Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street - Amalia Zeichnerin - E-Book

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Cleveland Street E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

London, 1889. Die alleinstehende Groschenromanautorin Miss Murray lernt die Schneiderin Miss Blackmore kennen und wird von ihr beauftragt, deren Bruder Eddy zu beschatten, der möglicherweise in schlechte Gesellschaft geraten ist. Wenig später ist Miss Murray einem Skandal auf der Spur, der das gesamte West End erschüttern wird ...

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Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

1

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Epilog

Nachwort und Danksagung

Impressum

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:

Cleveland Street

 

Teil 1 der Miss-Murray-Reihe

 

© Amalia Zeichnerin 2018

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

Gewalt, sexuelle Gewalt, Transfeindlichkeit

1

 

15. Mai 1889

 

Liebes Tagebuch,

Nur wenige Monate sind vergangen seit dem schrecklichen Mord an Mary Jane Kelly in Spitalfields. Seitdem gab es keine neuen Mordfälle, soweit ich weiß. Aber der Täter wurde bis heute nicht gefasst, das habe ich mehrfach gelesen. Läuft „Jack the Ripper“, wie sie ihn seit einer Weile nennen, dort draußen im East End immer noch herum? Wetzt er schon sein Messer für das nächste Opfer, oder ist er von der Bildfläche verschwunden? So oder so, die armen Frauen von Whitechapel tun mir leid. Hier in Hammersmith gibt es natürlich auch Kriminelle, aber von einem Serienmörder, der diesen Stadtteil unsicher macht, habe ich noch nichts gehört.

Mir ist seltsam zumute, wenn ich darüber nachdenke, dass ich für den Verlag Bostwick & Sons Krimis schreibe, während jene Mordfälle im East End jede Fiktion an Grausamkeit übertreffen.

 

Josephine Murray ließ die Tinte trocknen und legte das Tagebuch beiseite. Die Tasse Tee neben sich hatte sie ganz vergessen, gewiss war das Getränk längst kalt. Sie nippte daran. Wie ich’s mir gedacht habe, typisch für mich, meinen Tee zu vergessen.

Sie streckte sich und warf einen Blick in den kleinen Wandspiegel mit dem verschnörkelt geschnitzten Holzrahmen. Ihre Frisur war leicht zerzaust; windig war es gewesen, als sie auf dem Markt eingekauft hatte. Einzelne Strähnen ihres dunklen Haars hatten sich gelöst, einige widerspenstige Löckchen kringelten sich über die Stirn. Aber was machte es, sie war schließlich alleinstehend und würde heute Abend nicht mehr hinausgehen.

Josephine war nie zufrieden mit ihrem Äußeren, ihr Gesicht war zu grob, zu kantig, der Wuchs der Augenbrauen zu stark, egal wie sehr sie daran zupfte. Außerdem hatte sie Schlupflider.

Seufzend wandte Josephine den Blick vom Spiegel ab, nahm das Tuch von der Remington-Schreibmaschine und spannte ein Blatt Papier ein. Höchste Zeit, dass sie weiter an dem Krimi schrieb – der Abgabetermin rückte näher. In weniger als vier Wochen würde die Geschichte um einige Illustrationen ergänzt und als Heft gedruckt werden, wie man sie für wenige Pennys in Buchhandlungen, manchen Kaufhäusern und anderen Geschäften kaufen konnte.

Mit dem Schreiben hatte sie begonnen, als sie vor acht Jahren nach London gekommen war. Hier in der Stadt war sie auch auf die Heftromane aufmerksam geworden, die sich zunehmender Popularität erfreuten und die es fast an jeder Straßenecke zu kaufen gab. Eine ganze Zeit lang hatte sie einfach für sich geschrieben, sehr viel gelesen und Schreibübungen gemacht. Wie lange war das schon her … Vor vier Jahren hatte sie sich schließlich getraut, einen Krimi und einen Liebesroman an einen Verleger zu senden. Die ersten Verlage hatten sie abgelehnt, aber sie hatte sich nicht entmutigen lassen und schließlich war sie bei Bostwick & Sons gelandet. Was sie seitdem in Serie produzierte, war nicht gerade anspruchsvolle Literatur. Stattdessen eher reißerische, aber hoffentlich auch unterhaltsame Kriminalgeschichten und gelegentlich auch romantische Liebesschnulzen. Mindestens ebenso gefragt waren Schauergeschichten mit übernatürlichen Wesen und unerklärlich-mysteriösen Vorkommnissen – bezeichnenderweise hießen die entsprechenden Heftromane Penny Dreadfuls1. Auch das schrieb sie mittlerweile von Zeit zu Zeit, wenn Mister Bostwick sie damit beauftragte.

