Die Sache mit der Angst - Daan Heerma van Voss - E-Book

Die Sache mit der Angst E-Book

Daan Heerma van Voss

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Du hast zu viel Angst vor dem Leben.« Als der Autor Daan Heerma van Voss mit dieser Begründung von seiner Freundin verlassen wird, reist er von Amsterdam über Jakarta nach San Francisco, um die Ursachen seiner Angststörung endlich tiefer zu ergründen. Was ist Angst? Woher kommt sie? Und welche Rolle spielen unsere Gene? Dieses Buch hilft, einen Weg zu finden, Angstgefühle, Panik und Phobien zu verstehen und ihnen etwas entgegenzuhalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 476

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Daan Heerma van Voss

Die Sache mit der Angst

Und wie ich lernte, damit zu leben

Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens

Diogenes

Für M.

1Blumen

Ich überreiche ihr einen Blumenstrauß, und sie beginnt zu weinen. Ihre Tränen fließen langsam. Sie und ich stehen in unserer Küche, inmitten der Einrichtung, die wir gemeinsam aufgebaut haben, Brett für Brett und Schrank für Schrank. D., mit der ich seit etwas mehr als fünf Jahren zusammen bin, nimmt die Blumen und kürzt schluchzend die Stiele, leises, doch entschlossenes Pochen auf dem Schneidebrett. Voller Angst vor dem, was nun kommt, starre ich auf den Kühlschrank, auf die Fotos von gemeinsamen Freunden, die in den letzten Jahren geheiratet haben, auf die Geburtsanzeigen von Kindern, die inzwischen unsere Namen kennen, auf die Leben, von denen wir ein Teil sind. (Manchmal stellen wir uns vor, dass auch wir eines Tages so am Kühlschrank von anderen befestigt werden.)

D. sagt, sie habe sich in den vergangenen Wochen hilf‌los gefühlt. Sie gibt mir dafür zwar nicht ausdrücklich die Schuld, aber es gibt keinen Zweifel: Die Ursache bin ich. Beschämt höre ich mir ihre Schilderungen meines Verhaltens an, keine Anamnese ist so klar oder so schmerzlich wie die deiner Geliebten. Ich schlafe nicht gut, muss häufig beruhigt werden, jede Verabredung, für die ich das Haus verlassen muss, ist mir zu viel. Wenn ich rausgehe, ziehe ich die Kapuze meines Hoodies tief über die Stirn. Nachts klappere ich mit den Zähnen, morgens schrecke ich nass geschwitzt aus dem Schlaf. Wenn meine Freundin aufstehen will, versuche ich sie jedes Mal zu überreden, noch ein Weilchen liegen zu bleiben, nicht lange, nur ganz kurz. Lediglich abends fühle ich mich gut, weil ich dann wieder einen Tag überstanden habe, und offenbar bin ich der Ansicht, dass mir dafür irgendein Orden zusteht.

Aber ich komm doch klar.

Sie meint, das tue ich nicht.

»Ich halte meine Verabredungen doch ein?«

»Du hast tagtäglich im Treppenhaus eine Panikattacke.«

»Das hörst du?«

Sie rollt mit den Augen. Ich weiß, dass sie mein Keuchen hört, und sie weiß, dass ich das weiß. Vielleicht hoffe ich, dass oben an der Treppe ihr Gesicht erscheint, vielleicht kann ich auch einfach nicht anders. Oder stelle ich mich an? »Wenn du mich fragst, hast du Angst, in dein Arbeitszimmer zu gehen.«

Sie hat recht. Zu lange habe ich für meine Arbeit gelebt. Die Euphorie nach der Einhaltung eines Abgabetermins, dieser Dopaminrausch, ließ mich immer wieder neue Auf‌träge annehmen. Als ich dieses Muster durchschaute, beschloss ich, keine Schwäche zu zeigen, und nahm erst recht mehr Auf‌träge an. Die Folge war, dass ich eines Tages, ein paar Monate vor dem heutigen Tag, ganz aufgehört habe, mit allem. Ich hatte keine neuen Pläne, keine Ideen, fand aber auch keine Ruhe; noch nicht mal Langeweile empfand ich. Keine Konzentration, aber auch keine Entspannung. Gehetzte Untätigkeit, ein nervöses Nichtstun, das mich nur müde machte. Freunde mit solidem Leben empfahlen Hobbys wie Holzhacken oder kleinere handwerkliche Arbeiten und sahen mich erwartungsvoll an. Weil ich nicht ständig über meine Gefühle reden wollte und jedes andere Gesprächsthema sich banal oder sogar unecht anfühlte, sagte ich in Gesellschaft wenig. D. fand es in zunehmendem Maße schade, dass die Menschen nicht bemerkten, »wie nett ich sei«. Irgendwann hörte sie auf, dies zu sagen.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück, das die Bezeichnung »Arbeitszimmer« nicht mehr verdiente. Ich hörte Podcasts und Nachrichtensendungen, schuf mir einen Nebel aus angenehmen Stimmen, über deren Lautstärke ich entschied und die nie schwiegen. Solange diese Stimmen erklangen, brauchte ich mich nicht zu fürchten. Solange es Abend war, brauchte ich mich nicht zu fürchten.

Solange sie bei mir war, brauchte ich mich nicht zu fürchten.

Wir sind einander zufällig begegnet, in einer Kneipe. An diesem allerersten Abend unterhielt sie sich zwar mit mir, aber sie schaute mich nicht an, ihr Desinteresse war beinahe aggressiv. Ich beschloss, ihre Aggression zu imitieren, und bat um ihre Telefonnummer. Ich verliebte mich in sie, wie ich nie zuvor in jemanden verliebt gewesen war, so heftig, so vorbehaltlos. Verliebt in ihr Aussehen, verliebt in ihre Entschiedenheit, in ihre Imitationen von Menschen, die wir gerade getroffen hatten, darin, wie sie das Wort ›Flanell‹ nicht aussprechen konnte, und in ihre hohen Ansprüche, die mich manchmal beklommen machten, die mir aber auch das Gefühl gaben, dass ich, wenn es mir gelang, sie glücklich zu machen, unmöglich ein Versager sein konnte. Und sie erzählte mir, sie habe vor mir noch nie einen Mann geliebt. Während unseres ersten gemeinsamen Urlaubs auf Sizilien stellten wir einander jeden Tag vor die gleiche Entscheidung: noch zehn Tage oder noch zehn Jahre? Dieses Spiel konnten wir uns erlauben, weil wir die Antwort bereits wussten. Das ist die eine Seite unserer Geschichte.

Die andere Seite hat etwas mit dem zu tun, was ich kurz vor unserer Begegnung in einem Tagebuch beschrieben habe: »Es gibt Phasen, in denen ich nicht in der Lage bin, ein normales und vernünftiges Gespräch zu führen«, notierte ich. »Zu niedergeschlagen, zu ängstlich usw. Ich spüre, wie sehr das andere bedrückt, und hoffe dann, dass mein Schweigen nicht weiter auf‌fällt, die Menschen um mich herum mich nicht bemerken, ich unsichtbar bin. Am allermeisten habe ich Angst davor, die Person, die mich mehr als alle anderen liebt, am Ende unglücklich zu machen.« Die Perioden, in denen sich meine Angst in Panik verwandelte, dauerten einige Wochen, darüber hinaus gab es einzelne, übers Jahr verteilte Tage. Das Problem war jedoch weniger die Gesamtdauer dieser Perioden – es war ja nicht so, dass es zwischendurch nicht auch helle Phasen gegeben hätte, die gab es durchaus –, sondern schwierig war vor allem ihre Unvorhersagbarkeit.

Manchmal sei es, sagte D., als hätten wir Schutz vor einem Sturm gesucht, den wir nicht aufziehen sahen. Bis er mit einem Mal unausweichlich geworden sei und wir ihm nicht mehr entkommen konnten.

Und sie? Sie sei »nicht der fürsorgliche Typ«. Das sagte sie, als wir etwa einen Monat zusammen waren. Es war ein kalter Sonntagmorgen, die Walnussbäume auf dem Platz waren kahl, die Wolken hingen tief. Ich erschrak bei ihrer Bemerkung, die wie aus dem Nichts kam. Ahnte sie vielleicht etwas? Nach einer Weile reagierte ich schließlich doch auf ihre Äußerung. »Das trifft sich gut, denn ich bin nicht der Typ, der Fürsorglichkeit braucht.« Ich hoff‌te sehr, dass das stimmte.

Heute, in der Küche, bombardiere ich sie mit fatalistischen Fragen – Werde ich wieder gesund? Wird das jemals vorbei sein? –, auf die sie eine gnädige Antwort geben muss, was sie auch mechanisch tut.

Sie schaut mich lange an und sagt mit sichtlicher Mühe, dass sie mich nicht wiedererkennt. Ich bin nicht mehr derjenige, in den sie sich verliebt hat.

»Aber noch der, den du liebst?«

»Das schon, natürlich. Aber reicht Liebe?«

Vor einem Monat hat sie sich einen Arbeitsplatz gemietet, damit wir tagsüber nicht gleichzeitig zu Hause sind. Doch wenn sie abends heimkam, fand sie mich im selben Zustand, in dem sie mich am Morgen zurückgelassen hatte. Wir experimentierten mit kleinen Veränderungen, um nicht über große Kursänderungen nachdenken zu müssen.

