Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Manege frei für einen Mord - Amalia Zeichnerin - E-Book

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Manege frei für einen Mord E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

London, 1890. Eine Zirkusvorstellung endet für eine Akrobatin tödlich. Die Polizei legt den Fall schnell zu den Akten, doch der Bruder der Akrobatin beauftragt Miss Murray, weitere Nachforschungen anzustellen. War es tatsächlich nur ein tragischer Unfall? Oder lauern hinter der glänzenden Fassade des Zirkus ungeahnte Abgründe?

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Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Personen der Handlung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachwort und Danksagung

Impressum

Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:Manege frei für einen MordTeil 5 der „Miss Murray”-Reihe

 

© Amalia Zeichnerin 2019

 

 

Inhaltswarnungen für diesen Roman

 

Tod, Clowns, sexuelle Belästigung (wird nicht gezeigt)

Personen der HandlungJosephine Murray – Groschenromanautorin, GelegenheitsdetektivinConstance Blackmore – Josephines Lebensgefährtin, eine SchneiderinEddy Blackmore – Constances jüngerer Bruder

Die ZirkusleuteJeremy Golden – Der DirektorDorothy Golden – die Tante des DirektorsLester Langley – ein TrapezartistLilianne Langley – eine Trapezartistin, Lesters SchwesterTrip und Trent – Zwillinge, die Clowns des Zirkus„Mac der Messerwerfer” MacMichaels – irischer ZirkuskünstlerGordon Black – ein TierpflegerKatie Helmsford – eine ReitakrobatinKeith Helmsford – Katies Bruder, ein ReitakrobatAlistair Helmsford – Katies Cousin, ein ReitakrobatHenry Helmsford – ehemaliger Reitakrobat, der „Hausmeister” des Zirkus, Alistairs VaterGordon Black – ein TierpflegerIgnacio Ramirez – ein spanischer DompteurWeitere PersonenIsobel Thatcher – eine Freundin von Lilianne LangleyHarry Bayliff – ein Bekannter von Lilianne

 

1

 

Freitag, 19. September 1890Ravenscourt Park, Hammersmith

 

Goldgelb leuchtete ihnen das große Zirkuszelt entgegen. Josephine rückte ihren blauen Hut zurecht und schob sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Was das wohl für ein Spektakel werden würde? Constance hakte sich mit einem Lächeln bei ihr unter, während sie gemeinsam mit Eddy durch die Menschenmenge gingen, die auf das Zelt zuströmte. Ein angenehmes Kribbeln der Vorfreude machte sich in Josephines Magen breit. Das hier würde sicherlich eine interessante Abwechslung werden.

Mehrere Familien mit Kindern und Jugendlichen, aber auch junge Erwachsene waren im Park unterwegs, um sich die Zirkusvorstellung anzusehen. Gelächter und Gesprächsfetzen drangen zu ihr herüber. Der Herbsttag war angenehm mild, nur ein leichter Wind wehte und ließ hier und da buntes Laub über den Boden tanzen. Einige Singvögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen, während in einiger Entfernung Raben krächzten und der schriller Ruf einer Elster erklang. Das kräftige Grün des Sommers war mittlerweile verblasst und hatte verschiedenen Brauntönen Platz gemacht.

Mittlerweile war es schon eine Weile her, seit sie gemeinsam einen Ausflug nach Brighton unternommen hatten und auch Josephines Geburtstag lag schon einige Tage zurück. Umso mehr freute sie sich auf das vor ihnen liegende Spektakel, zumal sie auch noch nie eine Zirkusvorstellung gesehen hatte. Was sie dort wohl erwarten würde?

Eddy, der noch immer bei Constance und ihr wohnte, da er weiterhin auf der Suche nach einer neuen Bleibe war, hatte ein entsprechendes Inserat im Fulham & Hammersmith Chronicle gelesen und ihnen gezeigt.

 

Das klang natürlich alles recht reißerisch, aber auf diese Weise waren viele Zeitungsanzeigen gestaltet, um noch mehr Aufmerksamkeit zu erzielen. Die Werbung für die Heftromane des Verlags, für den sie arbeitete, strotzte ebenfalls oft von Superlativen wie “Wir versprechen Ihnen höchste Spannung!” oder auch Warnhinweise dieser Art: “Lesen Sie diese schockierende Geschichte nicht vor dem Schlafengehen, sie wird Ihnen die Nachtruhe rauben!”

