Die Mühlenschwestern - Die Hoffnung wird dich finden - Jana Lukas - E-Book
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Die Mühlenschwestern - Die Hoffnung wird dich finden E-Book

Jana Lukas

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Beschreibung

Gib die Hoffnung niemals auf, denn das Schicksal wartet auf dich...

Schon als kleines Mädchen hat Rosa ihre Zeit am liebsten mit ihren Schwestern Hannah und Antonia in der alten Mühle am Sternsee verbracht. Jetzt, mit Anfang Dreißig, betreibt sie die Mühle mit ihrer Tante Lou – und könnte glücklicher nicht sein. Wenn da nicht ihr Freund Julian wäre … Als Rosa erfährt, dass er eine Affäre hat, setzt sie ihn kurzerhand vor die Tür. Doch wenig später taucht Julians attraktiver Bruder David im Mühlenladen auf und wirbelt ihr Leben kräftig durcheinander. Was Rosa jedoch nicht ahnt: David spielt nicht mit offenen Karten ….

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Das Buch

»Begrüßen Sie die schöne Müllerin«, betonte der Moderator den mittlerweile gängigen Spitznamen der Frau, »die wir heute spontan als Studiogast begrüßen dürfen.« Die Kamera zoomte sie heran. Wie nicht anders zu erwarten steckte Rosa in einem Dirndl. Ihre goldbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der sich einmal um ihren gesamten Kopf wand. Das Gesicht war schön, aber am auffälligsten waren die dunkelbraunen Augen unter sanft geschwungenen Brauen. »Herzlich willkommen, Rosa Falkenberg.« Die Studiogäste grölten, pfiffen und klatschten. Rosa hob die Hand zu einem schüchternen Lächeln und strahlte in die Kamera. Sie sah aus, als – hätte sie keine Ahnung!

Als David seinen Roman schrieb, hätte er niemals gedacht, dass dieser einmal die Bestsellerlisten stürmen würde. Doch Die schöne Müllerin, das Buch, in dem er Rosa als naives Dummchen darstellt – genau wie sein Halbbruder Julian sie beschrieben hatte –, wurde zu einem Riesenerfolg. Als er jedoch der realen Rosa mit den funkelnden dunkelbraunen Augen zum ersten Mal persönlich gegenübersteht, wird ihm klar, dass er einen fatalen Fehler begangen hat …

Die Autorin

Was tun, wenn man zwei Traumberufe hat? Jana Lukas entschied sich nach dem Abitur, zunächst den bodenständigeren ihrer beiden Träume zu verwirklichen und Polizistin zu werden. Nach über zehn Jahren bei der Kriminalpolizei wagte sie sich an ihren ersten romantischen Thriller und erzählt seitdem von großen Gefühlen und temperamentvollen Charakteren. Denn ihr Motto lautet: Es gibt nicht viele Garantien im Leben … aber zumindest in ihren Romanen ist ein Happy End garantiert. Immer!

JANA LUKAS

DIE HOFFNUNG WIRD DICH FINDEN

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 08/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Diana Mantel

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur unter Verwendung von Bildern von Stocksy/Brkati Krokodil, GettyImages/lechatnoir, FinePi®

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25962-4V002www.heyne.de

Unser großer Dichter Goethe ging oft auf Reisenund übernachtete gern in Müllerkreisen.Doch lag ihm die Mühle nicht groß im Sinn.Sein Augenmerk galt der schönen Müllerin.Naturgemäß ein einfacher Grund:blaue Augen, blondes Haar und ein schöner Mund.

(Sprichwort)

Prolog

Raus hier! Raus! Der Fluchtinstinkt setzte mit voller Macht ein. Rosa wollte sich gerade zwischen den Sesseln hindurchdrängen, als sie hinter sich die Stimme des Moderators wahrnahm.

»Frau Falkenberg, ist das Ihre Art, mit Kritik umzugehen? Ich habe Ihnen ein paar ernsthafte Fragen gestellt, und Ihre Reaktion ist …«

Rosa wirbelte zu ihm herum. Er war ebenfalls aufgestanden, das Buch noch immer erhoben. Ohne nachzudenken, schlossen sich ihre Finger in einem Reflex um den Paperback-Einband. Sie riss ihm den Roman aus der Hand und rannte aus dem Studio, so schnell ihre High Heels sie trugen.

Wenige Stunden zuvor

Rosa Falkenberg genoss den Wind, der ihr ins Gesicht blies, das Dirndl gegen ihren Körper drückte. Sie trat noch ein bisschen fester in die Pedale – und schoss noch ein wenig schneller am Rand der smaragdgrünen Oberfläche des Sternsees entlang. Die Sonne schien vor einem leuchtend blauen Himmel, überflutete die Bergketten, die das Tal einschlossen, die Wälder und den See mit gleißendem Licht. Die Wärme des Sommers hing noch zwischen den steilen Felswänden, aber der Herbst würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Sie freute sich auf die kühleren Tage, den feuchten, erdigen Geruch. Andere liebten die Hitze des Sommers am Seeufer, den Winter, um durch den meterhohen Schnee zu toben, aber Rosa mochte schon immer den Herbst am liebsten. Die Zeit zwischen den beiden Hauptsaisons in den Bergen. Wenn das Tal durchatmete und der Wind die Herbstfarben von den Bergen herunterfegte.

Am 31. Oktober würden sie das erste Hoffest in der Alten Mühle feiern. Eine Veranstaltung, auf die sie hinfieberte. Ihre Tante Louisa und sie hatten in den letzten Jahren hart für den Erfolg ihrer kleinen Biomühle gearbeitet. Noch hatten sie nicht alles erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten, aber sie waren auf einem guten Weg.

Auf dem Schotterweg, der zum Grundstück ihrer Tante führte, hörte Rosa auf zu treten. Sie rollte auf den gepflasterten Hof, der links von der Mühle begrenzt wurde, an der noch immer das alte Mühlrad träge Wasser schaufelte. Rechterhand lag das alte Wirtshaus, das ihre Tante vor dem Verfall gerettet und zu einem Hofladen ausgebaut hatte. Davor saßen ›die drei Alten‹ – wie sie Pangratz, Korbinian und Gustl nannte – und winkten ihr, als sie vom Rad sprang.

»Hallo, schöne Müllerin«, riefen sie ihr unisono zu und brachten Rosa damit, wie immer, zum Lachen. Sie stellte das Fahrrad in den Schuppen hinter der Mühle und strich sich über ihre Flechtfrisur, um sicherzustellen, dass der Wind sie nicht zu sehr zerzaust hatte.

Rosas Schwestern, Hannah und Antonia, standen vor dem Hofladen. Ihre Tante Louisa lehnte im Türrahmen und grinste breit, als Rosa über das unebene Kopfsteinpflaster zu ihnen hinüberging. »Ich habe keine Ahnung, was diese Woche los ist«, sagte sie. »Die Leute rennen uns die Bude ein. Und alle fragen nach der schönen Müllerin.«

Ihre Schwestern kicherten, und Rosa verdrehte die Augen. »Das ist sicher zum Teil die Schuld der drei Alten. Ich glaube aber auch, dass die neue Homepage und der nigelnagelneue Instagram-Account einfach gut funktionieren. Vielleicht bringt uns das ja die notwendige Aufmerksamkeit.«

Ein Paar um die vierzig schlenderte aus dem Laden. Die Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie Rosa erblickte. »Sie sind die schöne Müllerin«, sagte sie mit einer Stimme, die klang, als hätte sie gerade einen Filmstar getroffen. »Wahnsinn!« Die Hand in den Unterarm ihres Mannes gekrallt, zwang sie ihn zum Stehenbleiben. »Können wir ein Selfie miteinander machen?«

Rosa lächelte. »Natürlich.« Sie strich den Rock ihres Dirndls glatt und plauderte mit der Frau über das Tal und das Hotel, in dem das Paar seinen Urlaub verbrachte, während sie sich für das Foto neben sie stellte. Sie mochte die drei Alten, die ihre Vormittage auf einer Bank auf dem Dorfplatz und die Nachmittage tratschend vor dem Mühlenladen verbrachten. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie den Feriengästen erzählten, dass sie plötzlich von wildfremden Leuten als schöne Müllerin angesprochen wurde.

»Sie machen auf mich eigentlich einen ganz kompetenten Eindruck«, holte die Frau sie aus ihren Gedanken. »Dieses Dirndl steht Ihnen außerdem ziemlich gut.« Abschätzig verzog sie den Mund. »Man sollte nicht zu viel auf die Ansichten von Männern geben.«

Rosa hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, lächelte aber trotzdem und bedankte sich für den Rat. Sie warf Antonia und Hannah einen Blick zu, die aber auch nur verständnislos mit den Schultern zuckten. Wer wusste schon, was in den Köpfen der Leute vorging?

Nachdem das Paar ein Dinkelmehl und zwei Brotbackmischungen gekauft und sich verabschiedet hatte, lehnte sich Rosa neben ihrer Tante gegen den Tresen im Laden. »Weißt du, was ich jetzt gerne hätte? Einen großen Latte macchiato.«

»Gute Idee«, pflichtete Antonia ihr bei. »Ich schließe mich an. Hannah?«

»Jepp. Für mich auch, bitte.«

»Kommt sofort.« Louisa drehte sich zur Kaffeemaschine um.

