Die Rache der Schildkröten - Sophie Reyer - E-Book

Die Rache der Schildkröten E-Book

Sophie Reyer

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Beschreibung

Poetisch und einfühlsam – ein spannender Mystery-Thriller nicht nur für Jugendliche! Die vierzehnjährige Chris und ihr Vater sind in ein Dorf im Burgenland gezogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Denn Chris hat bei einem tragischen Unfall ihre beste Freundin Maria verloren. Der Alltag überdeckt zunächst die Wunden. Doch bald schon kommt Chris ein unheimlicher Verdacht: Trägt sie die Schuld an Marias Tod? Sie beschließt, herauszufinden, was an jenem Tag wirklich geschehen ist – und macht eine Entdeckung, die ihre schlimmsten Albträume wahr werden lässt ... "Die Dichterin mit dünner Haut, die schreiben will, muss und auch kann. Irgendwann wird sie beim Bachmann-Preis lesen." Christof Huemer - Journalist, Autor und Regisseur

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Titel

Sophie Reyer

Die Rache derSchildkröten

Roman

TEIL 1

1.

Frühjahr 2015

„Chris!“

Da ist eine Stimme.

Leise, behutsam.

Sie erinnert an den Wind, der durch die Blätter eines Baumes fährt. Oder ist es nur Wind?

„Chris!“

Ich kenne diesen Klang, aber ich habe kein Gesicht dazu. Wo bin ich überhaupt? Ist es morgen? Ist es Nacht? Welche Uhrzeit haben wir? Es muss spät sein, oder sehr früh. Auf jeden Fall umgibt mich Dunkelheit. Warum macht keiner das Licht an? Meine Augenlider sind schwer, in meinen Fingern ist kein Gefühl.

„Chris!“

Ich möchte antworten, möchte sagen, dass ich da bin, aber mein Hals fühlt sich trocken an, und die Zunge kommt mir groß und fremd vor. Es riecht nach Moos und Asphalt, eine seltsame Kombination. Ich gebe mir einen Ruck. Endlich gehorchen die Lider. Ein Gesicht hat sich über mich gebeugt. Es wiederholt noch einmal meinen Namen.

„Chris!“

Ich möchte nicken, aber mein Kopf fühlt sich an wie eingemauert. Was ist geschehen? Wo liege ich?

Das Gesicht über mir spuckt Worte aus, die sich leise und dumpf anhören. Alles ist in Watte gebettet. Bin ich in einem schlechten Film gelandet? Der Mann erinnert mich an eine Comicfigur. Ich möchte lachen, aber als ich einatme, spüre ich einen stechenden Schmerz in der Leiste.

„Du hattest einen Unfall.“

Warum gelingt es mir nicht zu nicken?

„Wir nehmen dich jetzt mit ins Krankenhaus.“

Woher weiß der Mann meinen Namen? Ich habe keine Antwort. Seine breiten Hände greifen nach mir. Das Stechen in der Leiste schwillt an.

Wo ist Maria?

Und Papa?

Und warum liege ich neben einer befahrenen Straße?

Ich kann Blätterwerk erkennen, als sie mich auf die Trage legen. Der Himmel ist ein wenig grau. Welche Jahreszeit haben wir? Ich bin unendlich traurig, und dann werde ich müde.

Es dauert nicht lange, da legt die Dunkelheit wieder ihr Zelt über mich. Ich kann ihr nicht widerstehen. Das Auto ruckelt ein wenig. Der Rhythmus beruhigt mich. Ich schlafe ein.

2.

Es war früh am Morgen. Ihre Lider fühlten sich noch ein wenig schwer an. Hinter dem Autofenster raste die Schilflandschaft vorbei. Pa hatte das Fenster ein Stück heruntergekurbelt, er hörte Radio und sang laut und falsch mit. Hit me, Baby, one more time. Chris schämte sich ein wenig. Es war ihr peinlich, dass ein erwachsener Mann sich aufführte wie ein Teenager. Sie durfte das – sie durfte sich Pickel ausdrücken, BHs kaufen und laut Musik hören. Aber Pa? Es kam ihr, wenn er sang, immer so vor als ob er versuchte, sie zu beeindrucken. Nur leider half das nicht.

Gerade stieg die Sonne aus dem Erdboden in die Höhe, und Chris musste an einen Cowboyfilm denken. Es kam ihr so vor, als würden Pa und sie der Sonne entgegenreiten. Nur dass Pa nicht so attraktiv war und keinen besonderen Hut trug, an dem ein Lederriemen baumelte.

„Woran denkst du?“, wollte Pa auf einmal wissen.