Josephine wägte jeden Satz kurz ab, ehe sie ihn mit den Tasten der Remington-Schreibmaschine in das Papier hämmerte. Sie musste Papier sparen, konnte es sich nicht leisten, Seiten zu verwerfen und neue in die Maschine zu spannen.

 

„Das Mordopfer ist ledig und nach der Aussage ihrer Nachbarin dreißig Jahre alt, Sir”, erklärte der Constable.

„Eine alte Jungfer also … Hat sie Verwandte?”, fragte Detective Inspector Gleeson.

 

Josephine hielt inne. Sie selbst war ebenfalls eine alte Jungfer mit ihren dreißig Jahren. Aber sie hatte nie die Absicht gehabt zu heiraten und war froh darüber, mit den Geschichten für Bostwick & Sons mittlerweile ihren Broterwerb bestreiten zu können. Und ihre Verwandten … nein, lieber nicht an sie denken. Es war zu schmerzhaft.

 

„Nein, Sir, keine lebenden Verwandten. Sie war alleinstehend. Die Nachbarin will beobachtet haben, dass sie häufig Herrenbesuch hatte, was natürlich verboten ist.“

„Ein leichtes Mädchen?“, schaltete sich der Arzt Dr. Parsons ins Gespräch ein, der für gewöhnlich die Leichen untersuchte. „Mit dreißig wäre sie dafür schon recht alt gewesen. Aber wenn Sie mich fragen, sie sieht jünger aus. Sehen Sie nur, die Gesichtshaut ist zart und ebenmäßig. Was man auch vom Rest sagen kann. Hat sich gut gehalten.“ Parsons schnitt eine Grimasse. „Für ihren allerletzten Liebhaber.“

„Wie meinen Sie das?“ Gleeson runzelte die Stirn.

„Nichts für ungut, Detective Inspector, das sollte ein Scherz sein. Sie hat sich gut gehalten für den Tod, meinte ich.“

‚Immer diese Ärzte mit ihrem schwarzen Humor‘, dachte Gleeson bei sich und strich sich über den Backenbart.

 

Gelegentlich fantasierte Josephine darüber, einen Krimi mit einer weiblichen Heldin zu schreiben. Als sie ihrem Verleger vor einiger Zeit diese Idee präsentiert hatte, hatte sie einen amüsierten Blick von ihm geerntet.

 

***

 

„Eine weibliche Heldin auf Verbrecherjagd?” Mister Bostwick, ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar, gab ein glucksendes Geräusch von sich. “Nein, nein, das schlagen Sie sich lieber aus dem Kopf. Verbrechensbekämpfung gehört nun mal in männliche Hände. Und überhaupt, wie soll das denn gehen?” Er wartete keine Antwort von ihrer Seite ab. „Die meisten unserer Leserinnen sind verheiratet, oder zumindest schon verlobt. Viele haben auch schon Kinder. Keine verheiratete Frau würde sich jemals als Detektivin betätigen können. Schließlich müssen sie sich darum kümmern, ihren Ehegatten ein schönes Heim zu bereiten und sich um die Kinder kümmern.” Er bedachte sie mit einem fast väterlichen Lächeln, aber immerhin hätte er tatsächlich ihr Vater sein können. „Setzen Sie unseren Leserinnen keine Flausen in den Kopf, meine Liebe. Außerdem wäre eine solche Arbeit doch viel zu gefährlich für eine Dame, das muss ich Ihnen doch nicht erzählen.”

Mister Bostwick wusste, dass sie keine gewöhnliche Frau war, er hatte es ihr gleich bei ihrem ersten Treffen angemerkt, denn sie war heiser gewesen und ihre tiefere Stimmlage hatte sie verraten.

„Miss Murray, Sie schreiben gut”, sagte er nun. „Das ist es, was am Ende des Tages für mich zählt. Ihre Geschichten finden eine Menge Leser. Ihre genauen Lebensumstände sind für mich nicht relevant. Schließlich sind Sie keine Person des öffentlichen Lebens. Und dank des Pseudonyms J. Murray wissen unsere Leser noch nicht einmal, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind – und das brauchen sie auch nicht zu wissen. Zumal Krimis und Schauergeschichten eher gelesen werden, wenn der Autor ein Mann ist, wie ich Ihnen ja bereits sagte.”

