Die Reise der Scythe 2: Varianz - Dirk van den Boom - E-Book

Die Reise der Scythe 2: Varianz E-Book

Dirk van den Boom

4,4

Beschreibung

Am Rande des Abgrunds Auserwählte oder Gefangene? Die Besatzung des Polizeikreuzers Scythe, gefangen in einer rätselhaften Raumsphäre, muss herausfinden, welche Rolle sie in dem Drama spielt, in das sie geworfen wurde. Innerhalb des Gefängnisses, zusammengepfercht mit Hunderten anderer Zivilisationen, stehen die Zeichen auf Sturm. Ein wahnsinniger Potentat will den erlösenden Krieg, um Lebensraum zu schaffen; der mysteriöse Zentralkern beginnt erstmals seit Jahrtausenden eigene Aktivitäten zu entfalten – und es gilt, Menschen zu helfen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Als die Sphäre auch noch mit einem äußeren Gegner konfrontiert wird, der dem Raubzug durch die Galaxis Einhalt gebieten möchte, wird die Situation unkontrollierbar und bedrohlich. Captain Lyma Apostol und ihre Gefährten wissen nur eins: wenn sie untätig bleiben, wird der Sturm von Gewalt und Tod, der sich zusammenbraut, sie gnadenlos zur Seite fegen. Die Frage bleibt, wie viel Varianz die Sphäre ertragen kann, ohne dass sie alle zusammen in den Abgrund gerissen werden.

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DIRK VAN DEN

BOOM

DIE REISE DER

SCYTHE

2 | VARIANZ

DIE REISE DER SCYTHE – Band 2: VARIANZ

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Arndt Drechsler und Herminio Nieves; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Printed in the Czech Republic.

Copyright © 2018 Dirk van den Boom

Originalausgabe

Print ISBN 978-3-95981-529-1 (September 2018) · E-Book ISBN 978-3-95981-530-7 (September 2018)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

WAS BISHER GESCHAH

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

WAS BISHER GESCHAH

Zwei junge Astronomiestudenten, Elissi und Jordan, entdecken ein seltsames Objekt, das sich mit großer Geschwindigkeit von außerhalb der Galaxis kommend durch den Raum bewegt und als Nächstes im Territorium des Konkordats Halt machen wird. Sie werden einer Einheit von Wissenschaftlern auf dem Schiff Licht des Wissens zugeteilt, die im Auftrag der Astronomischen Autorität dieses sphärenförmige Objekt untersuchen wollen.

Auf der Jagd nach dem Schwerverbrecher Joaqim Gracen, der sich einer genetischen Veränderung unterworfen hat und nun nicht mehr am Aussehen erkennbar ist, verfolgen Captain Lyma Apostol und die Crew des Polizeischiffs Scythe seine Spur – bis zu dem Wissenschaftsschiff, das sich der rätselhaften Sphäre annehmen möchte.

Beide Schiffe werden in die Sphäre gezogen, in deren Inneren seit Jahrhunderten ein Kampf um begrenzte Ressourcen und das blanke Überleben herrscht – vor allem nach dem Tode eines Politikers, der bisher die Fäden in der Hand hielt. Die Sphäre indes macht sich wieder auf den Weg und nimmt die Erdlinge mit sich.

Der innere Konflikt spitzt sich immer weiter zu. Während die Scythe dem zunächst entfliehen kann und sich in der Nähe des Kerns der Sphäre aufhält, werden die Wissenschaftler an Bord der Licht des Wissens gefangen genommen, nur die zwei Studenten können entkommen und sich auf der Scythe in Sicherheit bringen.

Jordan und Elissi untersuchen von der Scythe aus den offenbar organischen Kern der Sphäre, eine sich erwärmende, bewegliche Masse. Elissi ist es schließlich, die in den Bewegungsmustern der Oberfläche des Kerns eine Botschaft erkennt: das Logo der Astronomischen Autorität. Es scheint fast so, als hätte die Sphäre nur auf sie gewartet …

1

Siebzehn von ihnen waren noch am Leben.

Nein, Leben war anders. Sie existierten.

Rivera schaute sie sich immer wieder an, sprach, lächelte, berührte, wo es erlaubt war. Er ging von einem zur anderen. Er war bemüht, ihren Geist zu stärken und zu ermuntern, ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen, irgendwie. Es fiel ihm schwer, mangelte es ihm doch selbst oft an der nötigen Kraft. Das Problem war in ihnen selbst, und nur da. Sie waren alle in einem akzeptablen körperlichen Zustand, von leichten Verletzungen einmal abgesehen. Horana LaPaz hatte es am schlimmsten erwischt, mit dem abgehackten Arm, der fachmännisch verarztet worden war. Sie hatte lange unter Schock gestanden, und Rivera hatte die größten Befürchtungen gehabt, doch sie war eine zähe Frau.

Möglicherweise die zäheste von ihnen allen.

Alle siebzehn Gefangenen saßen in einem Raum an Bord der Licht, die nun ganz in Händen der Iskoten war, und nachdem Rivera alle Steuerungscodes des Schiffes auf Eirmengerd, den Kommandanten der Invasoren, übertragen hatte, war deren Kontrolle vollständig. Erkensteen, der Ingenieur, war derzeit der Einzige, den die Eroberer immer wieder aus dem großen Raum holten, um ihn bezüglich der außergewöhnlichen technischen Anlagen zu konsultieren. Das hatte nach einigen Tagen aber auch sichtlich nachgelassen, und in diesem Moment hockte der Mann wie alle anderen auf dem Fußboden, da die wenigen Sitzgelegenheiten jenen überlassen blieben, denen es körperlich oder mental nicht ganz so gut ging. Er drückte einer jungen Frau neben ihm freundschaftlich den Unterarm. Tizia McMillan hatten die Ereignisse zugesetzt, sie schwankte zwischen Zorn und Trauer und konnte jeden Zuspruch gebrauchen. Erkensteen war offenbar nicht nur gut mit Maschinen.

Viele Leute halfen sich gegenseitig, in der Hoffnung, etwas an Hilfe zurückzubekommen. Manche gaben mehr, andere nahmen mehr. Keine Vorwürfe.

Zum Glück gehörte die Ärztin der Licht zu den Überlebenden. Dr. Delia Nom hatte von ihren neuen Herren die Erlaubnis bekommen, einen der großen Behandlungskästen aus der Krankenstation hierher mitzunehmen. Sie war vorsichtig mit dem Verteilen der Medikation, und es war vielmehr ihr verbaler Zuspruch, der die Leute aufrecht hielt. Sie war Ärztin, eine Heilerin. Ein Wort von ihr war wie ein Placebo. Rivera hätte es ohne sie nicht geschafft, die Moral der Gefangenen auf einem Mindestmaß zu erhalten. Er war ihr ewig dankbar für ihren Einsatz.

Rivera beendete seinen aktuellen Rundgang, auf dem er viel aufmunterndes Kopfnicken verteilt hatte. Es gab das eine oder andere sonnige Gemüt, mit dem zumindest ein sarkastischer Scherz möglich gewesen war, aber allen lasteten die Ereignisse noch schwer auf der Seele. Das Gemetzel, das die Iskoten vor ihrer aller Augen an der Mannschaft vollführt hatten, konnte man nicht leicht vergessen. Rücksichtslosigkeit, Kaltherzigkeit, alles Begriffe, die man nur vorsichtig nutzen würde, denn keiner wusste, wie eine Alienzivilisation wie die Iskoten wirklich tickte. Dennoch, Rivera hatte seine eigenen bösen Erinnerungen, die hin und wieder in Albträumen nach oben brachen. Nishith Gosh gehörte zu den Toten, jemand, an dem die Iskoten ohne jeden Anlass ein Exempel statuiert hatten. Und Albert Toufik, der junge Pilot, war ausgerastet und zum Angriff übergegangen, als Gosh vor seinen Augen gestorben war. Er hatte binnen weniger Momente das Schicksal seines Kameraden geteilt, ohne dass Rivera etwas dagegen hätte tun können.

Sinnlose Opfer. Eine sinnlose Mission. Eine Falle. Das Gefühl des Scheiterns war niederschmetternd.

Der ehemalige Kommandant hockte sich neben Sharon Toliver auf den Boden, die mit dem Kopf an die Wand gelehnt aufrecht dasaß, die Augen geschlossen, mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt. Sie bemerkte seine Nähe und öffnete die Lider, nickte ihm zu, ohne zu lächeln, eine Mimik, die ihnen allen weitgehend vergangen war.