„So was fragt man nicht“, antwortete Chris ruppig.

„Warum nicht?“

„Weil es komisch ist. Warte, es gibt ein Wort dafür.“

Sie hatten eine kleine Landstraße erreicht und Pa bog links ab, indem er das Lenkrad herumriss. Chris verdrehte die Augen. Sie wusste, dass er versuchte, sie zu beeindrucken. Schließlich fiel ihr das Wort ein.

„Indiskret“, sagte sie und grinste.

Pa nickte anerkennend.

„Habt ihr das im Deutschunterricht gelernt?“, wollte er wissen.

Chris schüttelte den Kopf.

„Das hab ich aus einer Talkshow, glaube ich“, murrte sie.

Aber Pa hörte nicht mehr richtig zu. Der Weg war steinig, Staub stieg in die Höhe, das Auto holperte ein wenig. Das Licht war honigfarben, und am Horizont tauchte schließlich eine alte Villa auf.

„Aus welchem Hollywoodfilm stammt denn diese Villa?“, meinte Chris und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Pa zog eine Augenbraue hoch.

„Du siehst wirklich zu viel fern“, behauptete er.

Pa parkte das Auto in der Einfahrt vor der Villa.

Mit ihrer weißen Wollmütze auf dem Kopf stieg Chris aus.

Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie schritt mit andächtigem Blick die Allee entlang. Diese Villa war also der Ort, an dem sie von jetzt an leben würden. Auf einmal sah Chris einen weißen Schatten, der zwischen den Bäumen umherhuschte.

„Maria?“

Chris wusste, dass sie es nicht sein konnte, doch für einen Moment hatte sie ihr Gefühl für die Realität verlassen. Sie trat einen Schritt auf die Bäume zu, aber als sie genauer hinblickte, war da nur Dickicht. Einen Moment lang stand Chris bewegungslos da. Dann packte Pa sie ein wenig rau an der Schulter.

„Zieh die Hose hoch“, mahnte er.

Chris zuckte mit den Achseln und tat ohne eine gewisse Coolness, was er ihr befohlen hatte. Warum musste Pa immer so tun, als wollte er in sie hineinkriechen? Seit dem Unfall war er wirklich unausstehlich, dachte Chris und seufzte.

Dann schritten sie die Allee entlang. Pa ging langsam neben Chris her. Chris zog die Mütze noch ein bisschen tiefer in die Stirn. So konnte man ihre Pickel über den Augenbrauen nicht sehen und wusste nicht sicher, ob sie ein Junge oder ein Mädchen war.

Chris war ein kleiner Tomboy. Sie trug ihr Haar kurz, fransig und schwarz gefärbt. Außerdem puderte sie sich manchmal gerne die Haut weiß. Sie trug am liebsten Hüfthosen, darunter Boxershorts. In der Schule nannte man sie „Vampir“, und sie war auch ein Vampir. Zumindest tat sie gerne so.

„Nimm doch die Mütze ab, Chris“, sagte Pa.

Chris ignorierte gekonnt seinen Befehl; darin war sie geübt. Es reichte, dass sie sich die Hose über die Hüften gezogen hatte.

„Amy hat sich wirklich bemüht“, hörte sie den Vater murmeln, als sie vor dem großen Haus ankamen. Die breiten Flügeltüren wirkten gespenstisch. Sie waren aus Messing, konnte Chris erkennen. Den Eingang der Villa zierten zwei Löwenstatuen aus Stein.

Pa kramte in der Hosentasche nach einem Schlüssel und schloss die Tür auf. Mit einem knirschenden Geräusch öffnete sie sich.

Chris starrte einen weiten Gang entlang. Mit einem Mal hatte sie ein bisschen Angst.

„Was magst du dir denn zuerst anschauen?“, fragte Pa und legte die Hand auf Chris‘ Unterarm. Sie schauderte ein wenig. Atmen, hatte die Psychotante gesagt. Sie atmete tief ein und aus. Alles würde gut werden. Bestimmt. Sie würde hier ein neues Leben anfangen.

„Sag mal, alles in Ordnung?“, fragte Pa und sah sie mit einem besorgt bärigen Blick an. Chris seufzte und drehte den Kopf ein wenig zur Seite.

„Wie wäre es mit den Leichen im Keller? Die würd ich gern zuerst sehen!“, meinte sie ruppig, aber ihre Stimme zitterte ein wenig dabei. Pa schüttelte den Kopf.

„Du guckst zu viele Gruselfilme, Chris“, sagte er.

Auf einmal fiel die Tür ins Schloss. Chris merkte, dass sie zusammenzuckte. Beschämt senkte sie den Blick.

