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England, 1890. Eine Einladung aufs Land über Ostern? Das wollen sich die Groschenromanautorin und Gelegenheitsdetektivin Josephine Murray und ihre Freundin Constance nicht entgehen lassen. Doch einen Tag nach ihrer Ankunft wird der Ehemann der Gastgeberin tot aufgefunden. Keiner der Gäste kann das Anwesen verlassen, denn ein später Wintereinbruch hat dafür gesorgt, dass sie eingeschneit sind. Schon bald wird Miss Murray klar, dass mehrere der Anwesenden ein Motiv für den Mord hat. Ist der Mörder mitten unter ihnen?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Titelei
Inhaltswarnungen
Prolog
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13
Nachwort
Danksagung
Impressum
Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:
Mörderische Ostern
Teil 3 der „Miss Murray“-Reihe
© Amalia Zeichnerin 2019
Inhaltswarnungen zu diesem Roman
sexuelle Belästigung, Mordfall, ohne dass Gewalt gezeigt wird, Transfeindlichkeit
PrologSonnabend, 8. März 1890 – London
Liebes Tagebuch,
ich bin sehr gespannt auf den heutigen Abend, denn Lady Thelma hat Constance und mich extra eingeladen, ihren Salon zu besuchen. Sonst finden die Treffen dort ja zu festen Terminen zweimal monatlich statt und jede Dame kommt so, wie sie mag und Zeit hat. Aber heute scheint es wohl um etwas Besonderes zu gehen. Lady Thelma wollte nicht verraten, worum genau, hat aber von einer Überraschung geschrieben, auf die ich sehr neugierig bin. Himmel, was soll ich nur anziehen?
*
Lady Thelmas Salon für Damen war gut besucht an diesem Abend. Vermutlich hatte die Gastgeberin mit ihrer mysteriösen Ankündigung viele ihrer Besucherinnen neugierig gemacht. Musik und Gespräche hallten durch den hohen, hell erleuchteten Raum. Zahlreiche Kerzen brannten hier und die goldenen Ornamente auf den Möbeln und Bilderrahmen glänzten ebenso prachtvoll wie die vornehmen Kristallgläser in den Händen der anwesenden Damen.
Millicent spielte eine romantisch-verträumte Elegie am Klavier, die rotblonde Annabelle und ihre Freundin Lydia kicherten über irgendeinen Witz, während einige Frauen sich über die neuen Theaterstücke unterhielten, die man sich im West End anschauen konnte. Josephine fing einige dieser Gesprächsfetzen auf. Eine der Anwesenden erwähnte das Royal Haymarket Theater. Das ließ Josephine an den vergangenen Dezember denken, als nicht nur die Polizei, sondern auch sie selbst dort wegen eines Mordfalls ermittelt hatte. Danach hatte sie von Theaterbesuchen jeglicher Art erst einmal genug gehabt.
Josephine schenkte ihrer Freundin Constance und sich selbst etwas von dem Punsch ein, der auf einem Teewagen bereit stand. Da sie nicht wussten, was sie an diesem Abend erwartete, hatten sie sich herausgeputzt und sich besonders viel Mühe mit den Frisuren gegeben. Constance hatte ihr aschblondes Haar so lange gebürstet, bis es wunderbar glänzte. Josephine trug ihr bestes Kleid, das fliederfarbene aus schimmerndem Taft, welches mit dunkler Spitze gesäumt war.
Die Gastgeberin strahlte in die Runde, sicherlich war sie erfreut, dass heute Abend so viele ihrer Einladung gefolgt waren. Sie trug ein glänzendes lavendelfarbenes Kleid, das mit weißen Ornamenten verziert war. Lady Thelma schlug mit einem Löffel gegen ein Glas. Das feine „Ping” war mehr als deutlich zu hören. Die Gespräche im Salon verstummten und alle wandten sich ihr zu.
„Meine Lieben, es freut mich, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind”, begann sie. „Ich habe eine Ankündigung der etwas anderen Art, die ich bereits in meinen Einladungen an Sie angedeutet habe. Ich möchte Sie gern zu einer kleinen Verlosung einladen, falls Sie an denOsterfeiertagen noch nichts vorhaben. Meine gute Freundin Amanda Harrington, die Gattin eines Unternehmers, hat Eliza und mich über die Feiertage zu sich nach Essex eingeladen. Sie wünscht sich ein volles Haus und lernt immer gern neue Leute kennen. Deshalb hat sie mich gebeten, noch zwei weitere Damen einzuladen, die Eliza und mich begleiten.”
Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. „Ich bin in mich gegangen und habe überlegt, wen wir einladen könnten. Ich habe auch schon ein, zwei Damen gefragt, die allerdings bereits andere Pläne für Ostern haben. Von diesen abgesehen, sah ich mich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass ich mich nicht entscheiden kann, wen ich einladen sollte. Dann brachte mich meine liebe Eliza”, sie warf ihrer Lebensgefährtin einen Blick zu, „auf die Idee, eine Verlosung zu machen. Und genau das möchte ich nun tun. Die Verlosung ist folgendermaßen gedacht – nur eine einzige Person wird gewinnen. Und diese kann sich dann aussuchen, wen sie mitnimmt.”
„Eine schöne Idee!”, sagte Lydia, die nun mit Annabelle zu tuscheln begann.
„Machen Sie bitte nur bei der Verlosung mit, wenn Sie über Ostern Zeit für eine Reise haben”, gab Lady Thelma zu bedenken. „Und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Anreise, selbstverständlich können Sie bei Eliza und mir in der Kutsche mitfahren.”
„Ich habe noch nie bei einer Verlosung mitgemacht”, sagte Constance leise. „Hoffentlich mache ich nichts verkehrt.”
„Ich glaube, da kann man nicht viel falsch machen”, erwiderte Josephine und schenkte ihrer Freundin ein Lächeln.
„Das finde ich beruhigend”, erwiderte Constance und lächelte nun ebenfalls zaghaft.
Lady Thelma ging mit einer Hutschachtel herum, in der jede Menge kleine Zettel und einige Bleistifte lagen. „Nehmen Sie sich einen Zettel und schreiben Sie Ihren Namen darauf, wenn Sie an der Verlosung teilnehmen wollen. Falten Sie das Papier, so dass man Ihren Namen nicht sehen kann und legen Sie es zurück in die Hutschachtel. Wenn alle fertig sind, ziehe ich einen der Zettel und das ist dann die Gewinnerin.”
Einige der Damen verzichteten. „Ich bin über die Feiertage bei meinen Verwandten in Surrey”, erklärte eine und auch andere hatten über Ostern schon andere Verabredungen. Mittlerweile tuschelten die meisten der Anwesenden untereinander. Einige kicherten. Eine Verlosung, das gab es nicht alle Tage.
Josephine war gespannt, wer gewinnen würde.
Die Vorbereitungen dauerten eine Weile.
„Kommen wir nun zur Ziehung”, verkündigte Lady Thelma feierlich. Zunächst schloss sie die Hutschachtel mit deren Deckel und schüttelte sie ein paar Mal. Danach öffnete sie das Behältnis und zog einen einzelnen Zettel heraus.
„Die Gewinnerin ist Constance Blackmore. Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe.”
Constance errötete, als die anderen Anwesenden spontan applaudierten.
„Wen möchten Sie mitnehmen?”, fragte Lady Thelma.
„Da muss ich nicht lange nachdenken, Josephine natürlich.”
„So soll es sein. Wunderbar.” Lady Thelma nickte ihr zu.
Josephine freute sich sehr über Constances Worte. Im Überschwang der Gefühle drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange und umarmte sie. „Mensch, Constance, ich freue mich sehr!”
„Ich mich auch”, sagte ihre Freundin und strahlte.
Die Aussicht, die Feiertage auf einem Landsitz zu verbringen, versetzte Josephine in Aufregung. Schließlich konnte sie sich sonst keine Reisen leisten, höchstens gelegentliche Ausflüge in die nähere Umgebung Londons. Aber sie fühlte sich auch ein bisschen nervös, denn schließlich kannte sie weder Mrs Harrington noch deren Gatten. Andererseits waren diese offensichtlich gut bekannt mit Lady Thelma. Josephine kannte die Adlige mittlerweile gut genug, um ihr zu vertrauen. Sicherlich waren ihre Bekannten in Essex ganz reizende Leute. Also was sollte schon schiefgehen?