Eddy jedenfalls war Feuer und Flamme gewesen, den Zirkus zu besuchen. Er hatte seine Schwester überredet, ihn zu begleiten. Constance wiederum wollte nicht ohne Josephine hingehen, also hatte sie sich den beiden angeschlossen und sie war ebenfalls neugierig.

An der Kasse hatte sich eine Schlange gebildet; geduldig warteten sie zu dritt, bis sie an der Reihe waren. In der Nähe befand sich eine Pferdekoppel, doch Pferde waren nicht zu sehen. Vermutlich wurden sie schon für die Vorführung vorbereitet?

Josephine blickte sich um. Rings um das runde Zirkuszelt standen mehrere Wagen, die zum Teil auffällig bunt bemalt waren. Sie bildeten einen weiten Kreis und zwischen ihnen war auch ein größerer Käfig zu sehen. Zu ihrer Überraschung befanden sich darin ein Löwe und ein Tiger, beides ausgewachsene Tiere. Das waren also die exotischen Tiere, welche die Zeitungsanzeige angepriesen hatte. Während der Löwe dösend auf der Seite lag, trottete der Tiger von einer Seite des Käfigs zur anderen und sah immer wieder zu der Menschenschlange hinüber.

Eine beleibte Dame, die schon etwas älter zu sein schien und sie aus kleinen Äuglein durch eine Brille musterte, saß an der Kasse. „Guten Tag”, wandte sie sich an Josephine. „Drei Karten für Sie? Das macht neun Shillings.”

Das war ein stolzer Preis. Hoffentlich war das die Vorführung wert …

Im Zelt roch es intensiv nach Holzspänen, die in der runden Manege ausgestreut waren. Außerdem hingen die intensiven Gerüche von Tieren und Pferdeäpfeln in der Luft. Der Eingang der Darbietenden hin zur Manege war von schweren, roten Vorhängen verdeckt. Um die Manege herum waren Bänke platziert, die weiter hinten nach oben hin anstiegen, wie in einer Arena. Josephine betrachtete die Konstruktion interessiert – vermutlich konnte man diese recht leicht abbauen und transportieren.

Constance, Eddy und sie fanden noch drei freie Plätze nebeneinander, ganz vorn in der ersten Reihe. Unter der mehrere Meter hohen Zeltdecke hingen zahlreiche Seile und zwei Vorrichtungen, die an Schaukeln erinnerten – jeweils eine schmale Stange, die von zwei Seilen gehalten wurde. Ob das Trapezstangen waren? Sie hatte von dieser Art von Akrobatik gelesen, in einem Zeitungsartikel über Zirkusdarbietungen. Diese waren seit Jahrzehnten so beliebt, dass es dafür sogar feste Veranstaltungsstätten in London gab, darunter das Olympia in West Kensington. Aber bisher hatte Josephine noch nie eine entsprechende Aufführung besucht.

Allmählich füllte sich das Zelt mit Besuchern. Ein kleiner Junge in einem niedlichen blau-weißen Matrosenanzug weinte. Eine Frau mittleren Alters redete beschwichtigend auf ihn ein. Mehrere Jugendliche unterhielten sich laut und lachten dabei. Ein anderer Junge schubste seinen kleineren Bruder und wurde vom Vater mit strenger Miene zurechtgewiesen. Fröhliches Stimmengewirr erfüllte das Zelt, während draußen ein Pferd wieherte.

Laute, festlich klingende Musik ertönte, woraufhin unter den Zuschauern Ruhe einkehrte. Die Vorhänge wurden von hinten aufgezogen; ein einzelner Mann mit einem großen Zylinder und einer ungewöhnlichen rotgelben Jacke mit zahlreichen Knöpfen betrat das Rund der Manege betrat.

Ein blecherner Tusch – das klang nach einem Grammophon. Damit verstummte die Musik. Der Mann zog mit einem strahlenden Lächeln seinen Zylinder. Er hatte einen gewaltigen schwarzen Schnurrbart und dunkle Augen.

„Guten Tag, meine Damen und Herren, liebe Kinder! Mein Name ist Jeremy Golden und ich begrüße Sie recht herzlich in meinem Zirkus. Genießen Sie die Vorstellung! Und keine Angst, auch wenn es mal gefährlich aussehen mag, es ist alles ganz harmlos und wir wissen genau, was wir tun. Bleiben Sie bitte in jedem Fall auf Ihren Plätzen sitzen, zu Ihrer eigenen Sicherheit. Beginnen wir nun mit unseren beliebten Pferdeakrobaten – Manege frei!”

