Die Reise der Scythe 1: Aszendenz - Dirk van den Boom - E-Book

Die Reise der Scythe 1: Aszendenz E-Book

Dirk van den Boom

4,6

Beschreibung

Das Irdische Konkordat ist ein Sternenstaat voller Frieden und Wohlstand. Allein eine kleine Polizeistreitmacht sorgt dafür, dass interstellare Verbrechen nicht ungesühnt bleiben. Der Polizeikreuzer Scythe jagt einen vorbestraften Verbrecher, und das nun schon seit Jahren. Der höchst gefährliche Täter kann ihnen jedoch immer wieder entkommen. Die Crew der Scythe kommt dem gesuchten Verbrecher in der Nähe eines seltsamen Raumschiffs auf die Schliche, das die Größe eines kleinen Planeten hat und von einem Schutzschild umgeben ist. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände werden auch sie in das Innere des Schutzfeldes gezogen – nur, um herauszufinden, dass eine Rückkehr nach draußen nicht möglich ist. Sie sind gefangen in einer gigantischen Flotte aus aktiven und lange toten Raumfahrzeugen tausender Zivilisationen – ganz allein, hilflos.

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DIRK VAN DEN

BOOM

DIE REISE DER

SCYTHE

1|ASZENDENZ

DIE REISE DER SCYTHE – Band 1: ASZENDENZ

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Arndt Drechsler und Herminio Nieves;

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Printed in the Czech Republic.

Copyright © 2018 Dirk van den Boom

Originalausgabe

Print ISBN 978-3-95981-527-7(März 2018) · E-Book ISBN 978-3-95981-528-4 (März 2018)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

1

Er saß am Kai und schaute auf seine Zehen. Feine Wassertropfen zeichneten sich auf der Haut ab. Die dünnen Schwimmhäutchen zogen sich unter den Sonnenstrahlen zusammen. Sie mochten Trockenheit nicht. Als Ergebnis einer jahrelangen genetischen Manipulation erwarteten sie täglich ein Bad im Meer, und Jordan erfüllte diese Erwartung, sooft er konnte.

Er bewegte die Zehen. Die eben noch geschmeidigen Schwimmhäute zerrten an der Haut und falteten sich unwillig zusammen, als er die Füße krümmte. Für einen Moment ließ er sie in dieser verkrampften Haltung, bereitete sich innerlich darauf vor, seine Schuhe wieder anzuziehen, der schlimmste Teil eines jeden Ausflugs. Jordan wusste, dass ein Teil seines Körpers darauf programmiert war, das Wasser als natürliches Habitat zu empfinden. Und so verspürte er zwar keine Angst, wenn er das kühle Nass verließ, aber es war unangenehm. Er wollte nicht. Er gehörte nicht aufs Trockene. Er gehörte nicht ins Wasser. Er war immer irgendwo dazwischen.

Jordan schaute in den blassgrünen Himmel. Tota stand hoch am Firmament. Es wurde heiß, wie jeden Tag, eine eintönige, gleichbleibende Hitze. Touristen mochten sie, brieten ihren weißen Leib im hellen Schein, wendeten sich sogar wie ein Braten in der Pfanne, damit alles rot wurde. Dann fluchten sie und litten und verglichen untereinander die Blasen, die Tota erzeugte, die tote Haut, die sterbenden Zellen. Jordan würde das nie verstehen. Er verstand auch nicht, warum jemand sehr viel Geld ausgab, die weite Reise auf sich nahm, um dann nichts anderes zu tun, als sich gleichmäßig verbrennen zu lassen.

Jordan hatte das Problem nicht. Er gehörte zu einer der ersten Siedlerfamilien. Sein Körper konnte mit Totas Hitze umgehen. Was ihm nicht gelang, war, die endlose Langeweile dieser öden Welt voller Strände und Ozeane zu bewältigen.

Er war getrocknet. Jordan erhob sich, streckte seine Muskeln, spürte das vertraute Gefühl, mit dem sie sich wieder an den aufrechten Gang gewöhnten, mindestens genauso unwillig wie seine Schwimmhäute, die sich wie Sandpapier zwischen seinen Zehen anfühlten. Es dauerte immer Stunden, bis diese Empfindung in den Hintergrund trat.

Jordan streifte das plötzlich in ihm aufwallende Verlangen ab, sich sofort wieder ins Wasser zu werfen. Pflichten riefen ihn. Es war ja nicht so, dass er nichts zu tun hatte. In gewisser Hinsicht hatte er die interessanteste Arbeit auf ganz Landros, jenseits der Bars, Strandcafés und Hotels, der Touristenfallen, der Fischerflotte und dem bisschen Administration, die das Konkordat hier für notwendig hielt. Er war Student der Astronomie im letzten Jahr, das einzige Studienfach an der kleinen Universität, das auch nur ein entferntes Interesse in ihm geweckt hatte, und er arbeitete im großen Observatorium, einem kühlen, modernen und sehr trockenen Ort, das damit auf der Ozeanwelt Landros im System der Tota in etwa genauso sehr ein Fremdkörper war, wie Jordan sich fühlte.

Es war Zeit. Jordan hatte seine protestierenden Füße in die breiten Schuhe gezwängt und sah zu der nicht weit von hier stehenden Kuppel des Observatoriums empor. Ihn erwartete nichts Gutes, und doch befand sich dort oben in mehrfacher Hinsicht das Ziel seiner Sehnsüchte. Der Professor war übel gelaunt. Man hatte ihm Forschungsgelder gekürzt. Er hatte die Angewohnheit, das jeden wissen zu lassen und alle dafür verantwortlich zu machen, nur nicht sich selbst. Er war ein Fremdweltler und hatte die Position angenommen, weil sonst niemand sie haben wollte. Landros lag am Arsch des Konkordats. Man machte hier Urlaub. Man suchte sich Freizeitsex. Man reiste ab, sobald man gut durch war. Niemand blieb, der nicht hier geboren worden war. Dass der Professor seit zwanzig Jahren auf seinem Posten ausharrte, ließ Rückschlüsse darauf zu, warum ihm Gelder gestrichen wurden.

Jordan schaute auf die Uhr. Er war zu spät. Das hieß Überstunden, denn er musste sein Projekt beenden. Eine stupide Arbeit, gut genug für den Computer und eines Studenten im letzten Jahr unwürdig. Aber er hatte zu tun, was ihm aufgetragen wurde, und dass er darin nicht alleine war, machte alles gleich viel erträglicher.

Der Weg hoch zum Observatorium, das die Bucht überblickte wie ein gigantisches Auge, ging über rund sechshundert Treppenstufen. Jordan hatte sie gezählt. Mehrmals. Die Treppen waren in den Granitfels gehauen, Sportler nutzten sie am frühen Morgen für ihr Ausdauertraining, rannten hoch und runter, schwitzten wie die Tiere. Jordan verstand es nicht. Er trainierte im Wasser, und das war sowohl anstrengend wie auch Labsal. Wie das Wasser seiner Haut schmeichelte, wie es ihn trug und gleichzeitig verlockend in die Tiefe zog, das war unvergleichlich. Und alle Muskeln hatten etwas davon. Die Oberschenkel der Treppenaktivisten sahen aus wie Tonnen, auf die ein dünner Brustkorb mit dünnen Ärmchen aufgesetzt war. Jordan fand, dass jeder aussehen sollte, wie er es für richtig hielt, aber Ästhetik suchte er bei diesen Gestalten vergeblich. Und was wollte man mit solchen Beinen?

Sechshundert Stufen. Er zählte sie mal wieder unbewusst mit. Als er oben angekommen war, drehte er sich wie immer um, schaute auf die Bucht hinab, das blaugrüne Wasser, das er vor Kurzem noch durchmessen hatte. Die Kiemenoperation kostete drei Jahresgehälter eines angestellten Astronomen, und er war nicht einmal einer. Student. Er würde sich diesen Traum auf absehbare Zeit nicht verwirklichen können. Aber er gab ihn nicht auf.

Das war eine wichtige Qualität seines Charakters. Nicht aufgeben. Das konnte er gut. Es hielt ihn aufrecht. Trieb ihn sechshundert Stufen empor, jeden Tag, und ließ ihn die rot gebratenen Touristen ertragen, die lärmend und rücksichtslos durch die engen Gassen des Dorfes polterten, wenn er nach Hause ging. Er konnte sich beherrschen. Vielleicht manchmal zu sehr.

