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London, 1889 Eine Theateraufführung im West End endet tödlich. Die Schauspielerin Fay Mannings will einen Geist gesehen haben. Nichts weiter als Humbug? Als die Groschenromanautorin und Gelegenheitsdetektivin Miss Murray in diesem Mordfall ermittelt, findet sie schon bald mehr als einen Verdächtigen ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Titelei
Inhaltswarnungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Nachwort und Danksagung
Impressum
Die mysteriösen Fälle der Miss Murray:
TheatergeistTeil 2 der „Miss Murray”-Reihe
© Amalia Zeichnerin 2018
Inhaltswarnungen zu diesem Roman
Gewalt, Mordfall, ohne dass Gewalt gezeigt wird, explizite Sexszene
1
Montag, 2. Dezember 1889
Im großen Zuschauerraum des Royal Haymarket Theaters herrschte erwartungsvolle Stille. Auch Josephine hielt unwillkürlich die Luft an. Der rote samtige Vorhang hob sich und gab den Blick auf bemalte Kulissen frei, die eine alte städtische Szenerie darstellten.
Josephine war nicht oft im Theater, doch an diesem Abend war sie einer Einladung von Lady Thelma gefolgt. Deren Freundin Eliza war unpässlich und sie wollte die bereits gekauften Karten nicht verfallen lassen. Sie hatte auch bei anderen Bekannten angefragt, die hatten allerdings keine Zeit an diesem Abend.
Ein Klassiker stand auf dem Spielplan: Die Tragödie ,Romeo und Julia’ von William Shakespeare. Der Romeo wurde dargestellt von Elizas Neffen, wie Lady Thelma Josephine verraten hatte. Entsprechend ärgerlich war es für Eliza, dass sie nun den Auftritt ihres Verwandten verpasste. Sie hätte ihn so gerne auf der Bühne gesehen. Auch das hatte Lady Thelma Josephine erzählt. Da die adlige Witwe es sich leisten konnte, saßen sie unten im Parkett fast ganz vorn und hatten einen hervorragenden Ausblick auf das Bühnengeschehen.
Ein Luxus, den Josephine sich sonst nicht leisten konnte. Zumindest nicht in Theatern im West End, wie diesem hier. Das Bauwerk hinterließ bei ihr einen Hauch von Ehrfurcht. Vor dem Eingang prangten sechs an einen römischen Tempel erinnernde Säulen mit goldglänzenden Kapitellen unter einem hohen, zweistöckigen Portikus. Im Inneren verfügte das Theater über einen geräumigen Parkettsaal, zwei Ränge und mehrere Logen. Golden glänzten die Verzierungen an Wänden, Säulen und Balustraden, während die Decke mit verschiedenen Motiven aus antiken Mythologien bemalt war – ein großflächiges Kunstwerk, das mit Sicherheit kostspielig gewesen war. Die moderne elektrische Beleuchtung sorgte für ein angenehm warmes Licht. Das alles erinnerte Josephine an einen Palast.
Ein einzelner Mann in schlichter Renaissancekleidung betrat nun die Bühne. Er trug ein schwarzes Wams, blaue Kniebundhosen, einen gewaltigen weißen Mühlradkragen und ein schwarzes Barett. Eine Frau im Publikum hustete. Der Schauspieler auf der Bühne ließ sich davon nicht beirren und sprach die ersten Zeilen hinunter zu den Zuschauern: „Zwei Häuser, gleich an Würde und Gebot, Euch in Verona unser Spiel entdeckt; Wie altem Hader neuer Hass entlohnt, mit Bürgerblut sich Bürgerhand befleckt.”
Wenig später traten jeweils zwei Bedienstete der verfeindeten Familien Capulet und Montague auf die Bühne, die sich nun gegenseitig anpöbelten.
Na, das kann ja heiter werden, dachte Josephine.
