Wo die Liebe dich küsst - Jana Lukas - E-Book

Wo die Liebe dich küsst E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Zu Hause ist, wo dir Liebe begegnet

Lina Kirchleitner liebt Kinder und träumt von einer eigenen großen Familie. Bis es soweit ist, findet sie in der alten Schule am See ein Zuhause, und in Felicia und Jule neue Freundinnen. Die alten Mauern, durch die noch immer der Geruch von Tafelkreide und Bücherstaub schwebt, sind eine fantastische Basis für ihren Nanny-Service. Als Lina den Geologen Eric Fuchs kennenlernt, ist sie zunächst wenig begeistert von ihm. Doch dann stellen sie fest, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben. Im romantischen Flackern der Starnberger Filmnächte verliert Lina ihr Herz. Doch über ihren Gefühlen liegt ein Schatten. So sehr sich Lina Kinder wünscht, so klar ist für Eric, dass er auf keinen Fall eine eigene Familie gründen will. Und Lina muss sich entscheiden zwischen ihrer großen Liebe und ihrem großen Lebenstraum.

Der dritte Band der Alte-Schule-Saga

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Seitenzahl: 481

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Zum Buch

»Das ist also dein Zuhause.« Eric betrachtete die Firmenschilder, die akkurat untereinander angebracht waren. Lina folgte seinem Blick. Sie war stolz auf das, was ihre Freunde und sie in den letzten Monaten auf die Beine gestellt hatten. Küchennachhilfe, Felicias Kochschule und Catering-Service. Ben Linder – Landschaftsarchitekt. Jules Die Gute Fee am See und ihr Nanny-Service.

»Gib mir mal dein Handy«, bat er sie. Eric speicherte seine Nummer ein und tippte dann auf Anrufen. Im nächsten Moment vibrierte sein Handy in der Hosentasche. »Wenn du das nächste Mal eine Popcorn-Empfehlung für einen Netflix-Marathon brauchst, melde dich.« Er gab ihr das Handy zurück und trat, als Lina danach griff, einen Schritt vor, um sie auf die Wange zu küssen.

Lina blieb ganz still stehen. Sie spürte Erics warme, feste Lippen, die den Bruchteil einer Sekunde zu lang auf ihrer Haut liegen blieben, fühlte das leichte Kratzen seiner Bartstoppeln. Dabei atmete sie seinen unaufdringlichen, frischen Duft ein. In einem Film wäre das jetzt der magische Moment.

Zur Autorin

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

Lieferbare TitelLandliebeHerz und TalWindstärke LiebeDie Mühlenschwestern – Die Liebe kennt den Weg zurückDie Mühlenschwestern – Die Hoffnung wird dich findenDie Mühlenschwestern – Das Glück wartet auf dichDie alte Schule am See – Wo dein Herz zuhause istDie alte Schule am See – Wo du das Glück findest

JANALUKAS

WO DIE LIEBE DICH KÜSST

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 02/2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von Trevillion Images (Drunaa, Sandra Cunningham); Stocksy (Jacqui Miller); FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28658-3V001www.heyne.de

Prolog

Flyer im Kindergarten Zwergenland:

Die Nanny für alle Fälle

Konzentriertes Arbeiten, Me-Time, ein Dinner-Date oder einfach nur eine schlichte Dusche, ohne gestört zu werden?

Fehlt Ihnen auch manchmal die Zeit dafür? Dann geht es Ihnen wie den meisten Eltern da draußen.

Die gute Nachricht: Lina Kirchleitners Nanny-Service ist in allen Lebenslagen für Sie und Ihre Kids da, damit Sie in Ruhe und ohne den Hauch eines schlechten Gewissens die Dinge tun können, die nötig sind. Oder die Ihnen Spaß machen. Denn glückliche und entspannte Eltern sind gute Eltern!

Mein Team und ich halten Ihnen den Rücken frei, unterstützen Sie gern zu festen Terminen oder auch spontan. Weil wir unseren Job und Kinder lieben … und Sie uns bald auch – garantiert! ;-)

1

Die Wolken hingen wie dunkelgraue Zuckerwatte über den Gipfeln der Alpen. Dort, wo der Wind kleine Lücken in die dicke Schicht gerissen hatte, blitzte das verwaschene Blau des Himmels durch. Die frische Brise wirbelte Wellen über die bleifarbene Oberfläche des Starnberger Sees. Nicht unbedingt das Wetter, das man im Hochsommer erwartete, aber Lina Kirchleitner machte das nichts aus. Die vergangenen Tage waren drückend heiß gewesen, und das Sommergewitter, das sich an diesem Morgen über Starnberg entladen hatte, war genau das, was die Stadt gebraucht hatte, um aufatmen zu können. Jetzt war die Luft wieder klar wie Glas. Und die Sonne würde sicher auch bald wieder über die Bergkämme der Alpen schauen.

Gut gelaunt schob Lina den Zwillingskinderwagen, in dem die sechs Wochen alten Mädchen Evi und Franzi friedlich schliefen, über den Gehweg. An der nächsten Kreuzung würde sie mit den Geschwistern der beiden, Paul und Gustav – vier Jahre alt und ebenfalls Zwillinge –, die Straße überqueren und zur Uferpromenade des Sees hinunterlaufen. Die Jungen hielten sich an den Händen, hüpften in einem mehr oder weniger gleichen Rhythmus vor dem Kinderwagen her und sangen laut und glücklich ein Lied, das sie sich offensichtlich erst während des Singens ausdachten. Sie waren anbetungswürdig, genau wie ihre kleinen Schwestern. Mitunter brachten sie allerdings auch die Energie einer kleinen Bisonherde auf. Es war also egal, wie das Wetter war: Sogar ein verregneter Morgen war draußen besser, als diese kleinen Rabauken in geschlossenen Räumen beaufsichtigen zu müssen.

Lina seufzte. Da war er wieder, dieser Gedanke an eigene Kinder, den sie während ihrer Arbeit normalerweise nicht zuließ. Sie schob ihn in die Schublade in ihrem Kopf zurück, wo er hingehörte. Es war das eine, sich bei ihren Freundinnen auszuheulen, dass es mit ihrer Familienplanung einfach nicht so klappte, wie sie sich das vorgestellt hatte – an ihrem Arbeitsplatz hatten solche Gedanken allerdings nichts verloren. Sie betrieb ihren Nanny-Service schließlich nicht, um sich mit Kindern zu umgeben, weil sie selbst noch keine bekommen hatte. Nein, sie wollte für die Kleinen da sein, ihnen die Aufmerksamkeit und Zuneigung schenken, die sie von ihren manchmal viel zu sehr mit ihrer Karriere oder sich selbst beschäftigten Eltern nicht bekamen. Sie wollte Familien helfen, die in stressigen Situationen ein wenig Unterstützung gebrauchen konnten. So wie Nora, die Mutter dieser beiden Zwillingspärchen, die gar nicht mehr wusste, wie sich mehr als zwei Stunden Schlaf am Stück anfühlten, mit ihren kleinen Mädchen und den aufgeweckten Jungs, die vor ihr her zur Fußgängerampel rannten und gerade lautstark darüber stritten, wer auf den Signalknopf drücken durfte. »Langsam, ihr zwei«, rief sie Paul und Gustav hinterher. »Einer kann jetzt drücken, einer auf dem Rückweg.«

Lina würde einen Spaziergang am See entlang machen und dann dafür sorgen, dass Paul und Gustav sich auf dem Spielplatz ordentlich austobten, während ihre Mutter ein ausgedehntes Mittagsschläfchen hielt und sich dann eine ausgiebige Dusche gönnen würde, bei der sie von niemandem unterbrochen wurde. Dieser Auftrag hatte sich spontan ergeben, weshalb Lina gar nicht erst eine ihrer Mitarbeiterinnen damit beauftragt, sondern sich gleich selbst darum gekümmert hatte. Im Kopf ging sie bereits das Angebot für ein bisschen Entlastung durch, das sie der Familie machen würde. Rosa wäre eine gute Nanny für die Kinder. Außerdem passte ihr löchriger Stundenplan an der Uni gut zu Noras Tagesablauf. An den Abenden war schließlich Noras Mann zu Hause, um sie zu unterstützen.

Lina hörte den Wagen hinter sich, während sie im Kopf die Details ihres Angebots kalkulierte. Ganz automatisch ging ihr Blick zu Paul und Gustav, um sicherzugehen, dass sie auf dem Gehweg geblieben waren. Die beiden Jungen standen an der Ampel und drückten abwechselnd enthusiastisch auf das Fußgängersignal.

Drei Vormittage pro Woche würden Nora auf jeden Fall sehr … Lina machte instinktiv einen Satz zur Seite, als der alte Geländewagen an ihr vorbeifuhr und eine Pfütze erwischte. Eine riesige Pfütze – die Lina in einer zwei ­Meter hohen Regenwasserfontäne verschwinden ließ. »Verdammte Schafscheiße!«

Paul und Gustav drehten sich zu ihr um und starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Der alte, abgerissene Geländewagen hielt am Straßenrand. Und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie vor den Kindern geflucht hatte wie ein Bauarbeiter. Hoffentlich ging das …

»Schaf…«, brüllte Paul in diesem Moment begeistert.