Er öffnete die Metalltür, die wie immer quietschte. Im Vorraum war es kühl, was Jordan für einen Moment genoss. Drei Schreibtische standen hier, einen durfte er benutzen. Am zweiten saß Elissi, die andere Studentin, eine blasse, kleine, schmale, unheimlich intelligente und seltsame Person. Sie machte die Arbeit hier gleichermaßen erträglich wie unerträglich, herausfordernd und deprimierend. Er wäre gerne mehr als der gute Bekannte, mit dem man das Leid teilte, für den Professor zu arbeiten. So gerne so viel mehr. Doch sie war zu seltsam für ihn. Sie brauchte einen blassen, kleinen, schmalen und unheimlich intelligenten Freund, einen, der wie sie stundenlang in einer Ecke sitzen und astrografische Tabellen lesen konnte wie eine Maschine. Jordan war das nicht. Er bedauerte das, denn er empfand für Menschen wie Elissi nur höchste Bewunderung – und für sie gleich noch ein wenig mehr. Die Elissis dieser Welt hatten ihren Platz gefunden, denn es kümmerte sie nicht, wo sie waren oder wann oder warum, solange sie das tun konnten, worauf die Natur ihren unheimlich intelligenten Kopf programmiert hatte.

»Du musst Kaffee machen«, sagte sie. »Männer machen Kaffee« war eines ihrer Grundprinzipien. Jordan wusste nicht, wo sie das aufgeschnappt hatte, aber es gehörte zu ihrem Rollenverständnis. Er wehrte sich nicht dagegen. Die Kaffeemaschine an der Wand des Büros war antik, und es bedurfte einer gewissen manuellen Finesse, sie dazu zu bringen, ein trinkbares Gebräu zu produzieren. Eine permanente Herausforderung, wie Elissi selbst. Wenn er ihr Kaffee brachte, lächelte sie manchmal, weil sie wusste, dass er sich das von ihr erhoffte. Es war ihm Belohnung genug.

»Der Professor hat nach dir gefragt«, sagte sie statt einer Begrüßung. Es war nicht böse gemeint. Elissi war zu keiner Form von Niedertracht in der Lage. Sie war ein unbeschriebenes Blatt, was Ärger, Wut und Neid anging. Jordan hoffte, dass ihr Freund, wenn sie eines Tages einen fand, sie vor dem beschützen würde, was Elissis größtes Lebensrisiko darstellte: der Welt da draußen.

Er würde das wohl nicht sein. Aber er gab die Hoffnung noch nicht ganz auf.

»Er ist drinnen?«

Jordan wies auf die Tür zur Halle.

»Seit heute Morgen.« Elissi zögerte. »Ich glaube, er weiß es.«

Jordan stockte der Atem. »Im Ernst?«

»Ich glaube.«

»Du sagst nichts. Ich nehme es auf mich.«

Elissi sah ihn an, fragend, gar nicht mal dankbar. Sie wusste nicht, wie der Professor reagieren würde, wenn er tatsächlich herausgefunden hatte, dass sie beide ihr kleines Privatprojekt hatten laufen lassen, wertvolle Beobachtungs- und Computerzeit damit beanspruchten. Sie war so arglos. Er würde es schon verstehen. Es war Wissenschaft. Es generierte Daten. Daten waren gut. Was konnte passieren?

Jordan wusste es. Und weil er derjenige gewesen war, der sie da hineingezogen hatte, genauso, wie sie ihn vor nicht einmal zwei Wochen erst auf die Idee gebracht hatte, würde er die Verantwortung übernehmen. Vielleicht war er dann dieses eine Mal in der Lage, Elissi zu beschützen, vor der Welt da draußen, die keine Gnade zeigte, vor allem nicht gegenüber Leuten wie ihr.

»Sie da!«

Professor Bell spuckte das Wort aus.

»Professor …«

Doch Jordan kam nicht weiter. Bell stolzierte auf ihn zu, die Haut gerötet vor Wut. Er hielt ein Pad in der Hand, auf dem irgendwas zu sehen war, das ihn erzürnte. Jordan sah genauer hin und fand Elissis Befürchtungen bestätigt. Er hatte es gemerkt. Das würde nicht gut ausgehen.

»Sie haben Ressourcen des Instituts für private Zwecke missbraucht!«, blaffte Bell.

»Ich …«

Keine Chance. Bell gab niemandem eine. Niemals.

»Rechen- und Beobachtungszeit. Stundenlang. Ich will es gar nicht ausrechnen! Wer bezahlt das? Wissen Sie, wie es um unser Budget steht? Interessiert es Sie überhaupt?«

Jordan presste die Lippen aufeinander. Doch Bell setzte seine Tirade nicht fort, sondern schaute den Studenten auffordernd an. Jordan entdeckte den feinen Schweißfilm auf des Mannes Stirn und den dünnen Speichelfaden, der sich nicht richtig vom Mund gelöst hatte und nun über das Kinn drapiert langsam austrocknete. Jordan starrte sekundenlang darauf und stellte sich dabei die alberne Frage, ob er Bell ein Taschentuch anbieten sollte.

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, setzte Bell hinzu, die Stimme gefährlich leise.

»Professor, es ist eine Deep-Field-Analyse von Sektor 56B.«

»Das habe ich gesehen. Galaktischer Rand. Da ist nichts, Jordan. Gar nichts.«

Das stimmte nicht ganz. Da waren Sterne, und nicht wenige, und dahinter Kugelhaufen und Galaxien, die lokale Gruppe und noch viel mehr. Da war immer was. Bell aber meinte, da sei nichts, für dessen Beobachtung sie bezahlt wurden, und damit hatte er leider recht.

»Während des letzten Sweeps, als wir die verschiedenen Satelliten neu kalibriert haben, hat Elissi etwas entdeckt … in Sektor 56B, meine ich.«

»Elissi? Steckt sie dahinter?« Bell verachtete die Studentin. Er verachtete Frauen generell, einer der Gründe, warum er keine hatte und niemals eine haben würde. Er war der Ansicht, dass dem weiblichen Geschlecht der »logische Verstand« für »echte Wissenschaft« fehlte und sie lieber Xenosoziologie oder etwas ähnlich Sinnloses studieren sollten. Stuhlkreise. Bällchen werfen. Namen tanzen. Es zeigte, dass er Elissi nicht kannte, niemals ernsthaft wahrgenommen hatte. Elissi war der logischste Mensch, den Jordan kannte, und würde sie ihn nicht hin und wieder anlächeln, hätte er sie schon lange für eine Maschine gehalten. Elissi war das lebende Beispiel dafür, dass Bells Vorurteile nicht stimmten, und genau deswegen konnte er sie nicht leiden.

Aber sie war gut. Schnell. Zuverlässig. Klagte niemals. Akzeptierte das absurd niedrige Salär. Daher arbeitete sie immer noch hier, denn bei aller Kritik musste Bell seinen anderen großen Charakterfehler kompensieren, der ihn auf Landros versauern ließ: seine abgrundtiefe Faulheit.

»Es war meine Idee«, sagte Jordan also, wie er es sich vorgenommen hatte. »Sie hat mich darauf hingewiesen, dass sie etwas entdeckt hat, und ich …«

»Was haben Sie entdeckt?« Die Frage steckte voller Misstrauen. Bell lebte immer mit der Angst, dass ihm jemand den Rang ablaufen würde, vor allem deswegen, weil er selbst schon fast keinen mehr hatte. »Wieder so eine Spinnerei?«

»Eine Energiequelle, die vorher nicht da war.«

Elissi war in den Raum getreten, und schmal wie ihre Gestalt klang auch ihre Stimme. Bell rief etwas, laut, wütend, aber kaum artikuliert, er machte einen Schritt auf die Studentin zu und holte tief Luft. Worte kamen über seine Lippen, jedes ein Werkzeug der Verletzung, akustisches Waffenmaterial, nicht sorgsam eingesetzt, sondern in Salven abgefeuert auf eine völlig ungeschützte Stellung. Bell hatte sich selten im Griff, jetzt aber, getrieben durch seine eigene Frustration, sein Selbstmitleid, seine Eitelkeit, war er außer sich.

Elissi schaute ihn nur an. Sie war nicht erschüttert, nicht beleidigt, sie verstand einfach nicht, was gerade passierte. Der Blick, den sie Jordan zuwarf, sprach von Angst. Niemand redete so mit ihr: ihre Eltern nicht, ihr Bruder nicht, der sie fast noch mehr beschützen wollte als Jordan, die Sterne nicht. Ihre Zahlenreihen waren immer ruhig und schwiegen ihre Informationen direkt in ihre Augen. Bell aber schrie sich heiser. Beleidigungen kamen ihm mit einer Leichtigkeit von den Lippen wie der Speichel, der ihr entgegenspritzte. Sie machte einen Schritt zurück. Der Mann, ihr Professor, sagte sehr böse Dinge über sie, und Elissi konnte nicht verstehen, warum er das tat.