»Wie geht’s?«

»Allen so lala. Die Ungewissheit bringt uns aber irgendwann um. Was wird aus uns? Das fragen sie mich alle, und ich habe keine Antwort.«

»Wir werden es früh genug erfahren.« Toliver rückte sich zurecht, drückte die Schultern nach vorne, streckte die Arme in einer Dehnübung aus, die sie erst beendete, als ihre Muskeln zu zittern begannen. Ein Stoßseufzer folgte, von denen Rivera in letzter Zeit sehr viele gehört hatte. Er fuhr sich mit der Hand über das unrasierte Kinn. Ihnen wurde eine gewisse Körperhygiene zugestanden, aber nur, was das Nötigste betraf. Alles Weitere war wohl in den Augen ihrer Wärter Ressourcenverschwendung, ein Wort, das er in Zusammenhang mit ihrem Schicksal des Öfteren zu hören bekam. Es gab ihm keine große Hoffnung, dass sich ihre Situation bald verbessern würde. Rivera zwang sich, nicht wieder in einen Strudel aus Hoffnungslosigkeit und Angst zu versinken. Er musste jetzt besser sein als das, ein Vorbild, soweit es ihm möglich war. Das sagte er sich immer wieder.

Er konnte sich selbst schon nicht mehr zuhören. Sein größter Feind war nicht die Hoffnungslosigkeit, es war der Selbstekel, das Gefühl, als Kommandant versagt zu haben. Sharon wusste das, und sie war nicht bereit, ihn mit Mitleid zu trösten. Das war die beste Reaktion, die sie ihm zeigen konnte. Sie rüttelte ihn wach, erinnerte ihn an seine Pflichten und erfüllte somit die Funktion als Erste Offizierin, als würden sie noch immer auf der Brücke der Licht stehen.

Ob da überhaupt noch jemand stand? Die Licht war seit der Übernahme durch die Iskoten jedenfalls nicht mehr bewegt worden.

»Ob es die Kapseln geschafft haben?«, fragte sich Rivera leise, wie so oft in den letzten Tagen. »Ob die Scythe noch unabhängig operiert?«

»Ob dir diese Grübelei wohl gar nichts nützt?«, versetzte Toliver und ergriff in einer vertraulichen Geste seine Hand. »Efrem, du machst dir zu viele Gedanken über Dinge, auf die du keinen Einfluss mehr hast. Kümmere dich jetzt bitte um die Aspekte, bei denen du noch etwas zu bewirken imstande bist.«

»Und das wäre?« Es kam verächtlicher aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte, und er schämte sich für seinen Tonfall. Er ließ sich wirklich zu sehr gehen, und Tolivers missbilligender Blick bestätigte das.

»Rette die, die noch am Leben sind.«

»Ich habe nichts in der Hand.«

»Doch, das hast du.«

Toliver machte eine zeigende Handbewegung in den Raum hinein. »Hier sind siebzehn Köpfe versammelt, Efrem. Siebzehn intelligente und hoch qualifizierte Männer und Frauen, die normalerweise wissen, wovon sie reden. Die jetzt mit hängendem Kopf und ohne Mut dahinvegetieren, anstatt sich gemeinsam Gedanken zu machen, welche Optionen es geben könnte und wie man sich auf Eventualitäten vorbereitet. Das werden sie auch nicht tun, solange niemand den Ton angibt, Efrem. Und dieser Jemand bist qua Amt du, mein alter Freund. Dafür musst du diese Verantwortung aber auch annehmen und darfst selbst nicht alles aufgeben.«

»Ich fühle mich …«

»Ich weiß.« Toliver unterbrach ihn beinahe barsch. »Ich auch, alles davon. Aber darum geht es nicht. Fühle, was immer du an Emotionen zulässt, aber hör auf, dich selbst zu bemitleiden und dir im Wege zu stehen, wenn es darum geht, deine Pflicht zu erledigen. Wir mögen nur noch siebzehn sein, aber an deiner Aufgabe hat sich nichts geändert, egal wie sehr du dich für einen Versager hältst oder nicht.«

»Du hast mich durchschaut.«

Toliver lächelte und nickte betont, ganz und gar unbescheiden.

»Ich kenne dich lange genug. Ich habe dich sogar mal zwischen meinen Beinen gehabt. Ich kann mir eine Meinung erlauben, Efrem Rivera, und ich bin es leid, dir dabei zuzusehen, wie du deiner Verantwortung nicht nachkommst. Willst du dich jetzt zusammenreißen, oder darf ich ankündigen, dass das Amt des Captains vakant ist?«

Rivera presste die Lippen aufeinander, sah Toliver forschend an. Nein, das war keine Bewerbung ihrerseits, es war wirklich der Versuch, ihn aus dem Sumpf selbstzerstörerischer Gedanken emporzutreiben und dafür zu sorgen, dass er wieder so handelte, wie es der Würde seiner Position entsprach. Er brauchte nur einen Moment, um zu einem Entschluss zu kommen, obgleich er es mit Widerwillen tat. Einer der Gründe, warum seine Beziehung mit Sharon Toliver damals nur kurz gewährt hatte, lag darin, dass sie eine schreckliche Besserwisserin war. Dagegen hatte er eine schon fast instinktive Abneigung entwickelt, aber wo sie richtiglag, lag sie nun einmal richtig, und das viel öfter, als er sich manchmal eingestehen wollte.

Er lächelte freudlos. Sie nahm seine Kapitulation mit einem Kopfnicken zur Kenntnis.

»Was schlägst du vor?«

»So gefällst du mir besser«, sagte sie grinsend, ein schales Lob, das ein wenig zu jovial rüberkam oder zumindest so von ihm verstanden wurde. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen, und jetzt half ihm kindischer Trotz auch nicht mehr weiter. »Sprich mit LaPaz. Sie kann Ablenkung gebrauchen, und sie kann uns helfen.«

»Sei spezifischer.«

»Efrem, dieser Rat ist eine Institution, die es seit Hunderten von Jahren gibt, und das bedeutet, sie ist vor allem bürokratischer Natur. Dieser Saim mag sich als Revolutionär sehen und ist bereit, sich über Regeln und Traditionen hinwegzusetzen, aber das heißt nicht, dass er sich alles erlauben kann. Schau mal – wir haben Zugang zum Datenspeicher der Licht, das Terminal hier ist noch aktiv. Wir können Informationen abrufen. Offiziell sind wir gar keine Gefangenen, sondern Gäste, wie die Iskoten immer wieder sagen. Wir bekommen Fragen beantwortet, vielleicht nicht alle, die wir stellen, aber immerhin.«

»Warum auch nicht? Ein Blick, und wir merken, wie sehr wir am Arsch sind.«

Toliver verzog das Gesicht. »Absolut richtig. Aber da ist noch das Infopaket, das wir bei unserer Ankunft erhalten haben. Mit all der Geschichte, den Daten und Hinweisen für den geneigten Neuankömmling in der Sphäre. Wir benötigen Informationen, wenn wir handeln wollen, und solange wir nichts anderes tun können, sollte es unser Ziel sein, genau den Wissensstand zu erreichen, der uns in die Lage versetzt, etwas zu tun, wenn es an der Zeit ist. Rede mit La-Paz. Sie ist Anwältin. Es ist ihr Job, die Haken zu finden, an denen man jemanden vor Gericht aufhängen und ausbluten lassen kann.«

»Sie würde das sicher nicht so sagen.« Rivera lächelte, nickte dabei aber verstehend.

»Sie wird es jetzt, und sie muss«, entgegnete Toliver und nickte in die Richtung der Frau, die dasaß und auf ihren Armstumpf starrte. »Und sie hat es bitter nötig, wenn du mich fragst.«

Hier konnte Captain Efrem Rivera nicht widersprechen. LaPaz war zäh, und sie war ganz da, nicht so grüblerisch wie er selbst. Aber es schadete nicht, wenn sie eine Aufgabe bekam, auch wenn er selbst ihren Sinn nicht recht sah. Aufgaben halfen. Er hatte die Autorität, welche zu verteilen, und er nutzte sie viel zu wenig, damit hatte Toliver zweifelsohne recht.

Er erhob sich, zog die knittrige Uniformjacke glatt und besann sich seiner Pflichten.

Er begann mit Horana LaPaz, die ihm aufmerksam zusah, als er sich näherte.

2

Lyma Apostol trat in den »Salon«, der einen überfüllten Eindruck machte. Der Eingangsbereich der Anlage, die auf dem Schirm hockte, der den Sphärenkern umgab, hatte sicher seit endlosen Zeiten noch nicht solch eine große Ansammlung an Lebewesen gesehen. Da waren auf der einen Seite die Wissenschaftler der Hüterstation, die ein wenig eingeschüchtert in einer Ecke standen und offenbar nicht wussten, wie sie reagieren sollten, angeführt von Riem, der mit dieser Situation wohl überfordert war. Außerdem waren da die Soldaten der Fruchtmutter, Männer ohne Bauch, angeführt von einem Mann mit Bauch, auf dem streng das Gesicht seiner Herrin zu erkennen war. Und dann war da die Delegation von der Scythe selbst, angeführt von der Kommandantin, bestehend aus Inq, den beiden geborgenen Studenten sowie dem Psychologen und Profiler Dr. Ewaldus Stooma, der ebenso aussah wie Riem: überfordert und verwirrt, aber bemüht, Haltung zu bewahren.

Haltung war wichtig, vor allem im Umgang mit den Skendi, dessen war sich Apostol sicher. Also riss sie sich zusammen.

