagen.« Josefine beendete das Gespräch, und Sanna sah ihren Bruder fassungslos an. »Das darf ja wohl nicht wahr sein«, murmelte sie.

»Ach was.« Simon zuckte gut gelaunt mit den Schultern. »Drei Tage schaffen wir doch locker.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben.« Sanna verdrehte die Augen. »Natürlich schaffen wir das. Aber ganz so einfach wird es nicht.« Nachdenklich trommelte sie mit den Fingern auf dem zerkratzten Resopal des Tisches herum. »Findest du das Verhalten unserer Eltern normal? Dass Papa einfach so abhaut und Mama alles stehen und liegen lässt, um ihm zu folgen?«, fragte Sanna.

»Zumindest erklärt das das WhatsApp-Statusbild unseres alten Herren mit seinem Bulli heute Morgen. Ich glaube, dieses Phänomen nennt man Liebe. Nichts, wovon du eine Ahnung hättest. Oder ich.« Simon grinste. »Also sorgen wir dafür, dass hier alles glatt läuft, damit die Turteltäubchen ihre Beziehung zelebrieren können.«

Sanna verzog das Gesicht. »Selbst als Ärztin möchte ich mir meine Eltern nicht dabei vorstellen, wie sie ihre Beziehung zelebrieren«, betonte sie die letzten Worte. »Aber gut. Für ein paar Tage kriegen wir das hin.« Sie nippte an ihrem Kaffee, der inzwischen nur noch lauwarm war. »Ich mache jetzt weiter. Und du kümmerst dich um Herrn Redler. Du hast es ja gehört. Bei ihm steht ein großes Blutbild an.«

»Warum ich?«, rief Simon ihr hinterher, als Sanna schon an der Tür war.

»Du weißt schon, Turteltäubchen ihre Beziehung zelebrieren lassen und so«, schlug sie ihn mit seinen eigenen Worten.

»Das ist gemein …«

Das brachte Sanna zum Lachen. Manchmal verhielten ihr Bruder und sie sich noch immer, als wären sie zwölf und zehn. Ein Glück, dass ihre Patienten davon nichts mitbekamen.

2

Geschwister gegen den Rest der Welt

Sanna: Wir müssen unbedingt einen Ersatz für Mama finden.

Simon: Feierabendbier bei mir? 🍻

Sanna: Brauch ich dringend, wird aber unser Problem auch nicht lösen.

Simon: 🤔 Ich habe da so eine Idee …

Sanna: Dieser Satz aus deinem Mund hat mir schon immer Angst gemacht.🙈

Am Abend zuvor

Laurenz Thaler warf einen letzten Kontrollblick auf den Esstisch, den er mit dem guten Geschirr gedeckt hatte. Kerzen, die er angezündet hatte, weil seine Frau jeden Moment durch die Haustür kommen würde. Frühjahrsblüher, die aus ihrem Garten stammten, in dem er für sein Leben gern herumwerkelte. Er ließ seinen Blick zum Fenster schweifen. Den Garten würde er vermissen, wenn Josefine und er ihr altes Leben hinter sich ließen. Aber dafür würde er überall auf der Welt Pflanzen und Samen finden, die er mit nach Hause nehmen und hier züchten konnte. In den letzten Tagen hatte er sich sogar mit diesem Instagram beschäftigt. Vielleicht würde er es dokumentieren, wenn die Blumen und Gräser, die er auf anderen Kontinenten auftrieb, später in seinem grünen Reich aufblühten. Vielleicht würden Josefine und er sogar ihre ganze Reise in den sozialen Medien teilen. Es schien immer Leute zu geben, die sich für die Abenteuer der anderen interessierten.

Was seinen Garten betraf, würde er Sanna bitten, einen Blick auf sein kleines Heiligtum zu haben. Seine Tochter hatte seinen grünen Daumen geerbt und liebte das Gärtnern mindestens so sehr wie er.

»Ich bin zu Hause«, hörte er seine Frau in dem Moment rufen, in dem die Tür aufgeschoben wurde.

Laurenz ging ihr entgegen, nahm ihr in der Diele den Arztkoffer ab und küsste sie auf die Wange, bevor er ihr aus der Jacke half.