Heiter wurde das Stück keineswegs, auch wenn sich hier und da bei aller Tragik auch etwas Humor fand. Die traurige Geschichte der beiden Liebenden aus verfeindeten Familien ging Josephine ans Herz, denn den Schauspielern gelang es sehr gut, die entsprechenden Emotionen auszudrücken. An manchen Stellen war ihr deren Spiel zu theatralisch, manche Gesten wirkten aus ihrer Sicht allzu übertrieben. Aber vielleicht war diese Art des Spiels notwendig, damit auch die Zuschauer ganz hinten die Dramatik gut erkennen konnten. Auf jeden Fall legten die Schauspieler eine Menge Gefühl in ihre Darstellungen, und das galt nicht nur für die Hauptrollen, sondern auch für die übrigen Figuren.
So erntete die Amme der Julia gelegentliche Lacher aus dem Publikum. Ihre etwas schrullige Art sorgte für Humor, was sicherlich auch so beabsichtigt war. Die junge Darstellerin der Julia fiel Josephine durch ihre auffällige Gestik auf, die sehr expressiv war. Ihr herzförmiges, blasses Gesicht erinnerte sie ein wenig an eine Porzellanpuppe.
Eliza Thorpes Neffe, Greg Payton, war eine gute Wahl für den Romeo: Er hatte ein jungenhaftes Gesicht und machte sich dank seiner charmanten Art sehr gut in der Rolle des verliebten Jugendlichen, obwohl er sicherlich schon fünfundzwanzig oder älter war.
Das Schicksal von Romeo und Julia und deren zarte Liebesgeschichte, die zum Scheitern verurteilt war, rührte Josephine angesichts dieser geballten Schauspielkunst mehr an, als sie erwartet hätte. Aber das war wohl kein Wunder angesichts des tragischen Endes: Aufgrund eines Missverständnisses glaubte Romeo seine große Liebe auf ewig verloren und vergiftete sich in einer Gruft mit dem Trank eines Apothekers.
Nur wenig später kam Julia zu ihm, doch es war zu spät – sie konnte ihn nicht retten. Als sie dies begriff, zog sie seinen Dolch, denn ohne ihren Geliebten wollte sie nicht weiter leben, wie sie in einem Monolog erklärte. Wenig später lagen die beiden nebeneinander auf einem breiten Sarkophag. Das Stück endete damit, dass die beiden verfeindeten Familien angesichts dieser Tragödie miteinander Frieden schließen wollten, damit sich etwas Derartiges niemals wiederholen würde.
Verstohlen wischte Josephine sich eine Träne weg, als das Stück endete. Beide Hauptdarsteller hatten mit ihrem mitreißenden Spiel eine Glanzleistung abgeliefert, zumindest soweit sie es beurteilen konnte. Aber auch Lady Thelma, die gewiss öfter ins Theater ging, klatschte begeistert Beifall. Die Darstellerinnen und Darsteller verbeugten sich zu donnerndem Applaus. Doch einer fehlte – ausgerechnet Romeo. Auch als die Schauspieler die Bühne verließen und noch einmal für weitere Verbeugungen herauskamen, war er nicht mit dabei.
„Da stimmt doch etwas nicht”, sagte Josephine zu Lady Thelma.
In deren Gesicht spiegelte sich Besorgnis wider. „Das sehe ich auch so. Vielleicht geht es ihm nicht gut. Kommen Sie mit auf die Bühne?”
„Aber wir dürfen doch nicht einfach …”
Mit einer Geste schnitt ihr die Lady das Wort ab. „Ach was, kommen Sie. Meine Freundin ist eine Verwandte des Hauptdarstellers und ich möchte wissen, was mit ihm passiert ist.”
Hinter dem Vorhang erklang ein leiser Schrei. Josephine verspürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie folgte Lady Thelma, die über eine kleine Treppe am Bühnenrand nach oben stieg.
Währenddessen verließen die Theatergäste nach und nach den Saal. Josephine sah sich um. Einige Zuschauer deuteten zur Bühne und tuschelten, doch ein Angestellter des Theaters scheuchte auch diese Leute nach draußen.
Lady Thelma schob den Vorhang beiseite und schlüpfte hindurch. Josephine machte es ihr nach.
