17,99 €
Die sechs Jahre der so genannten Friedenszeit der nationalsozialistischen Herrschaft (1933 – 1939) sind eine der komprimiertesten, ereignisreichsten Epochen der Geschichte. Magnus Brechtken bietet einen optimierten Überblick über die wichtigsten Ereignisse, gesellschaftlichen Entwicklungen sowie über den Radikalisierungsprozess. Anhand thematisch gegliederter Kapitel zu den Bereichen Ideologie, Herrschaftstechnik, Außenpolitik, Wirtschaft und Arbeit, Rassenpolitik und Verfolgung, Vertreibung und Emigration sowie Kunst, Kultur und Wissenschaft gelingt ihm eine strukturierte Gesamtdarstellung nationalsozialistischer Herrschaft von der ›Machtergreifung‹ bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Damit legt er zugleich eine konzise Interpretation dieser Zeit vor, die vor allem auf der Analyse des Wechselverhältnisses von Machtpragmatismus und der Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie basiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2013
Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Uwe Puschner
Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Magnus Brechtken
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.
2., durchgesehene und bibliographische aktualisierte Auflage 2012© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt1. Auflage 2004Die Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Satz: Janß GmbHEinbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-24892-6
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-72647-9eBook (epub): 978-3-534-72648-6
Buch lesen
Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Geschichte kompakt
Vorwort des Autors
Vorwort zur zweiten Auflage
I. Einleitung: Nationalsozialistische Herrschaft und deutsche Geschichte
II. Hitlers Persönlichkeit und Bedeutung für den Nationalsozialismus
1. Hitlers „Weltanschauung“
2. Stufen zur Macht und charismatische Stilisierung
3. Generationenzusammenhang
4. Image und Öffentlichkeit
5. Geld und Gunst
6. Regierungsstil
7. Fazit
III. Machtfreigabe und Revolution, Etablierung und Herrschaftstechnik
1. Wahlkampf und Rolle der SA
2. „Gleichschaltung“ der Länder
3. Auflösung der Parteien und Gleichschaltung der Gewerkschaften
4. NSDAP
5. Zweite Revolution?
6. Der Tod Hindenburgs als Abschluss der „Machtergreifung“
7. Fazit
IV. Wirtschaft und Arbeit, Rüstung und Ideologie
1. Arbeitsbeschaffung und Ideologie
2. Arbeiterschaft und Arbeitskraft
3. Landwirtschaft
4. Rüstungsfinanzierung und Modernisierung
5. Industrie und Unternehmer
6. Vierjahresplan und Autarkiepolitik
7. Von der Arbeitslosigkeit zum Arbeitskräftemangel
8. Fazit
V. Gesellschaft: Propaganda, Kirchen, Erziehung, Schulen und Universitäten, Kunst und Kultur, Opposition und Widerstand
1. Propaganda
2. Nationalsozialismus und Religion
3. Katholische Kirche
4. Evangelische Kirche
5. Erziehung und Schulen
6. Hitlerjugend
7. Hochschulen
8. Frauen
9. Kunst und Kultur
10. Malerei, Bildhauerei, Architektur
11. Film und Musik
12. Opposition und Widerstand
VI. Verfolgung und Rassenpolitik, Vertreibung und Emigration
1. Der Aufbau des SS-Staates
2. Stufen der Judenpolitik
3. Auswanderung, Vertreibung und Schicksal der Juden im Wirtschaftsleben
4. Novemberpogrom und Kriegsperspektive
5. Schacht-Plan, intergouvernementale Flüchtlingshilfe und „Reichszentrale für die jüdische Auswanderung“
6. Bilanz
VII. Außenpolitik
1. Interne Strategie und öffentliche Bekundungen
2. Außenpolitische Abschirmung der „Wiederwehrhaftmachung“
3. Austritt aus Völkerbund und Abrüstungskonferenz
4. Deutsch-polnischer Nichtangriffsvertrag und Österreichfrage
5. Parallelinstitutionen der Außenpolitik
6. Militärmacht als Grundlage „politischer Macht“
7. Zwischenresümee Anfang 1935
8. Rückkehr des Saarlandes und Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht
9. Deutsch-britisches Flottenabkommen
10. Rheinlandbesetzung, Spanischer Bürgerkrieg und internationales Krisenbewusstsein
11. Hoßbach-Niederschrift und Kriegsperspektive
12. Auswärtiges Amt und Ideologisierung
13. Blomberg-Fritsch-Krise
14. „Anschluss“ Österreichs
15. Sudetenkrise und Münchner Abkommen
16. Außenpolitische Bilanz nach sechs Jahren Herrschaft
17. „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und „Hitler-Stalin-Pakt“
18. Fazit
VIII. Schlussbetrachtung: Das „Dritte Reich“, Hitler und die Deutschen
Auswahlbibliographie
Register
In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen.