»Du hast gesagt, es sei wichtig.« Josefine hob ihre Arme in einer ergebenen Geste. »Hier bin ich.«

»Und sogar pünktlich.« Laurenz zwinkerte ihr zu. »Ich habe gekocht.«

»Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?«, fragte sie lächelnd.

Nein, das hatte sie schon eine Weile nicht mehr getan, ging es Laurenz durch den Kopf. Er behielt diesen Gedanken aber lieber für sich, während Josefine weitersprach. »Ein Mann, der ein warmes Essen auf den Tisch stellt, wenn die Frau von ihrem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt – das ist ein Traum.«

Er wartete, bis Josefine sich gesetzt hatte, bevor er das Essen auftischte.

»Hmm.« Seine Frau verdrehte die Augen, als sie die Spaghetti probierte. »Pasta Napoletana. Die haben wir schon ewig nicht mehr gegessen.« Sie nahm noch einen Bissen. »Also, was wolltest du mit mir besprechen?«

Laurenz legte sein Besteck zur Seite und wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er hatte seine kleine Rede durchdacht, die Worte im Kopf hin und her gedreht und das Ganze im Stillen geübt. Doch jetzt, als Josefine vor ihm saß, die Ungeduld, die er nur zu gut kannte, in ihrem Blick, platzte es einfach aus ihm heraus. »Ich möchte endlich losfahren, Josi.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Die Gabel, um die Josefine ihre Spaghetti gewickelt hatte, blieb auf halbem Weg zu ihrem Mund in der Luft hängen, als ihre Hand einfror. Dann kam wieder Bewegung in sie. Wie in Zeitlupe ließ sie den Bissen sinken. »Du möchtest losfahren? Wohin …?« Dann schien sie zu verstehen. »Darum geht es hier also? Deine Weltreise.«

»Unsere Weltreise«, erinnerte er seine Frau daran und unterdrückte den frustrierten Seufzer, der in seiner Kehle festsaß. »Das war nie nur mein Traum, sondern unserer.«

»Du hast natürlich recht.« Jetzt legte auch Josefine ihr Besteck zur Seite. »Es ist unser Traum. Aber ich kann im Moment …«

»Der Bulli steht fertig gepackt da. Seit Wochen«, unterbrach Laurenz sie, bevor sie ihm wieder erzählte, dass sie diese Reise mit ihm machen wollte, aber der Zeitpunkt einfach ungünstig war. Der Zeitpunkt war, verdammt noch mal, immer ungünstig. Zumindest wenn es nach seiner Frau ging. Als er mit der Restaurierung endlich fertig gewesen war, hatten sie das mit einer Flasche Sekt gefeiert und mit einer wild gecampten Nacht unterhalb der Rossalpe. Er hatte geglaubt, jetzt würden sie endlich aufbrechen. Josefine hingegen war am nächsten Tag in ihre Arbeitsroutine zurückgekehrt und hatte diesen besonderen Moment in den Bergen zur Seite geschoben. Genau wie Laurenz’ Wunsch, endlich die Welt zu erkunden. So, wie sie es schon seit Jahrzehnten tat. »Wir müssen nur noch ein paar Klamotten zusammenpacken und können aufbrechen«, sagte er in verschwörerischem Tonfall.

»Du denkst, du kochst einfach ein paar Spaghetti Napoletana und schnippst mit dem Finger, und ich lasse alles stehen und liegen, packe ein paar Klamotten zusammen, wie du so schön sagst, und los geht’s? Ich habe hier Verantwortung.« Die Falte, die darauf hindeutete, dass seine Frau in ihren sturen Modus geschaltet hatte, erschien zwischen ihren Brauen.

»Das Essen sollte dich an unser erstes Reiseziel erinnern. Wir haben immer davon geträumt, in Italien zu starten«, erinnerte Laurenz sie. »Ich hatte auch Verantwortung«, erklärte er, denn immerhin war er der Leiter der Polizeistation Waldkirch gewesen. »Aber ich bin inzwischen seit zwei Jahren pensioniert. Ich habe auf dich gewartet. Ich habe verstanden, dass du erst dein Medizinstudium durchziehen musstest. Ich habe verstanden, dass wir die Reise nicht mit kleinen Kindern machen konnten. Und auch nicht mit Teenagern. Du hast mich immer auf unseren Ruhestand vertröstet. Und mein Ruhestand dauert jetzt schon zwei Jahre.«

»Aber meiner ist noch lange nicht angebrochen«, hielt Josefine dagegen.