„Es war alles ein bisschen viel für dich dieses Jahr, oder?“, meinte Pa auf einmal und wollte nach ihren schmächtigen Schultern greifen. Sie wich aus und blickte an seinem Ohrläppchen vorbei.

„Vielleicht gehen wir jetzt einfach mal in mein Zimmer?“, schlug Chris vor und biss sich leicht auf die Unterlippe.

„Ja.“

Sie gingen einen langen Gang entlang. Der Boden knirschte unter Chris‘ flachen Converse. Wieder zuckte sie bei jedem Geräusch ein wenig zusammen. Die Ärzte meinten, dass das von einem Schock käme. Sie hatte nämlich einen Unfall gehabt, vor einigen Monaten. Sie schob die Gedanken zur Seite, wollte nicht daran denken. Dass sie sich schonen müsse, sich nicht überfordern dürfe, hatte die Ärztin ihr gesagt. Nur manchmal überfielen sie Alpträume, dann schreckte Chris aus dem Schlaf und es kam ihr vor, als wäre in ihrem Herzen ein Riss. Aber das sagte sie keinem. Auch nicht dem Vater. Chris öffnete eine Holztür und blickte in einen kleinen, hellen Raum. Das Zimmer sah erstaunlich freundlich aus im Vergleich zum Rest der Villa. Hinter dem Fenster rauschten die Wipfel eines Baumes. Chris lächelte. Die Farbe der Blätter gefiel ihr. Auch die Wände hatten eine angenehme Farbe, sie waren in pastellfarbenem Blau gestrichen. Sie stieß einen Pfiff aus.

„Wer auch immer hier gewohnt hat, hatte keinen schlechten Geschmack“, sagte sie anerkennend. Dann drehte sie sich um und konnte erkennen, dass Pa lächelte. Sein Bart war wieder ein wenig struppig. Igel hatte sie den Vater früher immer genannt, als sie noch gerne mit ihm im Bett gelegen und ihre Nase gegen seine Wangen gestupst hatte vor dem Einschlafen.

„Du schaust schon wieder aus wie ein Penner“, meinte Chris. „Gut, dass Amy bald kommt.“

„Ich geh und hol mal deine ersten Sachen“, sagte Pa und wirkte so, als würde er sich ein bisschen schämen. Chris nickte und ließ sich auf das Bett plumpsen. Sie betrachtete ihre eigenen Zehenspitzen.

Chris.

Schon wieder diese Stimme, die sie aufzucken ließ. Chris atmete schwer auf. Da war wieder dieses Loch im Kopf, das mit einem unangenehmen Gefühl einherging. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen.

„Du musst alles aufschreiben“, hatte die Psychotante ihr geraten.

Es war alles viel gewesen. Zuerst ihr Unfall und dann auch noch der Tod ihrer Freundin Maria. Und in Chris‘ Kopf gab es seitdem eine dunkle Stelle. Das Einzige, was in dieser Lücke Platz hatte, war diese Stimme. Aber Chris war sich nicht sicher, wem sie gehörte. Sie klang wie Blätterrauschen. War es Marias Stimme?

Maria ist tot, dachte Chris, aber sie fühlte nichts dabei.

„Du musst deine Träume aufschreiben“, hatte die Therapeutin ihr außerdem gesagt. „Stück für Stück wirst du Erinnerungen haben, und du kannst sie zusammenbauen wie ein Puzzle, bis am Ende ein vollständiges Bild entsteht.“ Chris kramte in der Hosentasche und zog einen Zettel heraus. „Stimme“, hatte sie mit Filzstift darauf gekrakelt. Das war ihre erste Erinnerung. Sie fühlte sich jetzt wirklich wie ein Pirat, einer, der von Gedankeninsel zu Gedankeninsel segeln muss, um die verlorenen Erinnerungen wieder einzusammeln. In dem Moment drangen Geräusche vom Flur herein. Chris bekam Angst, aber es war nur Pa, der mit einem Karton in der Hand ihr Zimmer betrat. Das Mädchen lächelte und stand auf.

„Danke, Alter“, meinte sie bemüht ruppig.

Pa zwinkerte Chris zu. Seit sie dieses Loch im Kopf hatte, durfte sie sich viel mehr leisten.

„Da ist noch was“, meinte er.

„Aha.“

„Von Amy.“

Chris zog eine Augenbraue hoch. Amy war seit drei Jahren Pas neue Freundin. Chris mochte sie, denn sie behandelte sie weniger rau als Pa.

„Und wo?“

„Im Garten“, erklärte Pa.

„Warum gibt mir Amy ihre Geschenke nicht selbst?“, entgegnete Chris.

