Kaiserkrieger Vigiles 2: Leichte Mädchen - Dirk van den Boom - E-Book

Kaiserkrieger Vigiles 2: Leichte Mädchen E-Book

Dirk van den Boom

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Beschreibung

Eine unbekannte Leiche in einem Bordell, ein Geldverleiher mit politischen Ambitionen, eine verschwundene Prostituierte – und die scheinbar vergebliche Suche nach einem Serienmörder: Ackermanns Herausforderungen sind viele und der Fortschritt lässt auf sich warten. Je tiefer die Ermittlungen sich im Sumpf der römischen Rotlichtviertel verlaufen und je höher sich der Berg aus Lüge und Täuschung auftürmt, desto mehr kommen die Vigiles zu der Erkenntnis, dass es bei diesem Fall um mehr als nur um leichte Mädchen geht.

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Inhalt

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Dirk van den Boom

Kaiserkrieger Vigiles: Leichte Mädchen

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg September 2016 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-402-3 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-418-4 Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich. Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1

Es war ein Loch und es stank.

Ackermann betrat das enge Gebäude und musste für einen Moment stehen bleiben, rang nach Luft. Er wollte nicht weitergehen, musste sich förmlich zum nächsten Schritt überwinden. Die Mischung der Geruchsnoten war betäubend, hier wurden allerlei Kräuter verbannt, es stank nach Schweiß, der leicht stechende Geruch von Sperma war ekelerregend. Andere menschliche Ausscheidungen hatten ihre eigene Note hinterlassen. Dann der Dreck. Es war gnadenvoll dunkel und daher konnte Ackermann nicht genau ausmachen, worin er lief, und er war dankbar für seine geschlossenen Stiefel. Der enge Gang öffnete sich rechts und links zu winzigen Kammern, kaum erleuchtet durch noch mehr stinkende Talglampen und nur verschlossen durch fleckige, löchrige Vorhänge. Dahinter lugten manchmal Gesichter hervor, meist die von Frauen, im Regelfall ängstlich. Die Räume, in die man hineinsehen konnte, nicht belegt, waren karg eingerichtet. Es gab eine Liegestatt mit miefigen Kissen und Decken, manchmal einen Hocker oder niedrigen Tisch, hin und wieder eine Schüssel mit Wasser. Oft Wein, Amphoren, geöffnet, geleert oder halb voll, und die Weinflecke rochen nach Essig. Einige der Gesichter schauten ihn und das CVN-Zeichen auf seiner Tunika unwillig, ja feindselig an. Er störte. Er störte das Geschäft und er störte alles andere, was hier geschah. Die Dunkelheit vertrug kein Licht, es deckte zu viele Dinge auf, die besser verborgen blieben.

Es war widerlich. Ackermann rang erneut nach Atem. Der Sauerstoff fehlte hier auch. Keine Fenster, kaum Ventilation. Wie konnte man sich hier unten dauerhaft aufhalten? Die Frage betraf natürlich nur die Huren, die hier arbeiteten. Die Freier waren normale Leute, Männer, die einen ohne viel Geld, manche mit mehr und dafür speziellen Wünschen, und alle bekamen sie für ihre Münzen den schnellen Service: rein, raus, abspritzen, fertig. Kaum jemand blieb hier länger als zehn Minuten außer jene, die nicht mehr so richtig konnten und sich abmühten, bis es doch noch klappte oder sie aufgeben mussten.

Freier blieben nicht lange, zumindest im Regelfall.

Bis auf diesen einen, deswegen er hier war.

Marcia stand neben der Leiche in der niedrigen Kammer und starrte auf den Toten. Er war nackt, was in diesem Etablissement nicht ungewöhnlich war. Sein Penis hing schlaff zwischen den Beinen, leicht gerötet. Das Messer steckte in seiner Brust und da steckte es gut, bis zum Heft und offenbar durch Zufall oder Kenntnis exakt platziert. Lange gelitten hatte er nicht. Auf dem Hocker neben dem Bett lagen die zusammengefalteten Kleider und diese boten einen starken Kontrast zur Umgebung. Das waren nicht die einfachen Gewänder eines Tagelöhners oder Legionärs, es waren gute Kleider, aus gutem Stoff, von fähiger Hand genäht, sauber und gepflegt. Geld. Sie sahen nach Geld aus.

Neben Marcia stand ein Mann der Wachtruppe, der Nachtpatrouille. Ackermann kannte sein Gesicht, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. Die Vigiles waren in den letzten beiden Monaten angewachsen, vor allem die Anzahl der Wachleute hatte sich fast verdoppelt. Alles seine Untergebenen, aber ihre Persönlichkeiten verschwammen vor Ackermanns Erinnerung. Es sprach für die Wichtigkeit seiner Organisation, dass er den Überblick verlor. Es sprach gegen ihn, dass er das tatenlos zuließ.

»Sie wurden gerufen?«, fragte er den Wachmann, der ernst nickte.

»Jawohl, Tribun. Nicos ist mein Name. Ich hatte Dienst in der Station XVI. Als ich herkam, habe ich den Toten so vorgefunden. Wie befohlen, habe ich nichts berührt und sogleich die Zentrale verständigt.«

Ackermann nickte. Es gab stehende Befehle für Wachleute. Einer lautete, am Tatort nichts anzurühren, außer es gab einen Notfall und noch etwas zu retten. Was hier in klarer Eindeutigkeit nicht mehr der Fall war. Nicos hatte absolut richtig gehandelt.

»Wer hat die Wache gerufen?«

»Die Puffmutter«, erwiderte der Mann. Er wies auf eine ältere, wohlbeleibte Frau mit verlebtem Gesicht, die neben der Tür im Gang stand und auf den Toten starrte, der ihr gerade ganz furchtbar das Geschäft vermieste. »Sie hörte Schreie, Aufregung und eilte hierher. Da lag er dann.«

Ackermann sah die Frau an, die so heftig nickte, dass ihr Doppelkinn zu vibrieren begann. »Wer … bediente ihn?«, fragte er sie.

»Isella.«

»Wo ist sie?«

»Weg.«

Ackermann hustete. Zu dem allgemeinen Gestank gesellte sich hier der metallische Geruch des vergossenen Blutes. Marcia reichte ihm einen Becher mit Flüssigkeit, aber er lehnte dankend ab.

»Weg?«, fragte er mit leicht erstickter Stimme.