»Und wird er auch nie, wenn es nach dir geht. Josi«, sagte Laurenz eindringlich, »wir haben zwei wunderbare Kinder großgezogen, sie durchs Studium gebracht. Sie sind inzwischen Ärzte. Sie arbeiten in deiner Praxis. Und sie werden sie übernehmen. Es ist an der Zeit, loszulassen und uns auf uns zu konzentrieren.«

»Ich … so einfach ist das nicht. Ich muss …« Josefine hatte ihr Handy zwar lautlos geschaltet, aber das Brummen des Vibrationsalarms war trotzdem nicht zu überhören. »Entschuldige«, murmelte sie und griff nach dem Telefon wie nach einem Rettungsanker.

»Können wir unser Gespräch beenden, bevor du da drangehst?«, bat Laurenz.

»Tut mir leid.« Josefine blickte auf das Display. »Das ist die Tochter von Frau Lindner. Ihr ging es den ganzen Tag schon nicht gut.« Sie nahm den Anruf an und begann, die offenbar aufgelöste Frau am anderen Ende zu beruhigen. Das konnte sie verdammt gut. Sie war der Inbegriff der mitfühlenden Hausärztin. Natürlich brauchte Waldkirch jemanden wie sie. Das verstand er. Aber Laurenz brauchte sie auch.

Seine Gedanken waren abgeschweift, und er zuckte zusammen, als Josefine das Gespräch beendete und aufstand. »Wo willst du hin?«, fragte er, selbst wenn er die Antwort längst wusste.

»Die Lindners brauchen mich jetzt.«

»Josi, ich brauche dich auch«, versuchte Laurenz, seine Frau daran zu erinnern, dass er gerade dabei war, ihre Zukunft zu planen.

Im Vorbeigehen legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Dein Leben steht nicht auf dem Spiel.«

»Vielleicht doch«, murmelte er und griff nach dem Weinglas. Er kippte den Primitivo auf ex, stand auf und trat an die Terrassentür, die in den Garten führte. Denn eines war ihm gerade klar geworden: Seine Frau würde sich niemals gegen ihre Patienten und für ihr gemeinsames Leben entscheiden. Laurenz starrte auf die Bäume, die blühten. Auf die Beete, die bald unter einem bunten Blumenmeer verschwinden würden. Wenn er zu seiner Weltreise aufbrechen wollte, dann musste er es einfach tun, dachte Laurenz. Ohne Josefine. Er musste nur einsteigen und losfahren. Und wenn er die Reise antrat, dann musste er nicht länger warten. Er wollte die Welt sehen. Jetzt! Also konnte er auch jetzt aufbrechen. Entschlossen wandte er sich vom Fenster ab, packte das Essen in Plastikdosen, verstaute sie im Kühlschrank und räumte die Küche und den Esstisch auf.

Dann packte er seine Sachen zusammen. Er hatte diese Reise so lange geplant und vorbereitet, dass er nicht viel Zeit brauchte, um das herauszusuchen, was er mitnehmen wollte. Es fehlten schließlich nur noch ein paar Klamotten. Als er alles in seinem alten Bulli verstaut hatte, war Josi immer noch nicht zurück. Er überlegte, seinen Kindern Bescheid zu sagen, entschied sich dann aber dagegen. Sanna und Simon würden wahrscheinlich versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Es war besser, sich von unterwegs zu melden, wenn es kein Zurück mehr gab.

Laurenz schrieb Josi einen kurzen Brief, legte ihn neben den Blumenstrauß auf den Esstisch und zog die Haustür hinter sich zu. Zwei Minuten später tuckerte er in seinem Bulli vom Hof.