Mit diesen Worten verneigte sich der Direktor mit einer ausladenden Armbewegung zum Vorhang hin und zog sich hinter den Eingang der Manege zurück. Verhaltener Applaus erklang, der bald lauter wurde, als drei Akrobaten – zwei Männer und eine Frau – auf Pferden hereinritten. Alle drei trugen bunte, eng anliegende Kleidung, die an den Säumen glitzerte. Der Rock der Dame war geradezu skandalös kurz, so dass der untere Teil ihrer Beine in den enganliegenden Hosen zu sehen war. Aber das war gewiss notwendig, wenn sie Kunststücke auf ihrem Pferd vollführen wollte.

Die drei Zirkusleute erwiesen sich als ausgesprochen gelenkig. Mit geschmeidigen Bewegungen vollführten sie allerhand schwierige Posen. Mitten im Galopp standen sie im Sattel auf, einer von ihnen ließ sich kopfüber seitwärts am Pferd herabgleiten, bis er fast mit dem Kopf den Boden berührte.

Die Dame stellte sich aufrecht hin, während ihr Reittier weiter im Kreis lief. Sie hob eines ihrer Beine an, streckte es nach hinten weg und brachte ihren Oberkörper mit ausgestreckten Armen in eine waagerechte Position, die sie scheinbar mühelos hielt, trotz der schnellen Bewegungen des Pferdes.

Die beiden Männer wechselten im rasanten Galopp sogar auf elegante Weise gegenseitig die Pferde, was für reichlich Beifall sorgte. Die Tiere ließen sich all das gefallen; sie schienen durch nichts aus der Ruhe zu bringen zu sein und liefen weiter im Kreis.

Kurz darauf hielt sich einer der Akrobaten am Sattel fest und brachte seinen gesamten Körper in eine kerzengerade, durchgestreckte Haltung, so dass er vertikal am Pferdeleib hing und darüber hinausragte. Sekunden später wechselte er in eine waagerechte Position und hing nun längsseits des Pferdes, das schnaubend weiterlief. Kurz darauf hielt er sich erneut nur mit einer Hand am Sattel fest und brachte sich erneut in eine waagerechte Haltung, diesmal allerdings knapp über dem Pferderücken.

Die Dame ritt an ihm vorüber, sie machte einen vollkommen geraden Handstand auf ihrem Pferd und verdrehte kurz darauf ihre Beine ebenfalls in eine waagerechte Position. Josephine hielt unwillkürlich den Atem an. Was für eine hervorragende Körperspannung!

Zum Ende der Darbietung hielten die drei nebeneinander an, danach kletterten die beiden Männer zu der Dame auf das mittlere Pferd. Einer von ihnen hob die Akrobatin hoch in die Luft, während der andere ihn festhielt. Die Dame grätschte ihre Beine in einen weiten Spagat und breitete die Arme aus. Applaus brandete ein weiteres Mal auf und verabschiedete die drei und ihre Pferde wenig später.

Anschließend wurden sie durch die Späße von zwei Clowns unterhalten, die grellbunte Kleidung trugen und stark geschminkt waren, mit weißen Gesichtern, schwarzen Strichen an den Augen und knallroten Mündern. Einer von ihnen jonglierte mit Kegeln, während der andere versuchte, ihm diese zu stibitzen, dabei aber kläglich scheiterte, stolperte und mit verdutzter Miene auf seinem Hosenboden landete. Das alles sorgte für reichlich Gelächter und selbst der kleine Junge, der vor der Aufführung noch geweint hatte, klatschte begeistert in die Hände.

Nach den Clowns wurde eine mannsgroße Holzscheibe auf Rollen hereingetragen, während eine Frau folgte – die Reitakrobatin, die nun ein anderes Kostüm mit einem knöchellangen Rock trug. Sie stellte sich direkt an die Scheibe und ihre Hände wurden nun mit Metallschellen an die Scheibe gefesselt.

Ein Mann mit einem weiten Mantel kam herein, den der Direktor als „Mac, den Messerwerfer” angekündigt hatte. Er öffnete seinen Mantel weit – in dessen Innenseite waren zahlreiche Messer befestigt, die gefährlich aufblitzten.

Ein Raunen ging durch die Menge, als er eines davon ergriff und damit auf die Scheibe zielte. Die Waffe surrte durch die Luft und blieb knapp oberhalb des Kopfes seiner Kollegin im Holz stecken.