»Als ich den Toten fand, war sie schon weg. Und alle Zimmer in dieser Richtung sind belegt. Da hat niemand sie gesehen, wenn sie fortgerannt ist.«

»Es gibt einen zweiten Ausgang?«

»Mehrere. Zum Innenhof. Zur Nebenstraße. Es ist recht dunkel hier. Von dort aus …« Die Frau zuckte mit den Achseln, erneut eine Bewegung, die allerlei in Wallung brachte.

»Hat jemand was gehört?«, fragte Ackermann den Wachmann, der absolut unberührt von der Luftqualität stocksteif neben ihm stand. »Die anderen … Damen?«

Der Mann verzog das Gesicht. »Sie waren alle sehr beschäftigt, scheint es. Nur einige können die Worte der Chefin bestätigen.«

»Wo finde ich sie alle?«

»Es gibt eine Art Aufenthaltsraum, wo auch gekocht, gewaschen und genäht wird. Dort habe ich sie einquartiert. Iocer ist schon da und befragt sie.«

Ackermann gestattete sich ein feines Lächeln. Als sie geholt worden waren mit der Meldung, dass sich ein Mord in einem Bordell zugetragen habe, war Iocer sofort Feuer und Flamme gewesen. Sein Chef konnte sich gar nicht vorstellen, woran das gelegen hatte. Hier jedenfalls, in dieser dreckigen Absteige, hatte er noch nichts Anregendes gesehen. Dass sein Kollege nun flugs das Verhör begonnen hatte, während Ackermann die Leiche betrachtete, passte durchaus ins Bild.

Der Chef der Vigiles sah wieder die Puffmutter an, die den Toten mit scheuen Blicken anblickte. »Ein Stammkunde?«, fragte er.

»Eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht, aber dann doch?« Er wies auf die schönen Gewänder auf dem Hocker. »Er entspricht nicht so ganz dem üblichen Publikum, oder?«

»Wir sind ein bekanntes und beliebtes Haus«, gab die Dame mit einem verschnupften Unterton zurück. »Herren aus allen Schichten frequentieren unsere Dienste. Reiche wie Arme. Sie würden sich wundern, wer hier alles logiert. Wir bieten feinsinnige Unterhaltung und unsere Damen sind sauber und willig. Wir sind bekannt und …«

»Das stimmt nicht«, erwiderte Ackermann kurz. »Dies ist die allerletzte, schmierigste und preiswerteste Absteige von allen. Deine Mädchen sind alt und verbraucht oder sehr, sehr verzweifelt. Sklavinnen dazu, wie ich annehmen darf. Du weißt, was das Gesetz sagt, ja?«

Das Gesicht der Puffmutter wirkte auf einmal sehr verschlossen. Ja, sie wusste es bestimmt. Die Sklaverei wurde graduell abgeschafft im Imperium und es gab noch viele Tausende dieser meist unglücklichen Menschen. Aber ein Gesetz war sofort erlassen worden, nämlich das Verbot, Sklavinnen als Huren zu benutzen. Ackermann war sich nicht sicher, ob diese Verfügung nur symbolischen Charakter hatte. Es gab in Rom keine Sittenpolizei, von selbst ernannten christlichen Bürgerwehren abgesehen, die hin und wieder nächtliche Streifzüge unternahmen, um Sündenpfuhle auszuheben, oft mit Gewalt. Ihre Arbeit wurde geduldet, wenngleich sie für Ackermann oft zu weit ging. Es war nichts gegen ein Bordell einzuwenden. Es musste nur anständig betrieben werden.

Dieses Etablissement, so war sein Eindruck, entsprach diesem Standard nicht. Würde er hier suchen, dann würde er auch fündig werden. Doch es nützte nichts, der Matrone zu drohen. Er benötigte ihre Kooperation, zumindest bis auf Weiteres.

Er sah Marcia an. »Was hast du gefunden?«

Die Ärztin zeigte auf das Bett, die zerwühlte Decke. »Sie haben es getrieben, bevor er starb. Er kam zum Schuss. Ich glaube sogar, er wurde dabei umgebracht, als er kam. Ein guter Moment. Männer sind dann … abgelenkt.« Sie gestattete sich ein maliziöses Lächeln.

Ackermann grunzte etwas. »Hatte er etwas dabei, das ihn identifizieren könnte?«

»Nichts. Keine Papiere, nur eine Börse mit ein paar Sesterzen, mehr als genug für eine schnelle Erleichterung zum Feierabend. Sonst nichts.« Sie zeigte auf die Leiche. »Gute Frisur, manikürte Fingernägel, an sich sehr sauber. Keiner, der viel mit den Händen arbeitet. Schau dir seine Muskeln an, sie sind eher weich. Fettansatz am Bauch, ein guter Esser. Aber nicht zu dick, also hat er ein Mindestmaß an Bewegung, kommt rum. Schwielen an den Füßen. Er benutzt seine Beine, sie sind stärker strukturiert als der Oberkörper. Keiner, der sich körperlich überanstrengt, aber jemand, der sich durchaus mal bewegt. Hat etwas Geld, ist aber gar nicht so reich.«

»Nicht steinreich? Warum?« Ackermann hörte Marcia gerne zu, wenn sie in Fahrt kam. Ihre Beobachtungsgabe war beeindruckend.

»Die Kleider sind an zwei Stellen geflickt. Gut, von kundiger Hand, da hat jemand Ahnung von seiner Arbeit gehabt. Aber geflickt, und das heißt, der Tote dachte wirtschaftlich. Sie sind auch nicht sehr sauber, haben Dreckränder, ein paar Staubflecke. Vielleicht war er auch nur knauserig, das gibt es immer. Oder er kam aus gutem Hause und geriet dann in schwere Zeiten.«

Ackermann nickte. Es war manchmal sehr schwierig, Tote zu identifizieren. Oft genug wurde ein Fall mit der Erkenntnis beendet, dass niemand die Leiche kannte und sich auch keiner dafür interessierte. Wie zuletzt die junge Frau …

Ackermann holte tief Luft. An die durfte er nicht denken. An das, was es bedeutete, auch nicht. Drei Wochen hatte er in seiner Wohnung gesessen, ehe er wieder zu klaren Handlungen in der Lage gewesen war, er und der Wein und sein Diener, der seine Haltung mit Sorge und Angst betrachtet hatte. Er war aus dem schwarzen Loch emporgeklettert und hatte sich wieder gefangen. Er wollte nicht wieder dorthin zurückkehren.

»Wann können meine Mädchen wieder arbeiten?«, fragte die Puffmutter. »Ich muss Geld verdienen.« Sie schaute Ackermann vorwurfsvoll an, als sei er alleine für die Misere verantwortlich.