Sie trägt heute das rote Sporttrikot, das wir zusammen in Berlin gekauft haben, und eine Jeans, die nach jeder Wäsche fahler aus der Maschine kommt. Ich kann jedes Detail ihres Äußeren datieren und erläutern. Aber die Tränen überraschen mich dennoch. Es sind nicht die ersten dieser Art, das nicht. Sie folgen mir. Meine früheren Freundinnen haben genauso geweint. Der Grund für die Tränen bin ich, in gewisser Weise ist es, als würde ich sie mir jedes Mal ausleihen, ohne dass ich mir dessen bewusst bin, ohne dass ich mich davon abhalten könnte, und weil ich sie selbst nicht vergießen kann. Sie schlägt vor, sich für eine Weile eine andere Wohnung zu suchen. Ich sinke auf die Stufen, die das Wohnzimmer mit der Küche verbinden, atme tief ein und aus, vier Sekunden ein, sieben Sekunden aus, so wie man es mir beigebracht hat. »Das wäre wirklich besser«, sagt sie. »So könnte ich zu mir selbst zurückfinden.«

Ich lege meine Hand auf die Dielen, als suchte ich etwas, einen Herzschlag, einen Beweis, dass unsere Wohnung noch lebensfähig ist. Ich bilde mir ein, kurz den Geruch vom erhitzten Holz, vom herabrieselnden Sägemehl der ersten Einrichtungswochen wahrzunehmen.

»Hast du dich vielleicht selbst verloren? Ich weiß noch, wo du bist.«

Sie schüttelt den Kopf und spricht nun leiser; oder vielleicht dringen ihre Sätze nicht mehr zu mir durch, jedenfalls verstehe ich nur noch einzelne Wörter: »mürbe«, »leer«, »müde«.

Ich weiß, wie jemand aussieht, der mir wehtun will, ich weiß, wie Worte klingen, die mich verletzen sollen – das hier ist etwas anderes. Indem sie geht, folgt sie ihrem Selbsterhaltungstrieb. Ich sage, dass es sehr schlimm ist, das zu hören, sie sich aber allen Raum nehmen soll, den sie braucht. Wider besseres Wissen hoffe ich, dass mein Einverständnis ihr genug Luft verschaff‌t, dass meine angebliche Großzügigkeit mir zum Vorteil gereichen wird und sie trotz allem bleibt.

»Du hast ständig solche Ängste«, sagt sie.

»Sehr viele Menschen haben Ängste«, erwidere ich. »Überall auf der Welt.«

»Ein Grund mehr herauszufinden, wovor sie sich fürchten. Du musst dich damit auseinandersetzen, sonst wird das nichts.« Sie sieht mich lange an, Mitleid leuchtet in ihren Augen. »Oder betrachte es als eine Reise.«

»Du weißt, ich reise nicht gern. Die Leute schauen mich immer so merkwürdig an.«

»Dann denk dir doch Reisegefährten aus.«

»Kommst du denn wieder?«

»Das hoffe ich. Nach einer Weile.«

»Zehn Tage oder zehn Jahre?«

Sie lächelt.

Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie das Ende unserer Beziehung wohl aussehen würde, sie sind eine Art Beschwörung, die Szenarien, die ich meist im Dunkeln, im Bett, durchspiele. Wie eine geringe Dosis Gift, das ich schlucke, um mich zu immunisieren. Dieses imaginierte Ende, diese letzte Szene, der Bruch findet meistens zu Hause statt, im Bett oder in der Türöffnung, ganz selten mitten auf der Straße, mit dramatischen Gesten. Der gemeinsame Nenner dieser Fantasien: Ich bin derjenige, der seine Tränen nicht zurückhalten kann. Ich will noch etwas sagen, etwas Nettes, etwas Liebes, doch ich bekomme kein Wort heraus. Wir umarmen einander lange, länger als üblich, fast kameradschaftlich.

Am nächsten Tag hat sie ihre Idee zu einem Plan entwickelt und am darauf‌folgenden eine Wohnung bei einer Freundin organisiert. Ich zwinge mich dazu, ihren Weg zu akzeptieren und nicht zu protestieren. Um ehrlich zu sein, bewundere ich sie dafür, dass sie sich überhaupt für einen Weg entschieden hat.

Am Morgen ihres Auszugs vereinbaren wir, uns nach einiger Zeit in unserem Lieblingsrestaurant wiederzusehen, wenn der richtige Moment gekommen ist (wann das sein wird, bleibt im Vagen). Sie radelt davon, dreht den Kopf um 90 Grad, zögert – und schaut dann wieder geradeaus. Danach bin ich allein. Allein, doch in Gesellschaft der Idee, die sie mir dagelassen hat, die Idee einer Reise. Einer Reise zu der Antwort auf die Frage, was Angst genau ist, wo dieses Phänomen herkommt, was wir von ihr lernen können und wie wir mit ihr umgehen müssen.

Eine Studie meiner Angst ist zugleich eine Studie der Angst im umfassenderen Sinn, wird mir sogleich bewusst. Auch weil Angst so viele Facetten hat. Wir kennen den überwältigenden, alles übertönenden Anfall von Angst, den wir Panik nennen, den eher konstanten Grundton von Besorgtheit, den wir als Ängstlichkeit bezeichnen. Die sehr pointierte Angst, meist vor einem Objekt, die wir Phobie getauft haben, die weniger spezifische Angst vor der Interaktion mit Menschen: soziale Angst. Jede dieser Erscheinungsformen hat eine eigene Geschichte und wurde von unterschiedlichen Menschen erforscht. Es gibt keinen noch so kleinen Organismus, der nicht über eine Angstreaktion verfügt, und kein Wesen ist so groß, dass es der Angst entgeht. Ist Angst also eine Emotion? Ein Seinszustand? Ein philosophisches Problem? Eine Krankheit? Gerade diese Nichtfassbarkeit von Angst hat mich immer fasziniert und zugleich frustriert, weil die Folgen der Angst so unausweichlich sind. Wohl auch deshalb wird es eine lange Reise werden, mit Stationen bei Philosophen, Künstlerinnen und Künstlern, Superhelden, Angsthasen und Ärztinnen und Ärzten, bei Fachleuten und Koryphäen, durch Zeit und Raum. Ich habe nämlich den Eindruck, dass die Pfade, die es gibt, dass die vielen Studien und Bücher, die über Angst bereits geschrieben wurden, nicht zielführend sind: Sie isolieren einen einzigen Aspekt von etwas, das der Definition nach vielschichtig und ungreifbar ist. Sie sind nicht falsch, aber unvollständig. Bei meiner persönlichen Suche möchte ich die unterschiedlichen Aspekte miteinander vereinen, um so allmählich eine neue Landkarte zu zeichnen, die der Weitläufigkeit des Phänomens Angst gerecht wird. Und auf dieser Karte gibt es kaum gerade Linien. Das Ziel wechselt ständig die Position, weshalb sich auch der Weg dorthin ändert. Ich werde Abzweigungen und Schlängelpfade nehmen müssen, und ab und zu gibt es eine Sackgasse.

All die möglichen Richtungen machen es zunächst schwierig zu bestimmen, wohin die erste Etappe der Reise führen wird. Während der ersten Tage nach D.s Auszug weiß ich nicht, was ich machen soll. Ich erwache früh, Stunden bevor die Sonne aufgeht. Es ist eiskalt. D. ist noch überall in der Wohnung gegenwärtig. Die Zimmer riechen nach ihrem süßen japanischen Parfüm. Ich wasche, falte ihre Oberteile und Socken, andächtig, als würde sie mir dabei zusehen. Obwohl ich das Bett für mich allein habe, schlafe ich weiterhin auf meiner Seite.

Irgendwann, an einem Montag oder Freitag, lädt mich ein Freund ein, der vor Kurzem beschlossen hat, ein Landmensch zu sein, und der daraufhin in Frankreich zwei Schuppen auf einer Wiese gekauft hat, die er als Blockhütten bezeichnet. Er fragt, ob ich ihn besuchen wolle, die Gegend heißt ausgerechnet auch noch Vallée de Misère. Kurzum – ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann. Ich packe zwei Koffer voll mit Büchern über Angst und breche auf.

Auf halber Strecke, in Belgien, als mein rumpelnder Waggon Aussicht auf die aschgrauen Rauchwolken der Industrieanlagen von Charleroi bietet – dem Gefühl nach bin ich auf der Flucht, ohne zu wissen wovor –, wird mir bewusst, dass die Reise nicht erst jetzt beginnt. Sie hat bereits begonnen, vor langer Zeit, ohne dass ich es damals wusste.