Beifall antwortete ihm, doch er war noch nicht fertig. In rascher Folge warf er weitere Messer, dann sogar zwei gleichzeitig.

Josephine traute sich kaum hinzusehen. Constance gab einen überraschten Laut von sich, griff nach ihrer Hand und drückte diese. Atemlos verfolgte Josephine die weitere Darbietung.

Bald umgaben die glänzenden Klingen den gesamten Körper der Reitakrobatin. Schließlich drehte sich der Messerwerfer um, stand mit dem Rücken zur Scheibe und warf ein Messer rückwärts. Mit einem zischenden Laut bohrte sich die Waffe in das Holz, Zentimeter entfernt vom Kopf der jungen Dame.

Donnernder Applaus setzte ein, als sich der Messerwerfer mit einem Lächeln verbeugte. Anschließend befreite er die Dame von der Scheibe. Jubelrufe begleiteten die beiden nach draußen, während zwei Männer in schlichter dunkler Kleidung die Scheibe wieder aus der Manege trugen.

Erneut kam der Direktor herein. „Meine Damen und Herren, liebe Kinder, erleben Sie als nächstes, wie die fliegenden Geschwister Langley den Gesetzen der Schwerkraft trotzen – ganz ohne Sicherheitsnetz! Und weil das gar nicht so einfach ist und sie ihre volle Konzentration benötigen, bitte ich für diese Darbietung um absolute Ruhe.” Er legte einen Finger an die Lippen und tatsächlich wurde es still im Zelt.

Mister Golden verließ die Manege. Ein junger Mann und eine etwa gleichaltrige Frau kamen herein. Beide trugen enganliegende blaugrüne Kostüme, bei ihr war zusätzlich ein dünner, fast durchsichtiger Rock angenäht, der ihr nur bis zu den Knien reichte. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick, geradezu skandalös. Obwohl, nein. Balletttänzerinnen trugen schließlich auch nicht mehr am Leib, wenn sie auf der Bühne tanzten.

Die beiden „fliegenden Geschwister” griffen nach zwei Seilen, zogen daran, bis diese tief genug herabhingen, dass sie daran hochklettern konnten. Bei der nun folgenden Darbietung wurde Josephine schon vom Zusehen schwindlig.

Die Dame flog von ihrer Trapezschaukel in Richtung ihres Bruders, dessen eigenes Trapez am anderen Ende des Zeltdaches befestigt war und ebenfalls hin und her schwang. Am höchsten Punkt ihres Fluges drehte sie sich in atemberaubender Geschwindigkeit um sich selbst; Sekunden später ergriff er ihre Beine. Ein Raunen ging durch die Menge, als dies geglückt war. Doch damit war die Nummer noch nicht zu Ende – ein weiteres Mal flog die Akrobatin durch die Luft, zurück zu ihrem eigenen Trapez. Josephine hielt unwillkürlich den Atem an.

Plötzlich riss eines der Halteseile an der Trapezstange. Die Akrobatin konnte sich nicht mehr halten; ihr überraschter Schrei zerschnitt die erwartungsvolle Stille im Zelt. Dann ein dumpfer Laut, als ihr Körper auf dem Boden der Manege aufschlug und dort seltsam verdreht liegen blieb.

Constance gab einen keuchenden Laut von sich und ließ Josephines Hand los. Ein überraschtes Raunen und vereinzelte Schreie drangen aus dem Publikum. Der Akrobat seilte sich rasch ab und eilte zu seiner Schwester.

Der Direktor kam hereingelaufen, beugte sich ebenfalls über die Gefallene. Ihr Bruder schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihm übers Gesicht.

Der Direktor straffte sich. „Meine Damen und Herren, nach diesem tragischen Unfall können wir unsere Vorstellung nicht fortsetzen”, wandte er sich an die Zuschauer. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Bitte verlassen Sie nun das Zelt.”

Weitere Leute vom Zirkus kamen mit schockierten Mienen in die Manege gelaufen. Mister Golden rief einem älteren Mann zu, er solle die Polizei verständigen. Der Ältere verließ rasch das Zelt.

Eddy stand auf. „Kommt, gehen wir.”

Josephine schüttelte den Kopf. „Geht ihr ruhig schon, ich will das genauer wissen.”

„Wenn du bleibst, dann bleibe ich auch. Ich warte hier auf dich”, sagte Constance.