Diesen Blick war er gewohnt; der ließ ihn kalt. »Später. Noch einmal: Wer ist der Tote?«

Die Frau verzog das Gesicht. Die Fettmassen am Hals und an den Wangen bewegten sich auf erstaunlich elegante Weise mit. Früher einmal musste sie nicht nur jünger gewesen sein, sondern eine veritable Schönheit. »Ich kenne seinen Namen nicht. Die Freier stellen sich nicht vor, sie kommen rein, suchen sich ein Mädchen, zahlen, haben ihren Spaß und gehen wieder. Ja, er war öfters da, aber viele sind öfters da. Und nicht alle wollen heute noch, dass bekannt wird, was sie hier tun.« Sie stieß einen schlecht gespielten Seufzer aus. »Die verdammten Christen, die Moralapostel. Oben predigen sie Wasser, hier holen sie sich den Wein. Ich habe Priester, die oft hier sind.« Sie kicherte. »Oft. Männer.«

Ackermann wusste, was die Frau wollte: ihn ablenken vom eigentlichen Thema. »Er hatte Mädchen, die er bevorzugte? Die seinen Namen kennen?«

»Ja … nun. Nicht dass ich wüsste.«

»Isella«, sagte ein Stimmchen. Ackermann drehte sich um, sah eine junge Frau, kaum erwachsen, in einem fleckigen, langen Kleid, einem übergroßen Nachthemd gleich, barfuß. Sie lehnte an eine Wand, sah Ackermann aus leeren Augen an. »Er mochte nur Isella. Ich glaube, er war ein wenig in sie verliebt. Sie hat es mir erzählt. Hat gehofft, er würde sie hier rausholen. Weiß nicht, ob er es versprach. Aber er ging immer nur zu ihr.«

Die Puffmutter warf der Frau einen scharfen Blick zu, doch in Gegenwart Ackermanns wagte sie keine Zurechtweisung.

»Wie ist dein Name?«, fragte er.

»Claudia.«

»Du kennst Isella gut?«

»Na ja, wie man sich so kennt hier unten. Wir wohnen hier, wir essen hier, wir schlafen und wir ficken. Wir waschen unsere Sachen zusammen. Da lernt man sich kennen, man redet. Ich nähe ganz gut, ich helfe vielen. Sie wäscht. Wir teilen uns die Arbeit. Da redet man.«

Sie schaute die Matrone an, der Blick immer noch leer. Wenn sie von der Herrin Ärger für ihre Freimütigkeit befürchtete, so zeigte sie das nicht. Ackermann wurde klamm ums Herz, als er die junge Claudia betrachtete. So jung, so verbraucht, so fatalistisch. Da war nichts mehr, kein Funke, keine Lebendigkeit. Dies war die schlimmste Absteige, hatte man Ackermann gesagt und so schien es tatsächlich zu sein. Und hier lebten Menschen, Frauen, die schon sehr früh am Ende angekommen waren.

»Wohin ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hat sie niemanden da draußen, keine Familie, keinen Freund, keinen Liebhaber?«

Claudia zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Wir gehen nicht oft raus. Wir haben hier alles, was wir brauchen.« Sie schaute wieder auf die ältere Frau. »Alles, was wir brauchen.«

Ackermann fühlte starken Unwillen in sich aufsteigen. Und als er einen Blick auf Marcias Augen erhaschte, erkannte er blinden Hass in ihrem Gesicht. Er war beinahe überrascht. Marcia war zu starken Emotionen fähig, aber so einen Ausdruck des Widerwillens hätte er nicht erwartet.

»Ich denke, du hast deine Arbeit getan«, sagte er der Ärztin. »Danke, dass du so schnell hier warst. Wir reden morgen.«

Marcia wollte etwas sagen, wahrscheinlich protestieren, doch ein Blick auf Ackermann belehrte sie wohl eines Besseren. Sie nickte nur, murmelte etwas, packte ihre Sachen und ging. Sie schaute die Matrone ein letztes Mal an, in ihrem Blick ein Versprechen, oder eher eine Drohung. Dann war sie weg. Es war, als habe eine stumme Gefahr den Raum verlassen.

»Wer war der Mann?«, fragte Ackermann ein letztes Mal, mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme.

»Ich kenne seinen Namen nicht«, kam die Antwort der Matrone und ein stummes Kopfschütteln der Claudia.

Der Polizist gab es auf, zumindest für den Moment. »Wo ist der Gemeinschaftsraum?«

»Ich bringe Sie«, sagte Claudia und wandte sich ab, ohne auf die Erlaubnis ihrer Chefin zu warten.

Ackermann folgte ihr. Das hier unten war ein Labyrinth. Niemand hätte diese Anlage für möglich gehalten, wenn man das Mietshaus betrat. Einige Zeichen an der Wand wiesen auf die Existenz des Bordells hin, aber sie waren bemerkenswert diskret, um die Aufmerksamkeit fanatischer Christen nicht allzu sehr zu wecken. Aber es war gut frequentiert hier und jeder wusste, wohin er gehen musste. Ackermann schaute genau hin, aber die Freier, soweit sie noch da waren, ließen sich nicht blicken. Würde er hier unten unangenehme Begegnungen haben, wenn er genauer hinsah? Es war alles möglich. Dies war Rom.

Als Ackermann den Raum betrat, war Iocer noch mit der Befragung zugange, also nickte er dem Kollegen nur zu und setzte sich in eine Ecke. Der Raum war vergleichsweise groß, es gab eine Kochstelle, von der aus ein kruder Schacht bis zur Oberfläche reichte, die einzige Luftzufuhr in diesem Teil des weiträumigen Kellers. Es gab Tische, Bänke, Waschzuber, einige Schüsseln mit Wasser, Handtücher, Bettwäsche, alles mehr oder weniger ordentlich an die Wände gestapelt. Essensreste lagen herum. Die Wände waren übersät mit Graffiti. Ackermanns Blick glitt über die teilweise obszönen, teilweise traurigen, manchmal hasserfüllten Botschaften, manchmal verziert mit ungelenken, aber eindeutigen Zeichnungen. Diese zu lesen, eröffnete ihm die ganze Bandbreite des Lebens hier unten, von den Freiern, die die Mädchen schlugen und brutal gebrauchten, bis zu denen, die hierher kamen, weil es sonst niemanden für sie gab.

Ackermann fühlte sich berührt. Er betrachtete diese Zeugnisse länger, als er es eigentlich vorgehabt hatte, und die Blicke, die die versammelten Dirnen ihm dabei zuwarfen, waren bezeichnend – manchmal amüsiert, manchmal aber auch unwillig, als würde er in Geheimnisse eindringen, die ihn eigentlich nichts angingen.