»Was ist hier los?«, murmelte sie, als sie auf den Resonanzbauch zuschritt, dessen Gesichter sie beide erwartungsvoll lächelnd ansahen.

»Captain! Verbündete! Freundin!« Die Stimme der Fruchtmutter klang ausgesprochen erfreut, und Apostol war durchaus bereit, ihrerseits freundlich zu bleiben, solange ihr jemand Erklärungen gab.

»Königin der Skendi«, begrüßte sie das Gesicht, als habe sie nicht vor wenigen Minuten exakt das gleiche in der Zentrale der Scythe gesehen, auf einem ähnlich gut genährten Bauch. »Ich sehe, dass Sie Maßnahmen ergriffen haben! Darf ich davon ausgehen, dass diese von dauerhafter Natur sind?«

»Das habe ich. Das dürfen Sie. Das Leben in der Sphäre ist in eine neue Phase getreten. Nun verändern sich die Dinge. Saim versteckt sich nicht länger hinter Worten und Ritualen. Wir müssen an unsere Interessen denken. Ich betone: unsere, Kommandantin.«

Dass die Herrin der königlichen Barke an ihre Interessen dachte, daran zweifelte Apostol keine Sekunde. Ob diese in jeder Hinsicht mit denen der Menschen oder Riems übereinstimmten, da hatte sie größere Bedenken. Aber sie stand in der Schuld der Königin. Ohne ihre Hilfe wären die beiden jungen Leute, die die ganze Szenerie mit offenen Augen beobachteten, nicht mehr am Leben. Die Scythe hätte die Waffen der iskotischen Häscher nicht mehr aufhalten können. Ehre also, wem Ehre gebührte, und eine Schuld anzuerkennen, war Lyma Apostol noch nie schwergefallen.

»Ich muss protestieren«, ergriff nun Riem das Wort, der sich unbehelligt genähert hatte. Seiner Stimme gebrach es an Stärke, sie war ein Abbild seiner Position. »Nach alter Tradition und …«

»Irrelevant. Unwichtig. Überholt«, entgegnete die Königin sofort, und ihre Stimme hatte als Kontrast einen sehr entschiedenen Klang. »Höre mir zu, Hüter von gar nichts. Die Zeiten haben sich geändert. Saim will den Kataklysmus, er will ihn auf seine Art. Die Menschen sind eine neue Variable im Spiel. Wir müssen handeln, wenn wir Saim in die Schranken weisen wollen. Das wollen wir doch, oder? Das müssen wir doch, oder?«

Riem kämpfte ein wenig mit sich. Alte Tradition und Würde, das schien ihm wichtiger zu sein, als Apostol angenommen hätte. »Ich möchte nichts lieber, dennoch …«

Der Bauch unterbrach ihn sofort. »Alte Regeln und Traditionen sind gut, wenn sie nützlich sind. Diese hier stören nur. Die Portaleinrichtung ist mein. Ich strebe Kontrolle an, aber nicht um ihrer selbst willen. Ich rühre deine Forschungsstation nicht an, edler Riem. Ich respektiere ihre Autonomie. Kein Mann, kein Bauch soll sie betreten ohne deine ausdrückliche Zustimmung. Aber der Kern gehört zu uns allen oder zu niemandem, je nach Sichtweise. Und du weißt noch nicht, was ich auf der Scythe erfuhr und was all dies hier in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Hör zu, urteile dann.«

Das war ein Ratschlag, der an die Vernunft Riems appellierte, und damit kam man bei ihm durchaus weiter. Lyma schätzte Riem, obgleich sie ihn erst seit kurzer Zeit kannte. Er war ein Getriebener, wie sie selbst, und das stellte auf einer gewissen Ebene Verwandtschaft her. Außerdem hatte die Fruchtmutter Quara absolut recht. Die Dinge hatten sich verändert, und Elissis Erkenntnis beschäftigte sie immer noch, wenngleich sie bisher nicht mehr ausgelöst hatte als profunde Verwirrung.

»Elissi, Jordan, das dürfte Ihr Stichwort sein.«

Die beiden jungen Leute wirkten eingeschüchtert, aber neugierig und lächelten verhalten, als sie plötzlich im Mittelpunkt des Interesses standen. Der junge Mann sah seine Gefährtin auffordernd an. Elissi trug ein größeres Datenpad mit einer Projektionsfunktion, auf dem sie ihre Erkenntnisse demonstrieren konnte. Sie legte alles dar, und als das stilisierte Symbol der Astronomischen Autorität vor ihrer aller Augen flimmerte, legte sich für einen Moment andächtiges Schweigen über die Zuhörer. Die Studentin tat alles mit ruhiger Professionalität, erklärte den Vorgang und dessen Hintergründe mit dürren Worten, gerade genug, um allen verständlich zu machen, was die Entdeckung bedeutete – obgleich sie das im Grunde noch gar nicht richtig wussten. Sie verkniff sich Spekulationen, und nach Apostols Einschätzung neigte sie ohnehin nicht dazu, ihrer Fantasie übermäßig freien Lauf zu lassen. Als sie schließlich mit ihrer knappen Präsentation am Ende angekommen war, fielen die Reaktionen nach kurzer Überlegung unterschiedlich aus.

Die Wissenschaftler der Hüterstation, die sich um sie geschart hatten, waren völlig fassungslos und äußerten Laute, die gleichermaßen Überraschung, Unmut wie auch Unglauben ausdrückten. Damit war zu rechnen gewesen. Sie standen auf den Schultern ganzer Forschergenerationen vor ihnen und hatten in all der Zeit nichts von Belang herausgefunden. Jetzt kam diese junge Frau und behauptete letztendlich – ein Gedanke, den die Polizistin auch nur schwer zu verstehen in der Lage war –, dass die Menschen des Konkordats irgendwie »auserwählt« waren. Das musste an manchem Selbstbewusstsein kratzen, das bisher vor allem durch die Erkenntnis genährt worden war, dass das gemeinsame Schicksal als Gefangene der Sphäre sie alle verband. Darin immerhin waren sie alle völlig gleich. Geteiltes Leid, halbes Leid, ein psychologischer Mechanismus, der auch hier immer funktioniert hatte. Jetzt gab es welche, die gleicher waren. Das verarbeiteten einige nur schwer, und um das zu erkennen, musste Lyma Apostol keine Xenopsychologin sein.

Riem blieb gefasst und schien bereit, die Informationen als Baustein für eine Lösung aus ihrer schwierigen Situation zu akzeptieren, wenngleich er sicher auch noch nicht wusste, worin genau diese Lösung bestehen konnte. Er machte keine Anstalten, die Überbringerin der »schlechten« Nachrichten auch für die Urheberin zu halten, eine Lektion, die mancher seiner neuen Kollegen erst noch zu lernen hatte.

Aber er war natürlich auch neugierig, und das trieb ihn ein wenig mehr als jedes Misstrauen.

»Euer Konkordat ist niemals zuvor auf diese Sphäre gestoßen?«, stellte er die erwartete Frage. Lyma Apostol verneinte dies. »Es könnte sich um einen Trick handeln, basierend auf Scans der Datenbanken Ihrer Schiffe«, war die nächste Mutmaßung, die ihnen selbst ebenfalls eingefallen war.

»Das Muster findet sich in allen Aufzeichnungen«, erklärte Elissi. »Es ist hier seit Jahrtausenden erkennbar, wahrscheinlich, seit die Sphäre ihre Reise angetreten hat. Ihnen fehlte nur der Schlüssel, aber es ist kein neues Phänomen. Es bedurfte der Anwesenheit …«

»Ihrer Anwesenheit«, sagte der Resonanzbauch mit dem Gesicht der Fruchtmutter. »Allein Ihrer Anwesenheit, junge Elissi aus dem Konkordat. Ist dem nicht so?«

Die Fruchtmutter sah Elissi … nun, mütterlich an, anders konnte man es gar nicht beschreiben.

Die junge Frau nickte. »Ich habe Jordans ID-Muster probiert, das von Captain Apostol, der ganzen Crew der Scythe. Nur meines löst den beobachteten Effekt aus.«

»Das beunruhigt dich?«

»Es interessiert mich.«

»Gut. Wir müssen ruhig bleiben, wir alle.« Der Bauch wandte sich an Riem. »Saim wird die Station nicht so bald angreifen, er muss dafür noch einige Widerstände überwinden. Alte Traditionen kann man beiseitefegen, aber der kluge Mann tut dies zur rechten Zeit. Uns bleibt also noch die Gelegenheit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und uns vorzubereiten. Die Toreinrichtung ist bewaffnet, im Gegensatz zur Hüterstation. Ist sie uns zu Willen, wird Saim sich bei einem Angriff eine blutige Nase holen und es sich ein zweites Mal überlegen. Ein sicherer Hafen, eine Zuflucht für alle potenziellen Opfer seiner Angriffe. Wäre dies nicht ein interessantes, kurzfristiges Ziel, für das wir unsere Kräfte bündeln könnten?«

»Unter der Führung der Skendi«, sagte Riem, nun wieder mit einem gehörigen Maß Misstrauen in der Stimme. Quara war eine alte Gegnerin des Rates, das hatte Apostol mittlerweile gut begriffen. Doch war sie damit automatisch eine Feindin gewesen? Und dachte Riem in diesen Nuancen?