In der Tasche von Rosas Dirndlschürze begann ihr Handy zu klingeln. Sie zog es heraus und blickte auf das Display. Die Nummer mit Münchener Vorwahl kannte sie nicht. »Rosa Falkenberg«, meldete sie sich.

»Manuel Gerster von Bayern TV. Frau Falkenberg, ich weiß, es ist spontan, aber dürfen wir Sie heute Abend als Gast in unsere Talkshow einladen? Wir würden gern mit Ihnen über Ihr Leben sprechen.«

Rosa nahm das Handy vom Ohr, legte die Hand über das Mikro und quietschte begeistert. »Oh mein Gott!«, jubelte sie, streckte die Hände in die Luft und führte ein kleines Freudentänzchen auf.

Louisa drehte sich zu ihr um und beobachtete gemeinsam mit ihren Schwestern Rosas Ausbruch amüsiert.

»Ich komme gerne«, sagte sie, als sie das Handy wieder ans Ohr hielt. Sie konnte es nicht fassen. Schon vor Monaten hatte sie sich bei der Late Night Show Die Nacht in Bayern beworben, um die Mühle und den Hofladen bekannter zu machen. Der Sender hatte sich nie bei ihr gemeldet – bis heute. Der nächste Schritt auf dem Erfolgsweg der Alten Mühle war gemacht.

1

David Kaltenbach saß in einem Hotelzimmer in Hamburg fest. Die Wände um ihn herum waren türkis. Die Bettdecke, auf der er lag: türkis. Und der ausladende Sessel in der Zimmerecke, auf den er sein Jackett geworfen hatte, wies – Überraschung! – den gleichen Farbton auf. Zahnputzbecher, Handtücher, Toilettendeckel und Duschvorleger – alles türkis. Es gab keine Farbe, die David mehr hasste. Keine! Aber hier schien es kein Entkommen zu geben.

Ebenso wenig konnte er es ausstehen festzuhängen. Mit einem Seufzen griff er nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch und zappte durch die Programme, bis er den bayerischen Lokalsender und Die Nacht in Bayern fand. Die Titelmelodie der Talkrunde erklang, und das gut gelaunte Grinsen des Moderators erschien im Bild.

Eigentlich müsste David gerade in einem der tiefen schwarzen Clubsessel sitzen, aber sein Agent hatte ihn zu einem Termin nach Hamburg geschickt. Eine Diskussionsrunde mit drei Feministinnen, die versucht hatten, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, weil sie seinen neuen Roman als unfassbar skandalös und frauenverachtend empfanden. Das Gespräch hatte ihm erstaunlich viel Spaß gemacht, auch wenn so zu denken mit Sicherheit nicht politisch korrekt war. Aber warum sollte er das auch sein? Dafür waren andere zuständig. Er hatte es genossen, die Damenrunde mit seinen frechen Sticheleien auf die Palme zu bringen – und wenn sie dachten, er würde endlich den Mund halten, noch mal eins draufzusetzen.

Dummerweise war sein Rückflug nach München gecancelt worden, und er würde erst am nächsten Morgen fliegen können. Er hatte bei dem Sender angerufen und seine Teilnahme an der Late Night Show abgesagt. Sie hatten ihn beruhigt, dass sie sich um Ersatz bemühen würden. Sein Agent hatte ihn später wissen lassen, dass sie die schöne Müllerin höchstpersönlich als Studiogast gewinnen konnten. Das wiederum wunderte David tatsächlich. Und zwar genug, dass er sich mit einer Tüte Chips und einem überteuerten Bier aus der Minibar auf sein Bett fläzte, um eine Talkshow zu gucken, statt die Nacht zu nutzen und über den Kiez zu ziehen. David würde sich den Fragen des Moderators an Rosa Falkenbergs Stelle nicht aussetzen. Warum tat sie sich das an?

Die Kamera schwenkte zu Gast Nummer eins, einem Sternekoch, der die Werbetrommel für seine neue Kochsendung rühren wollte. Dann wurden ein Saxofonist, der in wenigen Tagen sein erstes Album veröffentlichen würde, und eine abgehalfterte Schauspielerin vorgestellt, die offenbar nichts zur Show beizutragen hatte, sah man von ein paar wichtigtuerischen Lebensweisheiten ab. Noch ein Kameraschwenk – und da war sie.

Unbewusst richtete David sich auf.

»Begrüßen Sie die schöne Müllerin«, betonte der Moderator den mittlerweile gängigen Spitznamen der Frau, »die wir heute spontan als Studiogast begrüßen dürfen.« Die Kamera zoomte sie heran. Wie nicht anders zu erwarten steckte sie in einem Dirndl. Farbtechnisch schien David im Moment einfach Pech zu haben: winzige weiße Blümchen auf türkisem Grund. Er seufzte und trank einen Schluck Bier. Die Schürze war eine Nuance heller, und unter einer weißen Spitzenbluse und einem türkisfarbenen Mieder hob sich ein hübsches Dekolleté ab. Ihre goldbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der sich einmal um ihren gesamten Kopf wand. Das Gesicht war schön, aber am auffälligsten waren die dunkelbraunen Augen unter sanft geschwungenen Brauen. »Herzlich willkommen, Rosa Falkenberg.« Die Studiogäste grölten, pfiffen und klatschten. Rosa Falkenberg hob die Hand zu einem schüchternen Lächeln und strahlte in die Kamera. Sie sah aus, als – hätte sie keine Ahnung!

»Scheiße!« David griff nach seinem Handy und stieß dabei die offene Chipstüte vom Bett. Der Inhalt verteilte sich über den immerhin dunkelbraunen Teppichboden, aber das interessierte ihn im Moment herzlich wenig. Er tippte die Wahlwiederholung und hatte im nächsten Moment seinen Agenten, Martin Arens, an der Strippe. »Rosa Falkenberg ist in dieser Talkshow«, sagte er statt einer Begrüßung.

»Ja, ich sehe es mir auch gerade an. Ein gelungener Schachzug, wenn du mich fragst.« Er kicherte, und David bekam eine Gänsehaut. Männer sollten nicht kichern, schon gar nicht auf diese boshafte Art. »Das habe ich dir doch bereits geschrieben. Sie konnten dich für heute Abend nicht bekommen, also halten sie sich an die einzige Person, die fast genauso interessant ist wie du«, erklärte Martin ihm, was er in HD vor sich sah.

»Hast du ihr Gesicht gesehen?« Wieder schwenkte die Kamera, und David starrte in die dunklen Augen, die perfekt zu Rosas leicht olivfarbenem Teint passten. »Sie ist völlig ahnungslos!«

»Das macht es umso spannender. Findest du nicht?«

David sparte sich eine Erwiderung. Er legte auf, leerte sein Bier und angelte sich eine neue Flasche aus der Minibar, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Unbehagen breitete sich auf seinem Körper aus wie eine Gänsehaut, wenn jemand mit der Gabel über einen Teller kratzte. Nur, dass er derjenige war, der die Gabel in der Hand hielt. Mit den Fingern seiner linken Hand fuhr er die erhabenen Lettern auf dem Cover seines Romans nach, den er beim Betreten des Zimmers achtlos auf das Bett geworfen hatte.

Die schöne Müllerin

Genau genommen handelte das Buch nicht nur von Rosa Falkenberg, die David gerade zum ersten Mal live sah. Bisher hatte er nur Fotos von ihr zu Gesicht bekommen. Eigentlich ging es in dieser Geschichte zu nicht gerade unwesentlichen Teilen um seinen idiotischen Halbbruder. Aber die Leser hatten sich auf Rosa eingeschossen – oder Josefine, wie sie im Roman hieß.

Aus irgendeinem Grund, den David nicht verstand, war sein Buch eingeschlagen wie eine Bombe. Er hatte nie verheimlicht, dass die Protagonisten real existierende Personen waren, ihre Namen aber für sich behalten. Das Ausplaudern hatte seine Mutter übernommen, die sich in der Aufmerksamkeit einer großen deutschen Klatschzeitung gesonnt hatte und abgesehen davon vermutlich ein riesiges Vergnügen dabei empfand, Davids Halbbruder Julian in die Pfanne zu hauen. Nach diesem Interview war das Internet praktisch vor Kommentaren explodiert. Es gab Leute, die David für sein Buch hassten. Jede Menge Typen klopften ihm virtuell auf die Schulter. Und glücklicherweise waren da draußen auch noch genug Leser, die sahen, was sein Roman wirklich war: eine zynische, bösartige Studie des Typs Frau, den Rosa Falkenberg verkörperte. Naive, hausmütterliche Weibchen, die blind für den Charakter ihres Partners waren und lieber heile Familie spielten, als sich der Realität zu stellen. Frauen, die belogen und betrogen wurden, ohne das in ihrer Arglosigkeit auch nur wahrzunehmen – oder es nicht wahrnehmen wollten. Weil sie mit Scheuklappen durch die Welt liefen – und nur ein Ziel hatten: geheiratet zu werden. Jedenfalls hatte Die schöne Müllerin die Bestsellerlisten gestürmt und von Fitzek bis Sparks alles verdrängt, was Rang und Namen hatte.