»… Scheiße«, ergänzte Gustav mit funkelnden Augen.

Die Fahrertür des Geländewagens wurde aufgeschoben. Lina warf einen Blick in den Kinderwagen. Die Mädchen hatten den Pfützenangriff seelenruhig verschlafen, und der Wagen selbst hatte Gott sei Dank nur ein paar Spritzer des dreckigen Wassers abbekommen.

»Schaf…«

»… Scheiße.«

Die Jungen entschieden, dass das offenbar der richtige Moment war, ihre Optik der Linas anzupassen und sprangen im gleichen Moment in eine Pfütze auf dem Gehweg, in dem die Gestalt des Fahrers am Heck des Wagens auftauchte. Ein Waldschrat, das war das Erste, was Lina beim Anblick des Mannes einfiel. Haare, die in ungekämmten Locken über den Kragen eines verschlissenen Flanellhemdes fielen. Ein dichter Bart, der alles andere als gepflegt wirkte. Jeans voller Risse und Löcher und dazu abgetragene Stiefel. Optisch passte dieser Mann perfekt zu seinem rostigen alten Wagen.

Lina wischte sich wütend die braune Brühe aus dem Gesicht. Ein Waldschrat hatte ihre Klamotten ruiniert. Ihre Schuhe. Und – verdammt noch mal – ihr korrektes Verhalten Kindern gegenüber.

»Schaf…«

»… Scheiße.«

Wütend funkelte sie den Typen an.

*

»Mist!« Eric Fuchs hatte weder die Pfütze am Fahrbahnrand noch die Frau und ihre Kinder auf dem Gehsteig wirklich wahrgenommen. Er war die Nacht durchgefahren und inzwischen seit zehn Stunden unterwegs. Ihm fehlten nur noch ein paar Kilometer, bis er endlich zu Hause war und das Schlafdefizit der vergangenen Nacht – und der vergangenen Monate – aufholen konnte. Als die Wasserfontäne unter den Reifen seines alten Defenders aufspritzte, zuckte er erschrocken zusammen. Er hatte die Frau voll erwischt.

Eric bremste und fuhr vorsichtig an den Straßenrand, um nicht auch noch die beiden kleinen Jungen, die offenbar zu der Frau mit dem Kinderwagen gehörten, nass zu spritzen. Er stieg aus und ging um den Wagen herum. Die Frau sah wirklich erbärmlich aus. Die leuchtend bunten Streifen, die ihr Kleid noch vor ein paar Sekunden geziert hatten, waren von einem gedämpften Braunton überzogen, genau wie ihre weißen Chucks. Die Klamotten klebten an ihrem Körper und die blonden Haare an ihrem Kopf. Sie sah aus wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Wenn sie ihn nicht so ­wütend anfunkeln würde, wäre das fast witzig.

Gerade öffnete er den Mund, um sich zu entschuldigen, als die Frau ihn auch schon anbrüllte. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Oder vielleicht blind?«

»Es tut mir wirklich leid, dass ich …«, versuchte Eric die Pause, in der sie empört Atem holte, zu nutzen.

»Es tut Ihnen leid?« Sie wischte sich Schmutzwasser aus dem Gesicht. »Mir tut es leid, dass Ihr hässliches Auto nicht in diesem Schlagloch versunken ist!«, fauchte sie.

Eric hob die Hände. »Ich habe die Pfütze wirklich nicht gesehen.«

»Dann sollten Sie es mal mit einem Augenarzt probieren«, konterte sie umgehend, was ihre Jungs, die bis gerade eben einen »Schafscheiße«-Singsang von sich gegeben hatten, während sie durch die Pfützen auf dem Gehweg hopsten, dazu veranlasste, zu »Augen…« und »… Arzt« zu wechseln. Besonders gut schien ihnen das Wort nicht zu gefallen, denn sie wechselten ruckzuck zu »Schafscheiße« zurück.

Die Frau blickte zu ihnen hinüber und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Das ist Ihre Schuld«, fauchte sie.

Langsam platzte Eric der Kragen. Gerade war er nur noch müde und wollte endlich nach Hause. Er hatte ihr doch gesagt, dass es ihm leidtat. »Gibt es noch etwas, wofür Sie mich verantwortlich machen wollen? Den Klimawandel vielleicht? Oder für das Bienensterben? Tun Sie sich keinen Zwang an.« Er drehte sich zu seinem Wagen um. »Aber vielleicht liegt das Verhalten Ihrer Kinder einfach nur daran, dass Sie sie schlecht erzogen haben«, knurrte er über seine Schulter. Dann riss er die Fahrertür auf, kletterte auf den Sitz und zog die Tür dann mit einem lauten Knall zu. Wütend startete er den Defender und gab Gas.

Die Frau blieb mit geballten Fäusten, eingehüllt in die Abgaswolke des Geländewagens, am Straßenrand zurück. Den Blick aus den zusammengekniffenen blauen Augen spürte er noch in seinem Nacken, als er kurz darauf vor seinem künftigen Heim vorfuhr.

Sein Elternhaus – oder die Villa Rabenstein, wie seine Schwester Charlotte sie lieber nannte – sah noch genauso aus wie an dem Tag, an dem er sie vor fünfzehn Jahren verlassen hatte. Und bei jedem seiner kurzen Heimatbesuche danach.

Er ließ den Defender auf das abschüssige Grundstück rollen. Die dreistöckige Villa war am Ufer des Starnberger Sees in den Hang gebaut worden, sodass man von allen Stockwerken einen spektakulären Blick über den See und die Kette der Alpen dahinter hatte. Zumindest wenn das Wetter besser war als heute und die Wolken und der aufgewühlte See nicht einem einzigen Wirbel aus Grautönen glichen.

Aber nach einem dreiviertel Jahr im Permafrost Alaskas hatte er keinen Grund, sich über dieses Wetter zu beschweren. Er drehte den Zündschlüssel und stieg aus. Im Untergeschoss, aber immerhin mit Zugang zum Garten, lag die ehemalige Haushälterinnen-Wohnung, die seine Schwester vor Jahren in ein Gästeapartment hatte umbauen lassen und die jetzt sogar über eine ziemlich schicke Holzterrasse verfügte.

Seine Schwester hatte ihn offenbar gehört, denn ihr Gesicht erschien an einem der Fenster im Erdgeschoss. Missbilligend, wenn er das richtig deutete, wanderte ihr Blick zwischen seinem Wagen und ihm hin und her, bevor sie sich abwandte.

Eric seufzte. »Und los geht’s«, sagte er leise zu sich selbst.

Doch schon im nächsten Moment spürte er das Grinsen, das sich in seinem Gesicht ausbreitete, als seine Nichte Annabelle aus der Einliegerwohnung geschossen kam und in seine Arme sprang. »Onkel Eric! Da bist du ja endlich!« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, drückte ihn und schien ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen. »Ich habe schon die ganze Zeit auf dich gewartet.«

»Hey Pochemuchka«, begrüßte Eric seine Nichte mit dem Spitznamen, den er ihr schon vor ein paar Jahren gegeben hatte. Das russische Wort stand für jemanden, der viele Fragen stellte. Und Erics Nichte war nicht nur ein kleiner Schlaumeier, sie hatte praktisch in dem Moment angefangen, ihr Umfeld mit Fragen zu löchern, in dem sie ihre ersten Worte gesagt hatte.

»Annabelle, lass deinen Onkel in Ruhe«, befahl Charlotte, die mit säuerlicher Miene hinter ihrer Tochter aus dem Haus trat.

Erics Nichte gehorchte, sprang vor ihm auf den Rasen und schenkte ihm ein zahnlückiges Grinsen. Sie war heute offenbar das einzige weibliche Wesen, das ihn leiden konnte.

Charlotte hatte ihm die Gästewohnung angeboten, nachdem ihm klar geworden war, dass er in München so schnell keine bezahlbare Wohnung finden würde, aber ihr Blick zeigte ihm deutlich, dass sie dieses Angebot bereits bereute. »Hallo, große Schwester.« Er grinste sie breit an.

Mit einem Seufzer überwand Charlotte sich dazu, einen Luftkuss neben seine Wange zu hauchen. »Hallo, Eric. Willkommen zu Hause.« Es war nicht so, dass seine Schwester ihn nicht mochte – sie konnte nur einfach nichts mit ihm anfangen. Eric passte eben nicht in ihre Welt. Und zu den warmen, fürsorglichen Menschen hatte sie ebenfalls noch nie gehört. Es überraschte Eric immer wieder, was für eine wundervolle, warmherzige Tochter ein Ehepaar wie Charlotte und Vincent von Rabenstein hatte in die Welt setzen können.