„Sie kann erst Ende der Woche vorbeikommen, weißt du doch“, sagte er.

„Also? Kommst du mit und siehst dir dein Geschenk an?“

Chris stöhnte leise und ließ die Schachtel mit ihren Schätzen auf dem Schreibtisch neben ihrem Bett stehen. Mit bemüht breiten Schritten folgte sie dem Vater in den Garten. Die Sonne stach ihr ein wenig ins Gesicht, als sie wieder nach draußen trat. Mit einem Mal kam sie sich vor wie ein Vampir. Sie seufzte. Mit Maria hatte sie sich zu den Faschingsfeiern immer als Vampir verkleidet, fiel ihr ein. Chris rieb sich kurz die Stirn und musste blinzeln, bevor sie dem Vater folgen konnte. Der Garten war verwildert, und in der Mitte des verwachsenen Hofes konnte Chris einen Ziehbrunnen erkennen. Sie musste wieder an die Großmutter denken, die sie seit deren Streit mit dem Vater nicht mehr sehen durfte. Wie gut sie gerochen und wie weich sie sich angefühlt hatte.

Als Chris dem Vater ein wenig weiter gefolgt war, erkannte sie unter einer der Fichten, die neben dem Haus wuchsen, einen Karton. Sie bückte sich und öffnete die Schachtel. Was das sein konnte? Ein neuer iPod vielleicht? Chris hob den Deckel ein wenig an. Sie zögerte noch. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass Pa lächelte. Als sie den Deckel öffnete, blickte sie etwas Rundes an, das auf den ersten Blick aussah wie ein Hamburger.

„Ein Big Mac?“, meinte Chris grinsend, aber ihre Augen wurden feucht. Sie griff nach dem harten Gehäuse und hob das Tier in die Höhe. Es war eine Schildkröte. Ihr Lieblingstier. Diese Liebe hatte sie übrigens mit Maria geteilt. Maria, die jetzt tot war. Das Tier reckte den Kopf ein wenig aus dem Gehäuse, sein Hals war faltig. Chris lachte.

„Wie schön du bist“, sagte sie zu der Schildkröte.

„Ich wusste, sie gefällt dir“, meinte Pa.

„Wer sagt, dass es eine sie ist?“, entgegnete Chris und beobachtete, wie die Schildkröte mit ihren stumpfen Zehen in der Luft ruderte.

„Penelope wäre doch ein schöner Name“, schlug Pa vor.

„Was für ein Blödsinn“, entgegnete Chris. „Sie heißt Dracula.“

Pa murrte.

„Geht das schon wieder los?“

„Was geht los?“

„Komm schon, das ist doch keine Fledermaus.“

„Vampire sind auch keine Fledermäuse. Außerdem: Maria hätte es gefallen“, antwortete Chris, denn sie wusste, dass Pa nichts mehr sagen würde, sobald sie mit Maria käme. Tatsächlich zuckte er die Achseln.

„Vergiss nicht, Amy anzurufen und dich bei ihr zu bedanken“, sagte er nur und wandte sich ab.

Chris murrte etwas und stand auf. Das würde ihre erste Nacht in diesem Haus sein. Und sie würde mit einer Schildkröte an ihrer Seite einschlafen und vielleicht eines der Wörter träumen, die ihr helfen konnten, das Puzzle zusammenzusetzen, dachte Chris. Sie drückte Draculas harten Körper an sich und ging ins Haus.

Kaum war sie an ihrem Schreibtisch angelangt, klappte sie ihren Laptop auf. Tatsächlich, sogar in diesem Kaff gab es einwandfreien Internetzugang. Chris tippte: www.facebook.com Das Netz lud sogar recht schnell, stellte sie erstaunt fest. Sie loggte sich ein: Chris Balle. Passwort: Dracula. Sie lächelte. Zwei neue Nachrichten. Sie klickte sofort auf das Sprechblasenzeichen und las. „Hej, ich hoff, du bist gut angekommen, Sweetheart“, schrieb Melanie. Und „Hi, i am Rosa Come from Nigeria. I would like to …“

Chris hörte sofort wieder auf zu lesen. Immer diese Anfragen von Unbekannten, dachte sie und verdrehte die Augen. Sie löschte die Nachricht sofort. Sie wollte keine Kontakte zu Fremden. Am liebsten war es ihr, wenn man sie einfach in Ruhe ließ. Aber das schien wohl niemand zu verstehen. Vor allem Pa nicht. Chris klickte sich zurück zu Melanies Nachricht und starrte die Lettern an. Dann das Profilbild. Melanie. Sie war immer die zweite Wahl gewesen, die, die ihr neben Maria am nächsten stand. Ein etwas molliges Mädchen mit Rastalocken und Brille. Jetzt hätte Chris ganz gern mit ihr gequatscht, weil sonst niemand da war.