Der Moderator hatte ein paar Worte mit den anderen Gästen gewechselt, ehe er sich wieder an Rosa wandte. »Wir sind glücklich, dass Sie sich so kurzfristig bereit erklärt haben, den Abend mit uns zu verbringen.« Er beugte sich vertraulich vor. »Wir hoffen, ein paar der Geheimnisse aus Ihrem Leben aufdecken zu können.«

Zwischen Rosas Augenbrauen bildete sich für einen Moment eine Falte – und Davids Nackenhaare stellten sich auf. Dann glättete sich ihre Haut wieder, und sie lächelte. »Ich freue mich sehr, hier zu sein und über das Leben als Müllerin und vor allem etwas über die Alte Mühle in Sternmoos zu erzählen.« Sie beugte sich ein wenig vor, und die Kamera fing das spitzengesäumte Dekolleté in Großaufnahme ein. Als sie sich wieder zurücklehnte, hielt sie eine Porzellanplatte ins Bild. »Ich habe ein paar Kekse mitgebracht. Nach meinem eigenen Rezept und mit Mehl aus der Alten Mühle gebacken.«

David stieß einen Laut aus, der sich in seinen eigenen Ohren fassungslos anhörte. Er kniff die Augen zusammen und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Sie verhielt sich genau so, wie er es in seinem Buch geschrieben hatte. Genau so, wie die Leser sich die schöne Müllerin vorstellten. Natürlich wünschte er ihr nicht, dass sie im Fernsehen vorgeführt wurde, aber sie erfüllte mit jeder weiteren Frage, die sie beantwortete, die Klischees, die er von ihr gezeichnet hatte.

Rosa Falkenberg würde sich um Kopf und Kragen reden. Was unweigerlich dazu führen würde, dass sein Buch eine weitere Auflage bekam und noch mehr Exemplare über den Ladentisch gehen würden.

*

Rosa konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so aufgeregt gewesen zu sein wie unter den grellen, heißen Scheinwerfern im Studio. Der Moderator, Bruno Baumert, lächelte freundlich, erinnerte sie allerdings an einen Hai, der seine Beute mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen fixierte, bevor er unvermittelt zubiss. Von dem Sternekoch, der mit ihr gemeinsam in der Runde saß und mürrisch vor sich hinblickte, solange die Kameras nicht auf ihn gerichtet waren, besaß sie ein Kochbuch. Den aufstrebenden Musiker kannte sie nicht. Die in die Jahre gekommene Schauspielerin, Bernadette Hellmann, hatte in einigen Filmen mitgespielt, die Rosa in ihrer Kindheit gesehen hatte. Lange bevor die Frau einige fragwürdige Schönheitsoperationen über sich hatte ergehen lassen, die ihr Gesicht in eine Art gruselige Halloween-Maske verwandelt hatten.

Bevor sie in den Zug nach München gestiegen war, hatte Rosa noch ein paar Schokoladenkekse mit Dinkelmehl aus der Alten Mühle gebacken. Vielleicht würde sich jemand aus der Gästerunde positiv darüber äußern. Eine perfekte Werbung für ihre Produkte. Als sie das Gebäck allerdings anbot, erntete sie fassungslose Blicke. Nur der Saxofonist griff sich gleich zwei Kekse und stopfte sie sich auf einmal in den Mund. Rosa vermutete anhand seiner langsamen, etwas unkoordinierten Bewegungen, dass er bekifft war.

»Wir hoffen, ein paar der Geheimnisse aus Ihrem Leben aufdecken zu können«, war die erste merkwürdige Ankündigung des Moderators, auf die zwei Fragen folgten. »Sie haben diese Kekse selbst gebacken?«, wollte er wissen, ließ Rosa aber gar nicht erst antworten. »Dann stimmt es also, dass Sie gerne am Herd stehen?«

»Äh … ja.« Rosa blickte in die Kamera. Sie mochte den Unterton der Frage nicht, die wirkte, als sei es etwas Biederes, Spießiges, gern zu kochen und zu backen.

»Das Gleiche gilt für Ihre Kleidung, nicht wahr?« Haifischgrinsen. »Sie mögen traditionelle Kleidung, und Ihre Frisuren passen auch dazu. Ist das nicht inzwischen ein wenig überholt? Zumindest im Alltag?«

Was hatte das mit der Mühle zu tun? Rosa versuchte, nicht die Stirn zu runzeln, weil das die Kameras mit Sicherheit festhalten würden. »Dirndlgewänder gehören zu den Traditionen im Berchtesgadener Land und sind trotzdem zeitgemäß. Ich trage sie gerne. Wenn ich in der Mühle arbeite, habe ich natürlich Arbeitskleidung an«, versuchte sie abermals, den Fokus auf die Mühle zurückzulenken.

»Ach ja, Sie jobben ja für Ihre Tante.«

»Nein! Ich bin …«

»Verdammt, Mädchen! Das ist ja nicht zum Ansehen«, schnitt ihr Bernadette Hellmann das Wort ab, ohne ihr gebotoxtes Gesicht dabei wirklich zu bewegen. »Schämen Sie sich nicht?«

»Was …?«

Doch Rosa kam nicht zu Wort. »Sie setzen sich hier hin, verbreiten die Vorstellung eines völlig überholten Frauenbildes und sind auch noch stolz darauf!«

Rosa zuckte zurück. Was meinte diese Frau? Sie führte gemeinsam mit Louisa ein erfolgreiches Unternehmen. Zwei Frauen, die versuchten, ökologisch und biologisch nachhaltig zu produzieren. Gerade wollte sie zu einer Erwiderung ansetzen, als Bernadette Hellmann ein »Sie Dummchen!« zwischen ihren aufgespritzten Lippen hervorpresste.

Rosa begann unter ihrem dicken Make-up zu schwitzen. Die nette Dame in der Maske hatte beteuert, dass die Schminke, die sie ihr ins Gesicht geklatscht hatte, helfen würde, nicht vor der Kamera zu glänzen. Aber so heiß wie ihr gerade wurde … »Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Die Mühle meiner Tante produziert regionale Produkte, und die Rohstoffe, also das Getreide, kommen ebenfalls von Bauern aus der Umgebung. Wir bemühen uns …«

»Uns interessiert mehr Ihr Lebensstil«, mischte sich Baumert wieder ein. »Wir reden schließlich über das Buch, in dem Ihre Geschichte erzählt wird.«

Es dauerte einen Moment, bis das Gesagte in Rosas Gehirn sickerte. Buch? Sie vergaß die Kameras, die auf sie gerichtet waren, nahm das Glühen der Scheinwerfer nicht mehr wahr. »Was für ein Buch?«

Der Moderator warf ihr einen irritierten Blick zu. »Die schöne Müllerin«, erwiderte er und hielt ein Taschenbuch in die Kamera. »Lassen Sie uns darüber reden, warum Ihr Freund der Meinung ist, dass Ihr spießiges, konservatives Leben ihn dazu treibt, sich bei anderen Frauen zu holen, was Sie ihm nicht geben können.«

Rosas Kopf summte. »Welches Buch?«, fragte sie noch einmal.

»Der Roman, den der Bruder Ihres Lebensgefährten über Sie geschrieben hat«, erklärte Baumert und sah Rosa an, als sei sie ein minderbemitteltes kleines Mädchen.

»Halbbruder«, korrigierte Frau Hellmann den Moderator.

Offenbar schien hier jeder zu wissen, worum es ging. Jeder! Außer Rosa.

»Halbbruder«, verbesserte der Moderator sich. »Also, warum glaubt Ihr Lebensgefährte, in Ihrer heilen Welt ersticken zu müssen? Warum zwingt Ihr Verhalten ihn, fremdzugehen und das Abenteuer bei exotischen Frauen in ganz Europa zu suchen? Liegt es an Ihrem Versuch, ihn in die Hochzeitsfalle zu locken?«

»Ich … was …?« Rosa verstand nicht, wovon der Moderator sprach. Es ging um Julian. Um sie. Und um ein Buch. Ein Buch, in dem stand, dass ihr Freund sie betrog, weil … weil ihre heile Welt ihn erstickte? Für den Bruchteil einer Sekunde kam alles um sie herum zum Stillstand, und Rosa begriff: Sie saß in der Falle. Sie war nach München gekommen, um über die Alte Mühle zu reden. Aber das war nicht der Grund für die Einladung in die Talkshow gewesen. Was vermutlich bedeutete, dass sie sich um Kopf und Kragen geredet hatte. Sie würde es auf jeden Fall tun, wenn sie auch nur noch ein einziges Wort sagte.

Der Moderator hielt noch einmal das Buch hoch und sprach weiter auf Rosa ein. Sie verstand ihn über das Summen in ihren Ohren hinweg nicht. Das Blut rauschte mit der Geschwindigkeit einer Tsunamiwelle durch ihren Körper, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass die Schnürung ihres Dirndls ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie spürte wieder die Kamera, die ihr Gesicht heranzoomte. Ihre Wangen glühten. Sie musste hier raus.

»Entschuldigen Sie mich«, flüsterte Rosa, obwohl ihre Worte vermutlich über das Mikrofon an ihrer Bluse laut und klar übertragen wurden. Sie erhob sich und machte auf wackligen Knien einen Schritt zur Seite, stieß gegen den Sessel des Fernsehkochs. »Entschuldigung.« Raus hier! Raus! Der Fluchtinstinkt setzte mit voller Macht ein. Rosa wollte sich gerade zwischen den Sesseln hindurchdrängen, als sie hinter sich die Stimme des Moderators wahrnahm.