(M. Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittel alters und der Neuzeit verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai BrodersenMartin KintzingerUwe PuschnerVolker Reinhardt
Die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland und ihre Folgen für Europa und die Welt gelten als das am besten erforschte Untersuchungsfeld der modernen Geschichte. Wer sich anschickt, auf knappem Raum einen verlässlich gewichtenden Überblick zu bieten, tritt neben eine Vielzahl anderer Darstellungen. Doch gerade weil die Forschung stetig voranschreitet, ist es notwendig, regelmäßig Charakter und Gepräge des „Dritten Reiches“ in einer Kombination der großen Linien mit differenzierter Detailpräzision aktuell zu resümieren. Das ist die Absicht dieses Buches.
Zugleich reflektiert es mehr als ein Jahrzehnt universitärer Forschung und Lehre, in deren Rahmen ich als Dozent in Bayreuth und München, Edinburgh und Nottingham sowie bei meinen Forschungen in Frankreich, Polen und den Vereinigten Staaten regelmäßig den historischen Ort des „Dritten Reiches“ im Kontext der deutschen und internationalen Geschichte diskutieren konnte. Die hierbei immer wieder wahrnehmbaren Schwerpunkte des Interesses sowohl auf Seiten der Studierenden wie bei vielen Kolleginnen und Kollegen hinsichtlich der Aufbereitung und Gewichtung einer solchen Zusammenschau spiegeln sich in Aufbau und Struktur der folgenden Darstellung.
Für vielfältige Hilfe, namentlich bei der bisweilen vom Ausland her schwierigen Quellenprüfung in der Schlussphase, danke ich Dr. Ralf Forsbach (Siegburg), Dr. Markus Huttner (Leipzig), Dr. Klaus A. Lankheit (München) und insbesondere Dr. Christoph Studt (Bonn), der seit nun fast zwanzig Jahren in bewundernswerter Beständigkeit freundschaftlichen Rat und mitdenkende Sympathie gewährt.
Dem zuständigen Reihenherausgeber PD Dr. Uwe Puschner (Berlin), der den Band angeregt und mit hilfreicher Sorgfalt gelesen hat, sowie dem betreuenden Lektor Daniel Zimmermann (Darmstadt) danke ich für die außerordentlich angenehme und kooperative Zusammenarbeit.
Die Wurzel des Kreativen liegt im Privaten. Frauke war wie stets anregende Stütze und ablenkende Freude, die mehr ist, als jemand erwarten darf, der sich vom „Kobold des Hervorbringens“ treiben lässt.
Dies Buch ist für Philip, der so oft warten musste, wenn sein Vater im Bemühen um Erkenntnis, Verstehen und Reflexion in die diffizile Zeitgenossenschaft der Vorfahrengenerationen abzutauchen suchte.
Wollaton Park, Pfingsten 2004
Magnus Brechtken
Für die zweite Auflage wurde der Text durchgesehen und aktualisiert; das Literaturverzeichnis ist auf den neuesten Stand gebracht. Für wichtige Hinweise danke ich Michael Grüttner, Thomas Karlauf und erneut ganz besonders Christoph Studt, dessen Rat und Freundschaft wie stets eine wertvolle Hilfe waren.