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir hier von Führung reden können. Ich bevorzuge den Begriff der Schirmherrschaft.« Das Gesicht der Fruchtmutter lächelte. Lyma hörte, wie der Resonanzbauchmann sanft seufzte, und verstand, dass die Herrin der Skendi nicht nur ihre Mimik übertrug, sondern auch Emotionen, zumindest auf eine krude Weise. Lächelte sie, fühlte sich der Drohnenmann wohl. Es schien ihm ein Glücksgefühl zu bereiten, eine besondere Belohnung für seine Dienste. Was würde er wohl empfinden, wenn die Fruchtmutter Hass und Wut Ausdruck verlieh?

Und wenn die Fruchtmutter Sex hatte? Apostol wollte gar nicht daran denken.

Einen Resonanzbauch zu tragen, war sicher keine leichte Aufgabe.

»Wir wollen uns nicht um Worte streiten«, sagte die Kommandantin nun, die bereits jetzt mehr als genug von den politischen Ränkespielen unter den Gefangenen der Sphäre hatte. Diese Art von Taktiererei, diese völlig sinnbefreiten Machtspielchen widerten sie an. Für sie gab es nur zwei Prioritäten: das unmittelbare Überleben der Crew ihres Schiffes zu sichern – und zu tun, was sie für jene von der Licht erreichen konnte, die hoffentlich noch am Leben waren. Während ihr erstes Ziel durchaus mit den Absichten von Riem und Quara übereinstimmte, würden diese für das zweite entweder kein Verständnis haben oder einen Berg von Einwänden aufhäufen, gegen den anzustürmen dann unvermeidlich war – die »Schirmherrschaft« der Fruchtmutter hin oder her.

Außer, es gab noch Überraschungen.

Apostol war so weit, mit Überraschungen zu rechnen.

»Worte sind wichtig«, sagte die Skendi über den Bauch, und das durchaus nicht ohne Vorwurf. »Denn außer Worten haben wir nur noch Taten, und sind die einmal getan, können wir sie nicht wieder zurücknehmen. Das ist das Problem innerhalb der Sphäre: Spezies von verschiedenen Welten, völlig unterschiedlichen Hintergründen, verbunden nur durch ein gemeinsames Verständnis von Worten – und manchmal nicht einmal das! – und zusammengedrängt von einem unbarmherzigen, namenlosen Kerkermeister auf engstem Raum. Wenn die Worte nicht mehr funktionieren, dann kommt es zu Männern wie Saim, die Taten einfordern, die sich für alle als nachteilig erweisen.«

»Außer für ihn selbst«, bemerkte Riem trocken. Der Bauch drehte sich ihm zu.

»Das ist noch nicht gesagt«, orakelte die Fruchtmutter, die sicher die Letzte wäre, die vorzeitig eine Niederlage eingestand.

»Wir müssen mehr herausfinden«, richtete Elissi wieder den Blick zurück auf das Wichtige. »Wenn wir vom Gefängniswärter aus irgendeinem Grund eine Sonderbehandlung erfahren, dann sollten wir herausfinden, warum das so ist. Es könnte der Schlüssel zu unserem Problem darstellen. Wer wird schon einen Krieg im Gefängnis wagen, wenn eine Seite sich mit dem Direktor gut stellt?«

Jordan sah Elissi ein wenig erstaunt und gleichzeitig verwundert an. Er war intelligente, bildhafte Vergleiche offenbar nicht von ihr gewohnt. Intelligenz schon – aber nicht die Bilder. Es schien, als würde die junge Frau in einer Situation, die alle anderen mit Sorgen und Ängsten erfüllte oder wenigstens mit großer Ratlosigkeit, eher aufblühen.

»Dann sollten wir sehen, ob das große Portal uns Einlass gibt«, sagte Riem. »Oder wir versuchen den uns bekannten Zugang, allerdings mit der Gefahr, dass sich das Tor wie immer verhält und niemanden mehr ausspuckt, den es einmal aufgenommen hat.«

»Das Risiko sollten wir nur eingehen, wenn es unvermeidlich ist«, erklärte die Kommandantin der Scythe. Apostol war sich darüber im Klaren, dass ihre Warnung hohl klang. Angesichts ihrer Lage ließ sich beinahe jedes Risiko rechtfertigen, dessen war sie sich bewusst. Sie wollte nur ihren Beitrag dazu leisten, dass Quaras Schirmherrschaft keine Führung wurde, und das tat man am besten, indem man widersprach und Grenzen auslotete.

Vorsichtig.

»Jedenfalls ist diese Einrichtung aktiv, und möglicherweise auf eine nicht hundertprozentig funktionierende Art und Weise«, erklärte Riem und erläuterte seine Beobachtungen in jenem Raum, der aufgrund der verkanteten Zugangstür zugänglich war und in dem sie eine sich entwickelnde große Hitze bemerkt hatten. Die Information hatte vor allem einen Effekt: Sie trug zu ihrer allseitigen Verwirrung bei. Selbst die Fruchtmutter, die Apostol zunehmend als durchaus komplexe Persönlichkeit einschätzte, war sich nicht zu schade, dieser Verwirrung Ausdruck zu geben.

Wenn sie diese Station beherrschen wollten, mussten sie sie verstehen. Und davon waren sie alle noch weit entfernt.

»Wir sollten dann das Naheliegende ausprobieren«, schlug Quaras Gesicht vor, und der Bauch machte eine einladende Geste in Richtung Portal. Riem sah Elissi auffordernd an. Er dachte an das Gleiche.

Die junge Frau zögerte keine Sekunde.

Sie begaben sich zum Portal, neben dem die Scanscheibe aufgebaut war, die zu berühren bisher bei niemandem zu irgendeinem Ergebnis geführt hatte. Elissi wartete nicht, bis jemand sie zur entscheidenden Tat aufforderte, sie schob kurzerhand den dünnen Handschuh von den Fingern und legte die Hand auf die Fläche. Für einen Moment tat sich nichts, und Apostol war sich beinahe schon sicher, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Dann aber gab es ein vernehmliches Knirschen, genau das Geräusch, das man erwartete, wenn eine seit Jahrtausenden stillgelegte, wenngleich einigermaßen gut gewartete Anlage den Impuls bekam, den vorbestimmten Zweck zu erfüllen, und die über all die Zeit angesammelte Trägheit zu überwinden gedachte.

Das Portal öffnete sich vor ihnen, langsam, mit einer unregelmäßigen Geschwindigkeit, als sei es sich nicht ganz sicher, ob es das Richtige tat. Neugierig und stillschweigend gebannt starrte die Gruppe auf das, was sich dahinter zeigte, und es war sicher nicht das, was sie erwartet hatten.

»Verdammt!«, murmelte Jordan, der als Erster wieder zu Worten fand. »Da ist irgendwann vor langer Zeit ganz gründlich was schiefgelaufen.«

Zu einem anderen Schluss konnte man kaum kommen. Die Verwüstung, die sich vor ihren Augen zeigte, das Wirrwarr aus verbogenem Metall, aufgerissenen Wänden und geschwärzten, verbrannten Bauelementen legte stummes Zeugnis darüber ab, dass etwas geschehen sein musste, wahrscheinlich vor langer Zeit, das die sicherlich vorhandene Reparaturautomatik sichtlich überfordert hatte.

»Es ist heiß«, flüsterte Elissi. Sie hielt die unbehandschuhte Hand in die Luft, während alle anderen durch ihren Druckanzug vor Umwelteinflüssen bewahrt blieben. »Richtig heiß!«

»Die Explosion?«, fragte Riem.

»Nein, die ist äußerst lange her«, erklärte Inq, der natürlich bereits mit der Analyse des Vorgefundenen begonnen hatte. »Das ist leicht zu erkennen. Viele Hundert Jahre. Die Hitze kommt nicht von hier. Sie kommt von tiefer dahinter. Wir werden es uns anschauen müssen.«

Er sah Apostol auffordernd an. Diese wiederum warf einen Blick auf die Skendi mit ihrem Bauch. Die Fruchtmutter hatte die Einrichtung de facto besetzt und beherrschte sie, soweit dazu jemand derzeit in der Lage war.

Der Bauch interpretierte ihren Blick richtig. Die Kommunikation, auch die nonverbale, wurde rasend schnell besser. Apostol fürchtete, dass ihr eigenes Verständnis damit nicht ganz Schritt zu halten vermochte.