Dies war eine eigene Welt, ein kleines Universum, in dem sich die Huren eingerichtet hatten, oft dazu gezwungen, oft ergeben in ihr Schicksal. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es hier unten für sie zuging. Und wurden sie zu alt, zu hässlich, dann mussten sie gehen. Was geschah dann? Sie endeten als Bettlerinnen auf der Straße oder mit Glück gab es irgendwo Arbeit für sie, in einer Küche vielleicht. Aber die meisten würden von den Almosen des Staates leben, den Brotgaben, die der Kaiser den Bewohnern Roms immer noch regelmäßig geben ließ, und diese in einer Ecke sitzend verspeisen. Ein kurzes Leben dazu. Starb eine, beachtete das niemand. Nur die Leiche wurde beseitigt, um auf die Sauberkeit der Stadt zu achten, auf die Seuchengefahr.

Viele wurden nicht alt. Die Lebenserwartung konnte nicht allzu hoch sein.

Dies war ein grausamer Ort. Und der Blick auf das gute Dutzend hier versammelter Frauen bestätigte den Eindruck. Manche waren blutjung, manche reifer, alle hatten sie dick Schminke aufgetragen, zu dick, grell und aufreizend und oft abstoßend. Die Farbe verdeckte die geschwollenen Augen, die müden Blicke, die Haltung, die Ausdruck von Erschöpfung war. Keine war unterernährt. Ackermann war sich sicher, dass die Matrone darauf achtete, dass alle ausreichend zu essen bekamen, solange sie ihr nützlich waren. Aber das war wahrscheinlich schon das höchste Ausmaß an Fürsorge, das ihnen zugewandt wurde.

Ackermann wollte nicht wissen, was geschah, wenn eine der Frauen schwanger wurde. Und was aus den Kindern wurde. Hier unten jedenfalls sah er keine. Das war im Grunde kein gutes Omen. Es schauderte ihn, an die Möglichkeiten zu denken.

Iocer, den Notizblock in der Hand aufgeschlagen, war nun offenbar mit seiner Arbeit fertig. Er wandte sich noch einmal an alle. »Wir werden sie möglicherweise ein zweites Mal befragen«, sagte er laut.

»Wir gehen nirgendwo hin«, kam von einer der Huren die sarkastische Antwort und einige lachten.

Iocer nickte und zwang sich zu einem Lächeln, ehe er abwinkte. Die Frauen verließen den Raum, bis auf zwei, die offenbar ohnehin gerade Pause machten und sich nun darum kümmerten, die Wäschezuber mit Wasser zu füllen. Es gab immer Arbeit.

Ackermann sah ihnen schweigend nach, sagte nichts. Keine sah ihn ängstlich an oder verschämt. Er war kein Freier und er arbeitete nicht für die Puffmutter, also war er grundsätzlich niemand, vor dem man sich fürchten musste. Das würde sich ändern, wenn Rom eines Tages so etwas wie eine richtige Sittenpolizei bekam. So schnell aber würde das nicht geschehen.

Iocer hockte sich neben Ackermann. Er sah nicht glücklich aus. Er hatte es sich wohl anders vorgestellt, einige Stunden unter Liebesdienerinnen zuzubringen. Die Ernüchterung hatte sicher sehr schnell eingesetzt. »Das ist furchtbar hier unten«, murmelte er leise. »Ein schlimmer Ort.«

Ackermann nickte. »Was hast du herausgefunden?«

Sein Kollege seufzte leise. »Nicht viel. Einige haben etwas gehört, andere gar nichts und gesehen hat niemand etwas. Wo die Kleine ist, weiß auch keiner, auch nicht, wo sie hingelaufen sein könnte. Die halten hier zusammen, Chef. Die erzählen nichts, wenn sie nicht müssen. Jede von ihnen hatte schon mal Ärger mit einem Freier und manche haben sich bestimmt gewehrt. Ich würde sogar zu behaupten wagen, dass die eine oder andere Leiche hinausgetragen und verscharrt wurde. Unmöglich ist es nicht. Es ist eine Gemeinschaft der Verzweifelten und das kann eine starke Solidarität erzeugen. Die Herrin hier – die hat es faustdick hinter den Ohren, kalt wie Eis und sehr profitorientiert. Die halte ich für zu allem fähig.«

Ackermann nickte. Iocers Analyse traf den Punkt. Der Ermittler entwickelte sich gut, zeigte mit jedem neuen Fall seine analytischen Fähigkeiten. Er war eine Stütze der CVN, vor allem zu jener Zeit, als er selbst, Ackermann, sich wochenlang betrunken hatte. Und Iocer hatte verstanden, warum das Auftauchen des Schlitzers seinen Chef dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Es gab diese Art von Zufällen nicht und Ackermann hatte Angst, denn der Mörder musste zu den Zeitenwanderern gehören. Anders ließ es sich nicht erklären.

Das machte die Sache sehr, sehr schwierig.

Iocer verstand es. Er hatte Ackermann gedeckt und entschuldigt. Ausreden gefunden. Ihm die Tür zurück ins Leben offen gehalten. Ackermann war ihm dankbar dafür.

»Dann haben wir hier nichts mehr zu suchen«, erklärte er. »Gib eine Beschreibung des geflohenen Mädchens an alle Einheiten, vielleicht haben wir Glück. Und jemand soll die Eingänge dieses Bordells im Auge behalten, vielleicht kehrt sie zurück. Ach ja …« Seine Stimme wurde leiser, damit niemand außer Iocer ihn hören konnte. »Diese Dirne, die mich herbrachte – ihr Name ist Claudia.«

Iocer verzog den Mund. Das war auch der Name seiner Frau, die, glaubte man den Gerüchten, aufgrund einiger familieninterner Dispute derzeit nicht gewillt war, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Erfuhr sie, wohin ihren Ehemann seine aktuellen Ermittlungen geführt hatten, würde sich diese Situation gewiss nicht verbessern.

»Wir müssen noch einmal mit ihr reden«, fuhr er fort. »Sie ist wohl eine Freundin Isellas. Ich denke schon, dass sie ein wenig mehr weiß als das, was sie bisher gesagt hat.«

Iocer nickte. Ackermann konnte sich auf ihn verlassen. Seine Anweisungen wurden ausgeführt.