Charlotte ließ ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen über seine Erscheinung wandern. Von oben nach unten. Und wieder zurück. »So wie du aussiehst, willst du dich vermutlich erst einmal frisch machen.« Mit einer diffusen Bewegung wies sie in Richtung seines Bartes und der zu langen Haare. »Duschen, rasieren und so. Frische Kleidung hast du wahrscheinlich dabei. Ansonsten hat die Wohnung auch eine Waschmaschine.«

Eric konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seine Schwester war so ein unglaublicher Snob. Seine Klamotten waren vielleicht etwas ausgebleicht und zerknittert, aber sie waren sauber. Im Gegensatz zu denen der Frau, die er vorhin mit Pfützenwasser eingedeckt hatte. Schuldbewusst schob er den Gedanken zur Seite. »Ich bin schon ganz gespannt, was du in der Wohnung alles verändert hast.«

»Hmm.« Seine Schwester machte auf dem Absatz kehrt und kehrte ins Innere des Hauses zurück. »Zieh die Schuhe aus«, sagte sie über die Schulter. »Und dann wäre es super, wenn du diesen Schrotthaufen«, sie nickte in Richtung seines Defenders, »hinter den Garagen parken könntest.«

Eric verdrehte die Augen und streckte Charlotte hinter ihrem Rücken die Zunge raus. »Und da wundert sich noch jemand, warum ich Steine lieber mag als Menschen.«

Seine Nichte kicherte neben ihm. Sie schob ihre kleine Hand in seine und zog ihn hinter ihrer Mutter her in sein künftiges Zuhause. Eric trat über die Schwelle. Und vergaß, natürlich ganz aus Versehen (und höchstens mit einem winzigen bisschen Absicht), seine Bergstiefel auszuziehen. Weil das Charlotte rasend machen würde. Und weil das hier seine Wohnung war – und seine Schwester schlicht nichts anging.

*

Lina hatte sich nach ihrer unfreiwilligen Dusche am Straßenrand noch einmal unter ihre eigene Dusche gestellt und die bräunliche Brühe von ihrem Körper gespült. Dann war sie in Shorts, ein Top und Flip-Flops geschlüpft, hatte ihre noch feuchten Haare auf ihrem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden und sich ihren Laptop unter den Arm geklemmt.

Die Sonne war tatsächlich zurückgekehrt und ließ die feuchte Luft um Lina herum dampfen, als sie sich im Garten der alten Schule – in der sie wohnte – auf ihren Lieblingsplatz zurückzog: eine kleine Steinbank unter einer großen Tanne. Vor dem Sitzplatz blühten niedrige Pflanzen, die sauber in den Rindenmulch eingesetzt waren, dahinter schufen Gräser und Hortensien eine Wand, die die Sitzecke fast wie einen Kokon wirken ließ, der Lina vom Rest der Welt trennte. Weil sie nicht anders konnte, hatte sie eine LED-Lichterkette in die Äste über sich gehängt und ein paar Feenlichter um ihren Platz herum verteilt, die diesen Ort in der Dämmerung in Magie verwandelten – jedenfalls aus ihrem Blickwinkel. Die Hüllen für die Sitzkissen der Bank, die das Grün der Gräser und das Blasslila der Blüten um sie herum aufnahmen, hatte sie selbst genäht. Von hier aus konnte sie den See zwar nur zwischen den Bäumen hindurchblitzen sehen, aber der Platz erinnerte sie an den Wald hinter ihrem Elternhaus, in dem sie früher gemeinsam mit ihren Geschwistern jede freie Minute verbracht hatte.

Sie machte es sich auf der Bank bequem, lehnte den Rücken gegen den warmen Stamm der Tanne und legte die Füße hoch. Dann klappte sie ihren Laptop auf und begann, Mails zu beantworten und Angebote zu angefragten Dienstleistungen zu verschicken.

Als sie den Blick hob, sah sie ihre Freundinnen Felicia und Jule auf sich zukommen. Begleitet von der orange getigerten Katze Elfriede, der heimlichen Herrscherin der alten Schule, die majestätisch durch das hohe Gras streifte, und ihrem Verehrer, Schäferhundmischling Poldi.

Felicia setzte sich zu ihr auf die Bank, als Lina den Laptop zuklappte und die Beine anzog, und reichte ihr eines der beiden Gläser Zauberwasser – Linas Lieblingslimonade –, die die Freundin in ihrer Kochschule nach einem Geheimrezept herstellte.

Jule ließ sich im Schneidersitz zu ihren Füßen nieder. »Cheers«, sagte sie und hob ihr Glas.

Lina hob ihr Glas ebenfalls zum Toast und nippte an dem eiskalten, erfrischenden Getränk. »Danke«, sagte sie in die Runde. »Das ist genau der richtige Moment für eine Pause.«

Jule trank ebenfalls einen Schluck und stellte ihr Glas zur Seite. »Was war vorhin los?«, fragte sie. »Du hast ausgesehen, als wärst du in eine Pfütze gesprungen, als du nach Hause gekommen bist. Von Kopf bis Fuß voller Schlamm.«

Lina verdrehte die Augen. »Frag nicht. Mein Vormittag war eine Katastrophe.« Sie streckte die Hand aus, um Poldi, der es sich neben ihr auf dem sonnenwarmen Mulch gemütlich gemacht hatte, durch das Fell zu streichen. »So ein Verkehrsrowdy hat mich voll erwischt.«

Lina genoss es, mit ihren Freundinnen hier zu sitzen. Jule und sie waren im Frühling in das alte Schulhaus, das Felicia gehörte und das eher an eine Villa im Stil von ­Xaver Knittl erinnerte, gezogen. Ein paar Monate war das erst her, aber Lina konnte schon jetzt sagen, dass das eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen war. Nicht nur, weil die Wohnung, die sie hier gefunden hatte, günstig genug war, um zum schmalen Geldbeutel einer Jungunternehmerin zu passen, die ihr Geschäft gerade erst gestartet hatte. Ihr kleines Apartment im ersten Stock hatte mit seinen nicht ganz geraden Böden, dem Stuck an der Decke und dem wundervollen Erkerfenster jede Menge Charme. Sie konnte außerdem die Bücherei, die sie in den vergangenen Wochen renoviert hatten, für ihr kürzlich begonnenes Projekt Mäuse und Dachse nutzen, das Kinder und Senioren zusammenführte. Aber vor allem hatte Lina hier neue Freunde gefunden. Felicia, die Inhaberin einer Kochschule und eines fantastischen Caterings war. Und Jule, die als Privat-Concierge die Träume der Schönen und Reichen am Starnberger See erfüllte. Blieb noch Poldis Herrchen, Ben, ein Landschaftsarchitekt, der gemeinsam mit ihnen hier eingezogen war und der den zugewucherten Park der alten Schule in einen verwunschenen Garten verwandelt hatte.

»Dummerweise war ich gerade mit den Kindern von Nora Berghammer unterwegs.« Lina verzog das Gesicht bei der Erinnerung an den Moment, als die eisige Wasserfontäne sie getroffen hatte. »Ich bin so erschrocken, dass ich mich zu einem kleinen Fluch habe hinreißen lassen, den die Jungs natürlich sofort aufgeschnappt und nach Hause getragen haben. Ganz abgesehen davon, dass sie nach diesem Zwischenfall der Meinung waren, dass sie ebenfalls in einer Pfütze herumtanzen dürften, bis sie von oben bis unten aussahen wie ich.« Ein Blick in die Gesichter ihrer Freundinnen verriet ihr, dass sie sich beherrschen mussten, um nicht zu lachen. Felicia hatte ihre Brauen konzentriert zusammengezogen und starrte neben Linas Kopf in den Garten. Jules Mundwinkel zuckten. »Das ist nicht witzig.« Lina wies mit dem Glas in der Hand nacheinander auf ihre Freundinnen. »Ich musste mich bei der sowieso schon total gestressten Mutter für die kleinen Schmutzfinken entschuldigen. Und für das Schimpfwort, das sie heute gelernt – und definitiv nicht mehr vergessen haben. Ganz im Gegensatz zu der Regel, dass sie nicht mit ihren dreckigen Gummistiefeln ins Haus rennen und auf die Couch springen dürfen.«

Jule und Felicia konnten nicht mehr an sich halten und brachen wie auf Kommando in prustendes Lachen aus. Lina kannte diese Heiterkeitsanfälle. Oft genug war sie ihnen selbst erlegen. Nur … eben nicht heute. Wenn es um ihren Nanny-Service ging, verstand sie keinen Spaß.

»Wasser hat nun mal eine magische Anziehungskraft. Besonders, wenn es vom Himmel fällt«, sagte Felicia, nachdem sie sich wieder ein bisschen beruhigt hatte. »Ich finde es immer toll, wenn Ben mit mir im Regen tanzt.«

»Pff.« Lina trank einen Schluck Zauberwasser. »Ben und du, ihr tanzt überall und ständig miteinander. Das hat rein gar nichts mit Regen oder Wasser zu tun«, brachte sie die Tatsachen auf den Punkt. Denn der Landschaftsarchitekt, der mit Jule und ihr zusammen in die alte Schule eingezogen war, hatte das Herz ihrer Vermieterin im Sturm erobert.