»Schirmherrschaft«, sagte Quara. »Nur eine Schirmherrschaft. Aber wenn Sie gehen, sende ich einen Bauch mit.« Das war leicht möglich. Die Drohnenmänner trugen Druckanzüge wie alle anderen, und die Resonanzbäuche unterschieden sich nur dadurch, dass sie neben dem transparenten Helm auch ein durchscheinendes Bauchteil hatten, wie eine Aussichtskuppel. Es war ein seltsamer, ihnen allen aber zunehmend vertrauter Anblick.

»Nun gut«, sagte Lyma Apostol schließlich. »Aber wir planen das gründlich.«

Was auch immer sie da planen wollten.

Es klang immer gut, so etwas zu sagen. Als ob man noch irgendeine Kontrolle über die Ereignisse hatte. Und so widersprach ihr niemand.

3

»Herr, wir wären dann so weit.«

Der Bedienstete wartete höflich ab, bis der Ratsherr seinen rot blinkenden Timer berührt hatte, eine schon fast gedankenverlorene Geste, die ihm aber dreißig zusätzliche Stunden Leben schenkte. Saim machte dann eine zustimmende Handbewegung, und der Bedienstete ließ die Wartenden in die Räumlichkeiten des Ratsherrn ein. Drei Wesen betraten in respektvoller Haltung das Arbeitszimmer, alle drei Mitglieder der Akademie, in der alle Wissenschaftler organisiert waren, die für den Rat arbeiteten, mit der Ausnahme jener, die das sinnbefreite Eremitendasein in der Hüterstation bevorzugten. Angeführt wurden sie von einem kastenförmigen Wesen, das sich auf zwei Stummelbeinen auf beinahe lachhafte Weise voranbewegte, weder Kopf noch Hals hatte und dessen schimmerndes Facettenauge die ganze Breite des obersten Körperdrittels ausmachte.

Er mochte albern aussehen. Er war es aber nicht, alles andere als das.

Akademiedirektor Pultan Henk war der Letzte seiner Art, und er hauste in einer Kabine an Bord der Lian, nachdem das kleine Forschungsschiff, das vor rund 150 Jahren in die Sphäre gelangt war, den technischen Geist aufgegeben hatte. Sieben Besatzungsmitglieder hatte es gehabt, darunter eine Kopulationstriade, die ein Kind geboren hatte, eben Pultan. Seine Eltern und ihre Kameraden waren tot, und er war somit völlig allein, und das mochte ein Grund dafür sein, dass er dem Rat, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte, mit hartnäckiger Loyalität diente. Darin wurde er nur noch von den Iskoten übertroffen. Allein das machte ihn bereits gefährlich oder zumindest zu jemandem, mit dem man zu rechnen hatte.

Nebenher war er ein ziemliches Genie mit einer nahezu intuitiven Auffassungsgabe, was fremde Technologien anging. Allein an den Mechanismen, die die Sphäre erhielten und vorantrieben, hatte auch er sich die Zähne ausgebissen, von denen sein breiter, lippenloser Mund zwei hintereinanderliegende Reihen besaß. Den letzten Schritt, sich in das Innere des Kerns zu begeben, hatte er nie gemacht. So loyal und intelligent er war, genauso feige war er. Seine beiden Assistenten begleiteten ihn mehr als Zeichen seiner herausgehobenen Stellung, weniger, weil von ihnen ein Beitrag erwartet wurde. Henk war jemand, der auf den äußeren Schein Wert legte, und Saim gönnte es ihm, solange der Direktor Ergebnisse lieferte, was er sein ganzes Leben lang getreulich getan hatte.

Nur seine Feigheit, die würde er ablegen müssen, wenn Saim es befahl. Und der Vorsitzende hatte das Gefühl, dass es früher oder später dafür einen Anlass geben würde.

Saim kam den drei Ankömmlingen einige Schritte entgegen. Es schadete nie, treuen Gefolgsleuten ein wenig Respekt zu zeigen.

»Direktor Henk. Ich bin sehr froh, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben!«

»Es ist mir immer wieder eine Ehre, dem Rat zu dienen«, ölte der Kasten zurück, und das Schöne daran war, dass er es genauso meinte, wie er es sagte.

»Eine Erfrischung, Direktor?«

»Sie sind zu gütig, aber ich bin zufrieden. Ich habe, wie befohlen, das erste Ergebnis von der Licht gebracht, dem Schiff der Menschlinge. Darf ich gleich darauf zu sprechen kommen?«

Saim mochte die direkte Art des Wissenschaftlers. Er konzentrierte seine Schleimerei auf das Wesentliche und kam dann gleich zur Sache. Sehr angenehm.

»Ich bitte darum.«

Pultan stellte sich in Positur, als wolle er eine Rede halten, und erneut wies ihn Saim nicht zurecht. Der Ratsvorsitzende hatte gelernt, dass es niemals schadete, seinen Gefolgsleuten individuelle Eigenheiten – und Eitelkeiten – zuzugestehen, solange diese nicht auf Kosten seiner Autorität gingen. Es erweckte den Anschein, als respektiere Saim die Individualität seiner loyalen Mitarbeiter, und auf eine gewisse Weise war das sogar korrekt. Es nützte ihm, und es nützte ihnen, und es schadete nur jenen, die weniger Toleranz für Eigentümlichkeit aufbrachten als Saim.

»Herr Vorsitzender, das Raumschiff Licht ist von beachtlicher Größe, und es ist offenbar ursprünglich als Schiff zur Beförderung möglichst vieler Personen erbaut worden. Wir dachten erst an einen Kolonisten- oder Truppentransport, aber tatsächlich weist alles darauf hin, dass es für Urlaubsreisen gedacht war.«

Saim sah Henk überrascht an.

»Urlaubsreisen. Interessante Auswahl für einen Ausflug.«

Der Kasten machte eine zustimmende Geste, nicken konnte er in Ermangelung eines Halses nicht.

»Es wurde umgebaut, bevor es in die Sphäre eindrang. Wenn nicht alles täuscht, lockte die Sphäre das Schiff mit dem Versprechen auf die Bergung beträchtlicher Mengen exotischer Materie an, die einen hohen wissenschaftlichen und ökonomischen Wert für die Menschen zu haben scheint. Nachvollziehbar, möchte ich sagen. Ein gutes Lockmittel, eines der besseren der letzten zweihundert Jahre, wenn Sie mich fragen.«

Saim war nicht überrascht. Die Sphäre war gut darin, Neugierige anzulocken. Es war ihr schließlich auch vor langer Zeit mit der Lian gelungen.

»Das Schiff wurde also umgebaut?«

»Mit gigantischen Magnetfeldgeneratoren und stark überdimensionierten Energieerzeugern. Darüber hinaus ist die wissenschaftliche Station gut ausgerüstet, ich bin ehrlich beeindruckt. Es musste wohl alles sehr schnell gehen, aber die Menschen haben weder Kosten noch Mühen gescheut. Wir werden die Anlagen demontieren und in unsere Akademie überführen, sie werden uns gute Dienste leisten.«

Henks Zufriedenheit entsprach der Größe von Saims Unzufriedenheit. Er hatte auf andere Nachrichten gehofft.

»Keine Waffen?«

Der Kasten zögerte kurz mit der Antwort, hatte er doch einen untrüglichen Instinkt dafür entwickelt, wann sein Herr und Meister ungnädig auf seine Darlegungen reagieren würde. Dennoch würde er niemals lügen oder Dinge beschönigen. Saim erwartete nichts anderes von ihm.

»Keine von Belang. Die Licht ist weitgehend unverteidigt, passive Maßnahmen einmal abgesehen. Wir haben Daten zur im sogenannten Konkordat üblichen Waffentechnologie gewonnen und sind nicht beeindruckt. Es scheint, als hätten die Menschlinge eine friedliche Koexistenz mit anderen wie mit sich selbst angestrebt.«

»Natürlich«, knurrte Saim. »Ich stehe vor einem Krieg, und die Neuankömmlinge sind zarte Schneeflocken. Das kommt mir gerade recht.«

Das war nur Gehabe. Es war Saim absolut recht, denn das hieß, die Menschen waren keine allzu große Gefahr, nichts, womit Iskoten nicht fertigwerden konnten.

»Ich habe auch Datensätze über die Polizeikräfte des Konkordats entdeckt, zu denen die Besatzung des derzeit noch flüchtigen Kreuzers Scythe gehört, eine Einheit, die übrigens nicht unbeträchtlich bewaffnet ist. Nichts Unüberwindbares, aber ein ernst zu nehmender Gegner, ein schnelles Schiff mit hoher Beschleunigung und Wendigkeit. Es würde die iskotische Streitmacht schmücken.«

»Es schmückt die Streitmacht der Skendi-Fruchtmutter.«

Henk sagte jetzt offenbar lieber nichts. Das war der Kern von Saims schlechter Laune, und der Wissenschaftler hütete sich, militärische Belange anzusprechen oder gar Ratschläge zu geben. Er kannte seine Grenzen, ein Umstand, der wesentlich zur Verlängerung seiner Lebenserwartung beitrug.