Der Darsteller des Romeos lag noch immer regungslos auf dem Sarkophag, umringt von einer Schar an Schauspielern und anderen Theaterleuten. Seine Gesichtshaut schien leicht gerötet.
Die Darstellerin der Julia, Fay Mannings, war in Tränen ausgebrochen und strich ihm übers Gesicht. „Als wir diese Szene gespielt haben … bevor er starb … habe ich jemanden am Bühnenzugang gesehen. Er sah aus wie ein Geist.” Ihre Stimme verlor sich zu einem Flüstern.
Josephine rann ein kalter Schauer über den Rücken.
„Wir müssen die Polizei rufen”, sagte ein älterer Schauspieler mit tonloser Stimme. „Holt jemand endlich Beerbohm-Tree und sagt ihm Bescheid? Wo steckt er denn?”
„Ich gehe ihn suchen”, sagte die Darstellerin der Amme.
„Was ist denn mit ihm?”, fragte Lady Thelma mit besorgter Miene. „Ist er ohnmächtig geworden?”
Der Darsteller des Apothekers schüttelte den Kopf. „Er ist tot. Mir ist das unbegreiflich. Wir alle dachten, er würde spielen, als er den Trank zu sich nahm. Wie immer bisher. Aber als wir uns verbeugen wollten, ist er nicht aufgestanden. Ich hab erst gedacht, es sei ein Scherz. So etwas hätte ich ihm jedenfalls zugetraut.”
„Ich habe an seiner Schulter gerüttelt”, sagte Fay Mannings. Sie klang völlig fassungslos. „Aber er hat sich nicht gerührt.”
Neben dem Leichnam lag das Trankfläschchen auf dem Boden. Josephine griff danach und roch vorsichtig daran. Es war leer, verströmte allerdings einen bitteren, stechenden Geruch.
„Riechen Sie das? Was immer da drin war, hat ihn möglicherweise das Leben gekostet.”
Lady Thelma schnupperte an dem Fläschchen. „Merkwürdig. Ich weiß nicht, was da drin gewesen ist. Ich rieche nichts.”
„Wer hat ihm das gegeben?”, fragte Josephine in die Runde und hielt das Fläschchen hoch.
„Für die Requisiten ist Mister Daley zuständig. Er hat da jeden Abend Wasser hinein gefüllt, damit Greg tatsächlich in dieser Szene etwas trinken konnte”, erklärte Fay Mannings.
Kurz darauf betrat ein Mann in einem Abendanzug mit einem weiteren Herrn die Bühne, der einen langen Mantel trug. Hinter ihnen folgten zwei Constables in Uniform. „Lassen Sie mich bitte durch, ich bin Detective Inspector Brawley”, sagte der Mann mit dem Mantel.
Die Schauspieler machten ihm Platz und er beugte sich über den Toten.
Josephine reichte ihm die kleine Flasche. „Ich vermute, er wurde hiermit vergiftet, Sir. Riechen Sie einmal daran.”
Der Detective Inspector nahm es entgegen und schnupperte vorsichtig daran. Er verzog das Gesicht. „Ich vermute, es war Blausäure darin. Die verströmt einen Geruch wie Bittermandeln. Wir werden das untersuchen. Gareth, nehmen Sie das.” Er winkte einem der Constables zu. „Und sperren Sie die Bühne ab, das hier ist ein Tatort.”
Er wandte sich an den Mann im Anzug. „Mister Beerbohm-Tree, ist für morgen Abend eine Vorstellung geplant?”
„Ja, Sir.”
„Sagen Sie sie vorsichtshalber ab. Es könnte sein, dass wir das gesamte Theater nach Spuren durchsuchen müssen.”
Mister Beerbohm-Tree wurde blass. „Wie Sie meinen, Detective Inspector”, erwiderte er zögernd.
„Gareth, lassen Sie den Fotografen kommen, wir brauchen Aufnahmen vom Tatort”, wandte sich der Detective Inspector an einen der Constables.