Was für eine Erleichterung, dass ihrem Arbeitgeber ihr Geschlecht gleichgültig war und er sie allein an ihrer Arbeit beurteilte. In der Vergangenheit hatte sie deswegen oft Schwierigkeiten bekommen. Trotzdem, eines hatte sie sich fest vorgenommen: Irgendwann einmal würde ihr voller Name auf einem Buchtitel stehen.

2

 

Montag, 10. Juni 1889

 

Hammersmith war ein recht durchmischter Stadtteil; in ihrer Nachbarschaft wohnten einfache Leute aus der Arbeiterklasse – Handwerker, Fabrikarbeiter, Bauarbeiter und dergleichen. Viele von diesen machten sich für die Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und dergleichen stark - das merkte sie immer wieder an den öffentlichen Aushängen, die zu Gewerkschaftsveranstaltungen und ähnlichen Treffen einluden. Andere Bereiche des Stadtteils wurden eher von traditionell eingestellten Bürgerlichen bewohnt, wie auch das nahegelegene Kensington.

Der Ravenscourt Park am nordwestlichen Ende des Stadtteils war nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, er brachte ein wenig Grün in das Grau der Umgebung. Meistens waren hier nicht viele Leute unterwegs, denn die Arbeiter schufteten von früh morgens bis spät abends, und die Bürgerlichen zog es wohl eher nach Kensington und in den größeren Hyde Park weiter östlich. Deshalb konnte sie hier die beschauliche Ruhe im Grünen genießen, während sie beim Spazierengehen dem Gesang der Vögel lauschte und neue Ideen für Geschichten ersann.

An diesem Tag hatte es sie in die Fleet Street im Temple-Bezirk verschlagen, der von Hammersmith rund sechs Meilen entfernt war. Dort hatte sie eben ihrem Verleger den fertigen Krimi abgeliefert, einen Packen Papier in einer Mappe. Vielleicht würde er noch Änderungen verlangen, aber dann würde er sich melden.

Die Fleet Street war das Pressezentrum der Stadt. Alles, was in dieser Branche Rang und Namen hatte, war hier ansässig — Zeitungen, Druckereien und Verlage. Sie schätzte, jeder Zweite hier war entweder ein Verleger, ein Journalist oder ein Autor. Manche von ihnen erkannte man unschwer an den Tintenflecken an den Händen, die mitunter recht hartnäckig waren und sich nicht leicht abwaschen ließen.

Sie erinnerte sich an das erste Gespräch mit Mister Bostwick. Bis zum Hals hatte das Herz ihr geklopft, als der Mann mit dem grau melierten Vollbart sie prüfend musterte, während sie sich ihm mit heiserer, rauer Stimme vorstellte. Schließlich hatte er ihr einfach zugenickt. „Es freut mich, dass wir uns heute persönlich kennenlernen. Ihre beiden Manuskripte haben mir gefallen, sie sind für unseren Verlag geeignet. Noch etwas Feinschliff, und sie sind druckreif. Bis wann können Sie die Texte überarbeiten? Die Anmerkungen habe ich in roter Tinte dazu geschrieben.”

Was für ein Stein war ihr damals vom Herzen gefallen, als er mit ihr die Bedingungen des Vertrages besprochen hatte. Die Zusammenarbeit hatte sich als lohnend erwiesen und sie wollte den Verlag nicht missen, der ihr ihren Lebensunterhalt sicherte. Zwar lebte sie in bescheidenen Verhältnissen, aber immerhin hatte sie mehr Freiheiten als eine verheiratete Frau sie gehabt hätte, denn als solche hätte sie wohl nicht mehr arbeiten dürfen. Ein Leben ohne Schreiben, ohne Geschichten zu ersinnen? Das konnte sie sich inzwischen nicht mehr vorstellen.

Sie schlenderte die vornehme Temple Avenue hinunter bis zur Themse, von dort wollte sie zur Station „Temple” und mit der Inner Circle Bahn stadteinwärts fahren, dann umsteigen in die Metropolitan Railway, die sie bis nach Hammersmith weiter im Westen bringen würde.