„Na ja, ich leb jetzt in einer Spukvilla. Lol“, tippte sie und starrte auf das geöffnete Chatfenster. Neben Melanies Profilbild leuchtete kein grüner Punkt, aber vielleicht war sie ja trotzdem online, heimlich, und wollte sich nicht von irgendwelchen Typen anschreiben lassen. Chris wartete. Unter ihrer Nachricht erschien keine Lesebestätigung. Sie seufzte. Anrufen war dumm, da konnte man die Stimme zittern hören und so einen Scheiß. Na ja, dann nicht, dachte Chris. Melanie. Sie blickte das Profilbild an. Ein schickes Selfie, an dem man nicht erkennen konnte, wie mollig Melanie war. Man sah nur ihre großen Augen und das Rastahaar, das in alle Richtungen stand. Auch die Brille hatte Melanie abgenommen, und sie war leicht geschminkt. Wann würde sie sie wiedersehen? Dann wanderte ihr Blick zur Seite und sie sah es. Marias Bild. 123 Friends, stand darüber. Marias Foto war das dritte von links. Sie nannte sich auf Skype Vampyrella, auf dem Foto war sie im Gothic-Style geschminkt. Man konnte ihr noch eine Nachricht schicken. Obwohl sie schon tot war. Chris fand das alles sehr seltsam. Sie seufzte. Dann fuhr sie den Rechner herunter und zog die Decke über den Kopf.

3.

„Alles okay?“, wollte Pa wissen. Chris, die auf dem Rücksitz des Autos saß und ihre Tasche an sich drückte, sah ihm nicht in die Augen. Sie tat so, als würde sie eine SMS in ihr Handy tippen und nickte. In Wahrheit gab es aber niemanden, dem sie im Moment schreiben konnte. Weil Maria weg war. Trotzdem: Es half, so zu tun, als wäre man beschäftigt.

„Du wirst bestimmt schnell neue Freunde finden“, meinte er aufmunternd. „Sei ein tapferer Pirat. Sei stark.“

Chris verdrehte die Augen. Immer behandelte Pa sie, als wäre sie ein Küken, das er mit seinen Flügeln erdrücken wollte. Dabei war sie doch längst 14! Es war nicht einfach. Sie war keine schlechte Schülerin, das wusste Chris. Aber seit das mit Maria passiert war, hatte sie einfach zu nichts mehr wirklich Lust. Und am allerwenigsten auf diese komischen Kids auf dem Land. Chris spielte ein wenig mit dem Reißverschluss ihrer Jacke. Dann erhob sie sich seufzend. Warum die Erwachsenen auch immer ihr Wissen raushängen lassen müssen, dachte sie. Als Chris ausstieg, fiel ihr auf, dass Pas Auto das einzige war, das vor der Dorfschule hielt. Sie spürte, wie Röte ihre Wangen hochkroch. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Pa ihr mit leicht glitzernden Augen nachsah. Sie schien seinen Blick förmlich im Rücken zu spüren, während sie den Weg entlangging und ins Schultor einbog. Hatte er vor Marias Tod auch schon so besorgt hinter ihr dreingeblickt? Chris konnte sich nicht erinnern, dass Pa sie jemals in die Schule gebracht hatte. Es war peinlich. Als wäre sie eine Art komisches Insekt, ein seltsamer Freak, so kam sie sich vor. Sie versuchte, nicht an die Leere in ihrem Kopf zu denken, die manchmal über sie schwappte. Seit dem Unfall passierte es oft, dass Chris nach hinten kippte und sich nicht mehr bewegen konnte.

„Trauma“, hatte die Psychotante gesagt. Aber was halfen diese intelligenten Worte und Begriffe der Erwachsenen schon? Das Gefühl blieb dasselbe.