2Das Vallée de Misère

Es lebt etwas in mir, das mich nicht in Ruhe lässt. Das wird mir wieder einmal bewusst, als ich von meiner Blockhütte aus auf friedliche, monochrome, französische Weiden schaue und mich nicht eine Sekunde an die Stille gewöhnen kann. Hier im Vallée de Misère, zu Besuch bei meinem Freund, ziehen die Unheilsszenarien weiter im Geiste an mir vorbei. Ich grüble viel und schlafe schlecht. Schaudernd und verwirrt klammere ich mich an die einzige Regel, die ich mir auferlegt habe: sie nicht anzurufen. Denn was ich empfinde, hat nicht ausschließlich mit ihr zu tun; es ist viel älter. Solange ich mich erinnern kann, ist eine diffuse, allgemeine Ängstlichkeit tief in mir verankert. Ich gehe damit zu Bett und stehe damit auf. Wie ich festgestellt habe, bin ich sowohl einer von vielen als auch ein merkwürdiger Fall.

Vor Kurzem habe ich zweimal meinen Cortisolspiegel messen lassen, um herauszufinden, wie viel von diesem Stresshormon in meinem Hirn herumgeistert. Am zuverlässigsten lässt sich das anhand einer Haarprobe ermitteln. Man gibt eine Haarsträhne ab, die dann in einem Labor untersucht wird. In meinem Fall erledigte dies das Medizinzentrum Amsterdam, in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Zentrum Erasmus. Das durchschnittliche Angstlevel der Niederländer beträgt 2,7 Picogramm Cortisol pro Milligramm Haar. Menschen mit langwierigen psychischen Problemen kommen höchstens auf 15 Picogramm. Meine Tests zeigten ein anderes Profil.

Der erste Test, mit dem mein Cortisolspiegel über einen Zeitraum von drei Monaten gemessen wurde, ergab 34,4 Picogramm, etwa das 13-Fache des Durchschnittswerts. Schon da waren die Ärzte überaus erstaunt. Beim zweiten Test wurde monatlich gemessen: Diesen Monat waren es 74 Picogramm, im Monat davor 87, davor 132 und noch einen Monat früher über 200 Picogramm, das 74-Fache des landesweiten Durchschnitts. Nein, es lag nicht am Test. Aus Neugier hatte die leitende Ärztin eine Haarprobe von sich mit ins Labor geschickt. Ihr Resultat: 0,8. Die Ärzte waren sprachlos, ein Ergebnis wie meins war ihnen noch nicht begegnet. Sie äußerten die Vermutung, dass ich an einer seltenen Krankheit litt, an einem Tumor, der bewirkte, dass meine Drüsen zu viel Cortisol abgaben. Diese Diagnose hielt ich für ausgeschlossen, ich hatte keinen Tumor. Dem stimmte man schließlich zu, da sich keine weiteren tumorspezifischen Symptome nachweisen ließen und ich die Tests aus Neugier veranlasst hatte. Daraufhin versuchten die Ärzte mich zu beruhigen: Dieses Ergebnis sei so bizarr, dass ich es am besten vergessen sollte. Bestimmt sei irgendwas schiefgelaufen. Dann wollten sie das Ganze weiter untersuchen, was ich nicht für notwendig hielt. »74-mal so viel?«, fragte ich sicherheitshalber noch einmal. »74-mal«, erwiderten die Ärzte.

Obwohl das Ergebnis seltsam war, änderte sich für mich wenig. Die Angst war seit jeher da gewesen. Mein Körper hatte sich darauf eingestellt. Es kann mir lange Zeit gut gehen. Dann mache ich Reisen. Dann bin ich meinen Freunden ein guter Freund und meinen Geliebten ein guter Liebender. Mir ist nichts anzumerken. Durch irgendein ›bedrohliches‹ Ereignis von außen kann sich die Intensität meiner Angst jedoch plötzlich ändern; sie wird schärfer und konkreter, und sie spitzt sich auf einen einzigen Gedanken zu, ein Katastrophenszenario, das allen Raum und allen Sauerstoff‌ beansprucht. Ich komme an einen Wendepunkt, überschreite eine Grenze. Und dann stecke ich mittendrin.

Wenn ich mittendrin stecke, löst alles, was ich sehe und höre, Panik in mir aus. Straßen mit hohen Bäumen, die das Licht abhalten, meide ich lieber. Niemand in meiner Umgebung versteht, was mit solchen Straßen nicht in Ordnung ist. Ich ziehe mich in meine Gedanken zurück, meine Welt wird immer kleiner. Die Zeit verliert ihren üblichen Rhythmus, die Uhren bleiben stehen. Ich kann nicht mehr schlafen. Die Stunden ziehen sich in die Länge, und wenn wieder ein Monat vergangen ist, kann ich mich an keinen einzelnen Tag erinnern. Andere, sowohl Vertraute als auch Fremde, sehen sofort, wenn ich mittendrin stecke. Ich bin blass und zittrig, im Sitzen beuge ich den Oberkörper vor, meine Schultern und Finger sind verkrampft.

Da das Denken und Analysieren schwieriger wird, sobald die Angst da ist, hat es Jahre gedauert, bis ich lernte, die ›Bedrohung‹ von den unmittelbaren körperlichen Reaktionen darauf zu unterscheiden. Eigentlich ist das Wort ›Reaktion‹ irreführend, denn Auslöser und Reaktion treten fast gleichzeitig auf. Oft habe ich gedacht: Vielleicht ist der Rückschlag, der Misserfolg, der die Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, vollkommen willkürlich. Vielleicht würde ich sonst so lange weitersuchen, bis ich eine andere passende Ursache für meine Angstgefühle gefunden hätte.

Seltsamerweise reagiere ich in Momenten, in denen ich tatsächlich in Gefahr bin, meist entschlossen und furchtlos. 2015 berichtete ich als Journalist bei den niederländischen UN-Soldaten in Mali über den Kriegsverlauf. Mitten in der Nacht gab es Luftalarm, rund um das Lager schlugen Bomben ein, dumpfe, aber heftige Explosionen. Die Gefahr war klar und konkret und damit leicht zu akzeptieren. Als ich mein Zelt öffnete, sah ich Soldaten zu den Unterständen laufen. Ich zog in aller Ruhe meine Slipper an und lief zähneputzend hinter ihnen her. Man könnte mein Gefühl mit der Erleichterung eines Hypochonders vergleichen, bei dem tatsächlich eine Krankheit diagnostiziert wurde. Natürlich, ihm droht Gefahr, aber er muss zumindest nicht mehr denken, er sei verrückt. Etwas Ähnliches geschah zu Beginn der Coronakrise. Während jener postapokalyptischen Wochen und Monate, in denen Angst und Panik mit einem Mal zu einem kollektiven Daseinszustand wurden, war ich merkwürdig ruhig. Ich tat, was ich tun musste, und stand anderen bei, eine seltsame Konzentration erfüllte mich, Angst bereitete mir nahezu keine Probleme. Das Gegenteil war der Fall: Die Welt schien sich meinem Krisenmodus angepasst zu haben.

 

Die erste Panikattacke, an die ich mich erinnern kann, hatte ich im Alter von sechs oder sieben Jahren. Der Auslöser: das Brett, über das ich gehen musste, um zum Ferienhaus meiner Mutter zu gelangen. Die Planke war etwa einen Meter breit, anderthalb Meter lang und lag über einem Bach, dessen Wasser so schwarz war, dass ich seine Tiefe nicht einschätzen konnte. Herbstblätter, aus den nahe gelegenen Wäldern herbeigeweht, hatten sich in den schimmeligen Ritzen gesammelt, stellenweise faulte das Holz. An besagtem Tag ächzte das Brett, als ich meinen Fuß darauf setzte. Ich sprang ans andere Ufer. Gerade noch rechtzeitig, dachte ich. In den Stunden danach vergaß ich meine Angst.

Doch am Abend, als ich im Bett lag, begann mein Herz wieder schneller zu klopfen. Ich fing an zu keuchen, zu würgen. Ich wühlte mich unter meiner Ikea-Dinosaurierdecke hervor, kletterte aus dem Etagenbett und lief ins eiskalte Badezimmer. Die Tränen in meinen Augen ließen die Gegenstände verschwimmen, ich sah einen fragmentierten Wasserhahn, bruchstückhafte blasse Fliesen, Fetzen eines alten, schmuddeligen Duschvorhangs und Einzelteile eines Rasenmähers, den meine Mutter in die Dusche stellte, damit er nicht draußen im Regen rostete. Sie klopf‌te besorgt an die Tür, zweimal, dreimal, und fragte, ob es mir gut gehe. Ich bejahte dies kurzatmig, begriff jedoch nicht, was mit mir geschah.

Atemnot und Angst waren für mich stets eng miteinander verbunden.