Lina blickte zu Jule hinüber, die noch immer breit grinste. Auch sie schwebte seit ein paar Wochen auf Wolken. Sie hatte erst für Christian Thalbach, den Besitzer einer exklusiven Werbeagentur aus München, gearbeitet und sich dann in ihn verliebt.

Blieb nur Lina selbst, die sich zwar nach der großen Liebe sehnte, sich aber nicht einfach mit dem erstbesten Mann zufriedengab, der ihr über den Weg lief. Sonst könnte sie ja zum Beispiel die Einladungen von Sebastian Kufer annehmen, einem der geschiedenen Väter unter ihren Kunden, dessen Sohn Lennard sie regelmäßig betreute. Und der es nicht müde wurde, sie um eine Verabredung zu bitten. Dafür war ihm jede Schmeichelei recht, weshalb Lina inzwischen wusste, wie groß sein Haus und sein Pool waren, wie viele Autos er besaß und dass er ohne Probleme jederzeit einen Privatjet ordern könnte, um eine Verabredung mit ihr in Paris mit Blick auf den Eiffelturm stattfinden zu lassen – oder wo auch immer. Aber wenn Lina den Mann ansah, der zugegebenermaßen wirklich attraktiv war, passierte nichts mit ihr. Keiner der Schmetterlinge, die irgendwo tief in ihrem Bauch schlummerten, erwachte. Bei dem Gedanken, ihn zu küssen, zog sich kein aufgeregtes Kribbeln über ihre Haut. Es passierte einfach gar nichts. Und Lina würde keine Beziehung führen nur um einer Beziehung willen. Sie wollte das wilde Herzklopfen, das mit dem Verliebtsein einherging. Die großen Gefühle und Gesten, wie sie in den Filmen vorkamen, die sie für ihr Leben gern sah. Sie seufzte. »Ich habe zwar keine Lust, wie Ben und du im Regen zu tanzen. Oder mich überhaupt Regenwasser auszusetzen«, konkretisierte sie. »Aber ich würde mich so gern mal wieder Hals über Kopf verlieben. So richtig albern sein vor Glück.«

Felicia griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. »Mit einer tollen Beziehung auf Augenhöhe«, ergänzte sie.

»Und spektakulärem Sex.« Jule prostete ihr von ihrer Posi­tion auf dem Boden noch einmal zu.

Lina nickte. »Genau. All diese Dinge würde ich gern mal wieder spüren. Ihr wisst schon. So ein richtiger Bähm-Moment.«

»Kommt jetzt wieder ein Filmzitat?« Jule grinste sie an.

Lina lachte. Sie war zugegebenermaßen ein echter Filmfreak, und obwohl sie es nicht darauf anlegte, vergaß sie viele Sätze, die in Filmen gesprochen wurden, nicht mehr. Besonders, wenn sie sie beschäftigten. »Zu diesem Thema? Dutzende.« Sie überlegte kurz. »Wie wäre es zum Beispiel mit ›Die Geschichte prägt nur einen Moment, die Liebe dagegen ein ganzes Leben‹.«

Felicia seufzte und legte sich die Hand auf das Herz. »Das ist wundervoll. Aus welchem Film ist das?«

»Wie ein einziger Tag«, antwortete Lina.

»Ah.« Jule gab einen Laut von sich, der an ein zufriedenes Schnurren erinnerte. »Ryan Gosling.« Jetzt legte auch sie die Hand auf ihr Herz und ließ sie flattern. »Wenn ich einen Film mit ihm schaue, kann ich mich danach auf keinen Fall mehr an irgendwelche Zitate erinnern.«

»Aber im Ernst«, sagte Felicia. »Dieses Jahr hat uns ja gelehrt, dass aus den merkwürdigsten Begegnungen die besten Freundschaften und manchmal sogar die große Liebe werden kann«, spielte sie auf ihre Beziehung mit Ben an, die sie sich noch vor ein paar Monaten nicht im Traum hätte vorstellen können.

Jule nickte. »Vielleicht ist dieser Pfützenraser ja …«

»Auf keinen Fall«, unterbrach Lina sie. »Dieser Typ war ein schrecklicher Waldschrat mit zerzaustem Vollbart.«

»Vollbart ist in«, sagten Felicia und Jule gleichzeitig und mussten lachen.

Lina verdrehte die Augen. »Ja, hipstermäßige Vollbärte. Und bei Männern, denen das steht. Aber dieser Typ sah aus wie ein kanadischer Holzfäller … oder … Bärenjäger. So, als hätte er die letzten drei Jahre allein im Wald verbracht.« Er hatte ein bisschen aus der Welt gefallen gewirkt. Zumindest aus ihrer. Und das war ganz sicher nicht das Partnermaterial, nach dem sie suchte.

2

Eric erwachte langsam. Er lauschte dem Konzert der Vögel vor seinem gekippten Fenster, ohne auch nur die Augen zu öffnen, und atmete die frische Luft tief ein, die vom See bis in sein Schlafzimmer wehte. Es roch nach Blüten, dem Gras, das der Gärtner seiner Schwester am Vortag gemäht hatte, und einfach nach – Zuhause.

Um ihn herum herrschte Dämmerung, als er schließlich die Augen aufschlug. Sein Körper protestierte, als er sich aufsetzte. Er hätte gut und gerne noch ein paar Stunden schlafen können, aber sein Kopf war hellwach. Also schob Eric sich aus dem Bett und ging barfuß, nur in seinen Boxer­shorts, in den Wohnbereich des Apartments, an dessen hinterem Ende sich eine Küchenzeile mit hochmodernen Geräten befand, die fast ein wenig beängstigend waren. Den Kaffeeautomaten hatte er bereits gestern ausprobiert, sodass er es ohne große Mühe schaffte, eine Ladung Bohnen zu mahlen und sich eine große Tasse Kaffee zuzubereiten.

Mit der Tasse in der Hand bahnte er sich einen Weg durch die Kartons, die er aus seinem Apartment in Hamburg hatte hierher transportieren lassen. Viele Möbel waren nicht dabei. Das Meiste hatte er seinem Nachmieter hinterlassen, der am Alfred-Wegner-Institut arbeiten würde, genau wie Eric es bis jetzt getan hatte. Aber jede Menge Unterlagen, Bücher, Forschungsmaterial, das er auch in München brauchen würde und deshalb nicht zurücklassen wollte oder an denen sein Herz hing, standen kreuz und quer in seinem Wohnzimmer verteilt. Er hatte seine Sachen bereits gepackt, bevor er auf seine letzte Expedition gegangen war, weshalb sie inzwischen seit neun Monaten hier her­umstanden und Staub ansetzten.

Er öffnete die breite Balkontür und trat auf die Terrasse hinaus. Der glatte, warme Holzboden fühlte sich wundervoll an. Eric presste seine Füße fest auf den Untergrund und hob den Blick zum Horizont. Er trank den ersten Schluck Kaffee, als sich die Sonne in einem Meer aus Rosa-, Orange- und Lilatönen hinter dem Bergmassiv der Alpen erhob. Sein Herz schlug in einem ruhigen, steten Rhythmus. Auf diesen Moment freute er sich am meisten, je länger eine Expedition dauerte. Auf diesen Moment und auf Popcorn. Denn beides bedeutete, dass er zu Hause war, wonach er sich je nach Länge eines Forschungsaufenthaltes unweigerlich zu sehnen begann. In seiner jetzigen Situation bedeutete seine ganz persönliche Art des Sonnengrußes sogar, dass ein neuer Teil seines Lebens begann.

Die Terrasse, die seine Schwester hatte bauen lassen, während er in Alaska gewesen war, war so perfekt wie alles, das sie in Angriff nahm. Coole Holzbänke im Lounge-Stil zogen sich über Eck um zwei Seiten der Sitzecke. Sie waren aus dem gleichen Material wie der Boden. In der Mitte der Plattform war das Holz ausgespart, durch große, weiße Kiesel ersetzt und mit einer beachtlichen Feuerschale versehen. Er konnte sich schon jetzt vorstellen, wie er hier abends gemütlich sitzen und bei einem kalten Bier dem Prasseln des Feuers zusehen würde. Das bedeutete echten Sommer. Er hatte seine bisherige Arbeit gern gemacht, aber vom Permafrost-Sommer, der bestenfalls aus Temperaturen um die fünf Grad, Unmengen von Schlamm und Milliarden Mücken bestand, hatte er inzwischen durchaus genug.

Eric bemerkte eine grau getigerte Katze, die sich an die Holzbänke anschlich, weil auf einer der Sitzflächen ein Spatz gelandet war. Besonders schlau stellte sich die Katze allerdings nicht an. Denn der Vogel hatte bereits schimpfend das Weite gesucht, bevor sie auch nur in seiner Nähe gewesen war.