*

Der Morgen graute noch nicht, als Josefine ihren Wagen vor dem Haus ausrollen ließ. Sie konnte den hellen Schimmer hinter den Bergen aber bereits erkennen. Erschöpft schloss sie für einen Moment die Augen, bevor sie den Sicherheitsgurt löste und ausstieg. Sie wollte jetzt nur noch in ihr Bett kriechen, sich an Laurenz’ Seite schmiegen und die wenigen Stunden, die ihr bis zum Dienstbeginn in der Praxis blieben, schlafen. Frau Lindner war in einem kritischen Zustand gewesen, als sie bei der alten Dame eingetroffen war, aber sie hatten sie ins Krankenhaus nach Oberstdorf bringen und stabilisieren können. Josefine war an ihrer Seite geblieben, bis ihre Werte sich wieder einigermaßen normalisiert hatten. Wenn sie jetzt ins Bett kletterte, würde Laurenz ganz automatisch seinen Arm um sie legen und sie an sich ziehen. Eine Geste, die sie beruhigte und erdete. Auf die sie sich verlassen konnte, ganz egal, ob ihr Mann schlief oder wach war.

Laurenz. Als sie sie die Haustür öffnete, fiel ihr das Gespräch wieder ein, das sie beim Essen geführt hatten. Sie wusste, dass sie mit der Geduld ihres Mannes spielte. Und das tat sie schon seit vierzig Jahren. Sie hatten sich in der elften Klasse ineinander verliebt, als sie bei einem Chemieexperiment eine Explosion verursacht und dabei den halben Lehrsaal in Brand gesteckt hatten. Jahrzehntelang hatten sie im Scherz behauptet, dass ihre Herzen in diesem Moment Feuer gefangen hatten. Unauslöschlich. Und sicher, dass ihre Liebe ein Leben lang halten würde. In den ersten Jahren war ihre Beziehung auch explosiv und ein bisschen wild gewesen. Mit den Jahren und den Kindern war das Feuer, das zwischen ihnen glomm, ruhiger und beständiger geworden. Die Liebe zwischen ihnen war aber nie abgekühlt. Sie war immer da gewesen. Manchmal ein wenig im Hintergrund, aber trotzdem meistens unübersehbar.

Laurenz hatte für sie auf vieles verzichtet. Als Abiturienten hatten sie von der großen Weltreise in einem VW-Bulli geträumt, den er damals restauriert hatte. Doch dann hatte Josefine einen Studienplatz in Medizin bekommen, und die Weltreise musste zum ersten Mal verschoben werden. Stattdessen hatte er eine Ausbildung bei der Polizei angefangen und sie bei ihrem Studium mental und finanziell unterstützt. Dann hatte sie die Praxis aufgebaut. Sie hatten die Kinder bekommen. Und Laurenz war immer da gewesen. Hatte ihr immer so viel abgenommen. Es war wirklich an der Zeit, etwas zurückzugeben und ihm seinen Traum zu ermöglichen. Vielleicht konnte sie ihn an diesem Abend zum Essen einladen und dann könnten sie einen Plan aufstellen. Höchstens noch ein oder zwei Jahre, sagte sie sich. Dann würde sie die Praxis endgültig an Sanna und Simon übergeben.

Sie lächelte, als sie den Zettel auf dem aufgeräumten Esstisch entdeckte. Laurenz war alles andere als begeistert gewesen, weil sie ihn mit dem Abendessen sitzen gelassen hatte. Und trotzdem hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen, wie er es sonst auch tat, wenn sie nachts zu einem ihrer Patienten musste.

Josefine griff nach dem Blatt und las. Las es noch einmal. Und … noch einmal. »Was?«, entfuhr es ihr, gefolgt von einem erstickten Laut. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte auf die wenigen Zeilen in der sauberen, etwas eckigen Handschrift ihres Mannes: Ich weiß, dass du nie bereit sein wirst, diese Reise mit mir zu machen. Aber sie ist mein großer Traum. Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich es nie tun. Und das würde ich bereuen. Ich liebe dich, Josi, aber ich kann das nicht länger aufschieben. Dein Laurenz

Josefine blinzelte und schüttelte die Betäubung ab, die Laurenz’ Worte hinterlassen hatten. Sie sprang auf, rannte zur Hintertür und schaltete das Licht an, das den Hof erhellte. Der Bulli war weg. Wenn das ein Trick war, um ihr Angst zu machen, um sie dazu zu bringen, endlich auf diese Weltreise zu gehen, dann hatte ihr Mann sein Ziel ganz eindeutig erreicht. Sie hatte Angst. Angst, dass er sie verlassen hatte. Angst, dass er das größte Abenteuer seines Lebens ohne sie antreten könnte. Angst, dass er sie einfach so zurückließ, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hastete die Treppe hinauf und stürmte in ihr Schlafzimmer.