Während meiner ersten Lebensjahre sorgten Atemprobleme dafür, dass ich zunächst in einem Brutkasten und später wiederholt im Krankenhaus landete. Ich litt an Asthma, Pseudokrupp, Kehlkopfentzündung, ganz gleich welches respiratorische Leiden – ich hatte es. Nachts wachte ich oft angsterfüllt und keuchend auf. Dann drehte meine Mutter den Wasserhahn auf, heißes Wasser, bis das Badezimmer voller Dampf war. In diesem Nebel normalisierte sich meine Atmung wieder. Doch dieser schwierige Start ins Leben reicht als Erklärung für meine Ängste nicht aus. Wer litt als Kind auch oft unter Atemnot? David Blaine, der »furchtlose Mann«. Im Laufe seiner Karriere als Illusionist und Stuntman hat der Houdini-Verehrer Blaine sich nicht nur lebendig begraben lassen. Er verbrachte auch rund 60 Stunden in einem Eiskokon und schloss sich 44 Tage ohne Nahrung in einer über der Themse hängenden, durchsichtigen Kabine ein. Der Grund, warum er eines Tages mit seinen Stunts begann: Er war fest entschlossen, seine Atemnot zu besiegen. Übrigens hat selbst der furchtlose Mann inzwischen vor etwas große Angst: dass seine offenbar ebenso unerschrockene kleine Tochter nicht in der Lage ist, Gefahr zu erkennen.

Der enge Zusammenhang zwischen Atemnot und Angst findet sich auch in der Sprache wieder. Das Wort ›Angst‹ (von dem es im Niederländischen, Dänischen, Schwedischen und Norwegischen Varianten gibt) stammt ebenso wie das Wort anxiety (von dem es Varianten in fast allen romanischen Sprachen gibt) von der indogermanischen Wurzel angh ab, die ›einengen‹ oder ›schnüren‹ bedeutet. Das griechische Wort anchein, ›würgen‹, ist hiervon abgeleitet. Und auch im lateinischen angor, das ›Zusammenschnürung‹ oder ›Verengung‹ bedeutet, ist das Urwort für Angst erkennbar.

Um mich selbst besser zu verstehen, habe ich in den vergangenen Jahren sehr viel über Angst gelesen. Die Bücher stapelten sich, mein Arbeitszimmer füllte sich, und ich klammerte mich an Fakten. Gewichtige Fakten wie etwa, dass Angst überall auf der Welt vorkommt. Aber auch an Fakten über kulturspezifische Ängste, wie zum Beispiel die vor allem in Malaysia, Indonesien und in China bei Männern vorkommende Koro: die Angst vor dem Schrumpfen und eventuellen Verschwinden des Penis in den Unterleib. Oder das japanische Taijin Kyōfushō: die Angst, andere könnten deinen persönlichen Stil oder deine körperliche Anwesenheit als anstößig empfinden. Einer meiner persönlichen Favoriten ist die Kajakangst der Inuit: Panikanfälle, die infolge längerfristigen Ausbleibens von Sinnesreizen während der Robbenjagd auf‌treten. Doch die Fakten, die ich sammelte, befreiten mich nicht von meiner Angst.

Wohl aber fand ich heraus, dass ich nicht allein bin.

 

Am Morgen, es ist noch dunkel im Vallée, weckt mich das verzweifelt klingende Iahen eines einsamen Esels. Zuallererst checke ich meine Wetter-App. Ich will wissen, welches Wetter in Amsterdam herrscht, ob ihre Tage verregnet oder sonnig sind. Ich hoffe Letzteres; der Geruch von Sonnenmilch, wenn ich meine Nase an ihre Schulter drücke.

Am Nachmittag wandere ich durch dichte Wälder, die nach heftigen Regenfällen ominös dampfen. Ich gehe, bis meine Füße müde sind. Als der Abend hereinbricht, verstecken die Vögel sich, und es ist, als würden die Gebüsche und Hecken singen. Mein Freund brät Fischstäbchen, die man sowohl als angebrannt als auch als nicht gar bezeichnen könnte. Danach rauchen wir in unseren Klappstühlen eine Zigarre und bereden den Tag, der uns beiden nichts Besonderes gebracht hat. Am Wochenende gönnen wir uns etwas Zerstreuung: Wir besuchen die Kneipe im nahe gelegenen Dorf, wo wir uns in Gesellschaft eines Mannes mit fünf Zähnen, der ein ausgefranstes Johnny-Hallyday-T-Shirt trägt, einen Radrennklassiker anschauen. Hin und wieder fragt mein Freund nach D. Dann erwidere ich: »Zu früh.«

Mein Schreibtisch in der Blockhütte – eigentlich ein Campingtisch – ist mit Artikeln, Aufsätzen und Büchern zum Thema Angst übersät. Die Bücher sind nach Genres geordnet – innerhalb eines Genres stehen sie in alphabetischer Reihenfolge, innerhalb des Alphabets in chronologischer. Ich habe mir selbst einen Irrgarten aus Papier geschaffen, in dem nur ich den Weg finde. Doch in Gedanken bin ich Legion, nicht einer, sondern viele.

Als ich hier ankam, war der Cousin meines Freundes gerade abgereist. Dieser Cousin hatte in einer Woche mehrere Zusammenbrüche und Panikattacken. Zittrig und gehetzt machte er Pläne, die er nie ausführen würde. Er weigerte sich, nach Osten raus zu schlafen, später wollte er auch nach Westen raus nicht übernachten. Natürlich bekam er am Ende überhaupt kein Auge mehr zu. Er trank viel und schluckte Pillen, die nicht wirkten. Abreisen war auch keine Option, weil Autobahnen ihm Angst einjagten und er sich nicht traute, schneller als 70 km/h zu fahren. Er würde, gemächlich über Landstraßen tuckernd, fast einen Tag brauchen, bis er zu Hause in Koblenz ankam. Fast einen Tag mit dem Auto, in diesem Zustand! Am Tag bevor ich eintraf, setzte der Dorfarzt ihm eine Valiumspritze in den Arm, woraufhin sich so etwas wie Ruhe über ihn senkte.

Weltweit leiden Schätzungen zufolge 7,3 Prozent der Menschen an einer Angststörung. Laut der kürzlich erschienenen Lancet-Studie gibt es infolge der Corona-Pandemie 76 Millionen zusätzliche Fälle von Angststörungen. (Derartige Statistiken sind nicht unbedingt zuverlässig, da die Messmethoden sich oft unterscheiden, ebenso wie die zugrunde gelegten Definitionen. Aber andere Zahlen gibt es nicht. Diese Einschränkung gilt auch für alle epidemiologischen Schätzungen.) Die Diagnose »Angststörung« wird mithilfe des DSM getroffen, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, dem Standardwerk zu psychischen Erkrankungen, das in jedem Behandlungszimmer liegt – oder dem ICD, dem internationalen Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das DSM erschien erstmals 1952, die Angststörung tauchte 1982 zum ersten Mal darin auf. Ungefähr jeder fünf‌te Niederländer entwickelt im Laufe seines Lebens eine Angststörung, die im DSM definiert wird als »übermäßige Angst und Sorge (ängstliche Erwartung), die mindestens 6 Monate lang an mehr Tagen als nicht auf‌tritt, in Bezug auf eine Reihe von Ereignissen oder Aktivitäten«. Während Sie dies lesen, leben etwa eine Million Niederländer mit einer Angststörung. Laut dem Bericht Gesundheit in Deutschland des Robert-Koch-Instituts litten 201515,3 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 79 Jahren an einer Angststörung.

Wenn wir den Radius erweitern, werden die Zahlen nicht besser. Insgesamt 18,5 Millionen Europäer im Alter von 18 bis 65 leiden Schätzungen zufolge an einer Phobie, weitere 6,7 Millionen an einer sozialen Phobie. Die Vereinigten Staaten übertreffen alle. Einer von drei Amerikanern entwickelt in seinem Leben eine Angststörung. Eine Studie aus den frühen 2000er-Jahren schätzt, dass rund 19 Prozent der erwachsenen Amerikaner an einer Angststörung leiden. 2017 waren das insgesamt rund 40 Millionen Menschen. Das sind doppelt so viele wie die, die an einer Depression leiden. Sollten diese Zahlen Sie allzu sehr ängstigen, dann könnte es gut sein, dass Sie eine Arithmophobie haben, eine Angst vor Ziffern, Zahlen und Nummern. Doch keine Panik, laut den medizinischen Handbüchern kann man Sie mit einer Kombination aus Pillen und Therapie davon befreien.

Am frühen Nachmittag, wenn die Angstgeschichten mich schwindelig machen, entfliehe ich meinem papierenen Irrgarten und mache einen Spaziergang durch die Wälder des Vallée, vorbei an den Wiesen voller aufgerollter Heuballen, über die Schritte nachgrübelnd, die mich hierhergeführt haben, und die Schritte, die ich gehen muss, um weiter zu dem Begriff Angst vorzudringen, vielleicht sogar bis zu seinem Kern.