»Sonst noch etwas?«

»Nein. Wir schaffen die Leiche jetzt weg. Ich will hier raus. Dieser Ort deprimiert mich.«

Iocer sah Ackermann müde an. »So sind wir Männer wohl.«

»Nein«, erwiderte sein Chef mit scharfer Stimme. »Das will ich nicht akzeptieren.«

Iocer senkte den Kopf und sagte nichts mehr.

Ackermann beließ es dabei.

Augenblicke später, nach einem weiteren Marsch durch die stinkenden und schlecht beleuchteten Gänge des Bordells, stand er wieder auf der Straße unter dem Nachthimmel Roms. Die Luft war nicht nur kühler als am Tag, sie war auch frischer, da dann doch viele Bewohner schliefen und die Produktion von Gestank erst wieder am frühen Morgen begonnen wurde. Ackermann hörte das Geklapper von Pferdehufen und das Quietschen der Karren. Vom Fahr- und Reitverbot bei Tage befreit, begannen die nächtlichen Lieferungen an die Tavernen, Lagerhäuser und Geschäfte der Stadt, um am kommenden Morgen für die Wünsche der Kunden wieder bereit zu sein. Rom schlief nie, wie es im Grunde für alle großen Metropolen des Reiches galt, und Rom wuchs unaufhaltsam, erwachte aus dem langen Winterschlaf, seitdem sie wieder die Hauptstadt des Imperiums war.

Im Großen und Ganzen wurde die Stadt mit jedem Monat unerträglicher.

Er nickte den beiden Vigiles zu, die ihn hierher begleitet und draußen auf ihn gewartet hatten. Rom war kein sicherer Ort und es gab genug Menschen mit herzlich wenig Respekt selbst vor Amtspersonen. Ackermann wiederum war kein Selbstmörder und er würde nicht zu dieser Stunde durch die Gassen marschieren, ohne für angemessenen Schutz zu sorgen. Die Stadtwache direkt anzugreifen, das wagten normalerweise nur die Betrunkenen und die waren in ihrem Zustand glücklicherweise keine echten Gegner.

»Wir gehen zum Hauptquartier«, sagte er. »Der Morgen naht. Es lohnt sich nicht, wieder schlafen zu gehen.«

»Ja, Tribun«, sagte einer der Männer und trabte los. Ackermann folgte ihm blind, der Mann kannte sich deutlich besser aus als er selbst. Seine Begründung war nur die halbe Wahrheit gewesen. Es mochte gegen drei Uhr früh sein und niemand hätte ihn dafür kritisiert, wieder Ruhe zu suchen und am späteren Vormittag im Hauptquartier zu erscheinen – er war, wenn alles gesagt war, schließlich der Chef und durfte sich einige Freiheiten leisten. Doch Ackermann schlief nicht mehr so gut und auch nicht gerne. Die Albträume hatten nicht nachgelassen, die Bilder von toten Mädchen mit einem blutigen Kreuz auf dem Oberkörper quälten ihn jede Nacht, besonders schlimm, wenn die Opfer das Gesicht seiner Schwester trugen. Er konnte vor dieser Tortur nur weglaufen, indem er wach blieb, und sein Kaffeekonsum, das wusste er selbst, hatte höchst ungesunde Mengen angenommen.

Er wusste auch, dass er nur dann Absolution von seinen Dämonen erlangen würde, wenn er den Verantwortlichen zur Strecke brachte. Es war schwierig. Wo waren die Besatzungsmitglieder der Saarbrücken alle gelandet? Seit das Schiff stillgelegt worden war und nur noch jene in Diensten des Imperiums standen, die nicht das Angebot Rheinbergs zur ehrenvollen Entlassung angenommen hatten, war das schwer nachzuvollziehen. Manche hatten sich gänzlich ins Privatleben zurückgezogen, andere sich selbstständig gemacht, wieder andere waren als Lehrer unterwegs, als Ausbilder in einer der neuen imperialen Akademien. Eine gute Zahl nahm weiterhin den Sold des Kaisers in Anspruch und viele hatten erst vor Kurzem Rom an der Seite von Thomasius verlassen, um den lange vorbereiteten Feldzug gegen die Hunnen zu begleiten. War der Mörder unter ihnen, blieben Ackermann die Hände gebunden. Und er hatte absolut keinen Hinweis, nicht die geringste Spur, keinen Faden, den er hätte aufnehmen können.

Und so blieb der Schock, es blieben die Albträume und seine Arbeit, die anderen Morde und Verbrechen, um sich darin zu ertränken und ja nicht an die eine Tat zu denken, die ihn immer noch aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochte.

Alles gut, um den Schlaf zu vermeiden, den er nur dann willkommen hieß, wenn es sich wirklich nicht mehr ändern ließ. Ackermann schaute hinauf in den Himmel. Sterne glitzerten.

Kaffee, dachte er.

2

Marcia war dem Rat ihres Vorgesetzten nicht gefolgt. Zwar hatte sie das Bordell verlassen, jedoch war sie nicht nach Hause zurückgekehrt, wo sie außer einem kalten Bett und der Aussicht auf ein lausiges Frühstück nichts erwartete. Schlaf würde sie keinen mehr finden. Die Ereignisse der Nacht hatten sie zu sehr aufgewühlt. Sie war normalerweise nicht so leicht außer Fassung zu bringen, aber was sie gesehen und gehört hatte, erinnerte sie zu stark an Dinge, die sie tief in sich verborgen und halb vergessen glaubte. Ein großer Irrtum.

Es waren schwere Zeiten für eine Frau. Eigentlich waren es immer schwere Zeiten für eine Frau. Sie hatte sich auf ihre Weise dagegen gewehrt und es war ihr lange egal gewesen, dass ihre Karriere sie über zahlreiche Leichen geführt hatte. Ackermann durfte niemals von ihrer Vergangenheit erfahren, wenngleich er sicher, zumindest für einen kurzen Moment, den Nutzen ihrer Kenntnisse und Kontakte für die Polizeiarbeit eingesehen hätte. Aber der Zeitenwanderer war auf eine impertinent-niedliche Weise ehrlich, eine moralische Eigenschaft, die Marcia nur schwer verstand, der sie sich aber anpassen musste, nicht nur in ihrem Handeln, sondern auch in ihren Worten. Es war wichtig, denn von Ackermanns Wohlwollen hing im Endeffekt ihr Leben ab, auch wenn der Mann sich dessen gar nicht bewusst war.

Dennoch gab es ihre Vergangenheit und alles, was sie an Leid zugefügt … und erlitten hatte.