Sie wollte doch nur lernen und verstehen. Geheimnisse ergründen. Wollten das nicht alle?

Jordan stellte sich zwischen sie. Bell verstummte beinahe sofort, nicht aus Respekt, sondern weil dies ein Anlass war, Kraft zu sammeln. Sein Gesicht war gerötet. Ein feiner Schweißfilm stand ihm auf der Stirn, schütteres Haar klebte auf der schimmernden Haut. Seine Halsschlagader trat hervor. Gesund konnte das alles nicht sein.

»Ich trage die Verantwortung«, sagte Jordan ruhig.

»Dafür auch? Dafür auch?«, brüllte Bell und hielt ihm sein Pad hin. Jordan schaute kurz hin, runzelte die Stirn, griff danach, doch der ältere Mann zog es fort, trat zur Seite, blickte wieder in Elissis fragendes Gesicht.

»Waren Sie das? Waren Sie das? Eine Meldung an die Astronomische Autorität? Wer hat Sie dazu autorisiert? Was für ein Blödsinn soll das sein? Was soll ich der Autorität erzählen? Die halten mich doch für bekloppt! Ich habe meine eigenen Studenten nicht im Griff! Ich werde zur Lachnummer.«

Jordan sah Elissi an, sie nickte ihm unmerklich zu. Sie hatte das tatsächlich getan. Oh, es war so schwer, sie zu beschützen, wenn sie unüberlegte Dummheiten beging. Sie wusste es nicht besser. Sie war nicht arglistig. Elissi wollte doch nur wissen und verstehen.

Jordan ermannte sich. Er hatte damit begonnen, er würde es zu Ende führen.

»Ich war das.«

»Diese Nachricht trägt eine Signatur! Da! Elissi Portinari. Elissi. Wollen Sie mir …«

»Es war meine Idee. Ich war nur zu feige, meinen Namen drunter zu setzen.«

Das verstand Bell. Er verstand Feigheit. Er verstand es, wenn man jemanden vorschob, um selbst nicht unter Feuer zu geraten. Das war ein für ihn vertrauter Wesenszug und strukturiert, wie seine Gedanken waren, kam ihm nicht einmal die Idee, dass andere Menschen nicht so arbeiten könnten. Aus der Wut in seinem Gesicht wurde abfällige Gehässigkeit. Jordan war nun das Opfer, das er brauchte.

Der junge Mann warf einen letzten Blick in die große Halle. Er würde diesen Ort vermissen. Danach würde er sich Arbeit suchen, vielleicht im Hafen. Mit etwas Glück sein Examen schreiben. Und dann auf Landros versauern, denn auf ein Stipendium für eine Reise von hier fort durfte er nicht hoffen. Nicht, wenn Professor Bell an seiner Abschlussnote beteiligt war.

»Ich konnte Sie noch nie leiden«, sagte Bell, und er meinte es wahrscheinlich auch so. Elissi war ein leichtes Opfer für ihn, strebsam, leise, bescheiden. Jordan hingegen hatte eine eigene Meinung, und derlei bewertete der Wissenschaftler ganz grundsätzlich als Affront gegen sich selbst. »Sie sind raus, entlassen. Packen Sie Ihr Zeug. Ich will Sie nicht mehr sehen! Ich will …«

Sie erfuhren nicht mehr, was er noch so wollte. Ein Rufsignal ertönte, Bell verzog das Gesicht. »Jetzt nicht!«, rief er in die Luft und wies die Automatik damit an, den Anruf abzuweisen. Er war noch nicht fertig mit Jordan.

»Professor, es ist ein Prioritätsruf!«, belehrte ihn die sanfte Stimme der Observatoriums-KI, die sich sonst immer sehr höflich zurückhielt und sich selten in die kleinlichen Angelegenheiten biologischer Lebensformen einmischte.

»Das ist mir scheißegal!«, blaffte Bell. »Ich habe …«

Die KI konnte nicht anders, und eigentlich wusste das der Professor auch. Über dem zentralen Steuerpult stand nun eine dreidimensionale Projektion, ein ernstes, männliches Gesicht, und dahinter schwebte das Emblem der Astronomischen Autorität, damit man auch keinen Zweifel daran hatte, wer sich hier meldete.

Jordan wurde jetzt doch ein wenig mulmig zumute. Er sah Elissi an, die ihre Ruhe wiedergefunden hatte und entweder absolut keine Befürchtungen hegte oder nicht verstand, was das bedeuten konnte. Jordan sah seine Hoffnung auf eine Karriere in der Wissenschaft endgültig den Bach runtergehen. Er war verantwortlich, zumindest teilweise, und jetzt sah es so aus, als würde man ihn von höchster Stelle beim Kragen packen.

Bell drehte sich um, bestimmt eine böse Bemerkung auf den Lippen, war dann aber doch weise genug, sie runterzuschlucken. Die Autorität bezahlte ihn. Er täte nicht gut daran, jemanden von dort anzuschreien.

»Ich bin Kaiman Houten, Administrator«, stellte sich der Mann vor, und er klang nicht einmal unfreundlich … nur etwas ungeduldig. »Professor Bell?«

»Ich … ja.«

»Wir haben hier eine Nachricht aus Ihrer Einrichtung erhalten.«

»Ja.« Bell räusperte sich. »Das tut mir … es ist ein Irrtum.«

»Ein Irrtum?«

»Eine … Kompetenzüberschreitung. Studenten, Sie wissen ja. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich habe bereits Konsequenzen gezogen. Harte Konsequenzen. Der Schuldige …«

»Jordan Tomski und Elissi Portinari?«

»Vor allem der junge Mann. Disziplinlos. Der Dank dafür, dass man ihm eine Chance …«

Houten sah nun an Bell vorbei. »Sie sind Tomski und Portinari?«

Bell verstummte, um seinen Mund ein erwartungsvolles und ein wenig grausames Lächeln. Er trat mit einer betonten Bewegung zur Seite, damit das Gericht über die beiden Sünder gehalten werden konnte, ohne dass es Kollateralschaden gäbe.

»Sie haben die Nachricht geschickt?«, vergewisserte sich Houten, und Jordan konnte sich ja irren, aber da war weder Strenge noch Missbilligung in Stimme oder Gesicht des Mannes, nur aufmerksames, beinahe wohlwollendes Interesse.

»Es stimmt. Wir …«

»Ich lade Sie nach Toragus ein, in die Zentrale der Autorität. Sie und die junge Dame. Sie haben Interesse?«

Jordan starrte nur, achtete aber darauf, seinen Mund nicht offen stehen zu lassen. Elissi trat an seine Seite, leise wie immer, sah Houten an und fragte: »Wann?«

»Das Kurierschiff ist in drei Stunden da. Packen Sie sich was für ein paar Tage ein.«

Houtens Bild verschwand. Er hatte nicht ein Wort an Bell gerichtet, und der Professor starrte fassungslos auf die leere Stelle, an der eben noch die Projektion geflimmert hatte. Er drehte sich zu den beiden jungen Leuten, sagte einen Moment nichts und fragte dann leise und jetzt ernsthaft verwirrt: »Was im Namen des Konkordats haben Sie beide nur angestellt?«

Jordan war sich nicht sicher. Elissi aber lächelte.

2

Gerechtigkeit.

Lyma Apostol wollte Gerechtigkeit. Und wenn sie die nicht bekam, würde sie ein wenig gute alte Rache auch nicht verachten.

Doch dies war nicht der Ort, an dem sie eines von beiden finden würde. Sie kam zu spät, wieder einmal, und die Wut legte sich für einen Moment wie ein dunkler Schatten über ihre Gedanken. Sie holte tief Luft, spürte das Zittern, als sie einatmete, unterdrückte die Regung mit aller Macht. Keine Gerechtigkeit. Die drei Leichen starrten sie mit offenen Augen an. Im Grunde war ihr Blick leer, sie wirkten eher ermüdet, fatalistisch. Doch für Apostol war da ein Vorwurf, eine Anklage, der sie sich nicht entziehen konnte.

Denn sie war berechtigt.

»Captain.«

Die Stimme von Severus Inq, sanft, besorgt. Der stille, hilfreiche Schatten der humanoiden Polizeidrohne hatte sie fast ihr ganzes erwachsenes Leben begleitet, seitdem sie die Akademie verlassen hatte. Inq kannte sie. Er wusste, was sie empfand. Er wollte ihr helfen. Das war der Zweck seiner Existenz.

Das konnte er hier aber nicht. Sie schob seine kalte Hand zur Seite, mit der er sie sanft am Arm berührte. Trost half nicht. Den drei Toten schon gar nicht. Ein Mann, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Was hatten sie gesehen? Was gefühlt? Wie viel Hoffnung hatten sie auf Hilfe gesetzt, die nicht gekommen war?