»Frau Falkenberg, ist das Ihre Art, mit Kritik umzugehen? Ich habe Ihnen ein paar ernsthafte Fragen gestellt, und Ihre Reaktion ist …«

Rosa wirbelte zu ihm herum. Er war ebenfalls aufgestanden, das Buch noch immer erhoben. Ohne nachzudenken, schlossen sich ihre Finger in einem Reflex um den Paperback-Einband. Sie riss Baumert den Roman aus der Hand und rannte aus dem Studio, so schnell ihre High Heels sie trugen.

»Hey! Das Mikro bleibt hier!« Ein Tonassistent stellte sich ihr in dem dunklen Tunnel hinter dem Studioausgang in den Weg. Rosa drückte sich an ihm vorbei und riss sich im Weiterlaufen die Verkabelung herunter, was zum zweiten Mal innerhalb einer Minute dazu führte, dass sie ihr Dirndl verfluchte. Schließlich hatte sie das Kabel unter ihrer Kleidung hervorgefädelt und warf es dem Techniker zu.

Im nächsten Moment schob sie die schwere Metalltür auf, die das Studio vom Rest der Welt trennte, und stolperte in das grelle Licht eines leeren Flurs. Sie hastete nach links und fand ihre Garderobe, nachdem sie zwei falsche Türen aufgerissen hatte. Mit zitternden Fingern tauschte sie ihre High Heels gegen flache Ballerinas, raffte ihre Sachen zusammen und setzte ihre Flucht fort.

Vor dem Sendegebäude sprang sie in ein Taxi und ließ sich zum Bahnhof bringen. Sie hörte das Vibrieren des Handys in ihrer Handtasche. Es erstarb, nur um im nächsten Moment von vorn anzusetzen. Wieder und wieder. Sie hatte so vielen Leuten davon erzählt, dass sie Gast bei Die Nacht in Bayern war. Ja, sie hatte es sogar auf ihrer Homepage gepostet. Und auf Instagram. O Gott! Sie ignorierte die Anrufe und versuchte einfach, an gar nichts zu denken.

Am Bahnhof hatte das Schicksal offenbar ein wenig Mitleid mit ihr: Sie erwischte einen Zug früher als ursprünglich geplant. Die Bahn stand bereits am Gleis. Rosa sprang hinein und ließ sich auf einen leeren Viererplatz fallen. Ihre Tasche stellte sie neben sich. Das Buch, das sie Baumert aus der Hand gerissen hatte, legte sie vor sich auf das vibrierende Resopal des Tisches.

Der Zug fuhr an, und die grelle Beleuchtung des Bahnsteigs glitt blendend an ihr vorbei. Für einen Moment wurde der Waggon in die Dunkelheit der Nacht gehüllt, in der nur die vor Leben pulsierenden Lichter der Großstadt glitzerten. Dann schaltete sich flackernd die Deckenbeleuchtung ein.

Rosa ignorierte den Anblick des nächtlichen Münchens. Ihre Finger strichen über die erhabenen Lettern auf dem Buch vor sich. Die schöne Müllerin. Ein Roman von David Kaltenbach. Das Cover war ausgefüllt von einem Dirndl-Dekolleté. Zwischen den Brustansätzen pendelte eine Kette mit einem Herzanhänger, wie Rosa selbst einen besaß. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Kette … das war doch nicht etwa ein Bild … Nein. Rosa atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie besaß so eine Kette, aber das Titelfoto war ganz eindeutig nicht ihr Körper. Wenigstens das …

Mit zitternden Händen nahm sie das Buch zur Hand und schlug es auf.

2

Der Klappentext versprach einen Blick hinter die Kulissen des vermeintlich so perfekten Lebens der Müllerin Josefine in einem abgeschiedenen Bergtal im Berchtesgadener Land und ihre Versuche, einen Mann in die Ehefalle zu locken. Der Roman, der auf wahren Begebenheiten basiere, sei der beste Beweis dafür, dass man mit einer zurückgebliebenen, dörflichen Lebensweise keinen Mann dazu brachte, einen Treueschwur zu leisten – und höchstens dafür sorgte, dass er so schnell wie möglich das Weite suchte.

Merke!, las Rosa das aufgedruckte Zitat aus dem Buchdeckel unter dem Klappentext. Die Müllerin mag noch so schön sein: Wenn ihre strengen Flechtfrisuren ihren Horizont abschnüren, dann ist sie eben nur das: eine Frau mit begrenztem Horizont. Und das soll der Typ Frau sein, nach dem Männer sich sehnen?

Was für eine Unverschämtheit! Rosa schnappte empört nach Luft. Aus wütend zusammengekniffenen Augen studierte sie das Foto des Mannes, das am unteren Rand der Seite abgedruckt war. David Kaltenbach. Julians Bruder, hatte diese Bernadette Hellmann vorhin behauptet. Besser gesagt: sein Halbbruder. Der Mann auf dem Bild trug den gleichen Nachnamen wie Rosas Freund. Aber Julian hatte nie einen Bruder erwähnt – auch keinen halben –, und die beiden Männer sahen sich nicht im Geringsten ähnlich. Julian war ein blonder Sonnyboy mit graublauen Augen und einem verschmitzten, strahlenden Lächeln. Dieser David hingegen … finster und zynisch war das Erste, was ihr zu seinem Konterfei einfiel. Seine Haare waren dunkel und reichten ihm bis zum Kragen. Sie waren aus dem Gesicht gekämmt, was seine markanten Augenbrauen in Szene setzte. Die Augen, deren Farbe Rosa nicht erkennen konnte, blickten missmutig in die Kamera, und sein Mund war zu einem so geraden Strich zusammengekniffen, dass sie nicht sagen konnte, welche Form seine Lippen hatten. Rosa war sich sicher, dass es genügend Frauen gab, die genau diesen Typ Mann aufregend fanden. Sie gehörte ganz eindeutig nicht dazu – sie bevorzugte helle, strahlende Männer, die lustig waren, unkompliziert. Männer wie ihr Freund eben.

Dieser Autor und Julian konnten keine Brüder sein. Vielleicht hatte das jemand durcheinandergebracht oder einfach etwas Falsches behauptet, weil sie den gleichen Nachnamen trugen. Im Zeitalter der sozialen Medien und der Digitalisierung entstanden Gerüchte schließlich schneller, als man mit dem Finger schnippen konnte. Rosa griff nach ihrem Handy, ignorierte die Anrufe und Nachrichten, die auf dem Display aufleuchteten, und googelte David Kaltenbach. Es konnte gar nicht anders sein. Eine Verwechslung. Sie fand seine Homepage, rief seine Vita auf. Vierunddreißig, Studium der Buchwissenschaften und Germanistik in München, der Stadt, in der er auch lebte. Autor und Kolumnist. Von einer Familie stand nirgends etwas.

Rosa kehrte zu Google zurück und gab Die schöne Müllerin ein. Als Erstes wurde ihr der Roman angeboten, dann folgten ein paar Rezensionen. Leser, die das Buch verrissen. Andere, die es in den Himmel lobten. Zeitungsartikel griffen das Thema auf. Links leiteten zu Fernsehauftritten des Autors. Schlagzeilen wie Eine völlig neue Art, Geschichten zu erzählen oder Ein Roman im hippen, zynischen Style eines Poetry Slams leuchteten ihr entgegen. »Hauptsache, man polarisiert«, murmelte sie und versuchte es mit einer neuen Suche: Wer ist die schöne Müllerin? Das Suchergebnis ploppte sofort auf. Mutter des Bestsellerautors lüftet das Geheimnis um die Protagonisten seines Romans. Erfahren Sie mehr im exklusiven Video-Interview in der Onlineausgabe unseres Magazins. Sie folgte der Aufforderung des Klatschblattes, fand ein Video, das erst vier Tage zuvor ins Netz gestellt worden war, und klickte auf Play. Das Gesicht einer dunkelhaarigen Frau erschien, dann fror das Bild ein, und das blaue Rädchen begann, sich zu drehen. Die Internetverbindung im Zug war bescheiden und verlangte Rosa mehr Geduld ab, als sie im Moment aufbringen konnte – und wollte. Schließlich lief das Video wieder an und räumte jeden Zweifel aus. Jeden Irrtum. Jede Hoffnung, dass ihr Name nicht fallen würde. Sie ließ den Kopf gegen die Sitzlehne sinken und schloss für einen Moment die Augen, während David Kaltenbachs Mutter erzählte, dass es sich bei der Buchfigur Fabian um seinen Halbbruder Julian und bei Josefine um eine gewisse Rosa Falkenberg aus Sternmoos im Berchtesgadener Land handele – egal wie oft ihr Sohn David das bisher in Interviews geleugnet habe. Sie betonte immer wieder, dass das Buch auf wahren Tatsachen beruhte.

»Bockmist«, murmelte Rosa. Sie schlug den Roman auf und las die ersten Zeilen, die in ihrer Reimform tatsächlich ein wenig an einen Poetry Slam erinnerten, sie abgesehen davon aber fassungslos machten.

Es war einmal …

… eine schöne Müllerin. Der stand nur nach einer Sache der Sinn:

Einer Hochzeit mit großem Tamtam, mit der sie in ihrem Bergdorf angeben kann.