Mir wird bewusst, dass bei jeder Entscheidung, die ich in meinem Leben treffe, die Angst vor meiner Angst eine wichtige Rolle spielt. Wofür auch immer ich mich entscheide, ich darf das Ungeheuer nicht aufwecken. Nach all den Jahren kann ich mitunter nicht einmal sagen, wo meine Ängste enden und meine Intuition beginnt. Neurologisch betrachtet lässt sich das erklären: Die Wahrnehmung von Bedrohungen verändert die Physiologie des Gehirns. Die Freisetzung von mit Angst verbundenen Hormonen wie Serotonin und Dopamin machen den Menschen wachsamer und alerter, aber auch empfänglicher für neue Stimuli. Ängstliche Menschen nehmen Bedrohungen deutlich schneller wahr. Doch ängstlichen Menschen macht auch ein Interpretationsbias (die Deutung von gutartigen oder neutralen Stimuli als Bedrohung) sowie ein kognitiver Bias (das Erwarten negativer Ereignisse in der Zukunft und die Annahme, dass die Folgen dieser Ereignisse unverhältnismäßig schwer sein werden) zu schaffen. Man stelle sich nur mal vor, man wäre plötzlich unfähig, den Unterschied zwischen Angst und Intuition zu erkennen. Dann kann sich jeder Gedanke, so irrwitzig und zersetzend er auch sein mag, wie die Wahrheit anfühlen. Wenn man nicht mehr weiß, ob man seiner Intuition vertrauen kann, ist man seiner Fantasie völlig ausgeliefert, und die Folge davon ist, dass eine Angst die andere ansteckt. Ehe man es sich versieht, hat die Angst sich überallhin ausgebreitet, und jeder Gedanke wird von ihr infiziert.

Ohne Übertreibung kann ich sagen, die Angst hat mich mitgeformt, und mein Umgang mit anderen, Freunden und Fremden, wurde und wird zum größten Teil von ihr geprägt. Freundschaften sind dadurch in die Brüche gegangen, Beziehungen gescheitert. An manchen Tagen denke ich, dass das, was andere für meinen Charakter halten, nicht mehr ist als ein System von Eigenschaften, das als Reaktion auf meine Ängste entstanden ist. Jedes Mal, wenn das Monster sich zeigt, bin ich davon überzeugt, sein Auf‌tauchen sei im Kern ein Geständnis, ein Geständnis, das von meinem wahren Ich abgelegt wird.

Das Ungeheuer. Exakt die Worte meiner Mutter, exakt die Worte meiner Oma. Doch von welchem Ungeheuer sprechen wir genau?

 

Als ich eines Nachmittags nach dem üblichen Spaziergang wieder in meiner Hütte bin, lese ich Robert Louis Stevensons Roman The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde(1886). Die Hauptperson Dr. Henry Jekyll ist ein viktorianischer Arzt, der herauszufinden versucht, ob die guten von den bösen Kräften im Menschen getrennt werden können. Beim Experimentieren entdeckt er ein Mittel, das die bösen Kräfte in ihm entfesselt. Sein anderes Ich, der Schurke Edward Hyde, der ein Spielball seiner (mitunter mörderischen) Triebe wird, ist geboren. Nur mithilfe eines Gegenmittels kann sich das Ungeheuer in den gutherzigen Arzt zurückverwandeln. Welches der beiden Ichs leidet wohl am stärksten? Ich denke, es ist nicht das Ungeheuer Mr. Hyde, sondern Dr. Jekyll, derjenige, der das Ungeheuer fürchtet, der sich ständig Sorgen macht, wann es wieder zum Vorschein kommt und was es diesmal zerstören wird. Lähmender als eine Panikattacke ist die Angst vor der nächsten Panikattacke.

Um mich selbst zu schützen, habe ich mein Leben oft so überschaubar wie möglich eingerichtet. Mein Studentenzimmer musste internetfrei bleiben, mein Telefon ließ ich stets im Flur. Damals war ich vor allem damit beschäftigt, vermeintliche Gefahren zu beschwören, ihnen auszuweichen oder sie zu entkräften. In den Pausen zwischen den Seminaren flüchtete ich auf die Toilette, wo ich versuchte, meine Panikattacke zu überstehen, ohne dass andere etwas davon mitbekamen. Ich entwickelte eine Vorliebe für eine bestimmte Kabine, in der ein gewisser René seine Liebe zu Mara bekannt und ein Herz in die Wand geritzt hatte.

Rational betrachtet sind meine Ängste absurd; mit wirklichen Gefahren war ich nie konfrontiert. Ich komme aus einer sicheren und wohlhabenden Stadt in einem sicheren und wohlhabenden Land. Millionen Menschen hatten es schwerer als ich. Ich wurde von liebevollen Eltern erzogen, die mein Bestes wollten (und wollen). Selbst wenn es mir schlecht ging, gab es ein Auf‌fangnetz. Ich habe sehr von den sicheren, privilegierten Lebensumständen profitiert. Sie haben mich zwar nicht vor meiner Angst oder vor Unheil bewahren können, doch sie haben sehr wohl dafür gesorgt, dass ich nie völlig zusammengebrochen bin oder nicht wiedergutzumachende Entscheidungen getroffen habe. Ich hatte treue Freunde und Verwandte, erhielt in wichtigen Momenten Unterstützung, konnte immer darauf vertrauen, dass es jemanden gab, der sagte: Fürchte dich nicht. Hunderttausende Niederländer und Millionen andere Menschen verfügen nicht über die Möglichkeiten, von denen ich Gebrauch machen konnte. Wo ich es ›geschaff‌t‹ habe, sind viele daher auch gescheitert, haben aufgegeben oder sind sonstwie am Rand der Gesellschaft gelandet.

Ihre Position am Rand hängt mit der Tatsache zusammen, dass Angst im Westen inzwischen stark medikalisiert wurde. (Mit Westen meine ich, grob gesagt, Westeuropa, Nordamerika, Großbritannien und Australien.) In der Antike betrachtete man Angst vorwiegend als ein körperliches Leiden, im Mittelalter galt sie als Zeichen dafür, dass man von Dämonen besessen war, im 19. Jahrhundert wurde sie zu einem philosophischen Problem. Heute ist Angst eine psychische Krankheit, eine Störung, die man mit Therapie und Pillen bekämpft.

Das ist aber das jüngste Kapitel in der Geschichte der Angst. Doch wo beginnt diese Geschichte eigentlich?

Beginnt sie bei dem altgriechischen Waldgott Pan, dem kleinen, hässlichen Männlein, dessen Geschrei Menschen und Göttern Angst einjagte, dem Stammvater unseres Wortes ›Panik‹? Oder bei Phobos, dem Sohn des Kriegsgottes Ares und der Liebesgöttin Aphrodite, der die kriegsbedingte Angst verkörpert, der aus diesem Grund von den Soldaten verehrt wird und in dessen Namen wir das Wort ›Phobie‹ wiederfinden? Oder beginnt sie bei Nikanor und Damokles, von denen Hippokrates berichtet hat und die vielleicht sogar die Ersten waren, die of‌fiziell an einer Angststörung litten. Nikanor geriet beim nächtlichen Klang einer Blockflöte in Panik, und Damokles hatte lähmende Höhenangst. »Damokles […] wäre weder an einem Abgrunde vorbeigekommen, noch über eine Brücke gekommen«, schrieb Hippokrates, »ja er hätte nicht einmal einen Graben von noch so geringer Tiefe durchschreiten können, aus Furcht, er könne fallen.«

Meine Unterlagen rascheln, ich blättere eifrig, von vorne nach hinten und wieder zurück. In der Blockhütte bleibt es lange hell. In der Ruhe des Vallée de Misère kann ich endlos lesen, puzzeln und nachdenken, während die Routinen des Landlebens mir ausreichend Halt geben, um mich nicht im Text zu verirren. Die Tage vergehen langsam und die Wochen schnell. Ich habe das Gefühl, immer vertrauter zu werden mit der Materie, mit dem Begriff Angst. Allmählich entwickle ich mich zu jemandem, der mehr und mehr im Griff hat, was ihn so lange im Griff hatte. Dann, an einem ganz normalen Tag, fällt mir ein, dass ein entscheidendes Kapitel der Geschichte mit einem Schiff und einem Anker beginnt.

3Der Fall Charles Darwin und die Angst des Menschen

Am 17. September 1835 ging die Beagle in dem kleinen, pittoresken Hafen von St. Stephen’s Bay auf der Pazif‌ikinsel San Cristobal vor Anker. Gleich nachdem Charles Darwin einen Fuß an Land gesetzt hatte, fiel ihm die große biologische Vielfalt auf. »Ich will meine Beschreibung der Naturgeschichte dieser Inseln damit beschließen, dass ich die außerordentliche Zahmheit der Vögel schildere. […] Sie alle kamen häufig hinreichend nahe, um mit einer Gerte und zuweilen, wie ich selbst versucht habe, mit einer Mütze oder einem Hut totgeschlagen zu werden.« Darwin äußerte die These, die zutraulichen Vögel hätten auf der Insel so wenige natürliche Feinde, dass ihr wichtigster Schutzmechanismus, die Angst, nur unzureichend entwickelt sei. Seine Schlussfolgerung lautete: Die natürliche Selektion wirke sich zu ihrem Nachteil aus, die Vögel würden infolge ihrer fehlenden Angst aussterben. Selbst extreme Ängste seien im Prinzip kräftige Stimulanzien, schrieb Darwin woanders.

Darwin hat die einfache Definition von Angst, die bereits von Aristoteles formuliert worden war, auf dem Gebiet der Biologie bestätigt: Angst ist eine (essenzielle) unangenehme körperliche Empfindung, die eine Reaktion auf Gefahr darstellt. Alle Organismen erkennen und reagieren auf Gefahr, selbst ein Pantoffeltierchen schwimmt davon, wenn man es mit einer winzigen Nadel berührt.