1
Karfreitag, 4. April 1890 – Essex
Eine lange Allee führte zum Haus der Harringtons, das sicherlich schon zweihundert Jahre alt war; ein beeindruckendes zweistöckiges Gebäude aus hellgrauem Stein mit hohen Fenstern und einer breiten Treppe vor dem Eingang. Ein kleiner Park und mehrere stattliche Bäume, die ihre Äste noch größtenteils kahl in den Himmel streckten, umgaben das Haus.
Der Speisesaal, in dem sie sich nun befanden, war ebenfalls prächtig anzusehen: Schimmernder Kerzenschein wurde von vergoldeten Bilderrahmen reflektiert, seidig glänzende Ornamente prangten auf der dunkelgrünen Tapete. Die Gemälde an den Wänden zeigten farbenfrohe sommerliche Landschaften, aber auch einige Portraits, sicherlich Vorfahren der Harringtons. Auf dem Esstisch befand sich ein dekoratives Arrangement – die ersten Frühlingsblumen in einer Vase, darunter eine niedrige Schale mit mehreren bunt bemalten Ostereiern und etwas Moos.
Obwohl Josephine solchen Prunk bereits aus Lady Thelmas Haus ein wenig gewohnt war, schüchterte sie es ein bisschen ein und sie kam sich fehl am Platze vor. Aber immerhin war sie nicht allein hier. Verstohlen drückte sie Constances Hand unter dem Tisch. Ihre Freundin erwiderte die Berührung, sie streichelte einen Moment lang Josephines Finger.
„Eine entzückende Idee, das mit der Verlosung”, sagte Amanda Harrington zu Lady Thelma. Die Ehefrau des Hausherrn war von mittlerem Alter, mit krausem dunkelbraunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen und zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt war. Sie hatte eine lange, schmale Nase und spitze Gesichtszüge, die ihr etwas Strenges verliehen. „Zu Ostern habe ich immer gern ein volles Haus, deshalb kam mir spontan die Idee, dass Sie noch zwei weitere Damen einladen könnten.”
Lady Thelma nickte ihr zu. „Es ist mir eine Freude.”
„Vielen Dank für die Einladung”, sagten Josephine und Constance fast gleichzeitig. Josephine musste lachen, und auch Mrs Harrington lächelte. Constance wurde ein bisschen rot und trank einen Schluck Wein.
Acht Gäste saßen an der Tafel, in ihrer besten Abendgarderobe. Neben Mrs Harrington saß das Ehepaar Bradley. Der Mann, der von drahtiger Figur war, hatte sich als Doktor vorgestellt, offenbar war er ein Arzt. Seine Frau war etwas jünger als er und hatte eine eher rundliche Figur. Sie trug zwei dekorativ floralgeformte, silberne Kämme im dunklen Haar.
Mister Harrington räusperte sich. Er war ein gutaussehender Mann von Mitte Fünfzig mit eisblauen, leicht stechenden Augen. Um die Taille war er ein wenig füllig. „Wie hätte ich meiner lieben Gattin den Wunsch abschlagen können? Sie sind uns sehr willkommen.”
Er lächelte Josephine an, oder galt sein Blick eher Constance, die neben ihr saß? Oder ihnen beiden? Sie war sich nicht sicher und lächelte vorsichtshalber zurück.
Ein junger Diener trug gemeinsam mit dem Butler den ersten Gang auf, eine köstlich duftende Suppe. Der junge Mann fiel ihr auf, da er eine gewisse Ähnlichkeit mit Constance Bruders Eddy hatte. Allerdings war sein Haar etwas heller, in dunkelblonden, kurzen Wellen umrahmte es sein Gesicht. Josephine saß neben einem Herrn, der sich als Mister Atwood vorgestellt hatte, ein Mann mit buschigen Augenbrauen, die ihm etwas leicht Finsteres verliehen. Er war ungefähr in Mister Harringtons Alter, vielleicht auch ein wenig älter.
„Sind Sie auch Unternehmer, Sir?”, erkundigte sich Josephine bei ihm, um ein wenig gepflegte Konversation zu betreiben.