Rösenbeck, 13. Februar 2012
Magnus Brechtken
„Drittes Reich“ als Kontinuum
Der Blick auf die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland, die mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann und mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 endete, offenbart ein komplexes, zusammengehöriges Kontinuum. Gleichwohl markiert der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Zäsur, die einen separat fokussierenden Blick auf die Friedenszeit des „Dritten Reiches“ sinnvoll erscheinen lässt. Schon diese gut sechseinhalb Jahre enthüllen konturscharf die kennzeichnenden Wesensmerkmale des Nationalsozialismus – eine stetig forcierte Rassenpolitik und einen beharrlichen außenpolitischen Expansionismus –, aber sie bergen doch noch die verbreitete Hoffnung, dass dergleichen aggressive Herrschaft in Deutschland in friedlicher Weise kompatibel bleiben könnte mit den übrigen Staaten Europas. Erst mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 zerbrach auch die letzte Illusion jener, die solcherart Hoffnung über die Krisen und Konflikte der Vormonate hinweg gegen alle Erwartung bewahrt haben mochten. Wenngleich die geschichtsnotorische Erinnerung an das „Dritte Reich“ mit einer gewissen Folgerichtigkeit dominant von den ungleich monströseren Verbrechen der Kriegsherrschaft und Vernichtungspolitik in Europa geprägt bleibt, erscheint es doch angezeigt, einen erklärenden Blick auf das unterschwellige und offenbare, jedenfalls schon in den Friedensjahren angelegte Bewegungsgesetz des Nationalsozialismus zu richten, um dessen Charakteristika plastisch werden zu lassen.
Der ungekannt gewaltsam-revolutionäre Charakter und die verbrecherische Bilanz dieser zwölf Jahre deutscher Geschichte provozierten seit jeher die Frage nach dessen Ursachen und Wesen. Die Irritation darüber, dass sich ein mitteleuropäisches Kulturvolk schleichend oder im Galopp der Barbarei einer alltäglichen Willkürherrschaft teils widerwillig, teils lethargisch, teils euphorisch hingab, beschäftigte schon manche Zeitgenossen und erklärt, warum das „Dritte Reich“ inzwischen „der wohl am intensivsten bearbeitete Untersuchungsgegenstand in der modernen Geschichte überhaupt“ (Klaus Hildebrand) geworden ist.
Deutscher Sonderweg?
Auf der Suche nach Erklärungen wird bis in die Gegenwart immer wieder diskutiert, inwieweit Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert auf einem „Sonderweg“ der europäischen Geschichte geschritten sei. Dergleichen Diskussionen haben eine zweifache Perspektive. In der Tat hätten wohl viele Deutsche, die in den Jahren vor 1914 und darüber hinaus über die Rolle der eigenen Nation in der Welt nachdachten, die Frage nach ihrer nationalen Besonderheit mit innerer Überzeugung bejaht. Insofern sich also zahlreiche Deutsche sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik und dann, rassistisch übersteigert, im „Dritten Reich“ als eine „besondere Nation“ mit einer spezifischen „Sendung“ betrachteten, ist die Rede vom „positiven“ Sonderweg als verbreitetes Selbstbild zumindest bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges regelmäßig erkennbar.
Die zweite Perspektive resultiert aus dem verständlichen Bemühen, den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus zu erklären. Die These vom „negativen Sonderweg“ interpretiert die deutsche Geschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Verlassen des vermeintlich „normalen“ Entwicklungspfades, wie ihn ökonomisch ähnlich strukturierte Länder in Westeuropa, allen voran Großbritannien und Frankreich, in ihrer politischen Evolution beschritten hatten. Die gescheiterten Revolutionen von 1848 und die konstant erfolgreiche Reformfeindlichkeit des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates nach der Reichsgründung 1871 gegenüber den Forderungen nach einer Parlamentarisierung und durchdringenden Demokratisierung konstituieren in dieser Perspektive eine vielfältig angereicherte Kontinuitätslinie „von Bismarck zu Hitler“, in der Nationalismus, Obrigkeitsorientierung und Antiparlamentarismus, Militarismus und Effizienzstreben, Bürokratievertrauen und Fürsorgeerwartung, Antimodernismus und historisch mythifizierender Irrationalismus, tief wurzelnde Präferenzen für Ordnung vor Freiheit gleichsam spezifisch deutsch zur Bereitwilligkeit kumulieren, dem scheinbar all dies neuartig amalgamierenden Nationalsozialismus die Macht zu überlassen.