Als sie Laurenz’ leere Bettseite sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Er hatte es wahr gemacht: Er hatte sich gegen sie entschieden. Und er hatte ihr den schwarzen Peter zugeschoben und war einfach abgehauen. Wie konnte er ›Ich liebe dich‹ auf diesen verdammten Zettel schreiben und sich dann aus dem Staub machen? Sie musste keinen Blick in den Kleiderschrank werfen, um zu wissen, dass Laurenz’ Sachen fehlten. Sie tat es trotzdem.

Dann gewann die Wut. Wie konnte er es wagen? Sie war die Frau seines Lebens. Die Frau, mit der er alt werden wollte. Er hatte kein Recht dazu, sie einfach zurückzulassen. Auch wenn sie tief im Herzen wusste, dass auch sie ihn immer wieder zurückgelassen hatte. Hinter ihrer Arbeit. Hinter ihren Patienten. Trotzdem hätte er nicht einfach abhauen dürfen. Sie hatte wahrscheinlich kein Recht, wütend auf ihn zu sein. Aber genau dieses Gefühl würde sie nicht loslassen, weil sonst vielleicht die Verzweiflung nach ihr griff.

Mit polternden Schritten hastete sie auf den Dachboden und zog ihren blauen Koffer hinter dem Schrank hervor. Venedig, dachte sie. Venedig war sein erster Stopp. Sie würde vor ihm da sein. Und dann … sie wusste nicht, was sie dann machen würde. Aber Laurenz würde es bitter bereuen, einfach ohne sie gegangen zu sein.

*

Sanna angelte sich ein Stück Pizza Parma aus ihrer Schachtel und lehnte sich auf der riesigen Couch ihres Bruders zurück, nachdem sie seine Gitarre ein Stück zur Seite geschoben hatte. Nach einem zweiten Tag im Ausnahmezustand hatten sie sich den Besuch des Pizzaboten auf jeden Fall verdient.

Simon lag neben Schiller auf dem Boden und stopfte sich ein Stück mit scharfer Salami und Peperoni in den Mund. »Ich hoffe, Mama kommt morgen zurück. Ich bin Kinderarzt, verdammt noch mal. Diabetes, Herzrhythmusstörungen und Gürtelrose sind echt nicht meine Kernkompetenzen.«

»Du schlägst dich wacker, großer Bruder«, antwortete Sanna mit Humor in der Stimme. Aber was sie sagte, meinte sie ernst. »Einen Tag schaffen wir noch. Und dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang.«

Genau diesen Moment suchte sich Sannas Handy aus, um zu klingeln. Statt nach einem weiteren Stück Pizza angelte sie nach dem Telefon, das sie neben der Couch auf den Boden gelegt hatte. »Das ist Papa«, sagte sie und nahm den Anruf an. »Hey, Paps, ich bin gerade bei Simon. Ich stelle dich auf Lautsprecher, okay?«

»Servus, ihr zwei. Grüße aus Venedig. Auch von Mama«, dröhnte die Stimme ihres Vaters durch den Lautsprecher. Das klang nicht, als ob der Haussegen zwischen ihren Eltern schief hing. Was beruhigend war – und trotzdem irritierend.

Sanna legte das Handy auf den Boden zurück und schnappte sich noch ein Stück Pizza. »Dann habt ihr euch also gefunden? Das freut uns. Wie war die Fahrt nach Italien?«

Laurenz erzählte von seinem ersten längeren Trip mit dem Bulli, der dem aufs Haar glich, den er vor vierzig Jahren besessen hatte und mit dem er unbedingt um die Welt hatte reisen wollen. Das Nachfolgemodell, das er sich zu seiner Pensionierung gekauft hatte, hatte er in den letzten zwei Jahren liebevoll restauriert und wiederhergerichtet.