„Cool bleiben“, sagte sich Chris und schlenderte mit eingezogenen Schultern auf das Gebäude zu. Es war tatsächlich eine Dorfschule. Nicht so ein riesiger Betonklotz wie der, den sie in der Stadt immer aufgesucht hatte, nein: Bei der Dorfschule handelte es sich um ein kleines, weiß verputztes Häuschen mit Schindeldach. Alles sah gemütlich und freundlich aus. Ein wenig eng und gedrungen. Aber das nahm Chris komischerweise nicht die Angst. Sie ging die Treppen hinauf. Am ersten Schultag war es wohl das Beste, die Schildkröte zu spielen. Chris beneidete Dracula darum, dass sie alle ihre Glieder und auch ihren Kopf in sich selbst zurückziehen konnte. Sie hätte auch gern immer ihr Haus bei sich gehabt. Sie zog die Mütze ein wenig tiefer ins Gesicht und blickte konzentriert auf den Boden, um nicht aufzufallen. Sie bemühte sich, so normal wie möglich zu erscheinen. Schließlich war sie genau so groß wie die anderen, trug Jeans und Converse und einen Rucksack von Nike. Sie konnte doch nicht auffallen. Oder? Aber Chris würde schon noch erfahren, wie das in so einem kleinen Dorf war.

„Du bist die Neue, stimmt‘s?“

Chris drehte den Kopf zur Seite und sah in das Gesicht eines Mädchens, dessen Lippen sinnlich gewölbt waren. Sie trug einen schwarzen Rock, das lange Haar hing in ihr sommersprossiges blasses Gesicht, die Augenbrauen waren mit Kajalstift nachgezogen. Das Mädchen hatte die Hände in einem Ledermantel vergraben, der bis zu ihren Knöcheln reichte.

„Was starrst du denn?“, fragte das Mädchen.

„Woher weißt du, dass ich die Neue bin?“

Das Mädchen zog eine Augenbraue hoch.

„Du kommst aus der Stadt, richtig?“

Chris spürte, wie sie rot wurde. In ihren Handflächen sammelte sich Schweiß. Nur nicht schwitzen jetzt, dachte sie. Sie zog die Kappe vom Kopf. Das Mädchen lächelte und sah dabei nicht unfreundlich aus.

„Ich bin Jutta“, sagte sie und streckte Chris eine mit verschiedenen Ringen geschmückte Hand entgegen. Der Druck der Finger fühlte sich nicht ungut an, wenn man von dem leichten Schmerz absah, den die Metallringe an Chris‘ Fingern auslösten.

„Ich bin Chris.“

Das Mädchen runzelte die Stirn.

„Christina oder Christiane?“

Was geht sie das eigentlich an?, fragte sich Chris und starrte auf eine große Goldkette, die um Juttas Hals baumelte.

„Chris wie Christopherus“, flutschte es aus ihr heraus, und sie war selbst erstaunt, dass diese ruppige Antwort so rasch gekommen war. Aber Jutta lächelte noch mehr und zeigte blitzend weiße Zähne.

„Cool“, meinte sie.

Stille.

„Ich zeig dir jetzt mal die Schule“, fuhr Jutta fort und nahm Chris bei der Hand.

Das Gebäude war klein und freundlich, Licht fiel durch die großen Fenster. Die Wände der Gänge waren in zitronenfarbenem Ton gehalten, Pinnwände waren daran angebracht. Chris betrachtete bunte Klassenfotos. Trotz des freundlichen Empfangs konnte sie sich seltsamerweise nicht erwärmen. Sie musste an Maria denken, die immer kalte Hände gehabt und am liebsten an einer ihrer grün gefärbten Haarsträhnen gekaut hatte. Juttas Brüste wippten. Sie bewegte sich rasch und aufrecht, das Haar flog.

„Hey, mach Platz“, schnauzte auf einmal jemand. Chris drehte sich um und blickte in kristallfarbene Augen, die sie wütend anfunkelten. Ein Junge mit langem rotem Haar schob sich rasch an ihr vorbei. Er trug einen schwarzen Turtle­neck-Pullover, sein Haar flatterte im Wind.

„Spiel dich nicht so auf!“, schrie Jutta.

Chris wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich beklommen.

„Das ist Tom“, erklärte Jutta. „Er ist zweimal sitzengeblieben und mag uns nicht so.“

Chris starrte ihm nach. Sie fand, dass er besonders aussah. Sie hätte sich gern mit Tom unterhalten. Als würde er ihren Blick im Nacken spüren, drehte sich der Junge um. Er sah Chris in die Augen. Sein Blick war kristallklar, hell, durchscheinend. Für einen Moment hatte Chris das Gefühl, dass so etwas wie ein Lächeln seine Augen umspielte. Dann wandte er sich ab und starrte wieder nach vorn.

Jutta und Chris gingen weiter. Auf der linken Seite sah Chris ein paar junge Mädchen, die T- Shirts mit der Aufschrift „Twilight Forever“ trugen. Chris seufzte. Maria hatte sich nie etwas aus diesem Film gemacht. „Es gibt viel bessere Vampirfilme“, hatte sie zu Chris gesagt. „Zum Beispiel Underworld – Aufstand der Lykaner. Twilight ist scheiße.“

Ein neonblondes Girl mit Lippenstift sah Chris mit schrägem Blick an. Sie sah ausgemergelt aus und trug ein enges Top, das den Blick auf die Spalte zwischen ihren Brüsten zuließ.