»Wir scannen den Raum«, sagte Saiban Snead, der Erste Offizier der Scythe. Snead mit seiner gebräunten Haut, dem umwerfend guten Aussehen, das Resultat von über Generationen verfeinertem Genbreeding, sah hier so fehl am Platze aus wie überall, wo es dreckig war, arm und der Tod lauerte. Doch er nahm seine Arbeit ernst. Genauso wie sie. Es tat ihm nur nicht so weh.

»Captain.«

Erneut die Stimme Inqs. Sie ließ sich unwillig auf die Beine ziehen und merkte erst jetzt, dass sie überhaupt in die Knie gegangen war. Sie starrte auf die Toten, vermochte den Blick nicht abzuwenden. Mit gefesselten Händen saßen sie nebeneinander, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Sie hatten wahrscheinlich lange gehofft, dass der Mann, der in ihre Wohnung eingebrochen war, sie am Ende doch verschonen würde.

Doch Dr. Joaqim Gracen verschonte niemanden. Er mochte es nicht, wenn sich jemand an ihn erinnerte. Er hasste es, im Rampenlicht zu stehen, egal wer den Scheinwerfer auf ihn richtete. Sei es das Suchlicht der Konkordatsbehörden, sei es die ungeliebte Aufmerksamkeit von Forscherkollegen, sei es der starre, angsterfüllte Blick seiner Opfer. Gracen war ein Schatten und versteckte sich in der Dunkelheit, wenn er konnte. Doch auch jemand wie er bedurfte des Obdachs, er benötigte Geld, manchmal sogar Helfer, die er nicht mit der Waffe zu Diensten zwingen konnte. Das hinterließ Spuren. Und Captain Apostol und mit ihr die Crew der Scythe folgten diesen Spuren seit drei Jahren. Für manche war es die Erfüllung einer schwierigen Pflicht.

Für Lyma Apostol war es mittlerweile eine Obsession. Im Grunde hätte sie längst von diesem Fall abgezogen werden müssen. Allein die Tatsache, dass sie ein großes Gespür für ihre Jagdbeute entwickelt hatte, einen Instinkt dafür, was er tun, wohin er sich wenden würde, hatte dafür gesorgt, dass man sie nicht mit anderen Aufgaben betreute. Doch wie so oft war ihr Instinkt wieder einmal nicht schnell genug gewesen. Drei Tote. Drei Namen mehr auf einer langen Liste von Verbrechen, die Gracen hinter sich herzog wie eine leuchtende Spur. Ein brennendes, schmerzhaftes Licht.

Es tat weh.

Sie schaute auf die drei Leichen. Verraten. Sie hatte diese Menschen verraten, wie viele vor ihnen. Sie spürte die Schuld und den Hass, wie sie sich ihren Hals hinaufwürgten, und sie holte tief Luft. Sie musste sich beherrschen. Würde sie zu viel von dem emotionalen Chaos zeigen, das in ihr tobte, mussten Inq und Snead reagieren, sie melden. Dann würde jemand anders auf die Spur Gracens gesetzt, und das hieß, dass er für immer entkommen würde.

Wenn sie ihn nicht fing, dann würde es nie jemand schaffen.

Das war eine der wenigen Gewissheiten, die Lyma Apostol in sich trug. Es war diese Erkenntnis und die daraus erwachsende Pflicht, die ihr halfen, Selbstdisziplin zu wahren.

Sie erhaschte Sneads forschenden Blick, zwang sich zu einem Lächeln.

»Es ist gut«, sagte sie leise. »Es hat mich geschockt, ja. Aber es sind nicht die ersten Toten, die ich sehe, und es werden nicht die letzten sein.«

Snead nickte langsam. Der forschende Ausdruck in seinen Augen blieb. Fünf Jahre dienten sie schon zusammen auf der Scythe, ein eingespieltes Team. Doch den letzten Blick in ihre Abgründe hatte sie ihm bislang verwehrt.

Daran wollte sie auch nichts ändern. Die Dunkelheit war nur für sie.

»Was haben wir?«, fragte sie, nachdem sie sich endgültig vom Anblick der Leichen gelöst hatte. Zwei weitere Mitglieder ihres Teams waren anwesend und beschäftigten sich mit tragbaren Scannern, überprüften die Möbel, jede Oberfläche, auf der sich Reste von DNA nachweisen lassen konnten, ebenso wie die Luft. Einer der beiden Ermittlungstechniker, ein schmaler Mann namens Kang, der immer leicht vornübergebeugt ging, als trage er eine schwere Last auf seinen Schultern, fühlte sich angesprochen.

»Gracen war hier, und er war unvorsichtig«, sagte er in der für ihn typischen sehr sorgfältigen und langsamen Artikulation. »Er hat nicht aufgepasst. Überall DNA-Spuren. Ich bin mir sicher, wir werden sogar richtige Hautpartikel finden. Normalerweise macht er gründlich sauber.«

»Das wollte er diesmal sicher auch«, sagte Snead, der vorsichtig einen Wandschrank geöffnet hatte und ihrer aller Aufmerksamkeit auf die beiden metallenen Kanister darin lenkte. Gracen benutzte gerne eine extrem aggressive Säure, um seine Spuren zu verwischen, eine Chemikalie, die er selbst entworfen hatte und deren Wirksamkeit unübertroffen war.

»Wir waren nicht schnell genug, um diese drei zu retten«, murmelte Snead, »aber wir waren schnell genug, um ihn überstürzt aufbrechen zu lassen. Er muss geahnt haben, dass wir ihm diesmal eng auf den Fersen waren.«

»Das ist gut«, erwiderte Apostol in dem Versuch, die positiven Aspekte dieses Fiaskos zu sehen, wenn schon nicht für sich selbst, dann für die Moral der Crew. »Er wird nervös und macht Fehler. Die Frage ist: Wohin ist er jetzt geflohen?«

»Folgt er seinem üblichen Muster, dann hat er den Planeten so schnell wie möglich verlassen. Wenn wir herausfinden, was er auf Candar gemacht hat, können wir deduzieren, wohin ihn die Reise geführt hat«, sagte nun die vierte Person. Tilla Äios war kein Mensch, und obgleich alle sie wie eine Frau behandelten, beharrte sie darauf, keine zu sein. Sie sah ein wenig so aus, humanoid, die etwas breiteren Hüften. Eine bunt schillernde Haut, in der sich die Farben des Regenbogens brachen, ein strohblonder Haarkranz um eine natürliche Tonsur.

Sie sah aber wirklich nur so aus.

Es gab so gut wie keine Außerirdischen, die sich dauerhaft im Konkordat aufhielten: Die Machtbereiche, soweit man von ihnen sprechen konnte, waren weit voneinander entfernt, und nur wenige besonders wagemutige Forscher und Einzelgänger wagten die weiten Reisen. Es gab wenig Handel – niemand hatte den anderen mehr anzubieten als oft schwer verständliche Kultur – und kaum diplomatische Kontakte. Der Weltraum war viel zu groß, um gemeinsame Interessen zu entwickeln oder um Kriege zu führen. Für die Herrschaft über eine Menge Nichts riskierte niemand sein Leben. Lagen Hunderte von Lichtjahren zwischen Einflusssphären, nahm man sich gegenseitig zur Kenntnis, tat sich nichts und ließ sich in Ruhe. Tilla gehörte nicht nur zu den Ausnahmen, sie war auch eine der ganz wenigen Außerirdischen, die sogar für das Konkordat arbeiteten. Warum sie ausgerechnet bei der Polizei mitmachte, hatte allerdings nie jemand richtig verstanden. Fragte man sie danach, antwortete sie meist in dem Sinne, dass »jemand die Arbeit ja tun müsse«.

Das galt wohl für sie alle.

»Das heißt wieder tagelange Recherchen, und er bekommt erneut seinen üblichen Vorsprung«, kommentierte Apostol diese richtige Einschätzung bitter. Es war immer das gleiche Spiel. Aber so nahe wie jetzt waren sie ihm noch nie gekommen. Er wurde manchmal nachlässig. Dessen ungeachtet verfolgte er immer noch seine »Projekte«, wie er es nannte, durch die er sich finanzierte. Das hinterließ immer Spuren. Meist war es nicht Gracens Nachlässigkeit, sondern die seiner »Geschäftspartner«, die die Ermittler wieder auf seine Fährte brachten.

Es ging immer weiter. Lyma Apostol war erschöpft. In Momenten wie diesen hätte sie beinahe nichts mehr dagegen, von diesem Fall abgezogen zu werden. Dann erinnerte sie sich an die große Anzahl der Opfer, die aus Gracen einen der größten Serienmörder des Konkordats gemacht hatten, und der Gedanke verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war.