Als ihr Vater seinen Reisebericht beendet hatte, richtete sich Simon auf die Ellenbogen auf, um dem Handy ein bisschen näher zu kommen. »Das klingt super. Und ich freu mich, dass Mama und du euch in Venedig gefunden habt. Aber die Frage ist, wann seid ihr wieder da? Fliegt Mama, oder kommt ihr zusammen mit dem Bulli zurück?«

Für einen Moment herrschte Schweigen in der Leitung. »Also, was das betrifft…«, begann Laurenz schließlich, und Sanna und Simon warfen sich einen alarmierten Blick zu. »Das kann euch eure Mutter besser erklären. Ich geb euch mal weiter, okay?«

»Hey, ihr zwei!« Josefine klang aufgekratzt. Glücklich. Was Sanna freute. Auch wenn es ihr gleichzeitig Sorgen bereitete, was das für die Praxis, Simon und sie selbst zu bedeuten hatte.

»Hallo, Mama«, sagten sie unisono, und Simon hängte abermals sein »Wann kommst du nach Hause?« hintendran.

»Was das betrifft«, benutzte Josefine die gleichen Worte wie ihr Mann. »Das kommt jetzt vermutlich ein wenig plötzlich. Aber euer Vater und ich haben beschlossen, dass es höchste Zeit für die Weltreise wird, von der wir schon so lange träumen.«

Das kam allerdings plötzlich, auch wenn sie alle diesen Wunsch ihres Vaters kannten.

»Ich war ziemlich wütend auf Papa«, fuhr ihre Mutter fort. »Aber wir haben die Zeit genutzt und geredet. Eurem Vater ist es gelungen, mich umzustimmen und von seinem Traum zu überzeugen, der ja irgendwann auch mal meiner gewesen ist. Selbst wenn ich ihn mit den Jahren verdrängt habe. Mir tut die Zeit mit eurem Vater gut. Ich will mit ihm zusammen die Welt erobern und ab jetzt nichts mehr von diesem Abenteuer verpassen.«

»Ihr wollt also auf Weltreise gehen. Das ist eine schöne Idee«, sagte Sanna vorsichtig. »Wann wollt ihr denn starten?«

»Genau genommen sind wir schon mittendrin«, ließ Josefine die Bombe platzen. »Von Venedig aus geht es nach Rom und dann bis zur Stiefelspitze hinunter. Von dort aus nach Sizilien und dann erstmal nach Korsika. Wie es von dort aus weitergeht, sind wir uns noch nicht ganz einig. Ihr wisst ja, wie das mit eurem Vater ist. Man muss ständig diskutieren. Aber eigentlich hat er die ganze Route bereits ausgearbeitet.«

Was? Sanna war sich nicht sicher, ob sie ihre Mutter gerade richtig verstanden hatte. Panik begann sich in ihr breitzumachen. Ein paar Tage Auszeit waren völlig in Ordnung. Die hatte ihre Mutter verdient. Aber Josefine konnte sie doch nicht einfach hängen lassen. Ihrem Bruder ging es offenbar genauso.

»Mama, was redest du denn da?« Simon richtete sich auf und fuhr mit den Fingern durch ihre Haare, was sie wild in alle Richtungen abstehen ließ. »Du hast gesagt, in drei Tagen bist du wieder da. ›In drei Tagen‹ ist morgen.«

Josefine seufzte. »Ich weiß. Das habe ich gesagt. Und es tut mir wirklich leid, dass das jetzt alles so plötzlich passiert. Aber ich wäre diesen Schritt nicht gegangen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass die Praxis bei euch in guten Händen ist.«

»Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen und auf Weltreise gehen«, sagte Sanna das Einzige, was ihr zum völlig untypischen, überstürzten Handeln ihrer Mutter einfiel.

»Erst einmal nehmen wir uns ja auch nur Europa vor. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir die ganze Reise am Stück machen oder uns jetzt unsere Nachbarländer ansehen und dann noch mal nach Hause kommen. Und ich bin ja immer erreichbar, wenn ihr mich brauchen solltet.«

»Was wir brauchen, ist einen dritten Arzt in Waldkirch, und nicht jemanden, der telefonisch Diagnosen erstellen kann«, widersprach Sanna.