Eric trank grinsend noch einen Schluck Kaffee und lief durch das taufeuchte Gras zum See hinunter, um die Füße ins Wasser zu halten. Wer nie Winter mit minus dreißig Grad und jene kurzen, matschigen Sommer erlebt hatte, konnte gar nicht verstehen, wie wundervoll seine Heimat war.

Die Umzugskartons packten sich allerdings nicht von allein aus, also ergab er sich schließlich in sein Schicksal, als er in die Wohnung zurückkehrte, und begann, einen Karton nach dem anderen zu öffnen und zu sichten. Einen Teil seiner wissenschaftlichen Unterlagen würde er in seinem Büro in der Uni aufbewahren, wo er auch noch die Auswertung der Permafrost-Forschungen vornehmen musste. Anderes würde er hier in dem kleinen Arbeitszimmer unter­bringen, das nach Charlottes Vorstellungen vermutlich als Gästeschlafzimmer genutzt werden sollte. Aber so weit Eric sich erinnern konnte, hatte die Haushälterin, die früher für seine Eltern gearbeitet hatte, hier ihr Nähzimmer gehabt. Hell genug zum Arbeiten war es aufgrund der großen, bodentiefen Sprossenfenster, die ebenfalls über den See blickten, allemal. Sobald sein Schreibtisch und die Regale aufgebaut waren, hätte er hier einen wunderschönen, inspirierenden Arbeitsplatz.

Er war gerade dabei, ein paar alte Exemplare der Nature Geo Science zu sichten, nicht sicher, ob sich darin Artikel befanden, die er interessant fand, oder ob er sie nur aus sentimentalen Gründen aufgehoben hatte, als er die schnellen, klackernden Schritte seiner Schwester auf der Treppe hörte, die den oberen Teil der Villa mit seinem Apartment verband.

Eric legte die Zeitschriften zur Seite und richtete sich auf. Die Wohnung, die sie gerade betrat, befand sich zwar in ihrem Haus, dennoch gehörte sie ihm, und er war nicht gerade begeistert davon, dass Charlotte sich nicht die Mühe machte anzuklopfen. Ganz so, als gehöre sie ihr. Wie auch alles andere in diesem Haus. Dabei hatte Eric ihr bereits den größten Teil des Anwesens überlassen. Es wäre also nur anständig von ihr, ein wenig Rücksicht auf ihn zu nehmen. Er trat aus dem Arbeitszimmer, um ihr zu sagen, was er von dem morgendlichen Überfall hielt, als sein Blick nicht nur auf seine perfekte Schwester im perfekten Hosenanzug und mit perfektem Haarknoten fiel, sondern auch auf seine Nichte, die Charlotte hinter sich herzog.

»Was ist los?«, fragte Eric, statt seiner Schwester zu sagen, dass sie nicht einfach so bei ihm reinschneien konnte, als er Annabelles zusammengezogene Augenbrauen und den Schmollmund sah.

»Ich brauche kurz deine Hilfe«, sagte Charlotte mit einem gepressten Lächeln und hielt sich ebenfalls nicht mit einem Guten Morgen auf. »Ich muss dringend zu einer Besprechung nach München, und du hast ja sowieso nichts zu tun.«

Eric ließ seinen Blick über die geöffneten Umzugskisten schweifen. »Also, wenn das für dich nach ›nichts zu tun‹ aussieht …«

Charlotte winkte ab. »Ich meinte richtige Arbeit.«

»Ah …« Das altbewährte Problem zwischen ihnen. Eric griff nach seiner Kaffeetasse, die er auf einem Sideboard abgestellt hatte, und trank einen Schluck der fast kalten Brühe.

»Jedenfalls wäre es super, wenn du Annabelle in den Kindergarten bringen könntest.« Sie ließ die Hand ihrer Tochter los, winkte ihr kurz zu und verließ Erics Wohnung durch seine Tür zum Garten.

Eric strich seiner Nichte über die Haare. Er liebte seine Schwester. Einfach deshalb, weil sie seine Schwester war. Aber manchmal hatte er ein wirklich heftiges Bedürfnis, ihr den Hals umzudrehen. Sie behandelte ihre Tochter genauso kalt und lieblos, wie ihre Mutter damals mit ihnen umgegangen war. »Okay«, sagte er und schenkte Annabelle ein warmes Lächeln. »Bringen wir dich in den Kindergarten, Pochemuchka.«

»Meine Schuhe«, sagte Annabelle und wies auf die Schuhbänder der Sneaker, die sie trug.

»Alles klar.« Eric hockte sich vor sie hin und half ihr beim Binden. Zufrieden richtete er sich wieder auf. »Können wir jetzt?«

»Was ist mit meiner Jacke?«, wollte seine Nichte wissen.

»Ja … ähm … Jacke.« Eric erspähte sie auf einem Stapel Aktenordner, auf denen Charlotte sie offenbar vorhin abgelegt hatte. »Bitte schön, die Dame«, sagte er und hielt sie mit einer kleinen Verbeugung so, dass Annabelle hineinschlüpfen konnte. »Sonst noch was?«, fragte er unsicher. »Oder können wir jetzt los?«

Niemand konnte die Augenbrauen so klugscheißerisch hochziehen und dabei so süß aussehen wie Annabelle. »Was ist mit meiner Brotzeit?«

Eric seufzte und rieb sich über den Nacken. »Würde eine Brezn, die wir unterwegs besorgen, als Brotzeit durchgehen?«

Annabelle grinste von einem Ohr zum anderen. »Wir dürfen es nur Mama nicht verraten.«

*

Lina war spontan eingesprungen. Eine der Leistungen, die ihr Nanny-Service anbot, war es, Eltern den Druck zu nehmen, wenn sie von unvorhergesehenen Ereignissen überrollt wurden. Wie zum Beispiel einer Magen-Darm-Grippe, die der dreijährige Marcel aus dem Kindergarten mit nach Hause gebracht hatte, um sie an Mama und Papa weiterzugeben. Während seine Eltern jetzt also abwechselnd über der Kloschüssel hingen, hatte Lina den Jungen angezogen, ihm Frühstück gemacht, eine Brotzeit gerichtet und ihn ins Zwergenland gebracht.

Sie parkte ihren bunt gestreiften VW Sharan in der Schlange all der Eltern, die ihre Kinder ablieferten, direkt hinter einem riesigen, schlammbespritzten Land Rover Defender. Lina blinzelte. Das war doch der Wagen, der sie gestern mit dieser Pfütze erwischt hatte. Was hatte der Fahrer im Kindergarten verloren? Musste ein Baum gefällt werden, oder so was? Ihr Blick glitt zu dem wundervollen Garten hinter dem Gebäude, der von ihrem Freund und Nachbarn Ben gepflegt wurde. Wenn hier etwas gemacht werden müsste, hätte er doch sicher davon erzählt.

»Das geht mich gar nichts an«, murmelte sie und öffnete den Sicherheitsgurt. Dann stieg sie aus und befreite Marcel aus seinem Kindersitz. Sie griff nach seinem Rucksack und wartete, bis er aus dem Wagen geklettert war und seine kleine Hand in ihre schob. Gemeinsam gingen sie auf den Eingang des Kindergartens zu.

Anne, mit der Lina hier zusammengearbeitet hatte, bevor sie ihre eigene Firma gegründet hatte, stand an der Eingangstür und begrüßte die Kinder und ihre Eltern. Sie winkte Lina zu.

Als sie die Tür erreichten, umarmte sie Lina mit einem fröhlichen »Hey«, bevor sie sich vor Marcel hockte, um ihm ebenfalls Hallo zu sagen. »Hab schon gehört, dass es seine Eltern erwischt hat«, sagte sie, als sie sich wieder aufrichtete. »Willst du ihn gleich bei mir lassen?«

»Nein.« Lina wich einer Mutter aus, die ihr Kind abgegeben hatte und gerade wieder aus der Tür trat. »Ich habe genügend Zeit für den kleinen Mann.« Sie lächelte Marcel an, der schon aufgeregt an ihrem Arm zog, um zu seinen Freunden zu kommen. »Bis später.« Sie ließ sich von dem Jungen durch die Tür ziehen und folgte ihm in die Garderobe.

Obwohl es hier vor Kindern und ihren Eltern nur so wuselte, bemerkte Lina den Waldschrat sofort. Und er war ganz offensichtlich nicht hier, um einen Baum zu fällen. Er lieferte, genau wie sie, ein Kind ab. Was sie überrascht blinzeln ließ, war die Tatsache, dass es sich bei dem Kind, vor dem er kniete, um ihm die Jacke auszuziehen, um Anna­belle von Rabenstein handelte. Verstohlen schob er dem Mädchen eine Bäckertüte zu, die verdächtig danach aussah, als enthalte sie eine Brezn. Offenbar Annabelles Brotzeit. Etwas, was Annabelles Mutter Charlotte, die sehr genau auf ihre Ernährung achtete, niemals zugelassen hätte.