Aufgeben kam für Lyma nicht infrage. Es gab nichts anderes in ihrem Leben, und ihre Pflicht war klar: Gracen endlich zur Strecke zu bringen. Sie würde nicht ruhen, ehe ihr dies gelungen war.

Dabei war sie immer so, so müde.

»Alles in Ordnung?«

Snead, der kluge Beobachter. Sie musste für einen Moment ihre Gedanken in ihrem Gesicht widergespiegelt haben. Eine Närrin war sie. Nicht nur Gracen wurde nachlässig, auch sie teilte dieses Schicksal. Es durfte ihr nicht erneut unterlaufen. Snead war zu gut.

»Nein, es ist nichts in Ordnung«, erwiderte sie. »Drei Tote und Gracen auf der Flucht. Es ist absolut nichts in Ordnung.« Sie sagte es leise, nur zu ihm. Seine Moral war über alle Zweifel erhaben. Zu den Toten auf der Liste des Wissenschaftlers gehörten viele enge Kollegen, andere Ermittler, die dem Mann einmal zu nahe gekommen waren. Ein Schicksal, das auch Apostol zu blühen drohte, wenn sie nicht vorsichtig war.

»Ich habe hier was!«

Severus Inq kam auf sie zu, in seinen schneeweißen Plastikhänden trug er eine elektronische Komponente, die Apostol nicht auf den ersten Blick zuordnen konnte. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. Inq wusste alles. Das war sein Job.

»Biometrischer Formungsmesser«, sagte er ohne weitere Aufforderung. »Zumindest ein Teil davon. Ein Genmodifikator.«

»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es Snead, als er das Teil in Augenschein nahm. »Er wird doch nicht …«

Es gab immer nur schlechte Nachrichten, wenn es um Gracen ging. Diese hier aber war besonders schlecht. Sie konnte das Ende all ihrer Bemühungen darstellen, so nahe vor dem Ziel.

»Oh doch, er wird«, sagte Apostol düster. »Er will sich komplett rekonfigurieren. Aussehen. DNA. Alles. Er muss das vor langer Zeit vorbereitet haben. Und es erklärt die drei Leichen. Die Frau ist Dr. Anetha Skalkrug. Bioformerin. Eine Expertin für Gestaltumwandlungen. Ich glaube nicht, dass er die Absicht hat, sich die notwendige Erlaubnis für den Eingriff zu beschaffen. Er macht es einfach selbst.«

Gracen war ein Mörder, und er war ein Genie. Inq wusste vielleicht alles, der Wissenschaftler aber, der seinen Genius alleine für Straftaten einsetzte, die ihn reich und berüchtigt gemacht hatten, konnte alles. Er war von extremer Bildung und besaß viele Talente. Die Umformung würde für ihn, hatte er erst einmal die Ausrüstung beisammen, das geringste Problem sein.

»Nun, der Messer hier fehlt ihm«, sagte Inq.

»Das wird ihn nicht lange aufhalten«, kommentierte Kang, der seine Scans mittlerweile beendet hatte. »Wenn er den Rest des Umformers fertig hat, ist es kein Problem, das Teil zu ersetzen. Auf dem Schwarzmarkt vielleicht eine Woche, wenn er zu zahlen bereit ist.«

Gracen war bereit. Er war steinreich. Eine Woche also.

Apostol nickte.

Jetzt lief ihnen die Zeit davon, und das mehr denn je.

3

Ein guter Ort, dachte Joaqim Gracen und drehte sich langsam einmal um sich selbst. Das war kein normales Hotelzimmer. Es war ein schmuck- und fensterloser Raum, der gut sieben Meter unter der Landefläche lag, die den Raumhafen von Candar ausmachte. Manchmal zitterten die Wände, wenn ein Raumschiff direkt über ihm abhob und wenn die schweren Verladekräne sich mit ihren Füßen in den Keramikbeton bohrten. Er ertrug all dies mit Gelassenheit, denn es gab für ihn derzeit keinen Ort auf dieser Welt, der sicherer war. Und solange er diesen Planeten noch nicht verlassen konnte, musste er sich in Bescheidenheit üben.

Der Raum war groß. Auf der einen Seite fand er die Annehmlichkeiten einer Unterkunft, für die er einer höchst illegalen Schmugglerorganisation eine sehr beträchtliche Miete zahlte: ein Bett, ein Sofa, ein Nahrungsautomat, eine Toilette – alles funktional, aber nichts davon hatte Stil. Gracen bedauerte das nicht. Der fehlende Luxus erinnerte ihn daran, was er verdiente, was ihm noch fehlte und wonach er strebte, und all das fokussierte seine Aufmerksamkeit und potenzierte seine Energie. Er lebte. Er war entkommen, wenn auch knapp. Apostol war schon immer lästig gewesen. Die Verzweiflung, die sich aus ihrem beständigen Versagen speiste, machte sie zunehmend hartnäckig. Ein Dackel, der sich im Hosenbein verbiss. Gracen hatte einmal einen Dackel gehabt, er wusste, wovon er sprach. Er hatte ihm die Schädeldecke geöffnet, eine Gehirnsonde implantiert und dafür gesorgt, dass er eigenständig ein Hochhaus betrat, ein Treppenhaus emporkletterte und sich mit letzter Kraft von ganz oben in den Tod stürzte. Sein erstes Meisterstück. Elf war er damals gewesen. Seine Mutter hatte ihn bestraft.

Gracen lächelte fein. Später hatte er sie bestraft. Auch sie war gesprungen, mit einer etwas komplexeren Variante der gleichen Sonde im Kopf. Sie war fett gewesen und beim Aufprall geplatzt wie eine reife Melone. Sehr zufriedenstellend.

Auf der anderen Seite des Raums stand seine Ausrüstung. Der Formtank, die große, schneeweiße Einheit mit chromblitzenden Armaturen, sündhaft teuer, illegal, in jahrelanger Arbeit aus ihren Komponenten zusammengesetzt, ein hochkomplexes Stück Medizintechnik. Sein ganzer Stolz, sein Weg in die Freiheit. Es dauerte nicht mehr lange, dann würde er sich hineinlegen und danach wie neugeboren wieder aufstehen. Nein, korrigierte er sich. Nicht »wie«. Es würde eine wahre Wiederauferstehung sein. Joaqim Gracen würde niemals ein Grab bekommen, aber sein Ende war unausweichlich. Zu gegebener Zeit, daran erinnerte er sich, musste er sich einen neuen Namen ausdenken. Etwas Klangvolles mit Stil, abhängig von der neuen Identität, die er sich erschaffen würde. Er erwog mehrere Optionen.

Alles würde besser werden.

Gracen beendete seinen Rundblick. Er schaute auf die Uhr. Sein Kontaktmann war überfällig. Er hasste Unpünktlichkeit, wusste aber, dass die meisten Menschen ein sehr entspanntes Verhältnis zur Zeit hatten. Sie unterschätzten den Wert einer effizienten Nutzung der zur Verfügung stehenden Minuten und Stunden. Es waren alles Verschwender. Gracen hasste auch Verschwendung. Unpünktlichkeit war nichts anderes. Aber er wusste die Dummheit der ihn umgebenden Individuen zu ertragen, solange sie nützlich waren, er sogar auf ihre Hilfe angewiesen war. Er war kein Soziopath. Ein bisschen vielleicht, gut. Aber er war zu sinnvoller Interaktion in der Lage. Er konnte scherzen. Er hatte Humor. Er verstand die Menschen. Er wusste sogar, wie man Sex machte.

Er fand es nur langweilig.

Ein Signal ertönte. Der Bewegungsmelder hatte angesprochen. Gracen griff in seine Jackentasche. Der Klammerwerfer war geladen und schussbereit. Er mochte diese Waffe. Sie verschoss kleine Metallklammern, die sich in das Fleisch des Gegners gruben. Sie töteten nicht, sondern verursachten große Schmerzen, eine endlose Qual, die niemand beenden konnte: Die winzigen Roboter fraßen sich langsam und genüsslich immer tiefer in das weiche Gewebe, bis sie auf Knochen trafen. Man musste sie einzeln operativ entfernen, und meistens waren die Getroffenen vorher wahnsinnig geworden. Ein Schuss platzierte drei Dutzend auf einem Opfer, und Gracen ging gerne sicher und feuerte mehrmals. Er traf auch gut. Er hatte geübt. Er mochte es, wenn sie schrien und ihn in dem Bewusstsein anstarrten, dass diese Agonie noch schier endlos weitergehen würde. Manchmal, wenn er Zeit hatte, verabreichte er seinen Opfern ein Stärkungsmittel, das den Kreislauf anregte. So konnten sie sich nicht so einfach in die Bewusstlosigkeit verabschieden. Er hatte die Ampulle mit dem Medikament in der anderen Tasche. Hier unten, unter dem dicken Beton, würde niemand sein Opfer schreien hören.