Ackermanns Wohlwollen konnte sie sich nur durch gute Arbeit erhalten. Gemeinhin beschränkte sie sich auf das, was ihr als Ärztin zugeteilt wurde. Diesmal aber war es anders. Denn der Besuch in dieser miesen Absteige, die Begegnung mit all den Huren, die so jung und schon so gezeichnet vom Leben wirkten, hatte sie an bestimmte Episoden aus ihrer eigenen Jugend erinnert. An Dinge, die sie lange verdrängt hatte, an Erlebnisse, die sie tief in sich versteckt wusste und die sie niemals herausholte. Da war auch keine Verklärung, kein »Gras wuchs über die Sache«. Es gab Schmerzen, Formen der Erniedrigung, die ließen einen niemals los und man konnte sie nur wegsperren und hoffen, dass sich die Tür nie wieder öffnen lassen würde.

Einen Spaltbreit aber stand sie auf, als sie das Bordell verließ. Was sie durch diesen Spalt wahrnahm, veranlasste sie, Schritte zu gehen, die sie eigentlich sonst vermieden hätte.

Für eine normale Frau wäre es gefährlich gewesen, zu dieser Zeit durch das stockdunkle Rom zu wandern. Die Stadt war nicht sicher, nicht in der Nacht und besonders nicht für einsame Spaziergänger. Doch Marcia hatte viele Metropolen des Imperiums in der Nacht durchwandert, war viele Male überfallen worden und hatte vieler Wegelagerer Kehle durchschnitten. Sie war gut mit dem Messer, konnte einen Pfeil herausschneiden, einen Splitter, konnte exakt so die Haut öffnen, dass ein Knochen gerichtet werden konnte. Exakt so, dass eine Arterie den Lebenssaft auf den Boden spritzte und der Tod langsam eintrat, exakt so, dass das Herz durchbohrt wurde und der Tod schnell kam. Das war, wie es eben Frauen so beliebte, stimmungsabhängig.

Was sie jetzt tat, hatte auch mit einer Stimmung zu tun. Einer sehr düsteren, sehr schlechten.

Sie betrat eine Mietskaserne, die im Grunde wie jede andere aussah, ein schlecht zusammengebauter Klotz mit groben Wänden, engen Gängen, in denen die unteren Stockwerke den Wohlhabenden, die oberen den Ärmsten vorbehalten waren. Es war Nacht, aber hier herrschte Leben, Lampen flackerten, auf den Treppen saßen Bewohner, manche wohnten sogar hier, hatten keine andere Unterkunft. Sie sahen sie an, manche mit hungrigen Blicken, abschätzend. Sie ließ ihr langes Messer aufblitzen und jemand wich zurück, dem anzusehen gewesen war, dass er es versucht hätte.

Oben, unter dem Dach, wo tagsüber die Hitze jede menschliche Existenz beinahe unmöglich machte, schlug sie einen Vorhang zur Seite und betrat eine Wohnung, die gar keine war. Für jemanden hier ganz oben war der Ort, an dem sie sich nun aufhielt, fast luxuriös. In den beiden Räumen wohnte nur eine einzige Person und sie schlief nicht. Tatsächlich war sich Marcia mittlerweile sicher, dass sie niemals schlief. Die ältere Frau blickte kaum hoch, als sie Marcia eintreten hörte, dann aber, als sie erkannte, wer sie war, legte sie das Pergament nieder, in dessen Lektüre sie eben noch vertieft gewesen war.

Die Frau mochte etwa in Marcias Alter sein, aber sie sah wirklich älter aus. Die Spuren des Lebens hatten tiefe Risse in ihr Gesicht eingegraben, ihre Augen wirkten müde und ihre Körperhaltung war gekrümmt, ein deutlicher Kontrapunkt zum aufrechten Gang ihres Gastes. Dennoch war sie nicht gebrechlich und sie machte auch nicht den Eindruck, krank zu sein. Marcia wusste, warum Porcia sich so von ihr unterschied: Sie war seit vielen Jahren dem Trunk ergeben und die Einführung des Branntweins der Zeitenwanderer hatte es noch viel schlimmer gemacht. Sie warf einen Blick auf die Hände der Frau, die erstaunlich feingliedrig und gepflegt aussahen. Sie zitterten nicht. Marcia holte tief Luft und ließ den scharfen Geruch des Alkohols auf sich einwirken. Porcia hatte einen Füllstand erreicht, der es ihr erlaubte, ruhig zu sein und zu arbeiten. Sie war betrunken genug, um sich ordentlich und konzentriert unterhalten zu können, und das war die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg von Marcias Besuch.

Und sie erinnerte sich. Das war bemerkenswert, aber nicht wirklich überraschend.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen.«

So verhärmt ihr Äußeres auch sein mochte, so lieblich klang immer noch die Stimme der Frau, und als diese Marcia einen Schemel anbot, setzte sie sich. Porcia stank aus jeder Pore nach Branntwein. Sie hatte ein Stadium erreicht, bei dem selbst regelmäßige Körperhygiene diesen unterschwelligen Geruch nicht mehr abwehren konnte. Marcia sah sich um. Alles hier war ordentlich und sauber, ganz im Gegensatz zu den meisten Unterkünften in diesem großen Viehstall, der nur keine Kühe, sondern Menschen zueinander pferchte. Porcia hatte immer darauf geachtet, mehr darzustellen, als sie war, und es gehörte zu der Scheinwelt, die sie erschuf und mit der sie Vertrauen erzeugte.

»Ich habe auch niemals mehr kommen wollen«, sagte Marcia leise.

Porcia grinste. Es lag keine Freude darin, mehr eine unterschwellige Gehässigkeit. »Ich war dir dienlich, wie so vielen vor und nach dir. Du bist zu mir gekommen. Aber ich gräme mich nicht. Es ist so, wie es ist. Keiner will mein Freund sein, alle bedienen sich nur meiner Dienste. Bist du schwanger? In deinem Alter?«

Marcia schüttelte den Kopf. Die Frage war ihr aus rein professionellem Interesse gestellt worden. Porcias Handwerk bestand aus Abtreibungen. Für reiche Römerinnen, die nicht wollten, dass der Skandal einer außerehelichen Affäre ruchbar wurde, oder die Angst um ihre Schönheit hatten. Für arme Römerinnen, die Angst hatten, weitere Mäuler nicht stopfen zu können. Huren, die weiterarbeiten mussten. Die einen zahlten mehr, die anderen weniger – Porcia wusste da zu unterscheiden. Neben ihren Fertigkeiten war die Diskretion ein wichtiges Gut, mit dem sie handelte. Marcia war zweimal hier gewesen, vor vielen Jahren, und sie erinnerte sich nicht gerne daran. Sie sah die Kräuter und Tinkturen auf den Regalen und erinnerte sich an ihren bitteren Geschmack. Nieswurz und Bibergeil waren die am weitesten gebräuchlichen, aber Porcias Auswahl war groß, genauso wie ihre Experimentierfreude, der so manche weniger wohlhabende Kundin bereits zum Opfer gefallen war. Marcia hatte Porcia damals ein Messer an den Hals gesetzt und ihr damit deutlich gemacht, was geschehen würde, wenn etwas schieflief.