Naiv, blond und adrett, zerrte sie meinen Bruder in ihr Bett.

Doch das war ein Fehler, wie ich aus sicherer Quelle weiß. Für ihre Ziele interessiert er sich einen Scheiß.

Stattdessen vögelt er andere Frauen – und, das ist gar nicht nett, – mitunter sogar in meinem Bett.

Warum ich euch dieses Phänomen beschreibe? Weil ich der bin, der darunter leidet.

Was meinte er damit? Wieso sollte sie als Vorlage für eine Figur hergehalten haben, die unbedingt heiraten wollte? Und was er da über diesen Fabian schrieb – der in Wirklichkeit Julian sein sollte …

Rosa blätterte durch die Seiten, begann, sie querzulesen. Von Wort zu Wort nahm ihre Fassungslosigkeit zu. Dieses Buch, das ›auf wahren Tatsachen beruhte‹, war eine reißerische Abrechnung mit einem Typ Frau, den David Kaltenbach – ohne ihr jemals begegnet zu sein – in ihr zu sehen schien. Mit einem Typ Frau, von dem sie so weit entfernt war wie Kaltenbach davon, einen gut recherchierten Roman zu schreiben. Sie mochte ihre Kleider und ihre Frisuren. Na und? Gern und gut zu kochen und zu backen war ebenfalls kein Verbrechen und passte, wenn man den ständigen Kochsendungen im Fernsehen Glauben schenken durfte, durchaus zu selbstständigen, modernen Frauen. Warum dieser Kaltenbach glaubte, sie war darauf aus, geheiratet zu werden, war ihr schleierhaft.

In Freilassing stieg eine ältere Dame ein und setzte sich Rosa gegenüber. Sie musterte sie mit einem so durchdringenden Blick, dass in Rosa die Angst wuchs, dass die Dame die Fernsehshow gesehen oder im Internet herumgesurft hatte und sie als die Frau erkannte, die heute den erniedrigendsten Moment ihres Lebens erlebt hatte. Sie hob das Buch und versteckte sich hinter den Seiten.

»Sie sollten sich schämen«, sagte die alte Frau. Damit hörte Rosa diese Worte bereits zum zweiten Mal an diesem Abend. Ehe sie etwas erwidern konnte, spürte sie, wie sich die Dame vorbeugte. Unbeirrt sprach sie weiter. »So etwas zu lesen. Der Schmierfink, der das geschrieben hat, ist ein mieser Frauenverachter.« Sie gab einen unwirschen Ton von sich. »So etwas sollte es heutzutage nicht mehr geben.«

»Ich mache mir nur ein Bild von der Geschichte«, murmelte Rosa und spürte, wie ihre Wangen bereits wieder Feuer fingen.

*

Louisa Anger ging den hübschen Pfad aus Feldsteinen entlang, der, eingesäumt von gepflegten Blumenbeeten, zu Ferienapartment Nummer sieben führte. Brandl hatte sich für den Sommer im Erdgeschoss eines alten, umgebauten Bauernhofes eingemietet.

Vor der tannengrün lackierten Tür blieb Louisa stehen. Die Kutscherlampe über dem Eingang malte einen warmen Lichtkegel in die Nacht. Rechts von der Tür rankte eine dunkelrote und trotz des beginnenden Herbstes noch immer schwer mit Blüten behängte Rose an der Wand empor. Das schmale Messingschild mit der Hausnummer war zwischen den dichten Ranken kaum noch auszumachen.

Louisa atmete tief durch und klingelte. Sie war schon einmal hier gewesen, auch wenn sie das Ferienapartment damals nicht betreten hatte. Fast zwei Monate war das jetzt her. Damals war der Blumenkasten am Fenster neben der Tür noch vor Geranien übergequollen. Inzwischen hatte jemand die Blüten durch eine herbstliche Deko aus kleinen Kürbissen, Heidekraut und Tannenzapfen ersetzt.

Brandl öffnete die Tür und strahlte Louisa an. »Guten Abend.« Mit einer galanten Geste bat er sie einzutreten. »Ich freue mich, dass du gekommen bist.«

»Ja.« Louisa spürte, dass sich ihr Herzschlag ein wenig beschleunigte. Sie hatte nicht gewusst, was sie von diesem Treffen halten sollte. Brandl hatte sie regelrecht bekniet, mit ihm auszugehen. Wie alte Freunde, hatte er gesagt. Einfach einen schönen Abend miteinander verbringen, ungezwungen und entspannt. Er hatte sie um diesen einen Abend gebeten und ihr angeboten, sie in Ruhe zu lassen, falls sie danach darauf bestehen würde, dass er sich von ihr fernhalten sollte. Und nun war sie hier, nicht sicher, wie der Abend verlaufen würde.

Brandl stand vor ihr, lässig in Jeans, einem dunkelblauen Poloshirt und dicken Socken, die vom gleichen Grau waren wie seine Haare. Louisa hatte sich ebenfalls für Jeans, eine Bluse und eine leichte Strickjacke entschieden. Nicht zu aufgedonnert für einen Abend, den sie in Brandls vorübergehendem Zuhause verbringen würden. Es war schlimm genug, dass sie sich überhaupt Gedanken über ihr Outfit gemacht hatte. Zu ihrer Erleichterung versuchte Brandl nicht, sie zu küssen. Weder auf den Mund, wie er es vor vierzig Jahren getan hätte, noch auf die Wange, wie es ein guter Freund vielleicht tun würde. Sie waren keine Freunde, rief sich Louisa die Tatsachen in Erinnerung. Sie hatten sich nach einer kurzen, stürmischen Affäre vor fast einem halben Jahrhundert auf äußerst unschöne Weise getrennt. Louisa hatte die Erinnerungen an ihn aus ihrem Leben verbannt. Und dann war er in diesem Sommer plötzlich, wie aus dem Nichts, in Sternmoos aufgetaucht, um einen Oldtimer im Alten Milchwagen restaurieren zu lassen. Womit er nicht nur alte Wunden wieder aufgerissen hatte, sondern Louisa plötzlich in eine Situation geraten war, in der sie Geheimnisse hüten musste, genauso wie er das damals gemacht hatte.

»Ein Glas Wein für dich?«, fragte Brandl. Sein Blick fiel auf ihre ineinander verkrampften Finger, und Louisa zwang sich, locker zu lassen.

Wein würde auf jeden Fall helfen. »Gerne«, blieb sie bei ihren einsilbigen Antworten. Sie musste sich zusammenreißen, sonst würde Brandl die Unterhaltung allein bestreiten müssen. Andererseits gab es auch keinen Grund, es ihm besonders leicht zu machen. Louisa folgte ihm aus dem spärlich beleuchteten Eingangsbereich in einen gemütlichen Wohnraum, auf dessen linker Seite sich die Küche befand, vom Rest getrennt durch einen Frühstückstresen aus weiß lasiertem Holz. »Gemütlich hast du es hier«, stellte sie fest. Der ungehinderte Blick aus allen Fenstern auf den Watzmann, das Wahrzeichen Berchtesgadens, war atemberaubend. Die Sonne begann gerade, hinter das Bergmassiv zu sinken, und schuf so eine ganz besondere Stimmung. Brandl hatte die Flügeltüren, die auf eine Terrasse führten, geöffnet und gegen die kühle Abendluft den Kamin eingeheizt. Der Esstisch war für zwei gedeckt. Papierservietten, aber gleichzeitig zwei dicke Stumpenkerzen in einem hübschen Blumenarrangement auf dem Tisch. Er hatte sich eindeutig Mühe gegeben.

»Ich fühle mich auch wirklich wohl hier«, sagte Brandl, brachte ihr ein Glas Rotwein und stieß mit seinem Glas gegen ihres. »Selbst wenn mir für die Inneneinrichtung kein Lob gebührt. Auf einen schönen Abend.« Er wartete, bis Louisa an ihrem Wein genippt hatte, ehe er fortfuhr. »Ein Nero d’Avolo. Einer meiner Lieblingsweine.«

»Schmeckt gut.« Louisa sah sich weiter in dem sandfarben gestrichenen Raum mit den weißen Landhausmöbeln um und suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema. Small Talk war noch nie ein Problem für sie gewesen – bis jetzt offenbar. Denn ihr Kopf war wie leer gefegt.

Brandl rettete sie. »Willst du dich noch einen Moment zu mir an den Küchentresen setzen? Es dauert noch ein paar Minuten, bis das Essen fertig ist.«

Louisa folgte ihm und nahm auf einem der gepolsterten Hocker an der Kücheninsel Platz. Sie stellte das Glas vor sich ab und blickte auf das leichte Chaos, das auf der anderen Seite des Tresens herrschte. »Du kochst tatsächlich selbst«, bemerkte sie mit Blick auf die aufgerissene Mozzarellapackung, die leere Dose Kokosmilch und die Zwiebelschalen. Eigentlich hatte sie eher erwartet, dass er einfach ein paar Lieferboxen von einem der Berchtesgadener Restaurants ordern würde.