Lina mochte Annabelle sehr und hatte sich in der Vergangenheit schon öfter um sie gekümmert, wenn ihre Eltern, die beruflich viel unterwegs waren, einen Notfall gehabt hatten. Die Verbindung zu diesem Typen, der aussah, als käme er direkt aus einem kanadischen Holzfäller-Camp oder von der Bärenjagd, konnte sie allerdings nicht her­stellen.

Sie überlegte, sich an den beiden vorbeizuschleichen, doch in diesem Moment entdeckte Annabelle sie und winkte ihr mit einem lauten »Lina!« voller Enthusiasmus zu.

Der Typ wollte offenbar wissen, wen die Kleine begrüßte, und blickte über seine Schulter. Seine Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde, als er Lina erkannte. Dann ließ er den Blick an ihrem Körper hinuntergleiten und wieder hinauf, als prüfe er, ob sie wieder trocken und alle Schlammspuren verschwunden waren. Er blieb schließlich an Marcel hängen, der noch immer ungeduldig an ihrer Hand zog, und runzelte die Stirn. Offenbar bemerkte er, dass es sich nicht um eines der Kinder von gestern handelte. Als sich ihre Blicke wieder trafen, zog er den rechten Mundwinkel in einer Geste nach oben, die Lina nur als Ironie deuten konnte. Ironie, weil sie sich schon wieder über den Weg liefen? Sie war sich nicht sicher. Und durch das Gewächs in seinem Gesicht hatte sie sowieso keine ­Ahnung, ob sie seine Mimik überhaupt richtig deutete.

Statt den Typen weiter anzustarren, der kein bisschen hierher zu passen schien, folgte sie Marcel zu seinem kleinen blauen Kleiderhaken und half ihm, seine Jacke auszuziehen. Sie hängte sie ordentlich auf und ging noch einmal vor dem Jungen in die Hocke. »Bis später, Marci. Ich hole dich heute Mittag wieder ab.« Je nachdem, wie es seinen Eltern dann ging, würde sie ihn nach Hause bringen oder noch etwas mit ihm unternehmen.

Marcel nickte eifrig und schlang ihr für einen Moment seine kleinen Arme um den Hals. Es fühlte sich an wie der Bruchteil einer Sekunde, aber lang genug, um den Duft seines Kindershampoos einzuatmen. Ein Augenblick, bei dem sich Linas Magen immer ein wenig zusammenzog. »Servus, Lina«, rief er und stürmte davon.

Lina blieb hocken und sah ihm dabei zu, wie er auf seine Freunde traf und sofort mit großen Gesten zu erzählen anfing. Sie vermutete, dass es darum ging, wie seine Eltern sich gleichzeitig übergeben hatten, denn die Kinder, die sich um ihn scharten, starrten ihn mit fasziniert leuchtenden Augen an.

»Schön, Sie hier zu treffen«, holte eine männliche Stimme Lina aus ihren Beobachtungen.

Lina blickte auf. »Herr Kufer.« Langsam richtete sie sich auf. »Wie geht es Ihnen?«

Sebastian Kufer schenkte ihr sein blendend weißes Lächeln, das perfekt zu seinen hellbraunen Augen und den dunkelblonden Haaren passte, die der aktuellen Mode entsprechend gestylt waren. »Es würde mir besser gehen, wenn Sie mich endlich erhören würden«, sagte er und legte in einer theatralischen Geste die Hand auf seinen Brustkorb.

Lina lachte. Die meisten Eltern hatten die Garderobe inzwischen verlassen. Nur ein paar vereinzelte Mütter schwirrten noch um ihre Kinder herum und steckten ­tuschelnd die Köpfe zusammen. Und der Typ, der Annabelle gebracht hatte, hockte noch immer vor dem Mädchen und redete leise mit ihm. Lina konzentrierte sich wieder auf Sebastian Kufer, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihr flirtete und versuchte, sie zu einem Date zu überreden. »Ich weiß«, sagte sie lächelnd. Sie würde sich zwar weder heute noch nächste Woche noch in einem Jahr mit ihm verabreden, aber das hieß ja nicht, dass sie unhöflich werden musste. »Von der Terrasse Ihrer Villa hat man einen fantastischen Blick über den Starnberger See. Und ja, Ihre Segeljacht ist wunderschön, und im Sonnenuntergang an Deck Champagner zu schlürfen hört sich sehr verlockend an. Aber sind wir mal ehrlich: Solange Ihre Kinder in der Nähe sind, wäre ich doch nur mit den beiden beschäftigt.«

»Die Kinder? Die könnte man gut wegorganisieren.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich kenne da eine fantastische Firma, die sich um so was kümmert.«

Lina war klar, dass er damit ihren Nanny-Service meinte. Sie zwinkerte zurück. »Das wäre natürlich eine Möglichkeit«, sagte sie und sah Kufer an, als ziehe sie diese Alternative tatsächlich in Betracht. »Aber das wird nicht passieren. Sie wissen, dass die Kinder für mich immer an erster Stelle stehen. Ich muss jetzt los.« Sie wies mit dem Daumen über die Schulter zur Tür.

»Kann ich Sie nicht wenigstens zu einer Tasse Kaffee überreden? Ohne Terrasse und Jacht«, schlug er vor.

»Tut mir leid, Herr Kufer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

»Ich gebe nicht auf«, sagte er leise genug, dass nur Lina es hören konnte, und schenkte ihr noch einmal sein strahlendes Lächeln.

»Das glaube ich Ihnen sogar.« Lina wandte sich zur Tür um. »Servus.« Sie konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das sich in ihren Mundwinkeln festsetzte. Auch wenn sie keinerlei Interesse an diesem Mann hatte, tat es einfach gut, ein wenig umschwärmt und umworben zu werden. Ganz abgesehen davon, dass es ihr gar nichts bringen würde, ihn zu vergraulen. Schließlich beauftragte er ihre Firma oft genug, wenn er Unterstützung mit seinen Kindern brauchte.

*

Eric war ziemlich überrascht, die Frau im Kindergarten zu sehen, die er gestern mit der Pfütze erwischt hatte. Sie war wieder ziemlich farbenfroh gekleidet, mit einem langen Rock, von dem einen die bunten Blumen regelrecht ansprangen. Ihre Haare, die ohne Schlammspritzer blond waren, wurden von Haarspangen zurückgehalten, auf die ebenfalls Blumen gedruckt waren – die glitzerten. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen. Einen anderen als am Vortag. Wie viele Kinder hatte diese Frau denn? Lina, erinnerte Eric sich, hatte seine Nichte sie gerufen. »Kennst du die Frau?«, fragte er Annabelle.

»Klar.« Sie strahlte ihn zahnlückig an. »Das ist Lina. Sie ist Nanny. Um mich hat sie sich auch schon ein paar Mal gekümmert. Sie denkt sich immer echt coole Spiele aus. Nicht so Babykram, wie Nannys das sonst immer machen.«

»Aha.« Eric hatte keine Ahnung, was Babysitter taten, wenn sie auf Kinder aufpassten. Er konzentrierte sich auf Annabelle, die sich darüber beklagt hatte, dass ihr linker Zopf irgendwie schief saß und der Gummi an ihren Haaren ziepte. Er könnte das Problem einer der Erzieherinnen überlassen, aber Annabelle hatte nun einmal ihn gebeten. Auch wenn das definitiv nicht seine Kernkompetenz war, fummelte er an ihrer Frisur herum. Und kam dabei nicht umhin, das Gespräch dieser Lina-Nanny und des Strahlemanns, der ihr regelrecht aufgelauert zu haben schien und sie anbaggerte, mitzuhören.

Der Typ wollte, dass sie ihn erhörte. Was diese Lina mit einem Lächeln quittierte, das sich in Nichts mit dem mörderischen Blick vergleichen ließ, den sie ihm am Vortag zugeworfen hatte.

»Von der Terrasse Ihrer Villa hat man einen fantastischen Blick über den Starnberger See«, säuselte sie. »Und ja, Ihre Segeljacht ist wunderschön, und im Sonnenuntergang an Deck Champagner zu schlürfen hört sich sehr verlockend an.« Eric hatte ihr nach einem kurzen Blick in ihre Richtung wieder den Rücken zugedreht. Er konnte sich allerdings gut vorstellen, wie sie mit den Wimpern klimperte. Was war das hier? Ein Kindergarten oder eine Partnerbörse? »Aber sind wir mal ehrlich«, redete sie weiter. »Solange Ihre Kinder in der Nähe sind, wäre ich doch nur mit den beiden beschäftigt.«

Das Zahnpasta-Lächeln sprach davon, die Kinder ›wegzuorganisieren‹, was sie für eine gute Idee zu halten schien. Oder warum sonst sollte sie sagen: »Das wäre natürlich eine Möglichkeit«?