„Ja, das bin ich, in der Tat. Ich bin auch in derselben Branche wie unser Gastgeber tätig, in der Metallverarbeitung.”
„Ah, heißt das, Sie sind Konkurrenten?”, fragte sie. Im nächsten Moment bereute sie diesen Vorstoß, denn vermutlich war ihre unverblümte Frage ziemlich unhöflich.
Doch Mister Atwood lachte. „Das könnte man so sagen. Aber es heißt schließlich auch, Konkurrenz belebt das Geschäft. Und was machen Sie, wenn ich fragen darf? Oder sind Sie verheiratet? Ach, nein, dann wäre Ihr Mann ja sicherlich auch hier, nicht wahr?“
Die Vorstellung, mit einem Mann verheiratet zu sein, hatte etwas sehr Befremdliches für Josephine. Aber sie konnte diesem Herrn natürlich auch nicht erzählen, dass sie seit einigen Monaten eine Lebensgefährtin hatte.„Nein, ich bin nicht verheiratet. Ich arbeite als Schriftstellerin.”
„Oh, das ist ja interessant”, sagte Harriet Atwood, eine hochgewachsene, attraktive Frau mit rotbraunen Locken, die an einigen Stellen schon grau wurden.
Erwartungsvoll blickte sie Josephine an. „Veröffentlichen Sie denn unter Ihrem Namen? Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal etwas von Ihnen gelesen zu haben.”
„Ich vermute, das haben Sie auch nicht, denn ich schreibe Heftromane. Wissen Sie, diese Geschichten, die man für wenige Pennys bekommt.”
Mrs Atwoods Lächeln verschwand. „Oh, ach so. Ich verstehe. Nein, so etwas lese ich nicht.”
Alles andere hätte Josephine auch gewundert. „Was lesen Sie denn gern?”, fragte sie.
„Lassen Sie mich kurz überlegen. Ich mag die Bücher von Mary Elizabeth Braddon sehr gern. Sie hat ja schon eine ganze Reihe veröffentlicht. Kennen Sie Das Geheimnis der Lady Audley? Das ist schon etwas älter, aber ich glaube, es ist ihr bekanntestes Werk.”
Josephine schüttelte den Kopf.
„Ich kann es sehr empfehlen”, sagte Mrs Atwood lächelnd. „Eine spannende Geschichte mit einigen kriminellen Elementen.”
„Das hört sich gut an. Danke, ich werde es mir merken“, erwiderte Josephine lächelnd. Sie freute sich immer über Buchtipps. Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über Literatur. Auch Constance, die sich mittlerweile wie Josephine gelegentlich Bücher aus der Bibliothek nahe des Ravenscourt Parks in Hammersmith auslieh, klinkte sich mit ins Gespräch ein.
Josephine erzählte von der Detektivgeschichte Eine Studie in Scharlachrot von Arthur Conan Doyle, die sie mit einigem Vergnügen gelesen und in guter Erinnerung behalten hatte.
„Ist das so etwas wie diese Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe … wie hieß die doch gleich? Irgendetwas mit einer Straße…” Mrs Atwood legte die Stirn in Falten.
„Meinen Sie die Geschichte Die Morde in der Rue Morgue? Da geht es ja auch um einen Detektiv, also insofern gibt es schon gewisse Ähnlichkeiten. Bei Mister Doyle gibt es zum Beispiel auch einen Freund des Detektivs, einen Arzt, der die Geschichte erzählt.”
„Ja, genau das war es, mir fiel nur eben der Titel nicht ein“, erwiderte Mrs Atwood. „Also ich muss ja gestehen, solche Kriminalgeschichten sind mir oft zu unheimlich. Es reicht ja schon, was man alles über Verbrechen in der Zeitung liest.”
Josephine hätte gern geantwortet, dass das Interesse der Leser an Kriminal- und Schauergeschichten dennoch hoch war. Oder vielleicht gerade deshalb? Weil man sich hier mit Schrecken, wie sie sich tagtäglich in der Welt ereigneten, in fiktiver Form und einem sicheren, geschützten Rahmen beschäftigen konnte. Wenn es einem zu viel wurde, konnte man das Buch, die Zeitung oder das Literaturmagazin schließlich jederzeit zuklappen. Auf diese Weise konnten sich Leserinnen und Leser möglicherweise auch mit eigenen Ängsten auseinandersetzen. Aber Josephine verkniff sich einen entsprechenden Kommentar, denn vielleicht hätte Mrs Atwood nicht verstanden, worauf sie hinauswollte.