Brandl grinste. »Kaum zu glauben, oder? Früher bin ich ja schon über das Öffnen einer Raviolidose nicht hinausgekommen.«

Louisa konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. »Manchmal haben deine WG-Mitbewohner und du euch nicht einmal die Mühe gemacht, die Ravioli warm zu machen und sie direkt aus der Dose gegessen.«

Brandl verzog das Gesicht und schüttelte sich. »Ich möchte nicht einmal daran denken. Wir waren wilde Tiere, bis du bei uns eingezogen bist.« Sein Blick bekam einen versonnenen Ausdruck, und Louisa wurde sich wieder ihres unangenehm schnell klopfenden Herzens bewusst. Sie war verdammt noch mal über sechzig! Wirklich, sie ließ sich doch nicht mehr von charmanten Männern um den Finger wickeln oder in den Strudel der Erinnerungen an eine Zeit ziehen, die so hässlich geendet hatte.

»Jedenfalls koche ich inzwischen gern«, fuhr Brandl fort. »Nicht jeden Tag, aber hin und wieder macht mir das wirklich Spaß.« Er trank einen Schluck Wein, stellte sein Glas dann neben die Zwiebelschalen und begann, Salat zu rupfen. »Wir haben genug Zeit zu essen, bevor die Talkshow beginnt.«

»Kann ich dir bei etwas helfen?«, fragte Louisa. Es war nie ihr Plan gewesen, sich bei Brandl zum Essen einzuladen. Sie waren für diesen Abend eigentlich in einem Restaurant in Salzburg verabredet gewesen. Aber dann hatte Rosa die überraschende Einladung nach München bekommen, um im Fernsehen über die Alte Mühle zu sprechen. Diesen Auftritt wollte sich Louisa auf keinen Fall entgehen lassen und hatte daher Brandl angerufen, um abzusagen. Aber er hatte das schlicht nicht gelten lassen und stattdessen einfach angeboten, bei ihm zu essen und die Show zusammen zu sehen.

»Du kannst einfach hier sitzen und mir Gesellschaft leisten. Mari und ich haben immer gesagt: Die Küche gehört nur einem. Entweder hat sie gekocht oder ich. Zusammen … Ähm …« Brandl schien sich bewusst zu werden, was er gerade gesagt hatte, und sah auf. Eine seiner grauen Locken war ihm in die Stirn gefallen. »Entschuldige, ich weiß nicht, ob dieses Thema gut für diesen Abend ist.«

Louisa schluckte. Sie drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern. Dieser Abend diente dazu, sich wieder ein wenig besser kennenzulernen. Die vierzig Jahre, die vergangen waren, ließen sich da schlecht ausklammern. »Nein, schon gut«, sagte sie und sah Brandl fest in die Augen. »Erzähl mir von ihr. Sie ist Teil deines Lebens. Es wäre merkwürdig, so zu tun, als gäbe es sie nicht.«

Brandl zögerte. Louisa sah in seinem Blick, dass er mit sich rang, nicht sicher war, ob sie ihre Frage ernst gemeint hatte. Dann nickte er. »Wir haben uns in vielen Dingen gut ergänzt. Aber die Küche war immer ein Schlachtfeld, wenn wir versucht haben, etwas zusammen hinzubekommen.« Er wusch eine Handvoll Kirschtomaten und legte sie auf das Schneidebrett. »Unsere Vorstellungen vom Kochen gingen einfach zu weit auseinander.«

»Vermisst du sie?«, stellte Louisa die Frage, die viel zu viel Interesse an seinem Leben signalisierte. Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihr rausgerutscht war, gestand sich aber ein, dass sie wirklich neugierig auf die Antwort war.

»Das tue ich tatsächlich.« Brandl lächelte Louisa an – und sorgte dafür, dass das unangenehme Tempo ihres Herzens wieder stieg. War sie eifersüchtig? Auf eine Frau, die sie nicht einmal kannte? Und die sie genauso wenig anging wie der Mann auf der anderen Seite der Kücheninsel. Sie unterdrückte einen Seufzer und trank noch einen Schluck Wein, während Brandl weitersprach. »Allerdings mehr als meine beste Freundin, die sie immer war.« Er stieß ein kleines Lachen aus und schob die geschnittenen Tomaten vom Schneidebrett in eine Schüssel. »Wenn man es genau nimmt, wären wir von Anfang an als Freunde besser dran gewesen.« Er zuckte mit den Schultern und begann, eine Gurke zu raspeln. »Ich bereue es nicht, sie geheiratet zu haben. Wir waren viele Jahre glücklich. Und unsere Scheidung … na ja, ich bin froh, dass wir keinen Krieg vom Zaun gebrochen haben. Alles lief ganz zivilisiert und höflich ab. Wenn sie mir nach der Trennung über den Weg gelaufen ist, habe ich nicht die Straßenseite gewechselt. Nein, ich habe sie in den Arm genommen, sie auf die Wange geküsst und wir sind einen Kaffee trinken gegangen. Drei Jahre liegt unsere Scheidung jetzt schon zurück, und unsere Freundschaft ist höchstens stärker geworden.«

»Das klingt wirklich nach einer guten Freundin. Und dieser Junge? Ihr Sohn?« Bei ihrem ersten Treffen in Salzburg hatte Brandl von ihm erzählt. Etwas, das ihr für immer verwehrt bleiben würde. Brandl hatte ihr erzählt, dass seine Ex-Frau den Sohn mit in die Ehe gebracht hatte. Obwohl sie inzwischen genug Zeit gehabt hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, zog sich ihr Magen ein wenig zusammen. Wenigstens hatte sie sich inzwischen gut genug im Griff, nicht mehr so auszuflippen wie damals und ihn einfach auf der Terrasse des Restaurants sitzen zu lassen. Aber auch das war Teil seiner Geschichte. Und wenn sie etwas darüber erfahren wollte, musste sie ihn fragen.

»Ben?« Nun strahlte er über das ganze Gesicht. »Der Junge war der größte Segen. Ich hatte das Glück, ihn großziehen zu dürfen. Er war fünf, als Mari und ich geheiratet haben. Als wir uns getrennt haben, war Ben schon erwachsen. Mit Sicherheit war es vor allem für ihn das Beste, dass wir keinen Rosenkrieg angezettelt haben. Ben ist fast so alt wie deine Nichten. Ich bin unglaublich stolz auf ihn. Wie man es eben nur als Vater sein kann.«

Louisa sah Brandl beim Kochen zu. Sie plauderten locker miteinander, und sie beobachtete fasziniert, wie er – völlig mit sich selbst im Reinen – in der Küche herumwerkelte, ohne dass die Unterhaltung ins Stocken geriet. Er holte eine Kasserolle aus dem Herd, und der Duft von Kokosmilch und Gewürzen stieg Louisa in die Nase. Er hatte Hähnchenbrust mit Mozzarella und Schalotten überbacken, dazu reichte er Salat. Mit geübten Handgriffen füllte er ihre Teller und trug sie zum Tisch. Louisa folgte ihm mit ihren Weingläsern und nahm ihm gegenüber Platz. Sie stießen an, und in den nächsten Stunden vergaß Louisa beinahe ihre gemeinsame Vergangenheit. Der Mann, der ihr gegenübersaß, war ein anderer als der aufs Lernen versessene Jurastudent. Und sie – sie war auch nicht mehr der wilde Hippie, der durch die Welt reiste, um das Leben kennenzulernen. Louisa wäre glücklich, sich nicht mehr an das erste Mal zu erinnern, als sie Michael Brandner, von allen Brandl genannt, begegnet war. Wie sie ihn durch die Nebelschwaden aus Zigarettenrauch gemustert hatte. Den schüchternen Typen, den sie auf der Straße schlicht übersehen hätte. Ihre Blicke hatten sich getroffen, während Lady in Black von Uriah Heep durch die Kneipe dröhnte. Der Rest war Geschichte.

Genauso wenig wie sie damals erwartet hätte, dass Brandl ihr Leben aus den Angeln heben würde, hatte sie einen schönen, ungezwungenen Abend erwartet, als sie dieser Verabredung zugesagt hatte. Zu ihrer Überraschung genoss sie das Essen mit Brandl. Sie bestand darauf, die Küche gemeinsam aufzuräumen. Anschließend machten sie es sich mit einem weiteren Glas Wein auf der Couch gemütlich. Brandl suchte im Fernsehen den Regionalsender. Sie lehnten sich entspannt zurück, als die Erkennungsmelodie der Talkshow begann. Louisa konnte ihr Lächeln nicht unterdrücken, als sie Rosa dort sitzen sah. Wunderschön. Intelligent. Und unglaublich engagiert, wenn es um die Alte Mühle ging. Sie war so stolz auf ihre Nichte.

Sie nippte an ihrem zweiten Glas Wein, genoss die Wärme des Feuers im Kamin.

Rosa hielt den Teller mit den frisch gebackenen Keksen in die Kamera. Ihre Augen leuchteten. Dann runzelte sie die Stirn über die Frage des Moderators. Und auch Louisa stolperte über die Worte des breit lächelnden Mannes. Was bezweckte er mit seiner Frage? Sie beugte sich auf der Couch vor und betrachtete Rosas plötzlich verwirrten Gesichtsausdruck. In einem Moment war noch alles – perfekt. Und dann: nichts mehr. »Was zur Hölle …« Louisa sprang auf, als die Kamera auf das Buch zoomte. Die schöne Müllerin. »Was soll das denn?«

Sie spürte, wie Brandl ihr das Glas aus der Hand nahm und sie sanft in die Polster zurückdrückte. »Weißt du, um was für ein Buch es da geht?«, fragte er leise.