Es war nichts schiefgelaufen. Zwei Kinder hatte sie unter Schmerzen und Ekel zur Welt gebracht, beide Male im dritten Monat. Marcia, die Gnadenlose, hatte zur Seite geschaut, als Porcia die Föten entsorgt hatte. Es gehörte zu den Erinnerungen, die sie tief in sich verbarg. Da war ein Schmerz, den sie sich nicht erklären konnte, das Gefühl eines Verlusts, der in ihr bohrte und das sie niemals ganz verloren hatte. Irgendwann, das hatte sie sich vorgenommen, würde sie um ihre toten Kinder weinen. Sie wusste noch nicht genau, wann, aber es stand auf ihrer Liste.

Porcia stand auf der Liste der Frauen, die sie niemals wiederzusehen geschworen hatte.

So viel waren ihre Vorsätze also wert. Marcia schluckte die bittere Galle hoch, die in ihr emporkroch. Alles in ihr verlangte danach, diesen Ort und die damit verbundenen Erinnerungen zu verlassen. Doch jetzt musste sie Disziplin bewahren. Wenn sie etwas im Leben gelernt hatte, dann das.

»Was kann ich für dich tun, liebe Hortensia?«

Natürlich kannte die Kurpfuscherin sie nicht bei ihrem richtigen Namen. Porcia verließ ihre Wohnung niemals, sie hatte Mädchen, die sie versorgten. An Geld mangelte es ihr nicht, nur an Ehrgeiz. Sie hätte wahrscheinlich eine gute Ärztin werden können, damals, als sie noch nicht dermaßen dem Suff verfallen war wie heute. Jetzt aber tat sie, was zu tun war, um sich den Trunk leisten zu können.

»Ich habe eine Frage an dich. Ich suche jemanden.«

Die Frau sah Marcia abschätzend an. »Du siehst gut aus. Besser als damals.«

Es war ein mittleres Wunder, dass sie sich überhaupt erinnerte. Aber Marcia hatte damals aus vielerlei Gründen einen Eindruck hinterlassen. Das Messer, gepresst an Porcias Unterleib, hatte mit Sicherheit dazu beigetragen. Die Drohungen, mit denen sie gegangen war, möglicherweise ebenso.

»Es geht mir gut. Dir offenbar auch.«

Beide wussten, dass es gelogen war, und beide akzeptierten die Lüge als notwendig.

»Wen suchst du – und warum?«

»Eine Hure. Sie nennt sich Isella, aber das ist wahrscheinlich nicht ihr richtiger Name.«

Die Frau nickte. Viele, gerade jüngere Dirnen gaben sich Fantasienamen, um dann, wenn der Richtige kommen sollte, unter ihrem echten heiraten zu können. Es half, die Vergangenheit vergessen zu machen und Brücken abzubrechen. Marcia wusste genau, wie das war. Hortensia hatte sie sich damals genannt, einer von vielen Namen. Nicht einmal ihr derzeitiger war der wahre.

»Ich kenne mehrere Isellas«, sagte sie. »Gib mir eine Beschreibung!«

Hier hatte Marcia gut aufgepasst. Es war schwierig gewesen, den anderen Huren die Würmer aus der Nase zu ziehen, aber sie hatte eine ganz gute Idee davon, wie die Geflüchtete aussah. Sie gab jedes bekannte Detail an Porcia weiter und diese hörte schweigend zu. Manchmal hatte sie den Eindruck, als würde die Aufmerksamkeit der Alten nachlassen, da ihr Blick zu wandern begann. Dann sprach sie etwas lauter, mit Nachdruck, um deutlich zu machen, dass jetzt keine Zeit für Ablenkung war. Porcia nickte, als sie geendet hatte.

»Ja. Sie war hier. Aus dem Haus sind viele hier. Ich … die Vorsteherin bezahlt mich. Wir haben einen Vertrag.«

Marcia hatte das geahnt, deswegen war sie hier. Viele hatten dauerhafte Geschäftsbeziehungen mit Porcia, gerade jene, die sich schwangere Huren gar nicht leisten konnten.

»Wann ist sie gekommen?«

»Vor einem halben Jahr. Ich habe ihr viel Bibergeil gegeben, das wirkte gut. Sie blutete stark und dann war es vorbei, hat keine Woche gedauert. Im Nebenraum. Du kennst das ja.«

Marcia wollte nicht daran denken, nickte trotzdem. Es hatte sich seit damals nicht viel geändert. Für Isella musste es eine entsetzliche Tortur gewesen sein. Wie für sie selbst.

»Hat sie was gesagt?«

»Ich soll es wegmachen.«

»Hat sie gesagt, wer der Vater ist?«

»Kann sie das wissen? Jeden Tag rutschen Dutzende über sie rüber.« Porcia lachte krächzend und die Verachtung in ihrer Stimme zeugte von dem Zynismus, den sie sich mit der Zeit angeeignet hatte. Und sie hatte natürlich recht mit dem, was sie sagte. Wie sollte sie das wissen?

»Sie hat nichts sonst gesagt?«, drängte Marcia.

»Wieso willst du das wissen?«

In den Augen der Frau stand nun Gier. Sie würde nicht weiterreden, auch nicht unter Drohungen, wenn Marcia nicht mit besseren Argumenten kam, und da gab es nur die eine echte Alternative.

Die Ärztin holte eine Münze aus der Tasche, zeigte sie der Frau, die das glitzernde Metall mit gierigem Blick betrachtete. »Ich will dir das geben, aus alter Verbundenheit. Deswegen.«

Porcia leckte sich über die Lippen. »Sie plapperte, weil sie Angst hatte, nervös war. Ich ließ sie und habe gar nicht richtig zugehört.«

»Du lügst. Du hörst immer gut zu. Wer weiß, was man so erfährt?«

Porcia lachte meckernd. »Du kennst mich gut.«

»Ich habe auch geplappert, zweimal. Einmal hast du es gegen mich benutzt und ich habe darunter sehr gelitten.«

Porcia blickte hoch, sah in Marcias kalte Augen. Jetzt kroch eine Spur der Unsicherheit in ihre zynische Haltung, ein Anflug von Angst.