»Was ist mit den Gefangenen? Nützlich?«

Der Kasten zögerte ein weiteres Mal mit der Antwort, und Saim wusste genau, warum. Dies war ein Punkt, in dem er mit der Vorgehensweise der Iskoten und damit Saims eigener nicht einverstanden gewesen war. Für den Wissenschaftler waren lebende Menschen Ressourcen, die Wissen enthielten und auf ihre einzigartige Weise verarbeiteten; sie umzubringen, war Verschwendung. Saims Skrupel waren da wenig ausgeprägt, doch er war auch hier bereit, dem Direktor eine abweichende Meinung zuzugestehen. Für Saim aber waren es vor allem unnötige Esser, die nichts bewirken konnten, was diese zusätzliche Belastung ihrer Systeme rechtfertigte.

Henk sah das anders, daher wand er sich ein wenig. Saim tat nichts, ihm seine innere Qual abzunehmen. So eine Empfindung konnte ganz hilfreich sein.

»Ich plädiere dafür«, sagte der Kasten umständlich, »sie alle vorerst am Leben zu lassen, solange sie sich als kooperativ erweisen.«

»Oh, das werde ich, aber aus einem ganz anderen Grund: Sie sind ein geeignetes Druckmittel, um die Besatzung der Scythe als Störfaktor unter Kontrolle zu halten. Und sie sind möglicherweise eine Tauschware, durch die wir Kommunikation entwickeln und Zugang zum Bündnis der Fruchtmutter erlangen können. Sie sollen leben, Direktor, ich verspreche es.«

Pultan wirkte zufrieden. Ihm war die Motivation Saims letztendlich egal, Hauptsache, das gewünschte Ergebnis wurde erzielt.

»Was können wir tun?«, fragte Henk.

»Wie ich sagte: Kommunikation und Täuschung, Infiltration und Verhandlung. Quara ist eine Gefahr, derzeit vielleicht sogar die größte für meine Pläne. Ich brauche einen Menschling, der von uns benutzt werden kann, um mit den noch frei herumfliegenden Artgenossen in unserem Sinne Kontakt aufzunehmen«, sagte Saim scheinbar sinnierend, doch Henk kannte ihn natürlich besser. Jede Äußerung des Ratsvorsitzenden stellte immer eine Frage oder Aufforderung dar, egal wie er diese formulierte, und ein jeder tat gut daran, sie als exakt das aufzufassen, wenn er nicht in Ungnade fallen wollte.

»Ich werde ein passendes Exemplar auswählen helfen.«

»Das ist zufriedenstellend, Direktor. Ich setze mein Vertrauen in Sie. Sprechen Sie sich mit den Iskoten ab, die unsere Gäste derzeit beobachten. Ich bin mir sicher, Sie kommen zu einer geeigneten Person.« Saim sah den Letzten seines Volkes aufmerksam an. Er kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass dieser noch etwas auf dem Herzen hatte, sich aber nicht recht traute, sich zu äußern, da er die Reaktion Saims nicht einschätzen konnte. Der Ratsvorsitzende lauschte kurz in sich hinein und fand, dass er in einer großzügigen Grundstimmung und auch kleinere Ärgernisse zu verarbeiten in der Lage war.

»Direktor, es gibt noch etwas?«

»Ein Detail. Nein, vielleicht doch etwas mehr.«

»Heraus damit!«

»Vorsitzender, ich darf an das Projekt des Kollegen Chuen erinnern.«

Saim verbarg ein Seufzen. Jeder hatte ja sein Steckenpferd, auch Henk war davon nicht befreit. Chuen war ein Mann seines Volkes, einer der Stellvertreter in der Führung der Akademie. Er war ein guter Mann, fleißig und zuverlässig, Saim konnte und wollte nichts gegen ihn sagen. Er war aber auch jemand, der im Grunde eher auf die Hüterstation passte, denn Chuen war ein großer Fan historischer Forschungen. Saim wollte die Vergangenheit auslöschen und eine neue Epoche einleiten, daher war er an dem, was einmal gewesen war, im Grunde nicht interessiert. Auch Chuen hatte andere Projekte, die wichtiger waren, und aufgrund seiner Zuverlässigkeit wurde sein Hobby ebenso geduldet wie die Manierismen Henks.

»Ist das wirklich relevant, Direktor?«

»Er möchte gerne die Anlage restaurieren und versuchen …«

»Ich weiß, was er möchte. Ich bekomme regelmäßig ein Memo. Geon hat regelmäßig ein Memo bekommen. Das war einer der wenigen Punkte, wo ich mit dem alten Mann einer Meinung war: Chuens Ideen und Pläne sind sicherlich faszinierend, zumindest für jene, die ein Faible dafür haben. Aber Geon gehörte nicht dazu und ich bestimmt auch nicht.«

»Chuen bat mich …«

Saim hob eine Hand, nun empfand er tatsächlich eine leichte Ungeduld. Er achtete, dass Henk sich für seinen Kollegen einsetzte. Ein wenig Korpsgeist schadete nicht, er verband und motivierte. Aber die Zeit des Ratsvorsitzenden war wirklich kostbar, jetzt mehr denn je.

»Chuen muss warten. Es ist jetzt nicht der richtige Moment. Wir haben dringlichere Probleme. Richten Sie ihm aus, dass ich seine Anträge erwägen werde, wenn wir die aktuellen Herausforderungen gemeistert haben.« Er überlegte kurz. »Sagen Sie es ihm nett und respektvoll, Direktor.«

»Nett und respektvoll«, echote Henk. »Natürlich, Direktor. Ich denke aber auch, dass …«

Saim verspürte keine Lust mehr, diese Diskussion künstlich in die Länge zu ziehen. Henk hatte die Gelegenheit bekommen, sein Anliegen vorzutragen, damit sollte er dann auch zufrieden sein.

»Schicken Sie mir ein geeignetes Exemplar und machen Sie mit der Arbeit weiter.«

Der Direktor wusste, wann er verloren hatte, ein Instinkt, der ihm in der Vergangenheit oft weitergeholfen hatte. Er verschwand eilig aus dem Zimmer und ließ Saim allein, gefolgt von seinen Assistenten, die erwartungsgemäß nicht ein Wort gesagt hatten. Kaum war der Wissenschaftler verschwunden, stellte Saim eine Verbindung zu Eirmengerd her, dem Kommandanten der Ratsstreitkräfte. Der Iskote erschien sofort auf dem Schirm.

»Ihre Befehle, Vorsitzender?«

»Es ist an der Zeit. Wir beginnen jetzt wie abgesprochen mit den Säuberungen. Ich gehe davon aus, dass bei Ihnen alles bereit ist?«

»Wie angeordnet, Vorsitzender. Wir haben nur noch auf den Startschuss gewartet.«

Saim freute sich. Auf Eirmengerd war stets Verlass.

»Löschen wir die Handai aus. Machen wir es schnell, überraschend und umfassend. Sorgen Sie dafür, dass alle Vorräte geborgen und alle noch funktionsfähigen Maschinen der Akademie übergeben werden. Keine Gefangenen.«

Eirmengerd nickte. »Keine Gefangenen, Ratsvorsitzender!«

»Und noch etwas: Henk kommt bald auf Sie zu, wegen der Menschen. Wir sprachen darüber.«

»Ich kooperiere wie befohlen, Vorsitzender!«

»Dann beginnen Sie!«

Der Iskote verschwand vom Schirm. Saim wusste, dass er den Befehl getreulich ausführen würde. Die Handai bewohnten zwei alte Raumschiffe in einem inneren Ring der Gefangenenflotte, näher am Kern, da sie schon länger hier waren. Sie hatten sich nie dem Rat angeschlossen und sich immer nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, hatten keine Freunde und keine Feinde. Zumindest Ersteres würde ihnen nun zum Verhängnis werden. Saim würde mit dem Angriff all jene aufschrecken, die noch gehofft hatten, ihn von seinen Plänen abhalten zu können oder dass er es schon nicht so ernst meinen würde. Es würde Widerstand geben, auch jener, die bisher geschwiegen und abgewartet hatten. Sie traten damit ans Licht, wurden sichtbar, und er würde sie ausradieren lassen, um danach Eirmengerd noch andere, sehr weitreichende Anweisungen geben zu können.

Die Zeit des Wartens war glücklicherweise vorbei. Saim genoss diese Vorstellung sehr.

4

Jemand sagte etwas Unverständliches. Es klang wie ein dumpfes Gemurmel, etwas unartikuliert, aber es war gesprochenes Wort, daran bestand kein Zweifel.

Das war grundsätzlich ein gutes Zeichen.

Kyen öffnete die Augen, ließ aber die äußere Membran geschlossen. Ein Geschenk der Evolution, das seinen Leuten half, sich anschleichenden Raubtieren nicht zu signalisieren, dass man sie bemerkt hatte. Die Membran war von innen her durchsichtig und Kyen sah, was um ihn herum geschah, vor allem in seiner derzeitigen Position, liegend, mit fremden Gesichtern über das seine gebeugt.

Jemand sagte etwas Unverständliches.

Es klang nicht besser als vorher.