Und jetzt zum Menschen: Menschliche Föten machen abwehrende Bewegungen, wenn sie ein grelles Licht wahrnehmen. Schon vor unserer Geburt zeigen wir also ein Verhalten, das als Angst bezeichnet werden kann. Auch unsere ersten Lebensjahre sind keineswegs angstfrei. Wir sind vollkommen unfähig, für uns selbst zu sorgen, hilf‌los und bedürftig robben wir herum, umgeben von Risiken und Gefahren, die wir nicht begreifen, auf die wir aber sehr wohl reagieren. Die Gefahren verlieren meist ihr Potenzial, wenn wir älter werden und lernen, unsere Ängste gleichsam anzupassen. Doch manchmal verläuft diese Anpassung nicht, wie sie soll. Darum ist die einfache Definition des Aristoteles irreführend. Für den modernen Menschen sind ›Gefahr‹ und ›Bedrohung‹ diffuse Begriffe. Der eine sieht sich häufiger von Gefahren bedroht als der andere, und was für den einen eine Gefahr darstellt, ist für den andern nicht der Rede wert.

Um zu verstehen, warum es so eine große Bandbreite erlebter Angst gibt, ist es sinnvoll, zwischen der Angst des Menschen (gemeint ist die Art von Angst, die alle Menschen empfinden können) und der Angst der Tiere zu unterscheiden. Grob gesagt ist die Angst der Tiere ein Reflex und die Angst des Menschen eine Erfahrung. Ich klappe die Bücher von und über Darwin zu und nehme mir nun die ziegelsteindicken biologischen und neurologischen Handbücher vor, die ich ins Vallée mitgeschleppt habe. Was die Bücher verbindet, ist ein außergewöhnliches Interesse für Ratten.

 

Das Rattengehirn ist eigentlich ein vereinfachtes, maßstabsgerechtes Modell des menschlichen Gehirns. (Deshalb verwenden Forscher oft Mäuse und Ratten als Versuchstiere.) Die Amygdala des Rattenhirns prüft jeden ankommenden Reiz auf seine potenzielle Gefahr hin. Erscheint die Gefahr realistisch, versetzt der Hypothalamus den Körper durch den schnellen Ausstoß von Adrenalin in Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsbereitschaft. Das ist der Krisenmodus, der intensivierte körperliche Zustand, den wir Menschen auch aus unserem alltäglichen Leben kennen, zum Beispiel wenn wir an der Kasse feststellen, dass wir unsere Kreditkarte vergessen haben oder den Anschlusszug zu verpassen drohen. Dieser Modus hat durchaus Vorteile. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass jemand eine ihm gestellte Aufgabe besser ausführt, wenn er sich einigermaßen ängstlich fühlt, als in einem Zustand vollkommener Entspannung. Hat man zu wenig Angst, ist die Leistung nicht optimal, hat man zu viel Angst, ist man völlig gelähmt. Dies bezeichnet man als das Yerkes-Dodson-Gesetz.

Für das Erkennen von Gefahren ist die Amygdala, der kleine, mandelförmige, paarig angelegte Bereich an der Unterseite unseres Hirns, entscheidend. Ratten, bei denen die Amygdala entfernt wurde, zeigen daher keine Angstreaktion. Bei Menschen mit einer beschädigten Amygdala beobachten wir dasselbe Phänomen. Forscher der Universität von Iowa untersuchten jahrelang eine mit dem Pseudonym »sm« bezeichnete Frau, deren Amygdala durch eine Krankheit zerstört worden war. Sie war die einzige Person in der Weltgeschichte, von der wir sicher wissen, dass sie nie Angst empfunden hat. Auch Psychopathen besitzen häufig eine weniger gut funktionierende Amygdala, was zur Folge hat, dass sie kaum Angst empfinden und die Angst anderer nicht wahrnehmen oder nicht begreifen.

Nachdem die Ratte sich einige Zeit im Krisenmodus befunden hat, produziert sie ein zweites Hormon, das Stresshormon Cortisol, das, wie bereits erwähnt, in meinem Körper in Fülle vorhanden ist. Cortisol wird für die körperlichen Reaktionen auf Angst benötigt, für den tatsächlichen Kampf oder die Flucht. Nimmt die Gefahr ab, wird es langsam abgebaut, und zwar so lange, bis der Körper wieder seinen normalen, ›sicheren‹ Zustand erreicht hat. Stößt man eine Ratte an, springt sie zurück. Stößt man sie noch ein paarmal an, geht sie zum Angriff über. Sie kämpft. Wenn man sie jedoch lange genug anstößt, gräbt sie sich eine Höhle, die sie nicht mehr verlässt, selbst dann nicht, wenn man irgendwann aufhört, sie anzustoßen. Das Cortisol hat ihre Gehirnzellen geschädigt und ihr Immunsystem unterdrückt. Ihre Angst ist chronisch geworden.

Diese Struktur körperlicher Reaktionen nennt man das Angstsystem, wobei wir eigentlich von einem Angsterkennungssystem sprechen müssten. Einst hatten wir Menschen, so wie jede Tierart, natürliche Feinde – den Säbelzahntiger etwa oder Schlangen. Dementsprechend verfügen wir über ein vergleichbares Angsterkennungssystem wie die Ratte. Dennoch ist das, was ich die Angst des Menschen nenne, etwas anderes: eher eine nuancierte Erfahrung als ein biologischer Reflex. Meiner Ansicht nach gibt es zwei wichtige Unterschiede zwischen Mensch und Tier, die dafür gesorgt haben, dass unsere Angst komplexer ist als die der Ratte.

 

Ich war sechs oder sieben Jahre alt, als ich, sobald die Nachttischlampe – ein lächelnder Mond – aus war, wochenlang obsessiv zu begreifen versuchte, wie mein eigener Tod aussehen würde. Diese Versuche führten immer dazu, dass ich die Kontrolle über meine Gedanken verlor und in Panik geriet. Es fühlte sich an wie ein endloser Sturz in die Tiefe. So sehr überforderte mich das Konzept »Tod«, oder genauer gesagt der Gedanke, dass ich irgendwann verschwunden sein würde, als hätte es mich nie gegeben. Mitschüler erklärten, ihre Omas und Opas schauten vom Himmel aus zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das gehen sollte. Wo genau befanden sie sich denn? Unterhielten sie sich auch mit den vorbeikommenden Astronauten und Raumfahrern? Welche Sprache sprachen sie überhaupt? Und die wichtigste Frage: Wer kümmerte sich um Nahrung? Als ich meinen Vater fragte, wie er mit dem Wissen um den Tod umgehe, erwiderte er: gar nicht. Ich dachte darüber nach und mir fiel auf: Kein Erwachsener sprach jemals vom Tod oder schien auch nur daran zu denken. Sie verfolgen die gleiche Bewältigungsstrategie wie Woody Allen, der mal gesagt hat, er fürchte sich nicht vor dem Tod. Er wolle nur nicht dabei sein, wenn es passiert. Der Schatten des Todes ist ständig anwesend, aber wir ignorieren ihn einfach.

Dies ist der erste Unterschied zwischen der Angst der Tiere und der des Menschen: Anders als die Tiere hat der Mensch von früher Kindheit an ein Bewusstsein seiner unvermeidlichen Endlichkeit. Das haben wir unserem weiter entwickelten limbischen System zu verdanken, das für unsere Emotionen verantwortlich ist, und unserem größeren präfrontalen Kortex, der uns die Fähigkeit zum abstrakten Denken und zum sprachlichen Ausdruck verleiht. Ohne Sprache ist es unmöglich, die Welt zu konzeptualisieren und Abstraktionen zu entwickeln und zu verstehen. Auch bei anderen Primaten finden wir eine Reihe von Anzeichen für ein Bewusstsein. Was sie aber nicht haben, ist eine Sprache, um abstrakten Ideen und Vorstellungen Form zu geben. Wir Menschen sind die einzige Tierart, die mit dem absurden Bewusstsein lebt, dass wir sterben werden. Die Angst vor dem Tod wird schon seit dem römischen Naturdichter und Philosophen Lukrez als Urangst betrachtet, von der alle anderen Ängste abgeleitet sind. Meiner Meinung nach müssen wir etwas genauer sein: Der Tod ist zwar die Quelle der Urangst, doch unsere eigentliche Angst betrifft unsere Hilf‌losigkeit, die Erkenntnis, wie vollkommen chancenlos wir letztendlich gegen Alter und Tod sind, die permanent auf der Lauer liegen. Daraus ergibt sich die merkwürdige Situation, dass wir Menschen einerseits sicherer leben als nahezu alle anderen Tierarten, wir aber andererseits mehr Angst empfinden, weil wir ständig im Hinterkopf haben, dass unser Leben zeitlich terminiert, fragil und im Vergleich zu unserem Vorstellungsvermögen relativ begrenzt ist.