Argumente zur Sonderwegsdebatte
Zwei Argumente vor allem widersprechen dieser Betrachtung. Zum einen die Vorstellung, dass es einen historischen „Normalweg“ gebe, auf dem Deutschland bis zu einem gewissen Punkt, beispielsweise 1848, 1862 oder 1871, geschritten und dann abgeirrt sei, um schließlich nach 1945 auf diesen Weg zurückzukehren. In manchen Augen mag diese Interpretation insofern etwas Verlockendes haben, als sie die grundsätzliche Anlage der deutschen Geschichte hin zur liberaldemokratischen Gegenwart als das „Normale“ impliziert, freilich, indem sie das „vergangene Reich“ (Klaus Hildebrand) der Jahre 1871 bis 1945 einer gewissen generellen Stigmatisierung preiszugeben droht, bei der man fragen muss, ob sie den seinerzeit Lebenden in toto gerecht zu werden vermag.
Das zweite Argument zielt auf die in dieser Konstruktion notwendigerweise angelegte Perspektive, dass aus bestimmten Konstellationen bestimmte Folgen entstehen. Denn problematisch, weil im Grunde unerklärlich bleibt, warum Hitler im Januar 1933 zur Macht kam. Die beschriebenen Kontinuitätslinien existierten lange vorher, brachten aber weder 1923 noch 1929 Hitler an die Regierung. Die Ernennung zum Reichskanzler war keine notwendige, sondern eine aus den Intrigen einer kleinen Kamarilla gespeiste Entscheidung, die Manchen verlockend und wünschenswert erschien, aber zu keinem Zeitpunkt zwangsläufig war. Wenngleich also viele Kontinuitätslinien deutscher Geschichte in Hitlers Herrschaft zusammenlaufen und ihn auch trugen, so ist er gleichwohl nicht ihr notwendiges Produkt.
Wenn man also die Theorie eines „Sonderweges“ als Konstruktion charakterisiert, die eine bestimmte Erwartungshaltung an einen vermeintlich „normalen“ Verlauf historischer Prozesse als Maßstab impliziert, so ist das beschriebene deutsche „Sonderbewusstsein“ (Karl Dietrich Bracher) dennoch unübersehbar. Der Regierungsauftrag an Hitler hatte nach den Krisenjahren zwischen 1929 und 1932 in vielen Augen etwas Zwingend-Verlockendes, weil sein Machtanspruch über die Wahlurnen legitimiert erschien. In Zusammenschau mit den beschriebenen Traditionen sowie einem erkennbaren Hang zur autoritätsorientierten Selbstentmündigung generierte dies eine weit reichende Akzeptanzbereitschaft, die der NS-Herrschaft vielfältig erleichternd entgegenkam. Zugleich beeinflusste auch die Deutschen jene europäische Zeittendenz der Zwischenkriegsjahre, die autoritäre Regime wie Pilze aus dem fiebrigen Boden eines allgemeinen Krisenempfindens emporsprießen ließ und dazu beitrug, dass von 25 Demokratien des Jahres 1919 im Jahr 1938 nur noch elf existierten. Gleichwohl ist festzuhalten, dass dergleichen Anfälligkeit stets auch das Maß des humanzivilisatorischen Niveaus reflektiert, das eine Gesellschaft im Verlauf ihrer Geschichte als kulturelle Tradition entwickelt hatte und zu stabilisieren vermochte. Deutschland war ein wissenschaftlich, technisch, sozial und kulturell hochdifferenziertes, im Maßstab anderer Nationen in vielen Bereichen ein über Jahrzehnte führendes Land. Vor diesem Hintergrund markiert das „Dritte Reich“ tatsächlich einen Zivilisationsbruch.