Die hölzernen Waggons der Underground wurden mit Gas beleuchtet, allerdings wurde in den Abteilen der dritten Klasse an Lampen gespart. In diesem Zwielicht saßen an diesem Abend Männer in Arbeitskluft. Ihre Gesichter wirkten grob – oder vielleicht lag es auch an den Schatten im Abteil — die Hände und Kleidung verschmutzt, vielleicht von Bauarbeiten oder Fabrikarbeit. Dazwischen eine verhärmt wirkende Frau mit vier Kindern, alle in ärmlicher Kleidung und mit Rotznasen. In der stickigen, warmen Luft im Abteil roch es nach Schweiß und Maschinenöl. Jedes Mal, wenn der Zug bremste, ging ein scharfer Ruck durch das Abteil, so dass sie sich an der Lehne der hölzernen Bank festhalten musste, um nicht vom Sitz zu fallen.

In Hammersmith angekommen, dämmerte es bereits und sie beschleunigte ihre Schritte. Vor einem etwas heruntergekommenen Pub, der gern von Arbeitern frequentiert wurde, stieß sie mit jemandem zusammen und sah überrascht auf.

Sie erblickte eine Frau, ungefähr in ihrem Alter, mit einem Strohhut und Stoffblumen darauf, mit aschblondem Haar und einem auffällig großen Muttermal am rechten Mundwinkel. Ein schwacher Duft nach Veilchen umgab sie, vermutlich ein Parfüm der günstigen Sorte. Josephine wollte sich gerade für das Anrempeln entschuldigen, als hinter ihnen ein schmieriges “He, Missus!” erklang.

Im nächsten Moment wallte ihr der saure Geruch von Bier entgegen. Auch das noch. Ein Betrunkener, der hinter der Dame stand; ein unansehnlicher grobschlächtiger Kerl mit zerzauster Frisur und roter Nase.

„Was wollen Sie von der Dame?”, fragte sie ihn.

„Das geht Se gar nix an, Miss!” lallte der Mann und grapschte nach dem Arm der aschblonden Frau. Josephine fühlte Wut in sich aufsteigen; dieses despektierliche Verhalten wollte sie nicht hinnehmen. Was fiel diesem Kerl ein?

„Lassen Sie mich los!”, rief die Dame – sie schien zwischen Angst und Verärgerung zu schwanken. Doch der Betrunkene hielt sie weiter fest. Josephine hätte ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst, aber das wollte sie sich doch lieber für den Notfall aufheben. Vielleicht war eine andere Taktik hier klüger…

„Und ob mich das was angeht, die Dame hier ist nämlich meine Nachbarin. Kommen Sie, meine Liebe. Sie wollten mir doch noch von dem neuen Geschäft auf dem Markt erzählen, Sie wissen schon, das mit den Kurzwaren und den hübschen Stoffen, von denen Sie so geschwärmt haben.” Sie sprach immer weiter im Plauderton und hakte sich bei der Dame unter. Verwirrt ließ der Kerl die blonde Dame los, trat aber nicht zur Seite.

„Ja ... das stimmt”, sagte die Frau nun nach einigem Zögern. „Vielleicht können wir dort einmal zusammen hingehen, es ist auch nicht allzu teuer, und die Stoffe sind wirklich schön.”

Josephine sagte zu dem Betrunkenen: „Einen schönen Abend noch, Sir.”

Die Höflichkeit schien ihm jeden Wind aus den Segeln zu nehmen. Er tippte an seine Mütze und erwiderte den Abschiedsgruß.

Sie ging ein paar Schritte untergehakt mit der Dame, ehe sie sich von ihr löste. „Verzeihen Sie, aber es erschien mir ein einfacher Weg, diesen Herrn wieder loszuwerden.”

Das Lächeln ihres Gegenübers zauberte im Licht einer Straßenlaterne zwei Grübchen auf ihre Wangen. „Danke, dass Sie mir zur Rettung geeilt sind”, sagte sie.

„Ich bin mir sicher, Sie wären den Kerl auch ohne meine Hilfe wieder losgeworden.”

„Ich weiß nicht. Manche Herren können ziemlich hartnäckig sein, vor allem, wenn sie … einen im Tee haben.”