Josephine nickte ihr dankbar zu, danach trat sie über die Abgrenzung der Manege und bewegte sich auf die Leute dort zu.

„Bitte, gehen Sie”, wurde sie von einem der Clowns aufgehalten. „Das ist allein unsere Angelegenheit.”

Der Akrobat, der noch immer neben seiner Schwester kniete, blickte Josephine überrascht an, wischte sich die Tränen vom Gesicht.

„Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht helfen kann”, erklärte sie. Der Clown hatte ja Recht, das hier ging sie nichts an, sicherlich war es ein tragischer Unfall, wie der Zirkusdirektor gesagt hatte.

Gemeinsam mit Constance und Eddy, die beide auf sie gewartet hatten, verließ sie das Zelt. Sie schlugen den Weg zu einem der Pfade des Parks ein, so wie viele andere Zuschauer auch. Manche tuschelten miteinander, ein kleines Mädchen weinte leise, während ein älterer Junge ganz blass aussah. Plötzlich erklang eine Stimme direkt hinter ihnen. „Miss?”

Sie drehte sich um, blickte zu ihrer Überraschung in das noch immer tränenverschmierte Gesicht des Akrobaten.

Er trat dicht an sie heran. „Lester Langley ist mein Name”, sagte er leise. „Dürfte ich Sie kurz sprechen?”

„Sicherlich”, erwiderte sie. „Gehen wir ein Stück zur Seite?”

Sie wies auf einen Platz in der Nähe des Zirkuszeltes, etwas abseits von der Menge, die das Zirkusgelände verließ.

Er folgte ihr dorthin. „Hören Sie, ich bin mir nicht sicher, dass das ein Unfall war”, begann er schließlich. „Aber wer weiß, ob die Polizei mir das glauben wird. Wissen Sie, nach meiner Erfahrung haben die nicht gern mit Zirkusleuten zu tun. Für die sind wir praktisch nur fahrendes Volk. Zumal wir nur ein kleiner, nicht allzu bekannter Zirkus sind. Sie sagten vorhin, Sie wollten wissen, ob Sie helfen können … wie meinten Sie das?”

„Ich habe gelegentlich als Detektivin gearbeitet”, sagte sie frei heraus.

„Oh … dürfte ich mich bei Ihnen melden, falls ich Hilfe brauchen sollte? Wir sind noch länger mit dem Zirkus hier, bis Anfang Oktober. Ich meine, zumindest war es bisher so geplant.”

Sie nickte und griff nach einer ihrer handbeschriebenen Karten. „Hier ist meine Adresse.”

Der Akrobat nahm die Karte entgegen, steckte sie in den Ausschnitt seines Kostüms. „Danke.”

„Mein herzliches Beileid”, sagte sie mitfühlend.

Seine Oberlippe zitterte. „Ich kann es noch gar nicht glauben.” Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern.

„Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die kommende Zeit, Mister Langley”, sagte sie.

Er bedankte sich und ging mit hängenden Schultern zurück zur Manege.

In einiger Entfernung, an der Kasse vor dem Zirkuszelt, diskutierte ein Mann lautstark mit der Dame, die dort saß. „Ich verlange mein Geld zurück!”

„Aber Sir, Sie haben doch einen Teil der Vorstellung gesehen. Bitte, haben Sie Verständnis, ich kann Ihnen Ihr Geld nicht zurückgeben. In unserem Zirkus arbeiten eine ganze Menge Leute und auch die Tiere kosten uns viel Geld. Wir sind jeden Tag auf die Einnahmen angewiesen.”

„Dann geben Sie mir wenigstens die Hälfte zurück! Und auch das von den Eintrittskarten meinen Kinder und meiner Frau.”

Weitere Leute mischten sich in das Gespräch ein, nun verlangten auch andere ihr Geld zurück.

Kopfschüttelnd ging Josephine zurück zu ihrer Freundin und deren Bruder.

„Haben diese Leute denn gar keinen Sinn für Pietät?”, fragte Constance. „Der Zirkus hat gerade eine seiner Akrobatinnen verloren. Nun haben sie nicht nur die laufenden Kosten, sondern müssen auch noch für eine Beerdigung aufkommen.”

 

*

 

Das Reißen des Seils, die Akrobatin fiel durch die Luft, während eine blecherne, leiernde Musik spielte, die nach einem betrunkenen Orchester klang. Ein Tusch erklang, als die Dame in dem blaugrünen Kostüm hinab auf den Boden stürzte. Doch sie blieb nicht still liegen, sondern hob den Kopf und blickte Josephine mit schmerzverzerrter Miene an, streckte die Hand flehend nach ihr aus.