»Ich habe dafür bezahlt, Hortensia«, sagte sie leise und beinahe devot. »Ich kann dir die Narbe zeigen, sie schmerzt jeden Winter, und jedes Jahr mehr. Willst du sie sehen?«

»Ich erinnere mich daran, dir die Wunde zugefügt zu haben«, erwiderte die Ärztin emotionslos. »Das genügt mir. Dass du noch Schmerz spürst, freut mich. Der meine saß auch tief.«

Porcia nickte, ganz langsam, als würde jede schnelle Bewegung den Zorn Marcias hervorrufen. Sie griff trotzdem nach der Münze und Marcia überließ sie ihr.

»Gut. Ja.« Sie plapperte. »Lass mich nachdenken.«

Marcia wappnete sich mit Geduld. Nachdenken war für Porcia wahrscheinlich eine Aufgabe, die erheblicher Konzentration bedurfte. Doch es dauerte nur wenige Minuten, in denen die Kurpfuscherin heftig ihre Lippen zusammengepresst hielt, bis sie etwas sagte.

»Sie sprach von diesem Mann. Er wollte sie heiraten, meinte sie jedenfalls. Er … hm, er war Sohn eines mächtigen Patriziers. Wohl eine wirre Liebe, wie oft bei diesen jungen Dingern, die aus dem Sumpf rauswollen, in den sie geraten waren. Sie schwärmte von ihm.«

»Trotzdem ließ sie abtreiben?«

»Ja, nicht wahr?« Porcia runzelte die Stirn. »Das habe ich auch nicht ganz verstanden. Aber wer begreift schon die jungen Dinger?«

Marcia ließ den nach Solidarität heischenden Blick Porcias an sich abgleiten. Sie würde sich in nichts und niemals mit dieser Frau gemein machen. Aber ja, sie gemahnte sich zur Vorsicht. Nur weil sie selbst und die alte Quacksalberin sich nichts anderes vorstellen konnten, als einen reichen Mann mit einem Kind zumindest zu erpressen zu versuchen, hieß das nicht, dass jede Frau so reagierte. Wenn sie etwas durch die Zusammenarbeit mit Ackermann gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass man nicht vorschnell von sich auf andere schließen sollte. Das waren dann oft Trugschlüsse, die in die Irre führen konnten.

»Hat sie seinen Namen genannt?«

»Hm, warte mal? Marcus? Marcellus? Martinus? Irgendwas mit M auf jeden Fall. Ich habe gar nicht richtig zugehört.«

»Natürlich nicht. Was hat sie noch gesagt?«

»Sie sprach davon, das Bordell zu verlassen. Nicht sonderlich originell, davon sprechen sie alle. Ich kenne aber keine, die es vor ihrer Zeit jemals verwirklicht hätte.«

Marcia konnte dem nicht widersprechen. Viele Frauen wurden alt an einem solchen Ort, oft schneller als draußen, und wenn es so weit war, wurden sie hinausgeworfen und hatten nichts mehr. Aber freiwillig gehen, solange man noch konnte? Das gelang nicht vielen. Die Aussicht auf einen Mann, den rettenden Ritter, war der größte Traum, ein im Regelfall völlig vergeblicher. Die meisten begnügten sich dann mit weniger, hatten manchmal Glück, oft genug aber besserte sich ihre Lage nicht, mitunter wurde es gar noch schlimmer. Es war keine gute Zeit, eine Frau zu sein.

»Sonst noch etwas?«

»Wonach suchst du? Bist du scharf auf die Kleine?«

Es lag in Porcias Wesen, dass sie an nichts anderes denken konnte. Marcia nahm es ihr nicht übel. Sie hielt inne, lauschte in sich hinein und kam zu dem Schluss, dass sie sich korrigieren musste.

Doch. Sie nahm es ihr übel. Definitiv.

»Ich suche das Mädchen. Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Wie geht es ihr?«

Marcia runzelte die Stirn. Was war das für eine Frage? Und sie hatte nach ernsthaftem Interesse geklungen. »Es geht ihr nicht gut«, erwiderte sie.

»Richtig nicht gut?«

»Ich würde sagen, es kann nicht viel schlimmer werden.«

»Dann hat sie einen Onkel, draußen in Campania, nicht weit von Capua. Er hat einen Hof, ein paar Sklaven vielleicht, nichts Besonderes, ein Kleinbauer. Veteran, soweit ich weiß. Die einzige Verwandtschaft, von der sie jemals erzählt hat. Sie sagte, wenn das alles vorbei sei – also die Abtreibung, wenn sie die hinter sich habe –, dann würde sie den Onkel besuchen und sich dort ausruhen. Er sei der Einzige, der sie noch aufnehmen würde, seit sie zur Dirne geworden sei.«

»Wie heißt der Mann?«

Porcia grinste. »Onkel. Aus Campania.«

Marcia holte eine weitere Münze wieder hervor und legte sie vor Porcia auf den Tisch.

»Ein Veteran«, wiederholte die Quacksalberin.

Eine dritte Münze gesellte sich zur ersten. Genug für ein ordentliches Fass Branntwein, und nicht der billige Fusel, sondern das gute Zeug aus der Brennerei von Köhler & Behrens. Qualität, die einen nur durch den Alkohol vergiftete, nicht durch andere Zutaten.

»Hm, lass mich nachdenken … sie erwähnte Nola.«

Marcia kannte Nola, eine kleine Stadt, die vor allem dadurch berühmt war, dass Kaiser Augustus in ihr verstarb. Unweit Capua, in der Tat.

»Nola, ja?«

»Wenn mich nicht alles täuscht, hatte der Onkel dort ein kleines Amt. Er war Veteran, du erinnerst dich? Vielleicht haben sie ihm eine kleine Position in der Stadt gegeben, wenn er noch gut beieinander war. Veteranen bekommen so was, wie du weißt. Er ist aber jetzt nur noch Landwirt, sagte sie mir.«

»Ja.« Marcia sah die Frau prüfend an, deren begehrliche Blicke auf die drei Münzen sich nicht einen Moment abgewandt hatten. Sie bekam nun den Eindruck, nicht mehr herausfinden zu können, und erhob sich.

»Ich danke dir.«

Die Quacksalberin kicherte. »Ich danke dir.« Sie sah Marcia prüfend an. »Du siehst wirklich gut aus. Reich geheiratet, oder? Das alte Gewerbe abgelegt?«