„Wem sagen Sie das?”, fragte Josephine. Mit dieser Sorte Mann hatte sie in der Vergangenheit selbst schon Bekanntschaft geschlossen und es hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. „Soll ich Ihnen noch Gesellschaft leisten auf Ihrem Weg nach Hause?”

„Das würde mich freuen, nach diesem Schreck. Aber was war das für ein Kurzwarengeschäft, von dem Sie sprachen? Sie haben mich neugierig gemacht.”

Josephine lachte. „Ach, das. Das habe ich frei erfunden.”

Die blonde Dame blieb stehen. „Oh. Einfach so?”

„Wissen Sie, ich bin Schriftstellerin. Ich bin es gewohnt, mir etwas aus den Fingern zu saugen.”

Ihre Begleiterin lächelte zögernd. „Ah, ich verstehe. Da habe ich ja Glück gehabt, dass Sie gerade vorbei kamen. Darf ich mich vorstellen? Constance Blackmore.”

„Sehr erfreut, Miss Blackmore. Oder Mrs? Ich bin Miss Josephine Murray.”

„Ich bin nicht verheiratet. Eine alte Jungfer, wenn Sie so wollen.”

„Dann haben wir etwas gemeinsam”, erwiderte Josephine. Miss Blackmore wurde ihr allmählich sympathisch. Sie hätte ihr gern noch mehr Fragen gestellt, zum Beispiel warum sie nicht verheiratet war, aber Josephine wollte nicht neugierig erscheinen und es war unhöflich, eine neue Bekanntschaft gleich mit Fragen zu überhäufen.

Sie schlenderten die Ravenscourt Road hoch, am gleichnamigen Park entlang. „Wussten Sie, dass hier vor kurzem im Ravenscourt House die erste öffentliche Bibliothek von Hammersmith eröffnet worden ist?”, wandte sie sich an Miss Blackmore.

„Nein, das war mir neu. Das ist für Sie als Autorin gewiss interessant?”

„Ja, aber ich habe noch nicht die Zeit gefunden, der Bibliothek einen Besuch abzustatten.”

In der Paddenswick Road hielt Miss Blackmore vor einem Haus mit einer verwitterten Haustür an, deren blauer Anstrich an mehreren Stellen abblätterte. „Hier wohne ich. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Murray.”

„Mich ebenfalls.” Josephine überlegte. „Warten Sie einen Moment.” Sie öffnete ihre Handtasche, kramte kurz darin herum und zog eine Karte heraus. Ein paar davon hatte sie stets dabei, handbeschrieben mit ihrer Adresse.

Diese Frau war ihr sympathisch und wer wusste, was sich aus dieser Zufallsbekanntschaft ergeben mochte. „Wenn Sie einmal Hilfe bei etwas benötigen, oder sich einmal mit mir treffen möchten, schreiben Sie mir gern.”

Ihre Hand zitterte. Warum war sie mit einem Mal so nervös? Ganz kurz streiften sich ihre Finger, als Miss Blackmore die Karte mit einem Lächeln an sich nahm. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, darauf komme ich gern zurück. Wissen Sie, ich wohne noch nicht lange in Hammersmith und kenne hier nicht allzu viele Leute.” Die Berührung fühlte sich angenehm an. Viel zu schnell verging dieser Augenblick. Eine einzelne Locke kringelte sich aus dem aschblonden Haar in die Stirn von Miss Blackmore. Das stand ihr gut, denn so wirkte die Frisur weniger streng. Josephine rief sich innerlich zur Ordnung - sie musste sich zwingen, Miss Blackmore nicht anzustarren. „Es würde mich freuen, Sie wiederzusehen. Einen schönen Abend.”

„Danke, Ihnen auch.” Miss Blackmore schloss die Haustür auf, winkte ihr noch einmal zu und verschwand im Haus.

Auf dem Heimweg malte Josephine sich ein Wiedersehen mit ihrer neuen Bekannten aus.

3

 

Mittwoch, 19. Juni 1889

 

„Wenn ich es Ihnen doch sage, Sir, das Opfer ging in einem dieser Häuser anschaffen”, erklärte Constable Blacksmith.

„Aber gestern sagten Sie doch, die Nachbarin hätte beobachtet, dass sie Herrenbesuch hatte? Was denn nun?”

„Ich hab noch mal mit anderen Leuten aus der Straße gesprochen. Einer von denen sagte mir, er hätte sie in ein Freudenhaus gehen sehen, hinter der Spitalfields Markthalle.”