 

Schweißgebadet erwachte Josephine aus diesem seltsamen Traum. Der Vorfall im Zirkus am gestrigen Nachmittag war schrecklich gewesen. Eine andere Erinnerung flammte in ihr auf – der Todesfall im Royal Haymarket Theater im vergangenen Dezember1.

Nun war sie schon zum zweiten Mal Zeuge eines plötzlichen Todes geworden. Blieb nur die Frage, ob der im Zirkus wirklich ein Unfall gewesen war. Der Bruder des Opfers schien daran nicht zu glauben. Welchen Grund mochte er dafür haben?

1Was es damit auf sich hat, kann man in „Die mysteriösen Fälle der Miss Murray: Theatergeist” nachlesen.

2

 

Montag, 22. September 1890 – Hammersmith

 

Josephine betrat den Tea Room, der sich in der Nähe des Ravenscourt Park befand. Die Räumlichkeiten waren ein wenig dunkel, wirkten aber sauber und behaglich; die cremefarbenen Tischtücher mit Spitzen verziert, auf den Stühlen befanden sich bequeme samtige Polster. Ein Feuer brannte im hinteren Bereich knisternd im offenen Kamin und sorgte für behagliche Wärme an diesem trüben Herbsttag.

Josephine lief das Wasser im Mund zusammen, als sie den Duft von frischen Scones und Kuchen wahrnahm. Ein älteres Paar grüßte sie höflich, als sie an ihnen vorbeiging. Sie erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. In einer anderen Ecke saßen zwei Frauen mittleren Alters und ein halbwüchsiges Mädchen mit langen dunklen Zöpfen in einem geblümten Kleid.

Der Akrobat aus dem Zirkus Golden, Mister Langley, blickte ihr entgegen. Sein Gesicht war grau vor Kummer. Er wirkte anders in seinem schlecht sitzenden Anzug und der graubraunen Tweedmütze auf dem Kopf. Als sie an seinen Tisch trat, stand er auf und deutete eine Verbeugung an. „Miss Murray, guten Tag. Danke, dass Sie gekommen sind.”

Er rückte ihr den Stuhl zurecht.

Ein richtiger Gentleman …

Eine Bedienung kam zu ihnen und nahm ihre Bestellung entgegen.

„Fühlen Sie sich eingeladen”, sagte Mister Langley zu Josephine, als die Dame gegangen war.

„Sehr freundlich, das nehme ich gern an. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn ich gleich zur Sache komme?”

Er nickte, nahm seine Mütze ab und krallte seine Finger hinein, als ob er etwas brauchte, an dem er sich festhalten konnte.

„In Ihrer Nachricht an mich schrieben Sie, dass Sie immer noch Zweifel daran hätten, dass es ein Unfall gewesen ist – was Ihrer Schwester passiert ist. Und Sie haben das ja auch schon bei unserem kurzen Gespräch angedeutet. Was bringt Sie zu dieser Annahme?”

„Dazu muss ich ein bisschen weiter ausholen …”

Sie machte eine einladende Geste. „Gern.”

„Nun, also die Polizei war am Sonnabend da und hat uns alle verhört. Die Beamten haben sich auch das gerissene Seil angesehen und Aussagen zu Protokoll genommen. Sie sind der Ansicht, das sei ein Unfall gewesen. Das Seil wäre wohl aus Verschleiß gerissen. Sie haben Mister Golden außerdem nahegelegt, in Zukunft nur noch Trapezvorführungen mit einem Sicherheitsnetz durchzuführen. Wir haben auch eines im Zirkus, aber Golden wollte darauf lieber verzichten, weil die Darbietung nun einmal ohne ein Netz spektakulärer ist.”

Mister Langley zerdrückte noch immer seine Tweedmütze, während er weitersprach. „Jedenfalls hat dann Henry mit der Polizei geredet. Früher war er selbst Reitakrobat, aber seit einem Umfall kann er das nicht mehr machen. Seitdem kümmert er sich um alle technischen Belange des Zirkus. Er ist gewissermaßen unser Hausmeister, könnte man sagen. Er hat ihnen erklärt, dass er das alte Seil gerade erst neulich durch ein neues ausgetauscht hat.

---ENDE DER LESEPROBE---