»Mama! Das geht nicht!«, protestierte Simon im gleichen Moment. Er starrte das Handy mit aufgerissenen Augen an. »Wir bekommen das zu zweit nicht hin. In der Praxis herrscht seit gestern der Ausnahmezustand.«

»Es ist kurzfristig, das stimmt. Und ich wollte euch nur anbieten, euch zu unterstützen, wenn ihr Fragen zu Patienten habt«, ging sie offenbar auf Sannas Vorwurf ein. »Aber ich habe keine Bedenken, dass ihr das hinbekommt. Ich habe überlegt, dass ihr bei Dr. Mahlberger oder Dr. Kauter nachfragen könntet. Sie hätten bestimmt Lust und Zeit, euch ein paar Stunden pro Woche zu unterstützen. Und wenn sich das erst einmal eingespielt hat, werdet ihr gar nicht merken, dass ich weg bin.« Josefine zögerte einen Moment. »Ich weiß, dass euch das Ganze gerade ein bisschen überrascht, aber ich will ehrlich sein. Euer Vater und unsere Beziehung bedeuten mir sehr viel. Ich liebe ihn. Ohne dramatisch klingen zu wollen: Er ist die Liebe meines Lebens.«

Simon verdrehte die Augen und steckte sich einen Finger in den Mund, als wolle er erbrechen. Sanna biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht zu lachen. Selbst in einer so verdammt ernsten Situation schaffte ihr Bruder es, einen Witz zu reißen.

»Ich habe unsere Ehe viel zu lange schleifen lassen und Laurenz für selbstverständlich genommen«, redete ihre Mutter währenddessen weiter. »Irgendwann rächt sich das. Wenn ich das jetzt nicht durchziehe, verliere ich ihn vielleicht. Und das kann ich nicht zulassen. Ihr seid inzwischen so lange in der Praxis, ihr könnte das ohne mich.«

»Dr. Mahlberger und Dr. Kauter sind keine Option.« Simon hatte seine Pizza verdrückt, während sie sich von ihren Eltern verabschiedet und im Anschluss versucht hatten, die beiden pensionierten Kollegen dazu zu bringen, in der Praxis auszuhelfen. Jetzt schielte er nach Sannas Parma, und sie schob die halb leere Schachtel zu ihm hinüber. Ihr war der Appetit gründlich vergangen. Ohne einen weiteren Arzt konnten sie das Pensum der Praxis auf Dauer nicht halten. Sie hatten bereits Probleme, weil ihnen eine Arzthelferin fehlte und Mila diesen Job übernehmen musste, statt als Versorgungsassistentin einen Teil der Hausbesuche zu übernehmen. Überhaupt, die Hausbesuche. Sanna rieb sich über das Gesicht. Wann sollten sie die noch unterbekommen, wenn sie nur noch zu zweit waren?

»Nein.« Sanna biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Wenn Kauter die Betreuung seines Enkels übernommen hat und Mahlberger krank ist, haben wir ein Problem. Wo sollen wir eine Vertretung für Mama herbekommen? Und ich denke, da sind wir uns einig: Wir brauchen dringend einen Ersatz.«

»Ohne geht es jedenfalls nicht«, stimmte Simon ihr zu und teilte ein Stück Pizza mit Schiller. »Ich hätte da allerdings eine Idee, wer uns unterstützen könnte.«

»Wer?«, fragte Sanna. »Hier ist doch sonst niemand.«

»Nee, hier nicht«, stimmte ihr Bruder ihr zu. »Aber in Frankfurt.«

Sanna richtete sich auf. »Was? Dr. Eingebildet? Auf keinen Fall. Den lasse ich nicht auf unsere Patienten los.«

»Erstens: Mats ist nicht eingebildet. Und zweitens: Wenn du eine bessere Idee hast, bitte! Her damit!« Simon breitete die Arme aus und wedelte mit dem Pizzastück in der Hand herum. »Mats ist ein verdammt guter Arzt. Er steht grad zwischen zwei Jobs und hat in den nächsten zwei Monaten Zeit. Was uns wiederum einen Puffer gibt. Entweder kommt Mama bis dahin zur Vernunft – und nach Hause. Oder wir finden einen Arzt, den wir einstellen können. Eine bessere Chance werden wir nicht bekommen. Und ich tue Mats damit wahrscheinlich sogar noch einen Gefallen und rette ihn vor einer Reise, die er auf jeden Fall bescheuert finden wird, sobald er sie angetreten hat.«

Sanna gab ein frustriertes Schnauben von sich. Sie konnte Mats Lindberg schon seit ihrer Studienzeit nicht ausstehen – und er sie genauso wenig. »Hat Dr. Selbstherrlich irgendwann in den letzten Jahren einen Abschluss in Kinderheilkunde gemacht, von dem ich nichts weiß?«

»Äh … nein?« Ihr Bruder zog die Augenbrauen hoch.