„Ja, Sir.” Gareth tippte an seinen Polizeihut und verließ die Bühne.
„Alle Anwesenden, die nicht zum Theater gehören, verlassen bitte die Bühne”, verlangte der Ermittler. „Fahren Sie nach Hause.”
„Kommen Sie, meine Liebe”, wandte sich Lady Thelma an Josephine. „Wir können hier nichts mehr ausrichten.”
Josephine folgte ihr zögernd.
„Oh Gott, wie soll ich das nur Eliza beibringen, dass ihr Neffe vergiftet wurde?”, fragte Lady Thelma, als sie wenig später in der Kutsche saßen. Sie fächelte sich mit ihrem Fächer Luft zu und seufzte. „Und die arme Miss Mannings. Der Tod ihres Kollegen scheint sie ziemlich mitzunehmen. Die beiden standen sich offenbar recht nah. Aber vielleicht liegt es auch einfach an der engen Zusammenarbeit bei diesem Stück? Übrigens wundert es mich, dass Sie etwas in dem Fläschchen riechen konnten und ich nicht. Was sagte der Detective Inspector doch gleich? Blausäure? Merkwürdig...“
„Ich habe einmal ein Sachbuch über Chemie gelesen, zu Recherchezwecken für eine Krimigeschichte“, fiel Josephine ein. „Darin stand, dass nur ungefähr die Hälfte bis zwei Drittel der Bevölkerung den Geruch von Blausäure überhaupt wahrnehmen kann. Ich wusste eben nicht, was ich da rieche, aber der Detective Inspector hat es ja offenbar erkannt.“
„Ah, ich verstehe. Dann gehöre ich wohl nicht zu diesem Teil der Bevölkerung.“
„Was halten Sie von Miss Mannings’ Worten, sie habe einen Geist gesehen?”, fragte Josephine.
„Ich glaube nicht an Geister, meine Liebe. Aber Eliza hat erzählt, dass in diesem Theater schon öfter Geistererscheinungen gesehen worden sind. Zumindest wenn man den Erzählungen der Theaterleute Glauben schenken darf. Aber vielleicht hat Miss Mannings tatsächlich jemanden beobachtet, wer weiß? Und ihn fälschlicherweise für einen Geist gehalten?”
„Das könnte doch auch jemand von den Bühnenarbeitern gewesen sein”, überlegte Josephine.
„Mag sein. Oder auch nicht? Wie dem auch sei, ich hoffe sehr, dass die Polizei den Täter bald überführen kann.”
„Kannten Sie Mister Payton näher?”, erkundigte sich Josephine.
„Nein, ich habe ihn zwar gelegentlich zu Gesellschaften eingeladen, da er ja der Neffe meiner Lebensgefährtin ist, und ich habe ihn schon ein anderes Mal im Theater spielen sehen, aber davon einmal abgesehen … nein, ich kannte ihn nicht besonders gut.”
Josephine kam noch ein weiterer Gedanke. „Könnte es sein, dass er sich selbst vergiftet hat?”
„Sie meinen, als Selbstmord?” Lady Thelma schüttelte ungläubig den Kopf. „Das wäre aber eine höchst ungewöhnliche Art, sich umzubringen, finden Sie nicht? Ich meine, es mag ja sein, dass Schauspieler ein exzentrischer Menschenschlag sind, aber das … während einer laufenden Aufführung? Vor all den Leuten? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Sie überlegte einen Moment lang. „Aber wie gesagt, ich kannte ihn nicht besonders gut. Ich werde mit Eliza darüber sprechen.”
Die Wohnung in der Paddenwicks Road lag in Dunkelheit, als Josephine heimkehrte. Constance, bei der sie seit Anfang Oktober hier im Stadtteil Hammersmith wohnte, war also bereits schlafen gegangen. Das war nicht verwunderlich, denn es war spät geworden und sie musste morgens früh los zu ihrer Arbeit in der Schneiderei.