Zeitgenössische Wahrnehmung
Versetzen wir uns allerdings in die zeitgenössische Perspektive des 30. Januar 1933, als Adolf Hitler als Führer der stärksten Reichstagsfraktion zum Kanzler berufen wurde, so wird deutlich, dass die meisten Menschen in Deutschland wie in Europa kaum zu ahnen vermochten, dass dieser Vorgang etwas grundlegend Anderes hervorbringen würde als die beinahe zur frustrierenden Gewohnheit gewordenen Regierungswechsel der Monate und Jahre zuvor. Gewiss, das NSDAP-Parteiprogramm präsentierte in 25 „unabänderlichen“ Punkten die Axiome der so genannten nationalsozialistischen „Bewegung“ und „Weltanschauung“, und im Vorwort seines programmatischen Werkes Mein Kampf verkündete Hitler, dass darin „das Grundsätzliche […] für immer“ niedergelegt sei. Aber die meisten Menschen rechneten darauf, dass die aggressiv-gewaltverheißende Programmatik zwar latent bleiben, die politische Wirklichkeit aber halbwegs pragmatisch und letztlich berechenbar sein würde.
Neben den problematischen Traditionen der deutschen Geschichte, die ein autoritäres Regime begünstigten – ohne dass den meisten Menschen zugleich voll bewusst war, wem sie da die Tore öffneten –, spielten auch außenpolitisch-internationale Faktoren eine gewichtige Rolle, die der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun (1872–1955) unter den Schlagworten „Versailles und Moskau“ zusammenfasste. Ohne die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des Versailler Vertrages – der je nach Perspektive zu weich war, weil er Deutschland als potentielle Großmacht intakt hielt, oder zu hart, weil er den Besiegten mit materiellen und psychologischen Bürden überlud – wäre die allgemeine Revanchegier wohl moderater und schwerer instrumentalisierbar gewesen. Und ohne die permanente Furcht vor einer kommunistischen Machtübernahme in Deutschland und der drohenden Bolschewisierung Europas wäre die Toleranz der Westmächte, namentlich Großbritanniens, für den vermeintlichen Wellenbrecher Hitler zweifellos kaum so ausdauernd geblieben. Wäre die internationale Staatengemeinschaft, wären vor allem Frankreich und Großbritannien der Hitlerschen Salamitaktik von Beginn an entgegengetreten, so hätte dessen Dynamik, wenn nicht im Keim erstickt, so doch zumindest enorm und vielleicht, was die Option zur Kriegführung betrifft, entscheidend gebremst werden können. Der Hinweis auf die internationale Situation zeigt allerdings zugleich, dass eine nennenswerte innerdeutsche Bremse gegen die Politik Hitlers mit den Jahren immer weniger erkennbar war und sich praktisch nie durchzusetzen vermochte. Es waren die Deutschen, die den Nationalsozialismus an sich mächtig machten, aber es waren auch die anderen Großmächte, die ihn international immer mächtiger werden ließen.
Faschismus – Totalitarismus – Politische Religion?Bis in die Gegenwart wird diskutiert, wie die nationalsozialistische Herrschaft am treffendsten auf einen Begriff gebracht, wie ihr Wesenskern präzise charakterisiert werden kann. Die gängigsten Begriffe interpretieren den Nationalsozialismus als „deutschen Faschismus“, als Totalitarismus oder als politische Religion. Wer sich unvoreingenommen darum bemüht, die NS-Herrschaft analytisch zu verstehen, wird feststellen, dass der Versuch, sie auf einen einzigen Begriff zu reduzieren, eine erkenntnisbehindernde Reduktion bedeutet.
Aus kommunistischer Perspektive war der Nationalsozialismus schlicht „der Faschismus an der Macht“ und bedeutete nach der von Georgi Dimitrow 1935 auf dem VII. Weltkongress der Komintern in Moskau geprägten Formel theoriegetreu „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“ Daraus folgte: „Die reaktionärste Spielart des Faschismus ist der Faschismus deutschen Schlages.“ Auch ein weniger orthodoxer Faschismusbegriff bietet in der Anwendung auf den Nationalsozialismus einen vergleichsweise begrenzten Erkenntnisgewinn. Zu groß waren bei Lichte betrachtet die Unterschiede zwischen der Diktatur Mussolinis oder anderer ähnlicher „faschistischer“ Regimes und der Herrschaft Hitlers in Deutschland und dann in Europa, wobei die genuine Differenz nicht allein, aber vor allem in der gezielten und systematischen nationalsozialistischen Massenvernichtung identifizierbar ist.