„Na, Jutta, von welchem Flohmarkt hast du diesen Mantel?“

Jutta würdigte sie keines Blickes. Sie drehte sich bloß zur Seite und zwinkerte Chris zu.

„Wie heißt denn die Zicke?“, wollte Chris wissen und begann, sich besser zu fühlen. Offenbar gab es diese Art von Frauen überall auf der Welt. Maria hätte ihr schon gezeigt, wo‘s langgeht, dieser Schnalle, dachte Chris und spürte ein Ziehen in der Herzgegend.

„Das ist Vanessa. Am besten, du siehst erst gar nicht hin“, meinte Jutta und lächelte zwinkernd.

„Ist das die, die in der Spukvilla lebt?“, rief die neonblonde Chris und Jutta nach.

Spukvilla? Chris verstand nicht. Die Villa, in die sie eingezogen waren, war Amys Idee gewesen. Sie hatte sie in einem Zeitungsinserat gefunden und Pa vorgeschlagen, er solle sich das mit dem Renovieren doch überlegen. Auch die Psychotante hatte gemeint, dass Chris ein Tapetenwechsel wahrscheinlich guttun würde. Es würde ihr helfen, über das Trauma und den Verlust von Maria hinwegzukommen, hatte sie gesagt. Zugegeben, die Villa sah tatsächlich ein wenig gruselig aus. Aber war es deswegen eine Spukvilla? Chris fühlte, wie eine seltsame Welle in ihrem Bauch hochstieg. Einatmen, ausatmen, hatte die Psychotante gesagt. Chris schloss kurz die Augen. Dann wiederholte sie bemüht gefasst:

„Spukvilla?“, und blickte Juttas Gesicht mit der schönen Puppennase herausfordernd an.

„Einfach ignorieren“, meinte Jutta, die siegessicher hinter ihr herschritt.

„Warum?“

„Die reden doch bloß Scheiße“, winkte Jutta ab.

Also versuchte Chris, diesen Kommentar wieder wegzuschieben. Sie ging dem hübsch gewellten Mädchen nach und betrat ein hell erleuchtetes Klassenzimmer. Alles ist gut, dachte Chris und platzierte ihre Tasche neben einem der Holztische. Die Tafeln und die Kreide sahen überall gleich aus. Und auch die Bänke. Sie würde sich rasch hier einleben, und die Tage würden entspannter werden, würden wieder fließen, nicht mehr stocken wie in den letzten Monaten. Chris merkte, wie sie sich langsam, aber sicher beruhigte. Doch als sie sich auf den knarzenden Stuhl setzte, spürte sie, dass die Geschichte mit der Spukvilla sie noch länger beschäftigen würde …

4.

Chris hatte bald verstanden, wer in der Schule an welcher Front kämpfte. Schließlich war das Team ihrer Klasse überschaubar. Da gab es Vanessa und Anne, die Schnallensektion. Dann die Cooleren wie Jutta, die gut in der Schule waren, aber trotzdem keine Streberinnen. Die mit den Pickeln, die besonders gut lernten: Luna, Ben, Kathrin. Der Rest schwamm einfach mit, so wie die meisten. Gehörte nirgendwo richtig hin. In Chris‘ alter Schule waren sie 24 Kinder gewesen, und man hatte das Rauschen der Autos hinterm Fenster gehört. Hier zirpte hin und wieder ein Vogel, und das Herbstlicht flackerte in Chris‘ Gesicht auf, wenn der Wind durch die Bäume blies. Nur Tom konnte Chris nicht richtig einordnen. Sie nannte ihn für sich lonely wolf und musste dabei an die Lykaner aus Underworld denken: Tom war allein, ein Eigenbrötler, aber irgendwie auch spannend. Er malte in den Pausen, kritzelte irgendwas in sein Notizbüchlein oder starrte aus dem Fenster.

„Vielleicht magst du uns mal was von dem Märchen erzählen?“, schlug der Englischlehrer ihm einmal vor.

„Nö“, meinte Tom und kritzelte weiter in seinem Notizbüchlein.

„Was malst du da?“, wollte Chris in der Pause wissen.

„Keine Ahnung. So komische Figuren.“

„Mangas?“

„Ja.“

Chris freute sich. Auch Maria hatte Mangas gemalt. Eine der Zeichnungen klebte heute sogar an ihrer Schranktür, neben den vielen Zetteln, die eine Landkarte bildeten in ihrer Orientierungslosigkeit.