»Nein!« Louisa wäre am liebsten wieder aufgesprungen, als sie sah, wie ihre Nichte völlig aufgelöst aus dem Studio stürmte. »O mein Gott!« Sie rieb sich über das Gesicht. Was passierte da gerade?

»Lou.« Brandl wartete, bis sie ihn ansah. »Was kann ich tun? Sollen wir nach München fahren? Rosa holen?«

»Ich … nein … ich weiß nicht.« Louisa stand auf und trat an die Terrassentür, um die kalte Nachtluft einzuatmen. Der Watzmann hob sich inzwischen nur noch als schwarze Silhouette vor dem königsblauen Sternenhimmel ab. »Wer ist David Kaltenbach?«, fragte sie in die Dunkelheit hinaus.

»Ich habe keine Ahnung.« Brandls Spiegelbild erschien in dem bodentiefen Fenster neben ihr. In der Hand hielt er sein Handy. »Aber wir werden es gleich rausfinden.«

Das Handy! Louisa musste Rosa anrufen. Wo, verdammt noch mal, war ihr Handy? Sie tastete ihre Hosentaschen ab. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie es gemeinsam mit dem Autoschlüssel in ihre Jackentasche geschoben hatte. Mit wenigen Schritten verschwand sie im Flur und riss ihren Janker vom Haken. Sie fummelte das Handy aus der Tasche und versuchte, ihre Nichte zu erreichen. Mailbox. Es machte keinen Sinn, eine Nachricht zu hinterlassen. Rosa wusste auch so, warum Louisa anrief. Da sie sie nicht erreichen konnte, probierte sie es bei Antonia. Wenn sie sie nicht an die Strippe bekam, würde sie Hannah …

»Lou!« Antonia brüllte fast in den Hörer. Sie wirkte so aufgewühlt, wie Louisa sich fühlte. »Hast du die Sendung gesehen?«

»Habe ich.« Louisa atmete tief durch. »Ich glaube nicht, dass ich mir jemals wieder einen Film mit Bernadette Hallmann ansehen werde.«

»Willkommen im Club«, schimpfte Antonia.

»Ich kann Rosa nicht erreichen.« Louisa drehte sich zu Brandl um, der konzentriert auf dem Display seines Handys herumtippte. »Was machen wir denn jetzt?«

»Mach dir keine Sorgen«, versuchte Antonia sie zu beruhigen. »Hannah und ich holen sie am Bahnhof ab. Wir kümmern uns um sie.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ist das okay für dich?«

Louisa schluckte und versuchte, ein Lächeln in ihre Stimme zu legen. »Selbstverständlich. Was für eine Frage ist das denn?« Sie war Rosas Tante. Ihre Geschäftspartnerin. Aber sie war weder ihre Mutter noch ihre Schwester. Antonia und Hannah würden sich gut um ihre Nichte kümmern. Auch wenn Louisas Bedürfnis groß war, sich selbst davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging. »Haltet mich auf dem Laufenden, ja?«

»Natürlich. Bis später, Lou.« Sie legte auf. Die Mädchen brauchten sie nicht mehr. Zumindest nicht mehr so wie früher. Selbst wenn Louisa Rosa gern in ihre Arme gezogen und wie eine Glucke beschützt hätte. Inzwischen waren die Schwestern in der Lage, für sich selbst einzustehen – sie waren erwachsen geworden. Ein wehmütiger Schmerz versetzte ihr einen kleinen Stich.

Brandl hob den Blick von seinem Handy. »Ich weiß jetzt, wer dieser Autor ist.«

Lou ließ sich mit zittrigen Beinen auf die Couch sinken und leerte den Rest ihres Weines in einem Zug.

»Kann ich noch etwas für dich tun, bevor ich dir die Details erzähle?«, fragte Brandl und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.

»Ja.« Louisa schwenkte ihr leeres Glas. »Nachschenken.« Sie würde nicht darüber nachdenken – und es schon gar nicht laut aussprechen –, aber Brandl an ihrer Seite zu wissen, seine Aufmerksamkeit und Fürsorge, tat gut.

*

Rosa hatte niemanden aus ihrer Familie angerufen. Sie wusste, dass ihre Schwestern Antonia und Hannah, genau wie ihre Eltern und ihre Tante Louisa und alle ihre Freunde, die Show im Fernsehen gesehen hatten. Stolz, weil sie es geschafft hatte, die Mühle über das Tal hinaus bekannt gemacht zu haben. Und vermutlich zutiefst entsetzt, nachdem was in diesem Studio wirklich passiert war.

Rosa wäre gar nicht in der Lage gewesen, ihre Anrufe entgegenzunehmen. Und doch wusste sie, dass ihre Schwestern am Bahnsteig stehen würden. Als der Zugbegleiter die Endstation – Berchtesgaden – ansagte, klappte sie das Buch zu und schob es in ihre Handtasche. Sie nickte der alten Dame zu und stand auf, um an der Tür zu warten, bis der Zug hielt.

Ihre Schwestern hatten sich einen Platz etwas außerhalb der grellen Bahnsteigbeleuchtung gesucht und sahen ihr mit besorgten Gesichtern entgegen. Hannah, das blonde Haar offen, eine Kapuzenjacke der Bergwacht, die viel zu groß für sie war, um den Oberkörper geschlungen. Sie hatte den Abend wahrscheinlich mit ihrem Freund Jakob verbracht und auf dem Weg zum Bahnhof nach der erstbesten Jacke gegriffen. Rosas ältere Schwester, Antonia, trug einen Hoodie zu einer Yogahose. Ihre Füße steckten in Turnschuhen, während Hannah Crocs trug. Ihre Schwestern sahen so aus, als hätten sie alles stehen und liegen lassen um hierherzukommen und sie abzuholen. Als sie sich aus den Schatten lösten und auf sie zukamen, ließ sich Rosa einfach in ihre Umarmung fallen – und erlaubte sich die Tränen, die sich nicht mehr zurückhalten ließen.

»Na komm.« Antonia beugte sich schließlich ein wenig zurück und wischte Rosa mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen. »Lasst uns abhauen«, murmelte sie.

Hannah und sie hakten Rosa links und rechts unter. Schweigend liefen sie zum Parkplatz vor dem Bahnhof, und Antonia entriegelte mit der Fernbedienung die Türen ihres Jeeps Grand Cherokee. Hannah kletterte mit ihr zusammen auf den Rücksitz und reichte ihr eine Packung Tempotaschentücher, die sie aus den Tiefen ihrer Handtasche ausgegraben hatte, während Antonia den Motor anließ.

Rosa putzte sich die Nase und lehnte den Kopf gegen die Seitenscheibe. Das Tal rauschte an ihr vorbei. Durch die dichten dunklen Baumkronen konnte sie nur hin und wieder einen der Sterne am klaren Himmel blitzen sehen. Die Scheinwerfer des Jeeps durchschnitten die Nacht, fielen auf die Wände der Schlucht, an denen sich die Straße entlangschlängelte. Dann wieder über das Flussbett der Ramsauer Ache, die sich ihren Weg über kleine Staustufen hinwegbahnte, die die Natur in Zehntausenden von Jahren angelegt hatte. Im Radio lief leise irgendeine entspannende Musik. Sie stammte garantiert von einer der Playlists, die ihre Schwester benutzte, um schwangere Frauen zu beruhigen. Antonia hasste den Moment, in dem die Sender des Autoradios zu kratzen begannen, weil es zwischen den Felswänden, die in der Dunkelheit steil und bedrohlich um sie herum aufragten, keinen Empfang gab. Sobald sie ihr erstes eigenes Auto gehabt hatte, waren die Radiosender durch einen CD-Player und zwischenzeitlich durch Bluetooth ersetzt worden.

Rosa schloss für einen Moment die Augen. Sie spürte die scharfe Straßenbiegung an der kleinen, moosbewachsenen Schutzmauer. Als sie die Lider wieder hob, tauchte im Schein der Scheinwerfer der Holzlagerplatz auf. Noch eine Rechtskurve, und er lag vor ihnen: der Sternsee. Helles Mondlicht ergoss sich über das Tal, tauchte die spiegelglatte Wasseroberfläche in Silber. Ihr Zuhause. So spät in der Nacht waren in den meisten Häusern in Sternmoos bereits die Lichter gelöscht.

Antonia lenkte den Jeep durch das stille Dorf, auf die Straße, die sich um den See wand und schließlich in die Schotterpiste mündete, die zur Alten Mühle führte. Sie ließ den Wagen auf dem gepflasterten Hof ausrollen und schaltete den Motor aus.

»Du willst wahrscheinlich erst einmal aus deinen Klamotten raus«, sagte Hannah. »Wie wäre es, wenn du dich in Ruhe umziehst und wir uns dann auf dem Dachboden treffen?«

Rosa nickte und rutschte hinter ihrer Schwester vom Sitz. Sie wollte tatsächlich ihr Dirndl und ihre Flechtfrisur loswerden. Für heute Abend hatte sie genug davon, ausschließlich über ihr Äußeres definiert zu werden.

Sie wandte sich zum hinteren Teil der Mühle um, in dem ihre Wohnung lag.