Der Begriff Totalitarismus liefert mit seinen weitgehend formalen Kriterien – offizielle Ideologie, Massenpartei, Kontrolle der Massenkommunikationsmittel, terroristische Polizeimaßnahmen und Geheimpolizei, Waffenmonopol, Kontrolle bis hin zur zentralen Lenkung der Wirtschaft (Carl J. Friedrich), ergänzt durch revolutionäre Dynamik, totalen Herrschaftsanspruch, Führerprinzip, Fiktion der Identität von Herrschern und Beherrschten (Karl Dietrich Bracher) – einen höheren Gegenwert analytischer Erkenntnis und ermöglicht nicht zuletzt, die entscheidenden Differenzen zwischen Demokratie und Diktatur herauszupräparieren. Allerdings fokussiert der hochgradig formale Totalitarismusbegriff auf die Analyse der Herrschaftstechnik, während er sozioökonomische Antriebe, mentale Dispositionen und politische Ziele vernachlässigt.
Die Interpretation des Nationalsozialismus als politische Religion rekuriert vor allem auf religionssoziologische und religionspsychologische Kategorien, in denen etwa die Adaption liturgischer Elemente, Masseninszenierungen und Rituale, eine auf Initiation und Berufung fußende Auserwähltheitsprogrammatik mit Heilsversprechen und Heilserwartung bis hin zur „Vergöttlichung“ des „Führers“ als „Erlöser“ in das Zentrum gerückt werden. Demgegenüber bleiben die Techniken des Machterwerbs, der Machtdurchsetzung und Machtbehauptung unterbelichtet.
Eine undogmatische Offenheit des Betrachters eröffnet in der Zusammenschau dieser und weiterer analytischer Zugriffe ein sich ergänzendes Bild von Machttechnik und Mentalität, Terror und Tradition, Gewalt und Gesinnung, Folgsamkeit und Verführung, das für ein Verständnis der Komplexität der NS-Herrschaft, ihrer Beweggründe, Funktionsweisen und Ziele unerlässlich erscheint.
Hitler und Satrapen
Wenn im Folgenden vom NS-Regime die Rede ist, so stets eingedenk von Hitlers Rolle und Funktion im Zentrum des Herrschaftsprozesses, um den, je nach Politikbereich, ein Kreis wechselnd einflussreicher Männer der zweiten Reihe zu identifizieren ist: von Hermann Göring und Joseph Goebbels über Rudolf Heß und Martin Bormann, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich bis zu zahlreichen Gauleitern und „Beauftragten des Führers“. Für jeden dieser NS-Partialherrscher lässt sich eine Kurve seines Einflusses und seiner Wirksamkeit zeichnen. Göring beispielsweise steigerte seine Macht vom Tag des Regierungsantritts kontinuierlich über seine Funktion als preußischer Innenminister, Ministerpräsident und Reichsluftfahrtminister bis zu seiner Rolle als „Beauftragter für den Vierjahresplan“, die ihn mit den Vollmachten eines Quasi-Wirtschaftsdiktators auf den Höhepunkt seiner Macht führte. Von hier fiel er mit Kriegsbeginn angesichts der vielfältigen unbeherrschten Probleme in seinem kaum mehr überschaubaren Verantwortungsbereich wieder ab und wurde von anderen, effizienteren „Helfern“ Hitlers wie Albert Speer (1905–1981) so verdrängt, wie Göring selbst einst Hjalmar Schacht verdrängt hatte. Die Karriere Heinrich Himmlers ist hinsichtlich seines Machtzuwachses wohl die steilste – er avancierte vom Anführer einer wenige hundert Mann starken Truppe zum Kommandeur eines effizient Macht raffenden SS-Korpus von mehreren hunderttausend Köpfen.