In der Schule waren die gackernden Mädchen für Chris am schlimmsten, und natürlich der Schwimmunterricht. Vanessa, Jutta und die anderen trugen hübsche Bikinis, die sich im Nacken zuschnüren ließen oder auch im Rücken mit einem Clip verschließbar waren. Chris trug immer einen schwarzweißen Badeanzug, der an den Beinen ein wenig länger war, sodass er nicht in die Arschspalte rutschen konnte. Das Muster von Gänseblümchen bedeckte sie. Chris war eine wandelnde Wiese. Nur leider ohne Titten, dachte sie. Ob es daran lag, dass Pa sie immer wie einen Jungen behandelte? Sah sie vielleicht deshalb auch ein bisschen so aus?

„Der Bikini ist ja total peinlich!“, rief Vanessa ihr nach.

„Du schaust aus wie ein Mann“, sagte deren Freundin Anna.

„Na und?“, murrte Chris und zuckte mit den Achseln.

Eine bessere Antwort fiel ihr leider nicht ein. Aber zum Glück war ja der Push-up bereits erfunden. Sie hatte sich also zumindest ihre Brüste ausgestopft. Aber auch das schien nicht zu helfen. Ihre Kolleginnen sahen alles. In der Umkleide­kabine roch es nach Schweißfuß und Chlor. Vanessa und Anna lachten Chris aus, als sie ihren Oberkörper entblößte.

„Und, hast du dich ausgestopft?“

„Das ist ja peinlich.“

Chris dachte, dass sie den Turnunterricht hasste. Und besonders hasste sie das Schwimmen. Das Dreimeterbrett, dem sie sich gerade näherten, war ihr größter Feind. Mit schlotternden Knien stieg sie die Leiter hinauf. Sie spürte, wie ihre Handteller zu schwitzen begannen.

„Chris.“

Sie drehte sich um und blickte in Juttas lächelndes Gesicht.

„Hast du was gesagt?“

Das Mädchen sah sie verwundert und aus großen, runden, kastanienbraunen Augen an.

„Wie kommst du darauf?“

Vielleicht war es Juttas bohrender Blick, vielleicht die gesamte Situation, vielleicht war es auch nur zu heiß in diesem verdammten Hallenbad. Auf jeden Fall hatte sie mit einem Mal das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

Chris schauderte.

„Chris.“

Sie zuckte zusammen

Da ist eine Stimme. Leise. Behutsam. Ich kenne diesen Klang. Ich muss nur die Augen öffnen. Gleich habe ich dieses Gesicht vor mir. Moment. Einen Moment.

„Du bist die Nächste, Träumerlein“, durchbrach Juttas Stimme ihre Gedanken.

Chris schlotterte und schwitzte gleichzeitig. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken. Maria, ihre Schildkröte Dracula. Ein Popsong. Aber ihre Angst war größer. Ihre Knie knickten weg.

„Hey, bist du in Ordnung?“

Als Chris wieder zu sich kam, blickte sie in große, helle Augen.

„Ich …“

Dass das Gesicht Tom gehörte, wurde Chris erst nach einigen Sekunden klar. Für einen Moment hatte sie gedacht, sie befände sich auf einer Wiese neben Maria, und alles wäre gut.

Aber nein. Sie lag seitwärts gedreht in Toms Armen neben einem Sprungbrett in einem Schwimmbad. Es war kalt, der Boden unter ihr aus Stahl. Tom musste sie aufgefangen haben. Wie peinlich. Chris wand sich aus der Umarmung. Der Junge sah zu Boden und setzte sich neben sie. Sein langes rotblondes Haar triefte ein wenig.

„Du bist umgefallen, stimmt‘s?“

Chris blickte ihre Finger an.

„Hast du das öfter?“, wollte Tom wissen.

Chris drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an.

„Bitte sag es keinem“, meinte sie kleinlaut.

Tom seufzte.

„Lass uns ‚Schere, Stein, Papier‘ spielen“, schlug er vor.

Chris war verdutzt. Dann nickte sie. Tom war offenbar ähnlich uncool wie sie. Das wunderte sie eigentlich, denn er sah nicht schlecht aus. Seine Haut war hell und sommersprossig, der Körper wirkte hell wie der von einem Vampir.

„Schere, Stein, Papier.“

Chris gewann. Tom zuckte die Achseln.

„Noch einmal“, sagte er.

„Ja.“

„Schere, Stein, Papier.“

Tom gewann. Sie giggelten. Chris betrachtete Toms ebenmäßigen Mund und die geraden Zähne.

„Revanche.“