Nein, es war nur sein Kontaktmann. Gracen beherrschte die Enttäuschung, die ihn plötzlich ergriff. Es würde sicher eine andere Gelegenheit geben. Eine Freude, die man aufschob, war umso süßer, wenn sie schließlich bereitet wurde.

Der Mann war in einen typischen Overall eines Raumhafenarbeiters gekleidet. Er hatte eine struppige Frisur, das Haar glänzte fettig. Gracen verzog sein Gesicht. Er verstand nicht, wenn Leute nicht auf ihr Äußeres achteten. Es zeigte, wie wenig Respekt sie vor sich selbst hatten. Im Grunde verdienten sie alle schon deswegen den Tod. Aber nicht dieser hier, nicht heute. Er wurde gebraucht.

»Sie sind spät«, begrüßte Gracen ihn.

»Die Wachen wurden verstärkt. Irgendein Irrer hat in der Stadt eine Familie ausgelöscht. Überall sind Streifen und Kontrollen, vor allem am Raumhafen. Es ist ein Wunder, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe.«

Gracen nickte. Die Erklärung war akzeptabel. Er ließ den Werfer in seiner Tasche los, nicht ohne ein gewisses Bedauern, denn der Tölpel hatte ihn einen Irren geschimpft, und das nahm er ihm ein wenig übel. Gracen war überdurchschnittlich begabt. Seine geistige Stabilität befand sich auf einem höheren Niveau, und natürlich verstanden das die Dummen nicht. Für sie war er damit »irre«. Tatsächlich war er von allen der Vernünftigste. Eines Tages, das hatte er sich schon lange vorgenommen, würden sie es verstehen, und wenn nicht, dann war das nur ein weiterer Grund, den eigenen Weg über ihre Leichen fortzusetzen.

Was am heutigen Tag bedeutete, dass er die Hilfe dieses Mannes benötigte. Gracen wusste, dass er als Mensch ein soziales Wesen war. Das hieß aber nicht, dass es ihm Freude bereitete. Am liebsten, so sein Traum, wäre ihm, wenn es nur einen Menschen im Universum gäbe, und zwar vorzugsweise ihn selbst.

»Der Flug geht morgen früh«, sagte der Mann und reichte ihm ein altmodisches Ticket auf Plastikfolie, das Gracen nahm und sofort in die Tasche steckte. »Sie heißen für die Reise Jordan Gaines, und wir haben Sie schon eingecheckt. Das war übrigens nicht preiswert.«

Er sah Gracen auffordernd an. Der Mann verzog das Gesicht, unmerklich nur, aber jeder, der ihn kannte, hätte sofort alarmiert reagiert. Sein Kontakt aber sah ihn das erste Mal und war völlig gelassen.

»Ich habe 120.000 Taler an Ihre Auftraggeber überwiesen«, sagte Gracen langsam und in betonter Ruhe. »Das sollte alle Ausgaben beglichen haben und noch einen schönen Profit bringen.«

»Die Preise sind gestiegen. Der Mord hat die Sache kompliziert gemacht. Einige, die vorher die Hand aufgehalten haben, sind jetzt erst mal eine Weile vorsichtig. Tun ihre Pflicht und so. Das sorgt dafür, dass wir für manches teure Umwege gehen müssen. Vom Profit ist nicht mehr viel übrig. Ich denke, wir brauchen einen kleinen Bonus.«

Gracen war sich nicht sicher, ob der Mann mit »wir« tatsächlich seine Bosse oder sich selbst meinte, es war im Grunde auch völlig egal. Er setzte ein freundliches Lächeln auf. Jeder, der ihn näher kannte, wäre jetzt davongerannt, sein Gegenüber aber sah ihn nur erwartungsvoll an.

»Einen Bonus? Haben Sie denn alle Dokumente dabei? Die falsche ID? Die Frachtpapiere für mein Hab und Gut? Die Tarnbehälter für die Kontrollnaniten?« Sein größter Schatz, wenn man es recht betrachtete. »Die Speditionszusage?«

»Alles hier«, erklärte der Mann bereitwillig und zog einen Packen Folien hervor, mit dem er vor Gracens Nase hin und her wedelte. »Die Sachen werden in einer halben Stunde abgeholt, verpackt und verladen. Sehr zuverlässiges Unternehmen, das nicht einmal ahnt, was hier abläuft. Ehrenwert bis auf die Knochen.« Der Mann grinste verschwörerisch und mit einer Kameraderie, die in Gracen Übelkeit hervorrief.

»Das ist ja ganz wunderbar«, sagte er dann. Die folgende Bewegung hatte er tausendfach geübt, sie erfolgte geschmeidig und schnell, und niemand, der nicht im Nahkampf trainiert war, konnte etwas gegen sie ausrichten. Der Kontaktmann öffnete den Mund zu einem Protest, als der Klammerwerfer auf ihn gerichtet wurde, machte tatsächlich einen Schritt zurück – albern! – und hob abwehrend die Hände – noch viel alberner! Gracen schoss, einmal, zweimal, genehmigte sich noch einen dritten Schuss, dann sah er, wie der Getroffene schreiend und um sich schlagend zu Boden fiel. Gracen senkte die Waffe.

Die Schreie gefielen ihm gut. Der eben noch so selbstgefällige Mann stieß seine Qual in hohen Tönen aus, mit ganzer Lunge, versuchte sich die metallenen Klammern aus der Haut zu reißen. Er entwickelte beachtliche Kräfte, wie Gracen neidlos anerkennen musste. Eine der Klammern, die etwas ungünstig aufgekommen war, zog der Leidende mit urtümlicher Gewalt aus dem eigenen Fleisch, das in Fetzen dranhing. Doch seine Bewegungen wurden langsamer, als sich die anderen Klammern methodisch durch Haut und Gewebe zu fressen begannen. Dann verdrehte er die Augen, und gnädige Bewusstlosigkeit umfing ihn, während die Geschosse sich mit einem sanft knirschenden Geräusch weiter durch seinen Körper vorarbeiteten und dabei viele dünne Blutströme auslösten, die sich neben dem reglosen Leib zu einer Pfütze vereinten.

Gracen verzichtete in diesem Fall auf das Stärkungsmittel, obgleich es ihm sicher Freude bereitet hätte, alledem noch etwas länger beizuwohnen. Doch die Zeit drängte, er musste die Leiche verschwinden lassen, die Verladung seiner Ausrüstung überwachen und sich selbst für die Abreise bereit machen. Er beugte sich hinunter, nahm dem beinahe Toten die Dokumente ab und steckte sie sorgfältig ein. Der Körper vor ihm zuckte ein wenig hin und her, wenn die Klammern einen Muskel oder eine Sehne erreichten und einen Reflex auslösten. Irgendwie ein lustiger Anblick. Gracen jedenfalls lächelte, und es war diesmal aus echter Freude.

Dann trat er dem noch schwach Atmenden mit seinem Absatz auf den Kehlkopf. Ein scharfes Knacken ertönte, als er ihn mit Wucht in die Speiseröhre drückte und dabei gleichzeitig das Genick brach, ein sehr befriedigendes Gefühl, wie das Zerdrücken von Bläschenfolie.

Das erinnerte ihn daran, dass er solche nun benötigte, um seine Geräte einzupacken. Es gab noch viel zu tun. Bald würde er diese Welt verlassen. Und kurz darauf sein altes Leben.

Er freute sich schon auf das neue.

4

»Es tut mir leid.«

»Das glaube ich Ihnen sogar.«

Werftdirektor Evans von Cand starrte auf die Schreibtischplatte. Sie bestand aus einem seltenen Holz, dessen Namen er nicht kannte, glatt poliert, vor über zwei Jahrhunderten durch die sorgfältige Hand des Tischlers und seitdem von allem, was von Cand und sein Vater daraufgelegt hatten. Das Holz scheuerte nicht, es gab keine Macken und keine Streifen, es glänzte immer weiter, wie am ersten Tag. Diese besondere Eigenschaft machte es so wertvoll, und sein Vater war sehr glücklich, ja stolz gewesen, ein so schönes Möbelstück sein Eigen nennen zu dürfen. Angesichts der aktuellen Entwicklung war Evans froh, dass sein alter Herr seit vielen Jahren tot war. Er wäre nicht erfreut gewesen.