Zwei Mütter, die neben Eric die Jacken ihrer Kinder an die winzigen Haken hängten, warfen sich einen Blick zu. Die eine verdrehte die Augen und gab einen zischenden Laut von sich, während die andere ein »das ist doch jedes Mal das Gleiche« murmelte und zu dieser Lina hinüberblickte.

Eric musste sich bemühen, nicht zu der Nanny herumzufahren, um sie mit genau dem gleichen Blick zu bedenken, wie sie am Vortag ihn. Bei ihrem kleinen Zwischenfall hatte er sie nur für eine schlecht gelaunte Mutter gehalten. Eine Zicke, die seine Entschuldigung nicht hatte akzeptieren wollen. Der Versuch, sich auf Kosten der Kinder einen reichen Typen zu angeln, war blanker Opportunismus. Mitten in der Garderobe des Zwergenlandes. Und wenn er die Mütter neben sich richtig verstand, passierte das gerade nicht zum ersten Mal.

Lina sagte noch etwas, das Eric nicht richtig mitbekam, weil Annabelle in diesem Moment der Meinung war, dass ihre Zöpfe jetzt richtig saßen. »So können wir es lassen, Onkel Eric. Und«, sie beugte sich vertrauensvoll gegen ihn, »wir erzählen Mama nichts von der Brezn.«

»Auf keinen Fall.« Er küsste seine Nichte auf den Scheitel. »Ich wünsch dir einen schönen Tag, Pochemuchka.«

»Ich dir auch«, antwortete sie, als Eric sich aufrichtete – und mit der Schulter gegen diese Lina-Nanny stieß, die sich gerade, noch immer breit lächelnd, an ihm vorbeidrückte. Als sich ihre Blicke trafen, kühlte ihr Blick allerdings merklich ab, und ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Genau, dachte er. Nur keine Szene vor dem künftigen Lover, der noch immer mit der Jacke seines Kindes in der Hand dastand und ihr sehnsüchtige Blicke nachwarf. Ihr Verhalten legte in Erics Kopf einen Schalter um. »Na, erfolgreich gewesen?«, konnte er sich nicht zurückhalten.

Sie erstarrte in ihrer Bewegung und drehte sich langsam zu ihm um. »Wie bitte?« Ihr Gesicht hatte sich in eine ausdruckslose Maske verwandelt.

»Sie wissen schon.« Eric vollführte mit der Hand eine kreisende Bewegung. »Im Erfüllen der Klischees. Kinder benutzen, um an ihre reichen Daddys ranzukommen, zum Beispiel.«

Immerhin schrie sie ihn nicht an, wie sie es am Vortag getan hatte. Sie tat nicht mehr, als die Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln zu verziehen. Ihre Augen waren himmelblau, bemerkte Eric, bevor sie sie wütend zusammenkniff. Dann beugte sie sich ein Stück weiter zu ihm her­über, und ihr leichter Duft, der ihn irgendwie an Sommerfrüchte erinnerte, traf ihn mit voller Wucht. Doch bevor er das irgendwie verarbeiten konnte, zischte sie: »Sie scheinen überhaupt keine Ahnung von Menschen zu haben. Und von mir schon gar nicht.«

»Ach ja?«, konnte er sich eine Erwiderung nicht verkneifen. »Menschen wie Sie sind der Grund, warum ich meine Zeit lieber in Alaska verbringe als in einem Ort wie Starnberg.«

»Wie schön für Sie.« Ihr Lächeln erschien wieder. Strahlend und falsch. »Sie sollten vielleicht so schnell wie möglich dorthin zurückkehren. Alaska vermisst jemanden wie Sie sicher sehr.« Dann senkte sie den Blick. »Annabelle, Liebes. Es war schön, dich zu sehen. Ich wünsch dir einen schönen Tag.«

Scheiße! Eric hatte seine Nichte völlig vergessen. Und die Tatsache, dass sie neugierig neben ihm stand und ihren Schlagabtausch mit großen Augen verfolgte. »Das wünsch ich dir auch, Lina«, antwortete die Kleine. »Und das, was Onkel Eric sagt, darfst du nicht so genau nehmen. Er mag Steine einfach lieber als Menschen.«

Eric schluckte. Dieser Satz war definitiv nicht dafür gedacht, aus dem Mund seiner Nichte zu kommen. Wenn sie das sagte, kam das völlig anders rüber, als wenn er das selbst von sich behauptete.

Die Nanny strich Annabelle über die Wange und lächelte sie an. »Das glaube ich«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Eric war sich sicher, sie ein »und umgekehrt mögen die Steine ihn wahrscheinlich auch mehr als die Menschen« murmeln zu hören, als sie durch die Eingangstür nach draußen trat.

3

Eric ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er sich von dieser Nanny – Lina – nur so reizen lassen? So sehr, dass er die ganze Fahrt nach München darüber nachgedacht hatte. Was ging es ihn an, ob sie mit irgendwelchen Typen flirtete? Mit einem frustrierten Laut schlug er auf das Lenkrad seines Defenders. Er wusste ganz genau, warum er ein Problem damit hatte. Weil es ihn grundsätzlich wütend machte, wenn Kinder zum Spielball Erwachsener wurden. So wie Annabelle es oft war, wenn Charlotte und Vincent Termine ausmachten, ohne an ihre Tochter zu denken, und sie dann hin und her schoben, weil sie beide keine Zeit hatten, sich um sie zu kümmern. Und so wie seine Schwester und er es ihre ganze Kindheit hindurch gewesen waren. Bei Eltern, die vermutlich die meiste Zeit überhaupt vergessen hatten, dass es da noch zwei Kinder gab, die darauf warteten, dass Mama und Papa abends nach Hause kamen, und bei denen sie nur von Wert waren, wenn sie auf irgendwelchen Partys und Bällen herausgeputzt und vorgezeigt worden waren.

Er bremste ab, als er sah, dass direkt vor ihm ein BMW vor dem Geowissenschaftlichen Institut der Ludwig-Maximilians-­Universität ausparkte. Immerhin, das hatte etwas von einem guten Omen. Er schnappte sich den Parkplatz und schaltete den Motor aus. Dann atmete er einmal tief durch und schob die Gedanken an die Nanny zur Seite. Er war nach München gefahren, um sich mit seinem neuen Arbeitsplatz vertraut zu machen, um sich einzurichten und anzukommen. Das hier war ein großer Schritt für ihn. Er würde ihn sich weder von den Meckereien seiner Schwester verderben lassen noch von den Erinnerungen an eine wirklich lieblose Kindheit, ausgelöst von dieser Lina. Eine Kindheit, in der er für seine Eltern meistens gar nicht existiert hatte, in der sie ihn nicht einmal im Krankenhaus … Eric schob den Gedanken zur Seite und schüttelte über sich selbst den Kopf, als er ausstieg. Das hier war sein Moment. Sein Neubeginn. Und darauf würde er sich konzentrieren.

Er betrachtete den weiß gestrichenen Fünfzigerjahre-Bau. Die Fakultät der Geowissenschaften gehörte zwar streng genommen noch zum Campus am Geschwister-Scholl-Platz, war aber weit genug entfernt von den erhabenen, historischen Gebäuden mit ihren berühmten Hörsälen und der Gedenkstätte Weiße Rose im Lichthof, die an die Festnahme der Geschwister Scholl erinnerte, um wie ein eigenes kleines Universum zu wirken.

Als er beschlossen hatte, Geologie zu studieren, hatte er gar nicht weit genug von Starnberg wegkommen können und war erst in Greifswald und dann in Hamburg gelandet. Sehnsucht nach Hause hatte er in den ersten Jahren nie gehabt, dazu war die Welt der Geologie viel zu spannend gewesen. Außerdem hatte er den Expeditionen nicht widerstehen können. Keiner einzelnen, die ihm angeboten worden war. Bis all das zuletzt den schalen Geschmack eines immer wiederkehrenden Kreislaufes bekommen hatte. Eric würde nicht behaupten, dass er nie wieder eine Forschungsreise unternehmen würde, aber er wollte wenigstens eine Zeit lang sesshaft werden. Als ihm ausgerechnet die Ludwig-Maximilians-Universität einen Lehrstuhl angeboten hatte, der ihm genug Freiraum gab, die Forschungsergebnisse der letzten Expedition auszuwerten und an seinem Herzens­projekt, der Entwicklung einer seismischen Messtechnik zur Erdrutsch-Vorhersage, zu arbeiten, hatte er nicht lange überlegt. So eine Chance bekam man nicht oft im Leben. Zumindest nicht in seiner Welt. Und er würde sie nutzen.

Eric betrat das T-förmige Gebäude. In dem hellen, lichtdurchfluteten Treppenhaus hallten seine Schritte wider. Während der Semesterferien wirkte das Institut wie ausgestorben. Nur wenige Leute kamen ihm entgegen und nickten grüßend. Eric schlug den Weg zum Büro seiner Dekanin, Professor Dr. Evelin Meilinger, ein und klopfte an ihre angelehnte Tür.