Trotz der späten Stunde war Josephine hellwach; die Ereignisse hatten sie aufgewühlt. Also vertraute sie sich ihrem Tagebuch an und hielt alle Details des Vorfalls fest, an die sie sich noch erinnern konnte. Dann würde sie später nicht weiter darüber grübeln und vielleicht konnte sie etwas davon irgendwann einmal in einer Krimigeschichte verwenden…
2
Mittwoch, 4. Dezember 1889
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich Ihnen in dieser Angelegenheit weiterhelfen könnte”, sagte Josephine zu Lady Thelma. Gemeinsam mit deren Freundin Eliza saßen sie bei einer Tasse Tee im Salon der Stadtvilla in Chelsea, die Lady Thelma geerbt hatte.
Eliza räusperte sich. „Gregs Tod hat mich schwer getroffen. Wissen Sie, ich war die einzige Verwandte von ihm, die in London lebt. Der Rest unserer Familie wohnt in Manchester. Die Polizei hat noch nicht verlauten lassen, ob der Fall aufgeklärt werden konnte, obwohl sie gestern begonnen haben, sämtliche Mitarbeiter und die Schauspieler zu befragen und das Theater zu durchsuchen. Es ist wohl auch nicht auszuschließen, dass der Täter es noch auf andere Mitglieder des Ensembles abgesehen hat. Jede Tasse Tee wäre damit unter Umständen eine Gefahr…”
Josephine setzte die Tasse wieder ab, die sie gerade zum Mund führen wollte.
Eliza wandte sich an sie. „Thelma sagte mir, Sie hätten gestern festgestellt, dass der Trank, den er auf der Bühne zu sich nahm, offenbar ein Gift enthielt, das nicht jeder riechen kann.”
„Richtig, das sagte auch der Detective Inspector, der gestern Abend ins Theater kam. Er vermutete, es könnte Blausäure sein, aber das wird wohl noch genauer untersucht.” Josephine biss in ein dünnes Sandwich. „Ich bin mir sicher, die Polizei wird den Fall bestimmt bald aufklären.”
„Aber was, wenn sie nicht schnell genug sind, und der Täter noch jemanden vergiftet? Oder zu anderen Mitteln greift? Sehen Sie, jede weitere Person, die ermittelt, könnte doch hilfreich sein.”
„Und deshalb möchte ich Sie gern als Detektivin engagieren, liebe Josephine”, sagte Lady Thelma. „Sie haben uns ja neulich von Ihren Ermittlungen erzählt bezüglich dieses jungen Mannes, der entführt worden war.”Josephine musste an Eddy denken, der noch bis zum Jahresende im Gefängnis sitzen würde.1
„Die Polizei geht also von einem Mord aus? Kann es nicht auch sein, dass Ihr Neffe Selbstmord begangen hat?”, hakte Josephine nach.
Eliza verzog das Gesicht und strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn. „Thelma erzählte mir, dass Sie davon sprachen. Ich halte das für ausgeschlossen. Nach allem, was ich von Greg weiß, war er glücklich mit seinem Leben. Er war erfolgreich im Theater … und auch bei den Damen. Wobei ich über Letzteres nur wenig weiß. Es scheint, er kannte wohl mehrere Frauen, die ihn interessierten, jedenfalls hat er das mir gegenüber einmal angedeutet. Er neigte auch keinesfalls zu Melancholie2, das hätte ich gewiss mitbekommen.”
„Standen Sie einander nahe, Miss Thorpe?”, fragte Josephine.
„Nicht sehr, aber wir haben uns alle paar Wochen oder Monate zumindest für kurze Zeit gesehen und uns gegenseitig aus unserem Leben erzählt.”
Josephine nickte Miss Thorpe zu.
„Falls Sie zögern, diesen Auftrag zu übernehmen: Selbstverständlich werde ich Sie bezahlen”, erklärte Lady Thelma. „Auch für Ihren Zeitaufwand, selbst wenn Sie nichts herausfinden sollten.”