Evans war auch nicht erfreut. Nicht einmal Horana LaPaz war froh, obgleich ihr der geringste Schaden zugefügt wurde. Sie repräsentierte Holloway, Pansel & Klint, die Anwaltskanzlei seiner Firma, mit der auch bereits sein Vater enge Beziehungen gepflegt hatte. Holloway, Pansel & Klint waren ebenso tot wie der Gründer von Cand Spaceways, und die edle Tradition der Firma wurde von den drei Töchtern aufrechterhalten, von denen Horana LaPaz die Älteste war. Evans wusste es zu würdigen, dass sie sich persönlich in sein Büro begeben hatte, ein Zeichen des Respekts für einen Mann, der soeben eine schwere Niederlage erlitten hatte.

»Es ging wirklich nichts mehr?«

»Wir haben geklagt. Wir haben gewonnen. Ich habe die Vollzieher geschickt«, zählte Horana auf, und bei jedem Punkt hob sie einen schlanken, sorgfältig manikürten Finger, dessen hellbraune Haut im sanften Licht der Deckenbeleuchtung zu schimmern schien. »Wir haben uns alles angeschaut, jedes Konto, Immobilien, Wertsachen, und die Gesamtsumme, die wir ermittelt haben, liegt ziemlich genau bei 2,3 Millionen Talern.«

»Dann sind wir auf noch größere Weise betrogen worden als erwartet«, stellte der Direktor der Werft ernüchtert fest. »Ich hatte gehofft, nach dem Insolvenzurteil zumindest noch Zugriff auf gewisse Passiva zu bekommen, die wir zu Geld machen können. Aber es ist ja so gut wie nichts da. Convent schuldet uns fast 98 Millionen, Horana! Was soll ich da mit etwas mehr als zwei anfangen?«

»Sie nehmen und glücklich darüber sein, dass überhaupt etwas da ist«, erwiderte die Anwältin leise. »Convent hat nicht nur Sie an der Nase herumgeführt. Die Liste der Gläubiger ist lang. Sie stehen an erster Stelle, aber mehr haben wir letztendlich nicht erreichen können.«

»Dass wir nicht das einzige Opfer sind, ist kein großer Trost. Die eigene Dummheit schmerzt nicht weniger, nur weil man Teil einer Herde von Idioten ist.«

Von Cand presste die Lippen aufeinander, fixierte wieder die sanft reflektierende Oberfläche des Tisches. Ein edles Stück dieser Art brachte auf dem Antikmarkt gute 5000 Taler ein, wenn nicht 6000. Es war entsetzlich, dass sich ihm dieser Gedanke nun aufdrängte, denn möglicherweise würde er ihn tatsächlich verkaufen müssen, zusammen mit allem anderen. Er war beim Bau der Unendliche Schönheit erheblich in Vorleistung getreten, hatte den Versprechungen der Werft genauso geglaubt wie die gefälschten Sicherheiten nicht ausreichend überprüft. Nun stand er selbst mit dem Rücken zur Wand.

»Sie können immer noch die Schönheit verkaufen«, sagte die Anwältin mitfühlend. »Sie gehört Ihnen.«

»Ha!«, machte von Cand und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Das ist eine große Hilfe. Ein Kreuzfahrtschiff. Ein gigantisches Kreuzfahrtschiff. Wissen Sie, wie die Branche aussieht? Überkapazitäten, wo man hinblickt! Ich hätte mich sofort wundern sollen, warum Convent so einen Pott auf Kiel legen wollte! Aber nein … aber nein …«

Von Cand seufzte. Er war gierig gewesen, die Konditionen hatten aber auch zu gut ausgesehen. Und die Linerflotte seiner Firma war alt und benötigte frisches Blut. Alles hatte so wunderbar gepasst. Zu wunderbar. Jetzt wurde ihm die Rechnung präsentiert.

»Jemand wird das Schiff kaufen. Es ist fast fertig.«

»Es ist zu drei Vierteln fertig«, korrigierte von Cand. »Wer immer es kauft, muss noch einmal kräftig draufbuttern. Was kann ich also erlösen? Wenn ich sehr viel Glück habe, ein Viertel des Kaufpreises. Auch dann bin ich bankrott, Horana. Ich kann doch nicht einmal Ihr Honorar zahlen.«

Die Anwältin zog unmerklich die Augenbrauen hoch, und von Cand musste ihrer Selbstbeherrschung applaudieren. Das waren keine guten Nachrichten für sie, denn die Kanzlei hatte sich wirklich angestrengt. Er seufzte und drückte einen Knopf an seinem geliebten Tisch. Er konnte es doch auch nicht ändern. Besser, wenn sich alle der harten Wahrheit stellten.

»Theresa, bitten Sie Ergin herein.«

Augenblicke später öffnete sich die Tür, und ein hochgewachsener Mann mittleren Alters eilte über den dicken Teppich, nickte der Anwältin zu – man kannte sich – und nahm unaufgefordert in einem zweiten Sessel Platz. Er trug einen etwas lose sitzenden Anzug, der vor Jahren modern gewesen war, und wirkte sehr ernst. Ergin Balthus war der Chefingenieur der Ausbesserungswerft, die zu Evans’ Firma gehörte. Dort konnten sie keine Schiffe von der Größe der Schönheit bauen, aber sie würden in der Lage sein, den Rohbau auszustatten, wenn es sein musste. Ergin war ein Mann von großer Erfahrung und Sachkenntnis und gleichzeitig der Chefkonstrukteur der Unendliche Schönheit, des größten Schiffes, für das er jemals verantwortlich gewesen war. Sein Stolz, den er damals ob dieser Tat empfunden haben musste, war der gleichen Ernüchterung gewichen, die auch von Cand nun fühlte, und es war dem Ingenieur anzusehen, dass ihm dies schon fast körperliche Schmerzen bereitete.

»Direktor«, sagte der Mann statt einer Begrüßung, »Sie haben Fragen?«

»Welche Summe wäre nötig, um die Schönheit plangemäß fertigzustellen?«, fragte von Cand.

Die Antwort kam sofort. Natürlich hatte Ergin diese Zahlen parat.

»Noch einmal sieben Millionen. Es geht im Grunde fast nur noch um die Innenausstattung, und da kann man sparen. Nicht sparen kann man an Sicherheit, Redundanz, Rettungsmaßnahmen und derlei – da gibt es gesetzliche Vorschriften, die müssen wir einhalten.«

Von Cand sah LaPaz an. »Sieben Millionen, und Ergin ist niemand, der unnötig auf die Kacke haut. Das ist eine realistische Summe. Die muss ein zukünftiger Besitzer noch einmal aufbringen, wenn er das Schiff einigermaßen ausstatten möchte. Kennen Sie eine Reederei oder eine große Werft, irgendeinen potenziellen Investor, der sich das ans Bein binden wird?«

Die Anwältin musste gar nichts sagen. Ihrem Gesichtsausdruck war die Antwort bereits zu entnehmen. Von Cand wandte sich wieder an seinen Chefingenieur.

»In was könnte man das Schiff umrüsten, Ergin? Welche anderen Aufgaben könnte es erfüllen?«

»Oh, das wird richtig teuer, egal was wir uns vorstellen«, sagte der Mann sofort. Auch darüber hatte er sich zweifelsohne bereits seine Gedanken gemacht. »Man könnte ein Hospitalschiff daraus machen, für Notfälle planetaren Ausmaßes. Doch das Konkordat unterhält bereits fünf kleinere Einheiten, und soweit ich weiß, sind sie in den letzten zwanzig Jahren nur ein- oder zweimal eingesetzt worden und sitzen sonst nur in irgendeinem Orbit und fressen Geld. Ich vermute, die Flottenautorität wird nicht einmal ernsthaft an die Übernahme der Schönheit denken, selbst wenn wir sie verschenken würden.« Er sah den Direktor prüfend an. »Wollen wir sie verschenken?«

»Das würde ich wirklich gerne vermeiden. Und sonst? Umbau zum Frachter?«

Ergin schüttelte den Kopf. »Das wäre theoretisch möglich, aber die Umbaukosten wären noch mal höher. Das Schiff ist in seiner inneren Stabilität darauf angelegt, als Personentransporter zu fungieren – als Luxusliner. Natürlich können wir Veränderungen vornehmen, aber die Kosten … ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber das Doppelte sicher. Es wäre aber im jetzigen Zustand, ohne Innenausstattung, schnell zu erledigen. Das ist vielleicht ein Vorteil.« Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er es nicht für einen hielt.