»Warte mal«, rief Antonia und sprang vom Fahrersitz. »Du hast doch das Buch im Studio mitgehen lassen.«

Rosa zuckte zusammen, als sie sich an ihren unrühmlichen Abgang erinnerte. »Ähm … ja.«

Ihre ältere Schwester streckte die Hand aus. »Gib mal her, solange du dich umziehst.«

Rosa zögerte. Dieser furchtbare Roman – und das was zwischen den Buchdeckeln stand – war ihr unendlich peinlich. Andererseits, vor ihr standen ihre Schwestern. Sie hatten schon jede Menge unglaublich peinlicher Dinge zusammen erlebt und durchgestanden. Langsam zog sie Die schöne Müllerin aus ihrer Handtasche.

Antonia griff danach und zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Beeil dich«, sagte sie. »Wir haben Alkohol, Chips und Schokolade.«

Rosa zwang sich zu einem Lächeln. »Danke«, murmelte sie und schob die Haustür auf. Ohne das Licht anzuschalten, lief sie die knarzende Treppe hinauf und schloss ihre Wohnungstür auf. Erst als sie sich von innen gegen das kühle Holz lehnte, fühlte sie so etwas wie Erleichterung. Sie wusste nicht, wie lange sie dastand und in die Dunkelheit starrte. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich. Um sich herum hörte sie die vertrauten Geräusche des alten Gebäudes. In der Luft hing der Duft der Kekse, die sie am Nachmittag noch schnell in den Ofen geschoben hatte, damit sie sich im Fernsehen vor ganz Bayern damit der Lächerlichkeit preisgeben konnte.

Rosa seufzte und stieß sich von der Tür ab. Während sie das Licht anmachte, schlüpfte sie aus ihren Ballerinas und schob sie mit den nackten Füßen zur Seite. Sie blinzelte, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten. Auf dem Weg ins Schlafzimmer öffnete sie ihr Dirndl. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten ließ sie es gemeinsam mit der Bluse und der Dirndlschürze einfach neben ihrem Bett fallen.

In Unterwäsche ging sie ins Bad und wusch sich das völlig übertriebene Fernseh-Make-up aus dem Gesicht. Dann löste sie die Nadeln, die ihre Flechtfrisur zusammenhielten, und öffnete den kunstvoll geflochtenen Zopf. Sie bürstete ihre Haare aus und band sie mit einem Gummi zu einem losen Knoten auf dem Kopf zusammen. Zurück im Schlafzimmer schlüpfte sie in eine bequeme Yogahose und zog einen alten, ausgeleierten Pulli an, der sich warm an ihren Oberkörper schmiegte. Dazu die selbst gestrickten Wollsocken, die sie zu Weihnachten von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte.

Sie löschte das Licht und wollte die Schlafzimmertür hinter sich zuziehen, als sie innehielt. »Mist«, murmelte sie und kehrte um. Schnell hob sie das Dirndl, die Bluse und die Schürze auf. Sie war einfach nicht der Typ, der Klamotten auf dem Boden liegen ließ. Auch wenn sich David Kaltenbach wahrscheinlich in seinem Buch über genau dieses Verhalten lustig machte.

3

Ein paar Minuten später stieg Rosa die schmalen Stufen zum Dachboden der Alten Mühle hinauf. Die staubigen Holzplanken des Spitzbodens waren schon immer der geheime Treffpunkt der Schwestern gewesen. Ihr magischer Ort. Hier oben hatten sie gelegen, auf einer Decke, mit Taschenlampen und Gummibärchen, und sich wilde Abenteuer und romantische Geschichten erzählt. Irgendwann hatten sie sogar ihre Anfangsbuchstaben, A, R und H, in das Holz unter dem Fenster geritzt, das auf den See hinauszeigte.

Als sie sich durch die schmale Luke zwängte, atmete sie den ganz besonderen Duft ein, mit dem sie schon immer Heimat und Geborgenheit verbunden hatte. Hier oben, wo die Mühlenluft durch die pneumatischen Filter freigegeben wurde, war das Aroma des gemahlenen Weizens und Roggens besonders intensiv – und beruhigend.

Rosas Schwestern saßen bereits auf den beiden alten, abgewetzten Sitzsäcken. Den dritten Platz hatten sie für sie frei gelassen. Sie hatten diesen Sitzsack erst diesen Sommer gekauft, als Hannah nach zehn Jahren Arbeit als Fotografin in der ganzen Welt nach Hause zurückgekehrt war. Jetzt konnten sie wieder gemeinsam unter den LED-Lämpchen sitzen, die sich an endlosen Lichterketten durch das Gebälk zogen und ihren ganz privaten Sternenhimmel zauberten. Offenes Licht war in dem alten Holzgebäude schon immer verboten gewesen. Aber mit den kleinen Feenlichtern hatten sie ein warmes Spiel aus Licht und Schatten geschaffen, das sich auf die Gesichter ihrer Schwestern legten.

Zwischen den Sitzsäcken hatten Hannah und Antonia Bier, eine Flasche Enzian, Schokolade und eine Tüte Chips ausgebreitet. Rosa nahm das Bier entgegen, das Antonia ihr reichte, und ließ sich auf den freien Platz fallen. Dann griff sie nach der Chipstüte, stopfte sich eine ganze Handvoll in den Mund und kaute. Mit dem Bier spülte sie nach. Sie lehnte sich zurück und starrte in die winzigen Lichter über sich, die immer wieder vor ihren Augen verschwammen. Mit aller Kraft bemühte sich Rosa, die Tränen zurückzuhalten, die hinter ihren Lidern brannten.

»Das ist so zum Kotzen«, brachte Hannah ihre momentane Lage auf den Punkt. »Was glaubt dieser Typ eigentlich, wer er ist? Der tut doch glatt so, als seist du ein dummes, kleines Heimchen, das keine Ahnung von der Wirklichkeit hat. Seiner Darstellung nach ist Louisa so nett, dich ein bisschen in der Mühle mithelfen zu lassen. Wie kommt dieser Idiot darauf, so etwas über dich zu schreiben?«

»Ich habe keine Ahnung.« Rosa seufzte. Ihr wurde plötzlich bewusst, wie sehr sie dieser Abend erschöpft hatte. Wie eine schwere Decke, die einem die Luft zum Atmen nahm, senkte er sich über sie und presste ihren Körper in den Sitzsack. »Und es ist auch egal. Selbst wenn ich mein Leben genau so leben würde, wie er es in seinem Buch beschreibt, ginge es ihn trotzdem nicht das Geringste an.«

»Es kommt übrigens noch besser.« Antonia hob ihre Bierflasche an die Lippen, ohne von dem Buch aufzusehen. »Mein Bruder hat mir so viel über seine Freundin erzählt. Wann immer er auf meiner Couch herumlungerte und mich mit seiner Anwesenheit genervt hat. Irgendwann wusste ich über Josefine und ihre Verwandten so viel, dass ich das Gefühl hatte, selbst Mitglied dieser Familie zu sein. Doch wenn man es genau betrachtet, ist das alles nureine schöne Fassade«, las sie vor, »mit hübschen Frisuren und Geranientöpfen neben der Tür. Aber wenn man einen Blick hinter die blank polierte, herausgeputzte Oberfläche wirft, stellt man schnell fest, dass die Familie der schönen Müllerin genauso zerrüttet ist wie alle anderen auch. Josefine spielt heile Welt. Kocht und backt, während eine ihrer Schwestern abgehauen ist, weil sie es in dem spießigen Bergdorf nicht ausgehalten hat. Und die andere Schwester – na ja, nennen wir es mal so: Sie ist kein Kind von Traurigkeit. Dieser Typ hat sie doch nicht mehr alle!« Sie stellte ihr Bier ab und schraubte die Enzianflasche auf, um einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Sie verzog ihr Gesicht, als sich der Schnaps seinen Weg in ihren Magen bahnte, und reichte die Flasche an Rosa weiter. »Womit hat der denn jetzt ein Problem? Mit Hausmütterchen wie dir oder vermeintlichen Schlampen wie mir?«

»Ich glaube, er ist einfach nur ein blöder Frauenhasser.« Hannah nahm Antonia das Buch ab und blätterte ein paar Seiten weiter. »Ich wette, er ist unglücklich verliebt oder wurde verlassen. Und das hat ihn bitter gemacht.«

Antonia verdrehte die Augen. »Suchst du nach Entschuldigungen für diesen Depp?«

»Nein, natürlich nicht«, hielt Hannah dagegen. Sie brach ein Stück Schokolade ab und schob es sich in den Mund. »Aber wenn man es genau nimmt, hackt er auch ziemlich heftig auf seinem Bruder herum. Gut aussehen lässt diese Geschichte Julian jedenfalls nicht gerade. Ein fremdgehender, betrügerischer Mistkerl. Ich zitiere«, sie blätterte auf die letzte Seite und wiederholte die Worte, die Rosa schon im Zug gelesen hatte. Auch diese letzten Zeilen waren, genau wie der Anfang, in Reimform verfasst.

»Das war sie, die Geschichte der schönen Müllerin.

Sie lebt in ihrer Traumwelt vor sich hin.

Ihr Fabian sucht inzwischen die nächste weibliche Beute.

Und wenn sie nicht gestorben sind, betrügt er sie noch heute.«