Gleichwohl ist kaum vorstellbar, dass eine dieser Figuren der zweiten Reihe für sich allein genommen in der Lage gewesen wäre, genügend Macht zu akkumulieren und eine Gefolgschaft zu sichern, mit der das Reich zu regieren gewesen wäre. Göring war ob seiner vordergründigen Jovialität ein beliebter Politiker, aber weder stand seine Treue zu Hitler jemals in Zweifel noch wurde er aus seinen eigenen politisch-ideologischen Vorstellungen heraus wohl zu jenem Vabanquespiel um Weltmacht oder Untergang angetrieben, wie es bei Hitler der Fall war. Himmler verfügte mit den Jahren über immer mehr Machtinstrumente, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu kontrollieren. Zugleich war er selbst höchst unpopulär, und es erscheint zutiefst fraglich, ob ihm eine Herrschaft aus eigener Kraft möglich gewesen wäre – und Ähnliches gilt für alle anderen Exponenten der Clique um Hitler.
Komplexität des „Dritten Reiches“
Schließlich ist zu betonen, dass alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens im „Dritten Reich“, wie sie im Folgenden dargestellt werden, selbstverständlich vielfältig miteinander verwoben waren. Die Differenzierung der folgenden Kapiteleinteilung dient allein der analytischen Transparenz und sollte sich bei der Lektüre, in der Zusammenschau des Gesamttextes, zu einem detaillierten, gleichwohl konturscharfen Bild nationalsozialistischer Herrschaft formen, der viele Deutsche erlagen, der sie willig folgten, die sie lange tatkräftig, ja euphorisch unterstützten, und bei der dennoch die Vielen oft nicht erkannten, was ihnen eigentlich geschah.
Millionen Deutsche waren überzeugte Nationalsozialisten; sie „glaubten an Hitler“, wie Reichsjugendführer Baldur von Schirach (1907–1974) später schrieb. Sie trugen und gestalteten das „Dritte Reich“ und handelten im Dienst der immer radikaleren Ziele, die vor allem in den Kriegsjahren sichtbar wurden. Deren Kernelemente – vor allem die Rassen-, Rüstungs- und Expansionspolitik waren schon in den Friedensjahren angelegt – stehen im Mittelpunkt der weiteren Darstellung.
Zentrale Bedeutung Hitlers
Adolf Hitler war der Anfang und das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Ohne ihn wäre seine Partei nicht in dieser Form an die Macht, wäre das „Dritte Reich“ so nicht ins Leben gekommen. Ohne ihn hätte es keine unbeirrte, ja stringente Politik zum Krieg, keinen permanenten, perspektivisch grenzenlosen Willen zur territorialen Expansion bis hin zum Vabanquespiel um Weltmacht oder Untergang, keine Politik des „Rassenkriegs“ mit millionenfachem Menschenmord gegeben.
Zugleich war Adolf Hitler nichts ohne die nach hunderttausenden zählenden Anhänger und Millionen Wähler, die seit Ende der zwanziger Jahre in freien Abstimmungen immer wieder für ihn und seine Partei votierten, die ihn 1932 mittels Straßenradau und Wahlurne vor die Tür der Reichskanzlei trugen, wo ihn eine kleine Clique sich selbst überschätzender konservativ-nationalistischer Türsteher um den senilen Reichspräsidenten Hindenburg schließlich nach langem Zögern am 30. Januar 1933 einließ. Wäre Hitler nicht auf die Bereitschaft vieler Deutscher gestoßen, seinen Versprechungen und Imaginationen in partieller oder weit reichender Übereinstimmung zu folgen, es hätte das „Dritte Reich“ nicht gegeben. Aber es sei wiederholt: Hätte es Hitler nicht gegeben, dann wohl auch nicht dieses „Dritte Reich“. Es erscheint angebracht, diese doppelseitige Perspektive so explizit zu betonen, um den bisweilen wahrnehmbaren Eindruck zu vermeiden, man könne das eine ohne das andere denken – das „Dritte Reich“ ohne Hitler oder Hitler ohne das millionenfache Mitmachen der Deutschen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!