Kyen war nicht in seiner Kapsel, und man hatte ihm den Druckanzug ausgezogen, das spürte er. Es war angenehm warm, und er lag weich, zudem war er nicht gefesselt. Man hatte ihn geborgen. Ein plötzliches Glücksgefühl durchflutete ihn, als er sich dessen bewusst wurde. Es war gelungen. Ein kleines Wunder, vielmehr ein großes, zumindest für sein Leben. Und er empfand keine Schmerzen, was vielleicht auch ein Wunder war, zog man die Umstände seiner Flucht in Betracht.

Jemand sagte etwas Unverständliches.

Ein anderer Jemand antwortete.

Ohne den Helmcomputer konnte er diese Leute nicht verstehen, doch das war jetzt im Grunde egal. Er wollte keine falschen Schlüsse ziehen, aber die Stimmen klangen beruhigend, jedenfalls bestimmt nicht feindselig, und es gab ja auch gar keinen Grund, ihm gegenüber aggressiv zu sein. Er war ein Flüchtling, jemand, der einen verzweifelten Flug gewagt und das Wagnis überlebt hatte. Er besaß nichts außer der alten Kapsel und seinem ebenso alten Druckanzug, notdürftig geflickt, denn Leute wie er bekamen nur das Nötigste, um am Leben zu bleiben. Alles andere wäre angesichts des höchst ungewissen Ausgangs einer solchen Aktion reine Verschwendung gewesen, und das konnte man sich in der Sphäre nicht leisten.

Kyen atmete tief ein. Das war jetzt alles egal. Er befand sich wieder in einem Universum der unendlichen Möglichkeiten, der infiniten Ressourcen. Er konnte essen, trinken, baden, frische Kleidung tragen, sich versorgen lassen, ein richtiges Leben führen, das ein Ziel kannte oder mehrere oder keines, ganz, wie er es sich wünschte. Für einen Moment fühlte er sich ob dieser Möglichkeiten etwas überfordert, sie kamen unerwartet. Er hatte nicht damit gerechnet, jetzt noch am Leben zu sein. Er hatte keinen Plan für die Zeit danach, nur Träume.

Ob er sie nun würde verwirklichen können?

Jemand sagte etwas Unverständliches, und er wurde mit etwas Metallischem an der Schulter berührt. Die ganze Umgebung, das Verhalten seiner Retter machte den Eindruck medizinischer Fürsorge. Kyen lauschte in sich hinein und empfand weiterhin kein spezielles Unwohlsein. Er war übel herumgeschüttelt worden, als die Kapsel die Sphäre verlassen hatte, zu exakt dem Zeitpunkt, da das große Schiff in diese hineingeflogen war. Die Systeme waren überlastet gewesen, kein Wunder bei dem antiken Fahrzeug, das er zu benutzen gezwungen gewesen war. Das Schütteln hatte ihn bis in die Knochen beansprucht, ihm war übel geworden und schwindelig, und er hatte irgendwann aufgegeben, das kleine, uralte und kaum funktionsfähige Raumfahrzeug noch steuern zu wollen.

Irgendwann musste er das Bewusstsein verloren haben. Der Anzug hatte ihn am Leben gehalten. Jetzt lag alles in den Händen seiner Gastgeber, und sie machten alles andere als einen feindseligen Eindruck.

Jemand sagte etwas, aber nicht mehr unverständlich, zumindest nicht, als eine mechanische Stimme begann, es ihm zu übersetzen. Kyen war nicht überrascht. Der Datenspeicher seines Anzugs war leicht auszulesen, und die Experten seiner Retter waren sicher in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Immer nur eine Frage der Zeit. Zeit. Er musste sich da jetzt ein ganz anderes Konzept überlegen, eines, das sich nicht daran orientierte, wie lange es dauern würde, bis er wieder Hunger fühlte und vor der Frage stand, ob es überhaupt etwas zu essen gab. Kyen war sich sicher, dass diese Zeit vorbei war.

Wieder dieses Glücksgefühl. Er musste sich ermahnen.

»Verstehen Sie mich?«

Kyen öffnete die äußere Augenmembran. Keine Feinde da, die es zu täuschen galt.

»Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie Schmerzen?« Die mechanische Stimme übersetzte langsam und sorgfältig. Es war alles gut verständlich.

Kyens Akustikmembran vibrierte die Antwort, ebenso langsam und deutlich. Bloß keine Missverständnisse jetzt. »Keine Schmerzen. Bin ich verletzt?«

»Nein, soweit wir sehen können, geht es Ihnen gut.«

Kyen empfand Erleichterung. Er begann, seine Gliedmaßen zu bewegen, die beiden langen Arme, voller Muskeln und Knorpel, aber ohne Skelett, die kurzen, stumpf wirkenden Beine, mit denen er eine überraschend hohe Geschwindigkeit entwickeln konnte, wenn er es für nötig hielt. Die Aussage des Fremden, ohne Zweifel eines Arztes, bestätigte sich. Alles funktionierte. Alles war gut. So gut wie schon lange nicht mehr.

»Sie können sich aufrichten?«

Kyen konnte, und er wollte, und als er saß und sich umsah, fand er seinen Eindruck bestätigt. Drei Humanoide in weißem Gewand standen um ihn herum und beobachteten ihn oder kleine Instrumente, die sie in Händen hielten. Medizinisches Personal, ohne Zweifel. Kyen sah an sich hinab, er war nicht nackt – das wäre ihm auch egal gewesen, es gab da keine großartigen Tabus in seiner Kultur – und trug ein einfaches Gewand, unten offen, anstatt des löchrigen und dreckigen Overalls, den er unter dem Druckanzug angehabt hatte. Das war in Ordnung. Er hatte furchtbar gestunken, und mit so was machte man nirgendwo dauerhaft einen guten Eindruck. Jetzt war sein Körper sauber, offenbar während seiner Bewusstlosigkeit gereinigt. Ein angenehmes Gefühl.

»Ich bin Dr. Salvador Degenberg, ein Arzt. Sie verstehen das?«

Kyen bewegte den Kopf, sah den Sprecher an, gewöhnte sich an den ungewohnten Anblick. Das ging schnell. Kyen war in der Sphäre viel herumgekommen. Er hatte alles gesehen.

»Die Funktion medizinischer Fachkräfte ist mir bekannt. Ich danke Ihnen für die Behandlung.«

»Gerne. Sie sind in einem guten Zustand, soweit wir das beurteilen können. Natürlich sind Sie das erste Exemplar Ihrer Spezies, das wir jemals behandelt haben.«

»Und wahrscheinlich das letzte. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich empfinde Wohlbefinden. Ich bin Ihnen dankbar.« Es schadete nicht, das erneut zu betonen.

»Der Letzte?«

»Meine Heimatwelt liegt in einer anderen Galaxie, und meine Vorfahren haben sich vor über 400 Jahren in die Sphäre begeben. Ich bin allein.«

Dr. Degenberg machte eine Kopfbewegung und bewegte Gesichtsmuskeln. Kyens Volk hatte keine Gesichtsmuskeln, die Haut lag auf einer dünnen Fettschicht über dem harten Knochen, und Mimik war auf ein gelegentliches Flattern der Membranen begrenzt. Aber er war in der Sphäre aufgewachsen und hatte in der Tat Vertreter ganz unterschiedlicher Spezies kennengelernt, sodass ihm das Grundprinzip nonverbaler Kommunikation in ihren verschiedenen Formen geläufig war. Er nahm an, dass Degenberg Mitgefühl oder Vergleichbares ausdrücken wollte. Kyen würde das noch genau lernen müssen, denn dies hier war seine neue Heimat. Er war allein, aber hoffentlich unter Freunden. Zuletzt hatte er in der Sphäre nicht mehr allzu viele gehabt.

»Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich die Sphäre verließ«, sagte er. »Freiheit – ja. Heimkehr – unmöglich, außer Sie verfügen über einen regelmäßigen Flugverkehr in andere Galaxien.«

»Das tun wir leider nicht. Es werden manchmal sehr robuste Fernsonden entsandt, von denen viele als verschollen gelten. Ich vermute, es ist nicht die nächstgelegene Galaxie, die Ihre Heimat ist?«

Kyen hob beide Arme, in einer langsamen Geste, um keine Missverständnisse zu provozieren.

»Es ist irrelevant. Ich weiß nicht einmal, wo genau hier ist. Aber ich weiß: Dies ist nun meine Heimat, wenn Sie mir den Aufenthalt gestatten.«

»Es spricht nichts dagegen. Wir haben Sie nicht gerettet, um Sie in eine Zwangssituation zu bringen. Die Sphäre ist abgereist. Wenn es Ihre Absicht …«

»Meine Absicht war, sie dauerhaft zu verlassen. Sie ist ein Gefängnis, das vor einer mörderischen und selbstzerstörerischen Katastrophe steht.«

Jetzt war Degenbergs Reaktion kaum zu missverstehen, und Kyen schalt sich einen Narren. Natürlich. Es musste sich hier um jene Spezies handeln, die zuletzt Schiffe in die Sphäre entsandt hatte, angelockt durch irgendeine Fata Morgana, eine Illusion, eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen konnte. Sie wussten, dass ihre Schiffe verschwunden waren, aber sie ahnten nicht, warum und wie es im Inneren des Objekts zuging. Sein letzter Satz war das erste Mal, dass sie einen Bericht von dort erhielten, und er war alles andere als diplomatisch vorgegangen.