»Dann wird er also nur mir auf die Nerven gehen?« Sie zeigte Simon den Mittelfinger. »Vergiss es!«

Ihr Bruder lachte. Doch dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. Er legte Sanna in einer brüderlichen Geste den Arm um die Schultern und zog sie in eine seitliche Umarmung. Simon war empathisch und gefühlvoll, auch wenn er oft genug den Kasper gab. Genau das machte ihn zu einem tollen Kinderarzt – und zu einem fantastischen großen Bruder. »Ich weiß, dass du bei dem Gedanken an Mats nicht gerade Freudensprünge machst. Aber er wird uns wirklich eine Hilfe sein, und ich verspreche dir, dass ich dafür sorge, dass er dir nicht allzu viele Nerven raubt. Okay?« Er drehte den Kopf und sah sie von der Seite an.

Sanna wusste genau, dass er so weiterstarren würde, bis sie nachgab. Also nickte sie mit einem Seufzen. »Okay.« Sie erwiderte seinen Blick. »Sorge dafür, dass ich das nicht bereuen werde.«

»Versprochen.« Simon zog sein Handy aus der Hosentasche und drückte auf Mats’ Kontakt, den er in den Favoriten gespeichert hatte. »Hey, mein Freund«, sagte er, und das breite Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück. »Ich habe eine gute Idee, wie du es schaffst, um diese bescheuerte Reise auf die Malediven herumzukommen.«

*

Mats sah sich in seinem Apartment um. Es wirkte kalt und leer. Er selbst wusste gar nicht, ob es jetzt an der Zeit war, sich genauso zu fühlen. Interessanterweise spürte er nicht viel. Zumindest keinen Herzschmerz, wie man es in seiner Situation erwarten würde. Angekratzter Stolz? Ja, das schon eher. Aber kein gebrochenes Herz. Kein Liebeskummer. Dabei waren Alina und er fast zwei Jahre zusammen gewesen und hatten geplant, zusammen auszuwandern.

Als sein Handy zu klingeln begann, zuckte er regelrecht zusammen, so laut hallte es von den nackten Wänden wider.

Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, ging zur Anrichte seiner glänzenden offenen Wohnküche hinüber und warf einen Blick auf das Display. Simon. Nicht Alina. Erleichtert atmete er aus. Ganz einfach, weil er keine Ahnung hatte, was er mit seiner Freundin – Ex-Freundin, korrigierte er sich in Gedanken – hätte sprechen sollen.

Mats nahm den Anruf an und schaltete auf Lautsprecher. »Simon, was gibt’s?«, begrüßte er ihn und öffnete den Kühlschrank, um sich das vorletzte Bier aus einem Sixpack zu nehmen, das hier schon seit Ewigkeiten vor sich hinkühlte. Er hatte einfach nie Zeit gehabt, sich am Abend gemütlich mit einem Bier vor den Fernseher zu setzen und Fußball zu schauen. Bis jetzt. Jetzt hatte er jede Menge Zeit, von der er keine Ahnung hatte, wie er sie verbringen sollte.

»Hey, mein Freund.« Mats hörte das breite Grinsen in Simons Stimme. »Ich habe eine gute Idee, wie du es schaffst, um diese bescheuerte Reise auf die Malediven herumzukommen.«

Mats schnaubte ein unfrohes Lachen aus und öffnete sein Bier. Dann trank er einen Schluck und ließ den Blick durch die bodentiefen Fenster seines Wohnzimmers über die Frankfurter Skyline schweifen. Dieser Ausblick war damals das Kaufargument für das Apartment gewesen. Alina war auch davon begeistert gewesen. Wenn sie zwischen all ihren Modeljobs mal in der Stadt gewesen war.

»Hallo? Mats?«, tönte die Stimme seines Freundes aus dem Lautsprecher. »Bist du noch da?«