„Ich bin ja der Ansicht, dass Frauen ins Haus gehören”, meldete sich Mister Harrington zu Wort, der ihrem Gespräch offensichtlich gefolgt war. „Sie sollten heiraten und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Bücher setzen den Frauenzimmern doch meistens nur Flausen in den Kopf. Aber wenn sie nebenbei noch die Zeit für eine Beschäftigung finden, wie das Schreiben – von mir aus.”
Constance räusperte sich. „Nicht jeder Frau ist es vergönnt, zu heiraten, Sir. In London gibt es gewiss tausende unverheirateter Frauen, die allen möglichen Beschäftigungen nachgehen.”
„Ja, das ist mir bekannt, aber es muss doch eine Plage für sie sein”, widersprach ihr der Hausherr.
„Warum sollte es das? Mir macht meine Tätigkeit Freude, auch wenn sie gelegentlich anstrengend ist. Und Josephine geht es ähnlich, ist es nicht so?”
Josephine nickte. „Ja, in der Tat. Ich möchte es nicht missen. Und ich möchte wetten, dass auch in Ihrer Fabrik einige Frauen arbeiten, oder?”
„Das ist wahr”, gab Mister Harrington zu. „Dennoch, mir tun diese Leute leid. Es heißt doch nicht umsonst, Frauen seien das schwache Geschlecht. Harte Arbeit ist viel zu anstrengend für sie. Außerdem werden sie öfter krank, oder schwanger, und dann können sie nicht weiter arbeiten. Männer sind robuster. So ist es doch, nicht wahr, mein Freund?” Er wandte sich an Mister Atwood.
„Nun, ich würde sagen, es kommt drauf an”, antwortete dieser. „Auf jeden Fall sollte jeder Bürger die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Und wenn eine Frau nun einmal nicht verheiratet ist, bleibt ihr ja nichts anderes übrig, als sich eine Arbeitsstelle zu suchen.”
„Trotzdem, ich finde, es ist ein Jammer”, beharrte Mister Harrington.
In diesem Moment wurde ihr Gespräch unterbrochen, da die Bediensteten das Hauptgericht, einen saftigen Braten mit allerlei Beilagen, servierten.
„Das sieht ja ganz hervorragend aus”, sagte Constance.
„Ich wette, es schmeckt auch so”, erwiderte Josephine. Sie sollte recht behalten.
Eigentlich hätte sie gern noch mit dem Hausherrn weiterdiskutiert, aber vielleicht war ein Themenwechsel von Vorteil. Schließlich wollte sie nicht gleich am ersten Abend den Ehemann der Gastgeberin verärgern, indem sie im Gegensatz zu ihm eher progressive und aus männlicher Sicht wohl unbequeme Ansichten vertrat. Deshalb lobte sie erst einmal lieber das köstliche Essen und ließ es sich schmecken.
2
Nach dem Abendessen zogen sich die Herren vorerst ins Raucherzimmer zurück, während die anwesenden Damen in einen Salon hinübergingen, in dem ihnen der junge Diener Sherry und andere geistige Getränke servierte, ehe er sich zurückzog.
Im Kamin knackte und knisterte ein Feuer. Josephine war froh über die angenehme Wärme, denn die Fahrt hierher war kalt und ungemütlich gewesen. Immerhin hatte Lady Thelma auch angesichts der strengen Witterung auf eine Kutschfahrt verzichtet, die wohl fünf Stunden oder länger gedauert hätte. Stattdessen waren sie alle mit der Eisenbahn angereist, was ihre Fahrtzeit um mehr als die Hälfte verkürzt hatte.
Die Adlige hatte darauf bestanden, die Bahnbilletts zu bezahlen. Angesichts ihrer bescheidenen finanziellen Verhältnisse hatten Josephine und Constance dieses Angebot nur allzu gern angenommen. Unterwegs hatte es fortwährend geschneit und das, obwohl es bereits Anfang April war.