Josephine lag auf der Zunge, dass sie weder eine professionelle Detektivin war noch irgendeinen anderen Beruf erlernt hatte, der sie für eine solche Tätigkeit ausreichend qualifizierte. Doch die Aussicht, eine Bezahlung dafür zu erhalten, dass sie im Theater einige Erkundigungen einzog, war mehr als verlockend, deshalb schluckte sie die zweifelnden Worte hinunter.
„Das ist sehr großzügig von Ihnen. Aber die Leitung des Theaters wird sicherlich nicht erlauben, dass ich dort ebenfalls ermittle, schließlich bin ich nicht bei der Polizei.”
„Ich muss gestehen, mein erster Gedanke war es, einen Privatdetektiv zu engagieren”, sagte Lady Thelma. „Allerdings sind Sie eine direkte Zeugin des Mordfalls, und wer weiß, ob sich das nicht noch als hilfreich erweisen wird? Und was Ihren Einwand angeht, das wird kein großes Problem sein, schätze ich. Ich habe den Theaterintendanten, Mister Beerbohm-Tree, persönlich kennengelernt. Ein Gentleman, wie er im Buche steht. Und seine Frau Helen ist ganz reizend. Ich werde ihm schreiben und ihn bitten, Sie ebenfalls im Theater ermitteln zu lassen. Und da Sie Schriftstellerin sind, könnten Sie doch sagen, dass Sie außerdem gern in einem Theater für eines Ihrer Bücher recherchieren möchten, wie wäre das?”
Josephine überlegte. Eigentlich keine schlechte Idee…
„Schreiben Sie eventuell Schauergeschichten?”, erkundigte sich Eliza. „Greg hat mir … ich meinte, er erzählte mir mehr als einmal, dass im Royal Haymarket Theater immer mal wieder Geister gesichtet werden. Sie könnten den Schauspielern erzählen, dass Sie für eine Schauergeschichte recherchieren, die in einem Theater spielt.”
Josephine zögerte einen Moment lang. „Ja, das wäre eine Möglichkeit”, sagte sie schließlich. „Ich schreibe tatsächlich hin und wieder Schauergeschichten. Aber ich denke, wenn ich dort wirklich ermitteln soll, werde ich nicht umhin können, es den Leuten zu sagen. Sie würden sich sonst sicherlich bald wundern, warum ich so neugierige Fragen stelle, die mit dem Tod Ihres Neffen zusammenhängen.”
„Nun, ich würde sagen, warten wir ab, was der Theaterintendant zu meinem Anliegen sagt”, schlug Lady Thelma vor.
Josephine nickte. Sie rechnete allerdings nicht damit, dass dieser es ihr erlauben würde. Vermutlich hatte sich diese Angelegenheit schon bald erledigt.
Lady Thelma schlug ihr vor, dass ihr Kutscher sie nach Hause bringen könnte. Angesichts des kalten Schneeregens, der die Straßen schon seit dem Mittag mit schmutzigem Matsch überzog, und weil es bereits dunkel war, nahm Josephine dieses Angebot gern an.
Kurz darauf war sie froh, in der halbwegs warmen Kutsche zu sitzen und legte sich eine Decke über, die sie auf dem Sitz gefunden hatte. Während das Gefährt die Straße entlang rumpelte, sann sie über die Ereignisse im Theater nach. Was für ein seltsamer Mord. Dem Schauspieler ist buchstäblich seine Rolle zum Verhängnis geworden.Andererseits, wenn er nicht den Romeo gespielt hätte, vermutlich wäre er dennoch vergiftet worden. Oder hätte der Mörder zu einer anderen Waffe gegriffen? Und hatte er es möglicherweise noch auf andere Mitglieder des Ensembles abgesehen? Aber welchen Grund könnte es dafür geben? Fragen über Fragen gingen ihr durch den Kopf, auf die sie keine Antwort wusste.
Eine Dreiviertelstunde später erreichte die Kutsche Hammersmith. Trotz der Decke fröstelte Josephine mittlerweile und freute sich auf eine geheizte Wohnung. Constance war entsetzt gewesen, als sie ihr am gestrigen Tag von dem Mordfall erzählt hatte. Nun berichtete sie ihr von dem Treffen mit Lady Thelma und deren Freundin, während sie gemeinsam das Abendessen zubereiteten.