Nun zum zweiten Unterschied. Dabei geht es um das, was ich als kleiner Junge tat, als ich begreifen wollte, wie mein Tod aussehen würde, um das, was wir alle tagtäglich tun: unsere Fantasie gebrauchen und versuchen, in Worte zu fassen, was wir denken oder fühlen. Auch diese Fähigkeit verdanken wir unserem stark entwickelten präfrontalen Kortex. Grüne Meerkatzen verfügen über ein Repertoire von Alarmsignalen, Kohlmeisen haben einen Warnruf für eine in ihre Richtung kriechende Schlange. Doch dieser konkrete »Sprachgebrauch« beschränkt sich auf das Hier und Jetzt. Tiere können keine Abstraktionen formulieren oder kommunizieren. Selbst die einfachste Information über Ereignisse in der Vergangenheit oder in der Zukunft können sie nicht übermitteln. Während die Amygdala vor allem damit beschäftigt ist, Gefahren zu registrieren und die Hormone zu produzieren, die die geeignete körperliche Reaktion möglich machen, interpretiert unser präfrontaler Kortex fortwährend unser Verhalten, unsere Gedanken und Erinnerungen, um anschließend daraus ein vernünftiges Agieren zu formen, mit dem wir durch den Tag kommen. Ohne präfrontalen Kortex kein Bewusstsein.

Was hat das mit Angst zu tun?

Viele Studien haben gezeigt, dass die Amygdala auf bedrohliche Stimuli mit erhöhtem Herzschlag oder stärkerer Schweißproduktion reagieren kann, ohne dass die Testperson sich dessen bewusst ist; sie empfindet daher auch keine Angst. Man muss also unterscheiden zwischen ängstlichem Verhalten (die Angst des Tiers) und dem Empfinden von Angst (die Angst des Menschen). Die Angst des Menschen ist weniger durch messbare, physische Angstsymptome gekennzeichnet, denn die kennt die Ratte auch. Die Angst des Menschen zeichnet sich vielmehr durch das bewusste Erleben der Symptome aus und durch das Bedürfnis, diese Erfahrungen ergründen oder typisieren zu wollen. Hieraus können wir ableiten, dass es so etwas wie »unbewusste Angst« oder »unbewusste Ängstlichkeit« nicht gibt. Sobald man Angst oder Ängstlichkeit bei sich bemerkt – oder diffuse negative Gefühle, die man als Angst wahrnimmt –, empfindet man sie bewusst.

Dank unseres Sprachvermögens und unseres Bewusstseins sind wir Menschen in der Lage, uns eine Vorstellung von allerlei bevorstehenden Ereignissen zu machen; von Krankheiten, die uns treffen können, bis hin zur großen Liebe, die uns über den Weg läuft oder die wir womöglich verpasst haben. Bewusst oder unbewusst vergegenwärtigen wir uns fortwährend, was geschehen könnte, wenn wir eine bestimmte Entscheidung treffen, oder was hätte passieren können, wenn wir anders gehandelt hätten. Wir bewegen uns permanent in parallelen Zukünften und Vergangenheiten, plagen uns selbst mit unendlich vielen Möglichkeiten. Das angstauslösende Problem des Menschen besteht also darin, dass seine Fantasie seinem Beurteilungsvermögen im Weg steht und er dadurch nicht immer genau sagen kann, welches Übel tatsächlich auf ihn zukommt und welches er sich nur einbildet.

 

Es wird Abend im Vallée, der Regen prasselt heftig auf den auf der Wiese zurückgelassenen Heuwender. In der Zimmerecke liegen neue Bücher über Angst und von mir angeforderte Texte meines Urgroßvaters, die der Postbote – ein Mann mit einem schmalen Gesicht voller Furchen und Falten – heute gebracht hat. In Pantoffeln (der Fußboden ist kalt) gehe ich zum Fenster. Fünf Kühe schlendern in Richtung einer Baumreihe auf der rechten Seite der Wiese, auf der Suche nach Schutz. Der Himmel wird von Sternen überfallen, grell und hellblau. Das Geräusch des Regens schwillt an, die Nuten der Blockhütte knarzen. Nachdem ich die rostige Espressokanne auf den Herd gestellt habe – es wird eine lange Nacht –, schiebe ich die Neurologiebücher beiseite und lege die philosophischen Werke auf den Tisch.

 

Angst ist ein von der Fantasie ausgelöstes Leiden, ein perturbationem imaginationis, wie es der im 13. Jahrhundert lebende Philosoph Thomas von Aquin ausdrückte. Thomas von Aquin fügt sich in eine lange Reihe von Philosophen, die das Verhältnis zwischen Angst und Fantasie am Beispiel eines Brettes illustrieren.

Aus der Tatsache, dass man problemlos über ein Brett geht, wenn es im Gras liegt, aber in Panik gerät, sobald dasselbe Brett über eine Schlucht gelegt wird, schloss Thomas von Aquin, es sei vor allem die menschliche Fantasie, die uns Angst einjagt. Vor dem Aquinaten wusste der um 980 geborene persische Philosoph Avicenna bereits: Jemand, der über ein Brett geht, das eine Schlucht überbrückt, fällt eher als jemand, der über ein auf dem Boden liegendes Brett geht, obwohl der Vorgang in beiden Fällen der gleiche ist. Und schließlich ist da noch der Gelehrte Robert Burton, der mit seinem Opus magnum The Anatomy of Melancholy (1621) eines der ersten Standardwerke auf dem Gebiet der Seelenheilkunde schuf. Er schreibt: »Ludovicus Vives erzählt von einem französischen Juden, der nachts auf einem gefährlichen Steg oder einem Brett heil ein reißendes Wasser überquerte und bei seiner Rückkehr am nächsten Tag, als er die Gefahr erkannte, in der er geschwebt hatte, vor Schreck verschied.« Mit anderen Worten: Im Dunkeln, ohne visuelle Information, erzeugte die Fantasie des Franzosen keine Angst. Doch bei Tageslicht, als er sah, dass er leicht hätte hinabstürzen können, da wurde er von einer solchen Angst erfasst, dass er tot umfiel. Die Fantasie sei viel stärker als der Verstand, schlussfolgert Burton.

Da nun mal jeder Mensch über Vorstellungskraft verfügt, kann auch jeder unter ›irrealen‹ Ängsten leiden. Ist Flugangst (Aviophobie) real? Oder nur für Piloten? Auf jeden Fall kann man sich darauf einigen, dass manche Kinder in Stephen Kings Roman Es ein beachtlich längeres Leben geführt hätten, wenn sie etwas mehr Coulrophobie an den Tag gelegt hätten. Coulrophobie? Das ist die ›irreale‹ Angst vor jenen unheimlichen Wesen, die wir als Clowns bezeichnen.

Für mich ist nach gut 30 Jahren Angsterfahrung der Unterschied zwischen realen und irrealen Ängsten vollkommen uninteressant geworden. Auch nur schwer vorstellbare Ängste sind für denjenigen, der darunter leidet, von großer, ja sogar von existenzieller Bedeutung. Ob man jemandem gegenübersteht, der unter unbestimmter, allgemeiner Ängstlichkeit leidet, oder jemandem mit einer Phobie vor Schrauben und Bolzen – wenn man demjenigen nur genug Fragen stellt, wird man feststellen, dass er das Gefühl hat, sein Leben stünde auf dem Spiel. Angst ist immer existenziell. Und je weniger eine Angst ihre Ursache in der realen Wirklichkeit zu haben scheint, je ›sonderbarer‹ und schwerer vorstellbar die Angst ist, umso mehr offenbart sie über den verängstigten Menschen, darüber, wer er ist, wie sein Leben verlaufen ist, was er will und was er zu verlieren oder nicht zu bekommen fürchtet. Außerdem ist aus neurologischer und physischer Perspektive jede Angst gleich real, so harmlos oder ›irreal‹ der ursprüngliche Auslöser auch gewesen sein mag.

Dennoch hängt unser Urteil über verängstigte andere zum größten Teil davon ab, ob wir ihre Ängste als legitim erachten (was mitunter schwerfällt, da der Grund für ihre Ängste Außenstehenden oft als harmlos erscheint). Häufig steckt im alltäglichen Sprachgebrauch von ›real‹ und ›irreal‹ die subtile Wertung ›berechtigt‹ und ›unberechtigt‹. Wenn wir Ängste für real oder nachvollziehbar halten, finden wir jene, die darunter leiden, bedauernswert, und wir spenden ihnen Mitgefühl und Rat. Sind die Ängste in unseren Augen irreal oder unglaubwürdig, ignorieren wir die Verängstigten. Wir murmeln, sie sollten sich nicht so hängen lassen, wenden uns von ihnen ab oder bezeichnen sie als Simulanten. Wir haben Hunderttausende Jahre Erfahrung mit Angst, und die Art, wie wir darüber sprechen, ist immer noch unbeholfen und moralistisch.