Kyen war auch kein Diplomat. Er war Wartungstechniker für hydroponische Anlagen. Und jemand, der die Schnauze richtig voll gehabt hatte, sonst wäre er das Wagnis nicht eingegangen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Das war unachtsam und plötzlich von mir. Ich entschuldige mich.«

Degenberg hatte seine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle. War er erregt? Wütend? Traurig? Kyen wusste, dass er das so schnell wie möglich lernen musste, wenn er hier überleben wollte.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Was Sie sagen, ist wahr?«

»Leider ist es das.«

»Können und wollen Sie uns mehr berichten?«

Kyen breitete erneut die Arme aus, brachte ihnen damit eine wichtige Geste bei, die von allen aufmerksam beobachtet wurde. Bereitschaft. Offenheit.

»Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

Degenberg verzog die Lippen seiner Gesichtsöffnung, durch die er gesprochen hatte. Er hatte entweder Hunger oder war erfreut.

Kyen hoffte auf Letzteres.

5

»Es ist zu Ihrer aller Besten!«

Den Satz kannte Horana LaPaz, sie hatte ihn selbst oft genug verwendet, und fast jedes Mal war er gelogen. Es hatte diese Momente gegeben, in denen sie sich dafür geschämt hatte, eine derart abgegriffene Floskel überhaupt noch zu verwenden, aber immerhin: Sie hatte gemerkt, dass sie nicht ehrlich gemeint war, eine Plattitüde, mit der man jemanden dazu bringen wollte, etwas zu tun oder zu sagen, was im Grunde nicht zu seinem Besten war – nur im Moment vielleicht etwas weniger schmerzhaft, ein einfacher Ausweg, ein Ende der Qualen, ein Abschluss mit Schrecken.

Horana wusste mittlerweile sehr genau, was Schmerzen waren. Sie spürte den abgetrennten Arm immer noch, obgleich er nicht mehr da war, und es schien, als würde er sie mit sanft pochender Pein daran erinnern, dass er eigentlich noch zu ihr gehörte und sie ihn nur suchen und wieder ansetzen müsse, um vollständig zu werden. Sie war versorgt worden, der starke Blutverlust durch entsprechende Medikamente kompensiert, und die Wunde war aufgrund des großzügig aufgetragenen Heilplasmas so weit verheilt, dass der Schmerz nur noch unangenehm, aber nicht mehr wirklich störend war – zumindest der, den sie real empfand und nicht nur eingebildet. Die Ärztin, die sie behandelt hatte, wies auf die Notwendigkeit einer Operation hin, um die Blutgefäße zu verbinden, und sagte ihr, dass das Wachsen eines Ersatzarms mithilfe einer gezielten Gentherapie kein Problem wäre, hätten sie noch Zugriff auf das Lazarett der Licht. Den sie nicht hatten.

Den sie möglicherweise nie wieder haben würden.

Horana konnte froh sein, noch am Leben zu sein, und nicht einmal da war sie sich absolut sicher.

Es war nett, dass ihr alle Mut und Trost zusprachen.

Doch sie hatte einen sicheren Instinkt dafür entwickelt, wenn man sie anlog, und die Lügen hatten sich in den Tagen ihrer Gefangenschaft zu einem Berg aufgetürmt, dessen Gipfel langsam in so luftigen Höhen lag, dass bereits die Wolken darum kreisten. Horana hatte sie alle lügen lassen, es war besser, als kränklich und gereizt zu reagieren, was weitere Lügen nach sich gezogen hätte. Die Lügen taten ihren Urhebern sicher gut, sie redeten sich damit ein, etwas für sie getan zu haben, trotz aller Hilflosigkeit. Aber sie fühlte sich weder getröstet noch zuversichtlich, es ging ihr einfach nur schlecht. Neben ihrem Arm fehlten ihr Mut, Perspektive und die Erkenntnis, dass es ab jetzt nur noch aufwärts gehen konnte – gerade Letzteres, wie ein Mantra von Rivera vorgebetet, konnte sie nicht glauben. Es ging immer noch schlechter, bis zum Tod, der dann irgendwann vielleicht tatsächlich eine Verbesserung darstellte. Und als die Wachen sie aus der Gemeinschaftszelle holten und ohne jeden Kommentar abführten, war sie sich erst einmal sehr sicher, dass sie auf dem Weg in die Katastrophe einen weiteren Schritt zu tun im Begriff war.

Die Käfersoldaten, groß, schweigsam und bedrohlich, brachten sie aber nicht, wie im Stillen befürchtet, zum General der Iskoten, sondern zu einem Wesen, das Horana bereits mehrmals von ferne gesehen hatte und das sie an einen laufenden Kasten erinnerte. Er war, soweit sie verstanden hatte, eine Art Chefwissenschaftler und hatte mit seinen Leuten die Licht gründlich durchsucht und war immer noch damit beschäftigt. Erkensteen, der Chefingenieur, hatte den Kasten das eine oder andere Mal erwähnt, er war vornehmlich derjenige der Überlebenden gewesen, der von ihm immer wieder befragt worden war. Nur Horana nicht, weil sie sich mit der Licht nicht auskannte und keinen Beitrag zur systematischen Ausplünderung der Beute leisten konnte.

Dass es um exakt das und nichts anderes ging, war allen jedenfalls sehr schnell klar geworden.

Doch was wollte man von ihr?

Sie wurde in einen kleinen Raum geführt, schmucklos, mit einem Tisch und Sitzgelegenheiten.

Sie durfte sich setzen. Man bot ihr etwas zu trinken an. Sie kannte das. Die richtige Einleitung für ein Gespräch, in dem man etwas von ihr wollte. Sie beruhigen, den Geist öffnen für das Angebot oder die Forderung oder die Verknüpfung von beidem. Sie akzeptierte das Getränk und bat um Tee, den der in die Wand eingebaute Nahrungsautomat anstandslos produzierte. In der Zelle erhielten sie Wasser. Gastfreundschaft war für jene reserviert, die etwas beitragen konnten.

Horana war gespannt, ein wenig. Es wirkte belebend. Der Kasten jedenfalls hockte sich an der gegenüberliegenden Seite des Tisches hin und sprach.

»Mein Name ist Pultan Henk, ich bin der Direktor der Ratsakademie. Wir sind Kollegen, Wissenschaftler.«

Die Stimme des Kastens war sanft und schmeichelnd, und der Versuch, gleich mit dem ersten Satz eine persönliche Beziehung zu ihr aufzubauen, plump und vorhersehbar. Ein Amateur, dachte Horana, verbarg aber jede Abschätzigkeit. Henk hatte das Sagen, sie nur einen Arm. Man durfte niemals das real existierende Machtgefälle außer Acht lassen, selbst wenn sich der Gesprächspartner scheinbar als schlecht vorbereitet erwies. Eine Lektion, die junge und ehrgeizige Anwälte sehr schnell lernten, wenn sie sich selbst überschätzten. Horana tat das schon lange nicht mehr.

Sie trank Tee und sagte nichts.

Henk sprach weiter.

»Sie alle haben uns sehr dabei geholfen, ein größeres Verständnis für die Licht und ihre Herkunft zu erlangen. Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken. Ich weiß, dass die Umstände unserer Zusammenarbeit keine guten sind. Ich muss Ihnen sagen, dass ich mit der Vorgehensweise des Rates hier nicht ganz einverstanden bin. Es wurde übereilt gehandelt und mit unnötiger Brutalität. Ich denke, Sie sollten das wissen. Die Iskoten … sie sind unnötig brutal. Ich lehne das ganz grundsätzlich ab.«

Horana trank Tee und sagte nichts.

Zum einen hatte sie absolut niemandem bei irgendwas geholfen, sie war keine Technikerin. Zum anderen war des Kastens Bedauern ein reines Lippenbekenntnis. Er hatte absolut kein Problem mit der Situation und hatte sie genutzt, um die Licht zu erforschen und, davon ging sie aus, mittlerweile auch auszuplündern. Aber sie akzeptierte, dass der Direktor eine gute Stimmung bereiten wollte, und der weiche Sessel war eine angenehme Abwechslung zum harten Boden der Gemeinschaftszelle. Sie würde ihn also reden lassen und die kleinen Annehmlichkeiten genießen, solange es eben ging. Der Tee war auch lecker.

»Ich denke darüber hinaus, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir uns gegenseitig helfen können.«

Horana setzte die Tasse ab. Der Kasten kam jetzt zum Kern der Sache, sie musste genau zuhören.

»Wir wollen die unangenehmen Zwischenfälle auf der Licht