„In welcher Straße, Constable?”

„Wilkes Street, Sir.”

„Ist diese Angabe korrekt? Können Sie mir etwas über dieses Bordell sagen?”

„Hatte noch nichts mit den Leuten da zu tun. Aber das Bordell wird in einem dieser Nachtleben-Guides erwähnt.”

„Ah, verstehe.” Detective Inspector Gleeson wusste, dass die Prostitution für manch armes Mädchen und manch junge Frau die einzige Alternative zu einem Hungerlohn war, den viele von ihnen in den Fabriken, in Schneidereien oder als Dienstmädchen erhielten. Natürlich eine höchst unmoralische, unsittliche Tätigkeit, doch zugleich eine, die in der Metropole immer noch heiß begehrt war, so dass es sogar ausführliche Guides über das Nachtleben gab, in denen Bordelle aufgelistet und manche der Huren sogar persönlich vorgestellt wurden. Das war zwar anrüchig, doch auf der anderen Seite erleichterten diese Guides den Polizeibeamten und Ermittlern der Metropolitan Police gelegentlich die Arbeit.

 

Josephine schaute zu dem Nachtleben-Guide herüber, der als Recherchematerial auf ihrem Tisch lag. Nach außen hin wirkte das Buch unscheinbar, es hätte auch einfach ein Roman sein können. Das Innere dagegen hatte es in sich, denn das Buch enthielt nicht nur ausführliche Informationen über die respektablen und weniger respektablen Seiten des Londoner Nachtlebens, sondern war um zahlreiche anzügliche Illustrationen ergänzt worden, die auf manche Leute sicherlich erregend wirkten. Josephine trieben sie eher die Schamesröte ins Gesicht.

Sie wollte sich gerade weiter in die Ermittlungen des Detective Inspectors in ihrem Krimi vertiefen, als ein Klopfen an der Tür erklang. Vielleicht der Vermieter? Aber nein, sie hatte die Miete für diese Woche doch schon bezahlt. Sie sah auf ihre Taschenuhr: Sechs Uhr, ein wenig spät für einen Besucher ohne eine Verabredung.

Ein Blick in den Spiegel … ihre Frisur saß noch relativ gut. Eben war sie von einem Besuch auf dem Markt zurückgekehrt und hatte den Hut abgelegt. Sie griff nach dem Nachtleben-Guide und legte ihn in eine Schublade des Schreibtischs. Danach stand sie auf und ging zur Tür. Zu ihrer Überraschung stand Miss Blackmore vor ihr, in einem türkisblauen Kleid und einem dunkelblauen Hut mit einer weiten Krempe, der auf ihrer Hochsteckfrisur saß. Das Türkisblau passte hervorragend zu ihren blonden Haaren.

„Oh, guten Abend, Miss Blackmore.”

„Guten Abend, Miss Murray. Bitte verzeihen Sie die Störung zu so später Stunde, ich hätte Ihnen eine Nachricht geschrieben, aber es ist … ach, es ist kompliziert. Dürfte ich vielleicht hereinkommen? Ich möchte das ungern hier zwischen Tür und Angel erklären.”

„Gewiss. Kommen Sie.” Josephine bat sie mit einer einladenden Geste herein. „Ich wollte ohnehin gerade einen Tee machen. Bitte, nehmen Sie Platz.” Sie wies auf einen der beiden Sessel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Aber er war noch immer bequem. Sie ging hinüber in die Kochnische, füllte Wasser aus der Kanne in den Teekessel.

„Haben Sie gut hierher gefunden?”

„Ja, danke, Sie wohnen ja in der Nähe des Marktes, es war nicht schwer.”

Josephine nahm das kleine Tablett, stellte Teetassen darauf. „Ich fürchte, ich habe keine Milch im Haus. Nehmen Sie Zucker zum Tee?”

„Gern.”

Josephine sah zu Miss Blackmore hinüber, während sie etwas Zucker aus der Vorratsdose in eine Schale füllte. Ihre Besucherin knetete die behandschuhten Finger im Schoß, zog die Handschuhe aus, knüllte sie zwischen den Fingern, als ob sie sich an etwas festhalten müsse. Dazu die sorgenvolle Miene …

Josephine brannte insgeheim darauf zu erfahren, was Miss Blackmore zu ihr führte.

---ENDE DER LESEPROBE---