»Herein«, forderte sie ihn auf und erhob sich hinter ihrem Schreibtisch, als er das Büro betrat. »Herr Fuchs, ich freue mich, Sie zu sehen.« Die große, energisch wirkende Frau, die vermutlich noch keine fünfzig war, kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Wie geht es Ihnen? Wie war die Rückreise aus Alaska?«

»Danke, gut.« Eric schüttelte die dargebotene Hand. Das Lächeln der Dekanin war warm, und er fühlte sich sofort willkommen.

»Nehmen Sie Platz«, bat sie ihn und wies auf eine kleine Sitzecke. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Gerne.« Eric wartete, bis Frau Meilinger ihnen beiden aus einer Thermoskanne eingeschenkt hatte, bevor er fortfuhr: »Danke, dass Sie mir ein paar der Ferienkurse angeboten haben. So gewöhne ich mich vermutlich schneller an die Dozententätigkeit.«

Die Dekanin lachte und strich sich die Haare ihres kinnlangen Bobs hinter das Ohr. »Machen Sie sich darum keine Sorgen. Zum einen sind Ihnen Ihre Kollegen sehr dankbar dafür, dass Sie ihnen einen Teil der Arbeit abnehmen. Und Ihre Qualitäten als Dozent haben sich hier längst herumgesprochen.« Sie stand auf und nahm einen Stapel Papier von ihrem Schreibtisch. »Sie wissen, wie die Studenten sind. Sie entscheiden sich für den Professor, der sie begeistert. Ihre Vorlesungen werden voll sein, Herr Fuchs. Das Interesse für Seismologie ist sprunghaft gestiegen, seit das Gerücht die Runde macht, dass wir Sie für unsere Fakultät gewinnen konnten. Die Sommerkurse sind bereits ausgebucht, und das hier«, sie hielt ihm die Blätter hin, »sind Bewerbungen für die Stellen als studentische Hilfskraft und wissenschaftliche Mitarbeiter, die zu Ihrem Lehrstuhl gehören. Sie können wählen.«

»Oh. Danke.« Eric griff nach den Bewerbungen. Er fühlte sich ein bisschen überrumpelt. Das Prinzip, das seine Chefin angesprochen hatte, kannte er selbst aus seiner Studentenzeit. Man ging nach Möglichkeit immer zu dem Dozenten, den man spannend fand. Womit sich die Richtung, die das Studium nahm, ganz von selbst entwickelte. Aber er verstand nicht ganz, warum ausgerechnet er den Ruf haben sollte, die Studenten begeistern zu können. Abgesehen davon, dass die Seismologie an sich faszinierend war. »Ich habe nur eine Vorlesung gehalten«, sagte er. Zur Bewerbung auf eine Professur war das Halten einer Probevorlesung unerlässlich gewesen. Und er hatte bereits auf vielen Symposien gesprochen, jede Menge Vorträge gehalten und zu der Zeit, als er selbst noch wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen war, auch Vorlesungen für seinen Dozenten. Trotzdem hatte er das vor dieser Professur nicht unbedingt als seine Kernkompetenz gesehen. In der Forschung fühlte er sich viel mehr zu Hause.

Frau Meilinger lachte wieder. »Ihr ungläubiges Gesicht ist sehr erfrischend. Aber glauben Sie mir, die Studenten sind verrückt nach«, sie malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »frischem Blut. Ihre Publikationen sind bemerkenswert, und Ihr seismisches Messgerät sorgt für jede Menge glänzende Augen. Bei so einem Forschungsprojekt wäre jeder gern dabei.« Sie erhob sich. »Aber Sie sind sicher nicht hier, um mit mir ein Kaffeekränzchen abzuhalten, sondern wollen Ihre neue Wirkungsstätte und Ihr Büro sehen. Ich führe Sie herum und lasse Sie dann in Ruhe ­ankommen.«

Eric war die Fakultät schon bei seinem Vorstellungsgespräch vor ein paar Monaten gezeigt worden. Und besonders die Labore, die erst vor ein paar Jahren komplett modernisiert worden waren, hatten sein Herz höherschlagen lassen. Jetzt wurde ihm bewusst, dass es ein Unterschied war, ob man als potenzieller Bewerber durch diese Gänge lief, oder ob man einen Hörsaal mit den Worten »das ist ab jetzt Ihrer« präsentiert bekam.

Frau Meilinger zeigte ihm alles, stellte ihn den ­wenigen Kollegen vor, die sie trafen, und verabschiedete sich schließlich an seinem neuen Büro von ihm.

Eric wartete, bis ihre Schritte den Gang hinunter verhallt waren, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss zog und sich von innen dagegen lehnte. Langsam atmete er aus und betrachtete die leeren weißen Regale, die saubere Schreibtischoberfläche, den ergonomischen Drehstuhl. So viele Jahre war er auf Expedition gewesen, hatte die ganze Welt kennengelernt. Jetzt würde er zum ersten Mal sesshaft werden. Er wollte nicht ausschließen, dass es ihn irgendwann wieder in die Welt hinauszog. Aber im Moment war er mit seiner Wahl zufrieden. Blieb zu hoffen, dass seine Kollegen und die Studenten genauso angenehm waren wie seine neue Dekanin.

*

Lina klappte genervt ihren Laptop zu. Nachdem an diesem Morgen alle ausgeflogen waren und sie die alte Schule ganz für sich allein gehabt hatte, hatte sie beschlossen, auf der kleinen Terrasse zu arbeiten, die sich an Felicias Wohnung und ihre Kochschule Küchennachhilfe anschloss. Es gab in diesem Haus neben Linas eigener Wohnung und der Bücherei, in der sie viel Zeit verbrachte, noch jede Menge Räume, die sie nutzen konnte. Das Lehrerzimmer zum Beispiel, das irgendwie zum Treffpunkt ihrer Wohngemeinschaft geworden war. Aber bei diesem Wetter wollte sie draußen sein – was sie inzwischen bereute. Denn während sie versucht hatte, einen Arbeitsplan ihrer Nannys für die nächste Woche aufzustellen, hatte sie bereits eine Fuhre Kartoffeln für Felicia entgegengenommen und ein riesiges, schweres Paket mit irgendwelchen Materialmustern für Ben.

Das war allerdings nichts im Vergleich zu den Unterbrechungen des Jule-Hansen-Fanclubs. Denn Linas Freundin führte nicht nur eine wundervolle Beziehung mit Chris Thalbach, sie hatte auch eine ganze Schar – harmloser – Verehrer, die Puderzucker über ihr Leben streuten. Was hauptsächlich daran lag, dass Jule jeden reparierungsbedürftigen Gegenstand, der ihr unter die Finger kam, wieder zum Leben erweckte. So wurde der Starnberger Merkur nicht einfach in den Briefkasten geworfen, sondern bis zu ihrer Sitzecke hinter das Haus getragen, weil Jule dem Zeitungsboten mal die Kette am Fahrrad repariert hatte. Natürlich wollte er ein kleines Schwätzchen halten. Genau wie Carlo, der Besitzer einer kleinen Espressobar am Anleger für die Touristenschiffe, der unterwegs gewesen war und ebenfalls gehofft hatte, Jule anzutreffen. Wenn er sie schon unterbrach, hatte Lina entschieden, würde sie den geeisten doppelten Espresso ihrer Freundin einfach trinken. Weil das Eis sonst sowieso schmelzen würde. Und weil er einfach der beste in der Stadt war.

Sogar Blumen waren an diesem Morgen geliefert worden. Von einem Blumenhändler, mit dem Jule regelmäßig zusammenarbeitete, um die extravaganten Wünsche ihrer Kunden zu erfüllen, zu denen irgendwie immer Blumen zu gehören schienen. Das zweite Bouquet stammte von Chris, der auf Geschäftsreise war. Verdammt, war das süß. Wieder dachte Lina darüber nach, wie es wäre, einen Mann in ihrem Leben zu haben, der an sie dachte. Und wollte, dass sie an ihn dachte, selbst wenn er unterwegs war.

Lina seufzte und schob den Gedanken zur Seite. Sie stellte die Blumen ins Wasser und klappte ihren Laptop wieder auf, um doch noch mit ihrer Liste fertig zu werden. Wenn sie ihre Planung nicht bald aufstellte, würde der neue Monat beginnen, ohne dass eine ihrer Mitarbeiterinnen eine Ahnung hatte, wann sie arbeitete.

Der Eingang einer Nachricht auf ihrem Handy lenkte sie das nächste Mal von ihrer Excel-Tabelle ab. Lina warf einen Blick auf das Display. Jule hatte in die Gruppe der alten Schule geschrieben: NOTFALL!

Line öffnete die App, um auch den Rest der Nachricht zu lesen, der daraus bestand, dass Jule wissen wollte, ob heute noch jemand einkaufen ging.

Bevor Lina antworten konnte, begannen bereits die drei Punkte hinter Bens Namen zu tanzen, und er hatte mit einem schlichten ich geantwortet.

Jule:

Wunderbar. Kannst du mir Gleitgel ­mitbringen?