Der Butler der Harringtons, Mister Abbott, hatte sie vom nahegelegenen Bahnhof mit einer Kutsche abgeholt. Eigentlich wäre das die Aufgabe des Kutschers gewesen, doch der Butler hatte ihnen berichtet, dass sich dieser ein Bein gebrochen habe und daher die Ostertage bei seiner Familie verbringen würde.
„Lebt die Familie Ihres Mannes schon lange in diesem Haus?“, erkundigte sich Josephine bei der Gastgeberin.
„Oh ja, es wurde vor rund zweihundert Jahren gebaut. Die Harringtons haben das Land hier gekauft. Sie hatten bereits damals eine Manufaktur mit Metallwaren, diese war zu jener Zeit in Wickford, also gar nicht weit von hier. Fredericks Großvater hat vor etwa dreißig Jahren die Fabrik in Chelmsford errichtet – dort waren mehr Arbeitskräfte – und im Laufe der Zeit wurde sie natürlich auch modernisiert.“
„Haben Sie eigentlich Kinder?“, fragte Constance.
Mrs Harrington lächelte. „Ja, einen Sohn. Raymond dient in der Armee, im Essex Regiment, das vor neun Jahren gegründet wurde – ein Linieninfanterie-Regiment. Er ist allerdings über das Wochenende bei Freunden, sonst wäre er auch hier. Später wird er einmal die Fabrik und das Haus hier erben. Und hoffentlich wird er es dann später seinen eigenen Kinder vermachen können.“
„Ist er denn bereits verheiratet?“, hakte Lady Thelmas Lebensgefährtin Eliza nach.
Ein Schatten huschte über Mrs Harringtons spitze Gesichtszüge, was ihr plötzlich ein düsteres Aussehen verlieh. „Nein, noch nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“ Sie hielt kurz inne. „Wären wir zu viert, könnten wir Bridge spielen. Aber was halten Sie von einer Partie Rommé?”
Josephine fühlte sich ein wenig überrumpelt angesichts des plötzlichen Themenwechsels. Mrs Harrington machte den Eindruck, als sei es ihr unangenehm, über ihren Sohn und dessen unverheirateten Stand zu sprechen. Vielleicht hatten er oder seine Eltern in dieser Hinsicht irgendetwas Trauriges erlebt? Josephine hätte gern nachgefragt, aber das stand ihr nicht zu.
„Wenn Sie so freundlich wären, die Regeln zu erklären?”, bat Constance. „Ich kenne dieses Spiel nicht.”
„Oh, das macht nichts, meine Liebe, es ist nicht schwer“, erwiderte Mrs Harrington, die mit einem Mal fast übertrieben munter klang. „Kommen Sie, gehen wir hier an den Tisch, dort ist mehr Platz.”
Sie alle setzten sich an einen großen, rechteckigen Tisch, der im hinteren Bereich des Salons in der Nähe eines Klaviers stand. Mrs Harrington holte Spielkarten aus einer Anrichte, mischte diese und verteilte sie reihum. Währenddessen erläuterte sie die Regeln. „Das Ziel des Spiels ist es, alle Karten von der Hand zu bekommen. Sie müssen dazu jeweils vierzig Punkte sammeln, zum Beispiel Zehner, Buben, Damen, Könige oder auch Straßen, die Sie dann ablegen. Außerdem müssen Sie immer jeweils eine Karte vom Stapel aufnehmen und eine ablegen.” Mrs Harrington erklärte die weiteren Details der Spielregeln, während Constance ihr konzentriert lauschte.
Josephine war froh, dass die Gastgeberin dieses vergleichsweise einfache Spiel vorgeschlagen hatte. Das machte es ihrer Freundin gewiss einfacher. Aber auch sie selbst war froh, noch einmal die Regeln zu hören, denn sie besaß kein Kartenspiel mehr, seit sie nach London gezogen war. Abgesehen von gelegentlichen Spielen in Lady Thelmas Salon kam sie nicht dazu.
Verstohlen musterte sie ihre Freundin. Constance schien das Spiel schon bald zu gefallen, ihre Wangen röteten sich. Ihre Augen leuchteten hin und wieder auf.