Niemand illustriert die praktische Sinnlosigkeit der Kategorien ›berechtigte‹ oder ›unberechtigte‹ Angst besser als Michael Bernard Loggins, auf den ich später noch zurückkommen werde. Loggins, der 1961 in San Francisco geboren wurde, lebt mit einer geistigen Behinderung, die es ihm erschwert, den Ernst einer ›bedrohlichen‹ Situation richtig einzuschätzen. Als Loggins 1994 gebeten wurde, seine Ängste aufzuschreiben, listete er 138 auf, die von Angst vor Krankheiten, paranoiden Ängsten und abstrakten Ängsten bis hin zu recht spezifischen Ängsten reichten, wie zum Beispiel, dass seine Lieblingsnudeln von jemandem aufgegessen werden, der Douglas heißt. Der Fall Michael Bernard Loggins macht deutlich, was ich instinktiv immer schon geahnt habe: Man muss Todesangst nicht ernster nehmen als die Angst, dass Douglas deine Lieblingsnudeln auf‌isst, und die Angst vor Douglas, der deine Lieblingsnudeln aufzuessen droht, kann erstickender sein als die absolute Unausweichlichkeit des Todes.

 

Wie fühlt es sich an, wenn die Angst zuschlägt?

Die bestimmbaren äußeren Symptome, die zur Angst gehören, gleichen denen, die mich im Badezimmer des Ferienhauses meiner Mutter überfielen: übermäßiges Schwitzen, eine sich immer weiter steigernde Herzfrequenz, Beklemmung, angespannte Muskeln, ein trockener Mund, ein flaues Gefühl im Magen und Kribbeln in den Fingerspitzen. Das Physische, die Körperlichkeit des Angstempfindens ist ein entscheidender Teil dessen, was Angst ist. Der amerikanische Philosoph und ›Vater der Psychologie‹ William James schrieb bereits 1890, dass er sich nicht vorstellen könne, »welche Art emotionalen Erlebens von Angst übrig bleibt, wenn es weder das Gefühl des beschleunigten Herzschlags gibt noch das Gefühl der flachen Atmung, zitternder Lippen oder schlaffer Gliedmaßen, von Gänsehaut oder rebellierenden Eingeweiden. Kann man sich in den Gemütszustand Wut hineinversetzen, ohne sich dabei eine sich heftig auf und ab bewegende Brust, ein rot angelaufenes Gesicht, weit aufgerissene Nasenlöcher, fest aufeinandergepresste Kiefer und den Drang zu tatkräftigem Handeln vorzustellen, sondern stattdessen entspannte Muskeln, einen gleichmäßig gehenden Atem und ein ruhiges Gesicht?«

Selbst wenn man in diesem Zustand der das Bewusstsein einschränkenden Erregung die verschiedenen physischen Prozesse aufzeigen und kategorisieren würde, selbst wenn man haargenau messen könnte, welche Hormone das Gehirn produziert, wenn man sich bedroht fühlt, entginge einem, was Angst genau ist. Niemand weint wegen seiner Tränen, niemandem ist schlecht wegen seines Erbrechens. Das bewusste Empfinden von Angst, ihr Erleben (das per Definition ein subjektives ist) stellt einen wesentlichen Bestandteil des Phänomens Angst dar.

Das Nachdenken über Angst war traditionell die Domäne der Philosophie.

Dass man nie genau weiß, woher die Angst kommt, brachte Martin Heidegger zu der Behauptung, Angst sei »nirgends« speziell. »Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – und doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem den Atem verschlägt – und doch nirgends.« Die Angst ist der Aggressor, man selbst ist passiv. Und dennoch entspringt die Angst in einem selbst. Ist man verantwortlich für seine Ängste, oder sprechen die Ängste einen von jeder Verantwortlichkeit frei? Ist man Täter oder Opfer? Kann ein Mensch beides zugleich sein?

Die Totalität der Angsterfahrung taucht in fast allen Beschreibungen verängstigter Menschen auf. Die poetischste und zugleich zutreffendste Beschreibung von Angst fand ich in einer Doktorarbeit über Angst, die der Psychiater Gerrit Glas 1991 an der Universität Utrecht vorgelegt hat. Sie stammt von B., einem fünfunddreißigjährigen Mann, der sich wiederholt hat einweisen lassen. B. beschreibt Angst als »eine Leere im Magen, die sich bewegt und spürbar ist. Es ist ein Gefühl und zugleich ein körperliches Erleben, in deinem Kopf und in deinem Körper, es ist ein Ganzes, und es lässt sich kaum herausfinden, wo es genau beginnt.« Die Intensität von Panik, wie kräftig Angst einem manchmal die Kehle zudrückt, wie stark sie einen betäubt, sodass man keinen Ausweg mehr sieht, das lässt sich kaum messen oder darstellen – doch ich kann davon Zeugnis ablegen. Und andere können das auch. Wir alle können der Angst zum Opfer fallen.

Charles Darwin, der es verstand, äußerst scharfsinnig über die Angst als biologisches Phänomen zu schreiben, war oft sehr niedergeschlagen, litt unter Herzrasen, unter regelmäßiger Hyperventilation, konnte höchstens eine Stunde am Tag arbeiten und übergab sich mehrfach. Nach der Durchsicht von Darwins Tagebüchern und Briefen sowie seiner Krankenakte kamen amerikanische Ärzte vor einigen Jahren zu dem Schluss, dass man heute bei ihm zweifellos eine Angststörung diagnostizieren würde. Darwin hatte neun der dreizehn Symptome. Es reichen vier, um zu dem Befund ›Angststörung‹ zu kommen. Jeder, der sich heute auf der guten Seite befindet, kann morgen auf der schlechten aufwachen; jeder, der heute als ›gesund‹ gilt, kann morgen als ›krank‹ geführt werden.

 

Ich klappe die Bücher zu. Nachdem ich diese grundlegenden Dinge zu Papier gebracht habe, wieder festen Boden unter die Füße bekomme und mich als Student der Angstkunde betrachten darf, spüre ich, dass mein Besuch im Vallée zu Ende geht. Es ist Zeit, die Welt der Bücher zu verlassen und tiefer auf meine eigenen Ängste einzugehen, die vielleicht ja nicht nur mir gehören. Möglicherweise haben Verwandte unter denselben Symptomen gelitten, vielleicht geistert die Angst schon seit Jahrhunderten durch unsere Gene. Oder vertraue ich zu sehr auf die Biologie? Sind es vielmehr seine Lebensumstände, die einen Menschen ängstlich machen? Auf jeden Fall weiß ich, wo ich mit meiner Suche beginnen muss, wo und bei wem: bei meinem Vorfahren Jaap Kunst, in Indonesien.

 

Nachdem ich mein Flugticket gebucht habe, wende ich mich per E-Mail an einige Experten, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Angst beschäftigt haben. Auf den Etappen meiner Reise werde ich sie hin und wieder erwähnen, um mir Rat zu holen und mich mit Wissen auszustatten. Die wichtigsten Publikationen packe ich, wenn ich sie nicht auf dem Laptop habe, in meinen Koffer. Die übrigen Bücher wird mein Freund im Vallée de Misère mir nachsenden. Mitten auf der rostfarbenen Wiese, umgeben von Heu und Disteln, da, wo der Empfang am wenigsten schlecht ist, lade ich die Karten herunter, von denen ich annehme, dass ich sie in Indonesien brauchen werde. Vielleicht, geht es mir, während ich zu meiner Blockhütte zurückgehe, durch den Kopf, sollte ich Angst nicht als ein Ungeheuer betrachten, sondern als Beifahrer, einen, der die Straßenkarte nicht teilen will. Vielleicht wird er während meiner Reise den Platz wechseln, vielleicht setzt er sich auf die Rückbank oder kriecht heimlich in den Kofferraum. Manchmal wird er sich auf den Fahrersitz drängen, doch die Tatsache, dass Sie dies gerade lesen, bedeutet, dass es ihm nicht gelungen ist, dort dauerhaft zu bleiben. Aber ehe ich auch nur daran denken darf, ihn zu bitten, den Wagen zu verlassen, muss ich erst herausfinden, wer er ist, wo er herkommt, wie er sich selbst nennt und was er bloß von mir – von uns – will. Mein letzter Abend in Frankreich ist angebrochen. Der Abschied von meinem Freund ist stoisch. Ein letztes Abendessen mit Fischstäbchen und Carrefour-Wein. Gegen elf umarmen wir einander brüderlich, aus Angst vor Sentimentalität sagen wir nichts. Als ich im Bett liege, denke ich an das Brett aus meiner Jugend und stelle mir vor, es läge, so wie Avicenna es beschreibt, über einer Schlucht und nicht über einem schmalen holländischen Bach. Anstatt ängstlich darüberzugehen, schaue ich ruhig in die Tiefe. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, der die Angst mit einem Abgrund verglich, schreibt, dass das Erlernen von Angst ein Abenteuer ist, welches »jeder Mensch zu bestehen hat«. Ich ziehe weiter. So lange, bis ich im Osten angekommen bin, in Jakarta, um genau zu sein.

4Zauberklänge des Gamelan

In Jakarta ist es heiß und schwül, der Geruch von verbranntem Pertamax-Benzin hängt in den Straßen. Von diesem Turm aus, dem Uitkijk im Hafen, hätte ich vermutlich ihre Abfahrt sehen können, die von Jaap Kunst und seiner Familie – meinen Verwandten.

Nach 14 Jahren in Niederländisch-Indien reisten sie im März 1934 zurück in die Niederlande, mit der Sibajak, einem der größten und komfortabelsten Schiffe der Reederei Rotterdam Lloyd,