„Du sollst was?” Constance sah sie überrascht an, als Josephine den in Aussicht gestellten Auftrag erwähnte.
Josephine machte eine abwehrende Geste. „Noch ist nichts festgelegt. Lady Thelma wird dem Theaterintendanten schreiben, und dann sehen wir weiter.”„Aber hast du denn überhaupt Zeit dazu?”, erkundigte sich ihre Mitbewohnerin.
„Ich werde mir auf jeden Fall etwas zu schreiben mitnehmen, wenn ich ins Theater gehe. Ich hoffe, die ganze Angelegenheit zieht sich nicht allzu sehr hin. Aber es hat mich auf eine Idee gebracht – ich könnte tatsächlich einmal eine Geschichte schreiben, die in einem Theater spielt. Und dazu wäre es wirklich gut, vor Ort zu recherchieren. Außerdem wird Lady Thelma mich für meine Dienste bezahlen. Selbst, wenn ich nichts herausfinden sollte. Für den Zeitaufwand, sagte sie.”
„Das ist allerdings gut.” Constance nickte nachdenklich und fuhr sich über das blonde Haar. „Aber bitte, begib dich nicht in Gefahr – nicht so wie damals, als du Eddy helfen wolltest.”
Constance trat auf sie zu und legte ihr eine Hand auf den Arm. Die Berührung sandte einen kribbelnden Schauer über ihre Haut. Josephine zuckte zusammen. Vielleicht lag Constance ihr Wohlbefinden mehr am Herzen, als sie bisher geahnt hatte? Diese Aussicht war ihr nur recht, wie sie sich eingestehen musste, denn sie hatte Constance in den Wochen, in denen sie gemeinsam hier lebten, mehr als lieb gewonnen.
Josephine sah ihr direkt in die Augen. „Mach dir keine Sorgen, ich werde mein Bestes geben, Ärger zu vermeiden”, sagte sie mit Nachdruck.
Es war erst wenige Monate her, dass Constances Bruder Eddy in den West End Skandal um ein Männerbordell in der Cleveland Street verwickelt worden und dann zu allem Unglück in Gefahr geraten war. Josephine hatte ihn zwar retten können, hatte sich dabei allerdings selbst in Gefahr begeben. Eddy wiederum war kurz darauf im Gefängnis gelandet, weil einer seiner jungen Kollegen, der auch als Telegrammbote tätig gewesen war, ihn und andere verraten hatte. Noch bis Anfang Januar musste Eddy im Gefängnis bleiben, was seiner Schwester ziemlich zu schaffen machte. Wenigstens konnte sie ihn dort von Zeit zu Zeit besuchen.
Bisher hatte Josephine es vermieden, Constance zu fragen, ob sie weiterhin bei ihr wohnen konnte. Constance hatte sich die Wohnung hier in Hammersmith mit ihrem Bruder geteilt, bis er festgenommen worden war.
Sie hatte eingewilligt, dass Josephine bei ihr wohnte, zumindest bis Eddy entlassen wurde. Josephine betrachtete es als willkommene Abwechslung, nicht mehr allein zu wohnen, und sie genoss das Zusammensein mit Constance sehr.
„Hast du dir schon Gedanken um unsere Wohnsituation gemacht?”, fragte sie schließlich, während Constance den Tisch deckte.
Constance stellte einen Teller auf dem Tisch ab und sah zu ihr herüber. „Du meinst, wenn Eddy entlassen wird? Was hältst du davon, wenn er vorübergehend hier wohnt, bis er etwas Eigenes gefunden hat?”
Josephine konnte ihr Glück nicht fassen und hakte vorsichtshalber nach. „Das heißt, du möchtest weiter mit mir zusammenwohnen?”
„Ja, das möchte ich. Ich wohne gern mit dir zusammen. Außerdem …” Sie lächelte verschmitzt. „Du bist ordentlicher als mein Bruder.