»Vierzehn also«, knurrte von Cand. »Und wir haben im Frachtbereich ebenfalls Überkapazitäten. Der Handel im ganzen Konkordat ist in den letzten Jahren eingebrochen, alle stöhnen sie. Niemand braucht so ein Monster.«

Ergin widersprach nicht. Er war der Technikexperte und beantwortete Fragen. Für das Geschäftliche war der Direktor verantwortlich, und man merkte an den fragenden Blicken, die der Ingenieur von Cand zuwarf, dass er an den Fähigkeiten des Mannes in dieser Hinsicht zu zweifeln begonnen hatte. Von Cand konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte selbst Zweifel entwickelt. Aber er trug die Verantwortung, und wenn ihn sein Vater eines gelehrt hatte, dann, dass man vor dieser nicht davonrennen konnte, erst recht nicht, wenn es mal richtig schlecht lief.

»Ergin, wenn wir die Schönheit zurückbauen, die Anlagen verkaufen, die Hülle verschrotten, was könnte das bringen?«, fragte er nun.

Der Ingenieur verbarg seinen Widerwillen nur mühsam. Das war ein Sakrileg, eine persönliche Beleidigung. Auch nur daran zu denken, ein funkelnagelneues Schiff, ein Meisterwerk der Baukunst, einfach auseinanderzunehmen und die Teile zu versilbern, war ihm zuwider. Er bewegte die Lippen für einen Moment aufeinander, als müsse er die Worte erst zurechtkauen, um niemanden zu beleidigen, doch der indignierte, ja ablehnende Unterton war deutlich herauszuhören, als er schließlich antwortete.

»Ich schätze, etwa zehn Millionen. Das ist ja alles praktisch neu. Einiges werden die Zulieferer möglicherweise sogar direkt mit einem Abschlag zurücknehmen. Zehn Millionen.«

Von Cand sah die Anwältin an. »Das hört sich wie unsere beste Option an.«

»Es deckt nicht einmal ansatzweise die aufgelaufenen Verbindlichkeiten«, erinnerte sie ihn.

»Wir haben andere Aufträge, und ich werde die Banken um eine zusätzliche Kreditlinie bitten«, sagte der Direktor. »Wir sind noch gut im Geschäft.«

»Nicht gut genug, fürchte ich.« Sie sah fragend auf Ergin, der dem Austausch ohne Kommentar gefolgt war.

Der Direktor nickte. »Ergin ist länger in dieser Firma als ich. Wir können offen sein.«

LaPaz seufzte. »Direktor, die Zinsen alleine … Sie werden das mit Ihren Buchhaltern noch mal besprechen, aber ich habe die Zahlen ja auch bekommen, im Zuge der Prozessvorbereitung. Selbst wenn die Auftragsbücher voll wären – und das sind sie nicht, egal was Sie erzählen –, wird es die Banken nicht überzeugen. Sie werden aufhören, gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen, Direktor. Sie können es versuchen, ja, aber …«

Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen, doch von Cand wusste auch so, was sie hatte sagen wollen. Die Anwältin jedenfalls teilte seinen Zweckoptimismus nicht, und da es nur Zweckoptimismus war, er eigentlich auch nicht.

»Sie brauchen bei der aktuellen Auftragslage kurzfristig 20 Millionen, Direktor. Das ist wirklich die untere Grenze, wenn Sie sich über Wasser halten wollen.«

Sie hat ja recht, dachte von Cand. Sie hat ja recht.

Für einen Moment hing eine düstere Stille im Raum. Ergin fühlte sich erkennbar unwohl, und ihm war anzusehen, dass ihm weder eine gute Idee einfiel noch er etwas Tröstendes vorzubringen imstande war.

»Es ist gut«, sagte von Cand schließlich. »Ich rede mit den Banken. Schaden kann das nicht. Ergin, ich danke Ihnen.«

»Sollen wir die Arbeiten einstellen?«, fragte dieser noch im Hinausgehen.

»An der Schönheit? Ja, sofort. An allen anderen Ausbesserungen wird weitergearbeitet.«

Der Ingenieur nickte und ging. Von Cand starrte ihm nach und sagte dann leise: »Ein guter Mann, einer der besten. Er wird leicht eine neue Stelle finden. Man wird sich um ihn reißen.«

Um Evans von Cand aber, dessen war er sich bewusst, würden alle nur noch einen weiten Bogen machen. Wäre er dazu in der Lage, würde er selbst es genauso machen.

5

Geon hob den rechten Arm, verbiss sich den Schmerz, den die Bewegung auslöste und die in Wellen durch seinen restlichen Körper flutete. Sein Arm zitterte. Es war so anstrengend, dass ihm schlecht wurde. Doch dann sprang der Timer um, stieß den beruhigenden, sanften Laut aus, auf den Geon gehofft hatte, und er konnte das geschwächte Körperglied wieder auf die Bettkante sinken lassen.

Dreißig Stunden. Wieder dreißig Stunden.

Saim stand neben ihm und schaute auf den Liegenden herab, die beiden großen, pupillenlosen Augen fixierten den ausgemergelten Leib. Er hatte Geon bei seiner Bewegung nicht geholfen, natürlich nicht. Hätte er es getan, der Timer wäre nicht umgesprungen und Geons Zeit wäre ebenfalls abgelaufen. Die Grauen Träger wären gekommen, hätten dem Schwächling eine Dosis verabreicht, seinen Tod abgewartet und ihn dann entsorgt. Saim hätte Geon keinen Gefallen getan. Und wäre dann ob der unerlaubten Hilfe bestraft worden.

Er hätte es auch gar nicht gewollt. Der dünne, fast lippenlose Mund verzog sich ärgerlich, als er Geons Kraftanstrengung beobachtete. Am liebsten, das wusste der Erkrankte, hätte Saim ihm den Arm fortgeschlagen, doch das wäre wiederum Mord gewesen, und auch das wurde sofort und unnachgiebig gesühnt. Saim hatte nur tatenlos zusehen können, wie Geon sein Leben ein weiteres Mal verlängert hatte, weitere dreißig Stunden wertvolle Ressourcen verbrauchte, Luft wegatmete, Nahrung zu sich nahm – wenig genug, wie jeder einräumen würde, der den Liegenden betrachtete – und vor allem seine Position behielt. Eine Position, auf die Saim aus war, dessen Ungeduld wie ein übler Geruch aus jeder Pore seines Körpers zu dringen schien.

Geon sah Saim an, wie er sich mühsam beherrschte, und allein dieser Anblick gab ihm Energie für dreißig Stunden. Er konnte sich jetzt ausruhen, seine Kräfte sammeln, um dann erneut zu versuchen, die vorgeschriebene Mindestbewegung zu schaffen, etwas mehr Zeit zu gewinnen, nur ein weiteres Mal. Eine weitere Frustration für seinen Konkurrenten. Noch einmal dreißig Stunden Frieden.

Es war nicht so, dass Geon große Angst vor dem Tod hatte. Das physische Ende war für alle Mitglieder seines Volkes etwas Beiläufiges, und innerhalb der reisenden Sphäre waren Leben und Tod ohnehin etwas, deren Grenzen immer wieder verschwammen. Aber Saim als Mitglied des Obersten Siegels, mit all seinen verrückten Plänen und gefährlichen Ansichten – Geon durfte nicht einfach aufgeben, er musste es so lange hinauszögern, vor allem jetzt, wo ein weiterer Stopp bevorstand und, wenn alles lief wie erwartet, eine weitere Aufnahme.

Begrenzte Ressourcen würden langfristig noch begrenzter werden. Ein Konflikt war unausweichlich. Geschichte wiederholte sich, ein Zyklus endete. Doch man wusste nie, wer aus einem solchen Konflikt als Sieger hervorging und wie viele Opfer tatsächlich unausweichlich waren. Die Dinge liefen derzeit sicher ungünstig. Und das galt leider vor allem für Geons krebszerfressenen Leib, der ein einziger permanenter Herd unglaublicher Schmerzen war. Was ihn genau noch am Leben hielt, wusste er manchmal auch nicht. Saim war anzusehen, dass ihm das ebenfalls ein großes Rätsel war.

»Warum gibst du nicht auf? Du quälst dich ganz unnötig«, sagte er leise. Er hatte recht. Selbst wenn Geon noch ein paarmal den Arm hob und den Timer auslöste, am Ende würde er nicht mehr stark genug sein.

»Du weißt, warum.«

»Du bist ein alter Narr, Geon. Deine Krankheit vernebelt deine Sinne.«

»Ein Narr und alt, ja. Aber nicht halb so närrisch wie du, Saim, der du gesund bist und jung. Ich frage mich, wie derangiert du sein wirst, erreichst du erst meine Jahre.«

»Ich habe vor, nicht so lange zu leben.«

»Das ist die erste gute Nachricht des heutigen Tages.«