Die satanischen Verse - Salman Rushdie - E-Book
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Salman Rushdie

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Beschreibung

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

Über der englischen Küste wird ein Flugzeug in die Luft gesprengt. Die einzigen Überlebenden sind Gibril Farishta und Saladin Chamcha, zwei indische Schauspieler, die wie durch ein Wunder unversehrt bleiben. Danach geschehen seltsame Dinge mit ihnen: Gibril zeigt immer mehr Ähnlichkeit mit dem Erzengel Gabriel, während sich Saladin, der stets seine Herkunft verleugnete, zu einem Abbild des Teufels entwickelt. Und das ist erst der Beginn einer überwältigenden Odyssee zwischen Gut und Böse, zwischen Fantasie und Realität.

»Ein klassisches Stück humanistischer Aufklärungsliteratur – Ratio gegen Mythos, Verstand gegen Glauben.« taz

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Über der englischen Küste wird ein Flugzeug in die Luft gesprengt. Die einzigen Überlebenden dieses Terroranschlags sind Gibril Farishta und Saladin Chamcha, zwei indische Schauspieler, die buchstäblich vom Himmel fallen und wie durch ein Wunder unversehrt bleiben. Doch nach dem Absturz gehen seltsame Dinge mit ihnen vor: Der Muslim Gibril zeigt immer mehr Ähnlichkeit mit dem Erzengel Gabriel, während sich Saladin, der stets seine Herkunft verleugnete, zu einem Abbild des Teufels entwickelt. Doch das ist erst der Beginn einer überwältigenden Odyssee zwischen Gut und Böse, zwischen Fantasie und Realität.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Auszeichnungen, u.a. den Booker Prize, und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter.

Salman Rushdie

DiesatanischenVerse

Roman

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Die Originalausgabe erschien 1988 unter dem TitelThe Satanic Verses.

E-Book-Ausgabe September 2022

Copyright © 1988 Salman Rushdie

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Alle Rechte an der Übersetzung ins Deutsche bei der Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg.

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: Arcangel Images / Joana Kruse

ISBN 978-3-641-30580-2V002

www.penguin-verlag.de

Gewidmet allen Menschen und Organisationen, die die Veröffentlichung dieses Buches unterstützt haben.

Satan, zu einem vagabundierenden, ratlosen,unsteten Dasein verurteilt, kennt keine feste Bleibe;denn obgleich er, infolge seiner engelhaften Natur,über ein Reich zerfließender Wüstenei und Luft herrscht,so ist es doch gewißlich Teil seiner Strafe, daß er...ohne jeden angestammten Ort oder Raum ist,der es ihm gestatten würde,seinen Fuß darauf ruhen zu lassen.

DANIEL DEFOE

The History of the Devil

IDer Engel Gibril

1

Um wiedergeboren zu werden«, sang Gibril Farishta, während er vom Himmel stürzte, »mußt du erst sterben. Ho ji! Ho ji! Um weich zu landen am Busen der Erde, mußt du erst zum Vogel werden. Tat-Taa! Taka-tan! Um heiter zu genießen, müssen erst Tränen fließen. Wie willst du die Liebe wagen, mein Herr, ohne zu klagen? Baba, willst du wiedergeboren werden...« An einem Wintermorgen kurz vor Tagesanbruch, so um den ersten Januar herum, fielen zwei leibhaftige, ausgewachsene, quicklebendige Männer aus einer Höhe von achttausendachthundertvierzig Metern in Richtung Ärmelkanal, und zwar ohne Hilfsmittel wie Fallschirme oder Flügel, aus heiterem Himmel.

»I tell you, you must die, I tell you, I tell you«, und dergleichen mehr unter einem Mond von Alabaster, bis ein lauter Ruf die Nacht durchschnitt: »Zum Teufel mit deinen Liedern«, kristallklar hingen die Worte in der eisweißen Nacht, »im Film hast du nur zum Playback die Lippen bewegt, verschon mich also jetzt mit diesem infernalischen Geschrei.«

Während Gibril, der unmusikalische Solist, sein improvisiertes Ghasel sang, schlug er im Mondschein Kapriolen, schwamm in der Luft, Bruststil, Schmetterlingsstil, rollte sich zu einer Kugel zusammen, spreizte wie ein Adler Arme und Beine vor der Beinahe-Unendlichkeit der Beinahe-Dämmerung, nahm heraldische Posen ein, drohend aufgerichtet, wie ein Löwe mit erhobenem Kopf liegend, spielte seine Leichtfertigkeit gegen die Schwerkraft aus. Nun kullerte er beglückt auf die höhnische Stimme zu. »Ohé, Salad Baba, du bist es, nicht möglich. Holla, alter Cham.« Worauf der andere, ein pedantischer, kopfüber fallender Schatten in einem grauen Anzug, alle Jackettknöpfe zugeknöpft, Arme an die Seiten gepreßt, der die Unwahrscheinlichkeit der Melone auf seinem Kopf als selbstverständlich hinnahm, ein spitznamenfeindliches Gesicht zog. »He, Spoono«, schrie Gibril und löste damit ein zweites auf den Kopf gestelltes Zusammenzucken aus, »London, Bhai! Wir kommen! Diese Ärsche da unten werden keine Ahnung haben, was sie getroffen hat. Ein Meteor, ein Blitz oder die Strafe Gottes. Aus dem Nichts, Herzchen. Dharrraaammm! Wumm, na? Was für ein Auftritt, yaaar. Ich schwör’s dir – platsch.«

Aus dem Nichts: ein Urknall, gefolgt von einem Feuerwerk von Meteoren. Ein allumfassender Beginn, ein Miniaturecho der Geburt der Zeit... der Jumbo-Jet Bostan, Flug AI-420, explodierte ohne Vorwarnung hoch über der großen, verrotteten, wunderschönen, schneeweißen, hellerleuchteten Stadt, Mahagonny, Babylon, Alphaville. Aber Gibril hat ihr bereits einen Namen gegeben, ich darf mich nicht einmischen: Das Große London, Hauptstadt von Vilayet, zwinkerte, blinzelte, nickte in der Nacht. Während in Himalaja-Höhe eine kurzlebige und frühreife Sonne in die pulvrige Januarluft barst, verschwand ein Echoimpuls von den Radarschirmen, und das Nichts war voller Körper, die vom Mount Everest der Katastrophe auf die milchige Blässe des Meeres niedersanken.

Wer bin ich?

Wer ist sonst noch da?

Das Flugzeug brach mitten entzwei, eine Schote, die ihre Samen, ein Ei, das sein Geheimnis preisgibt. Zwei Schauspieler, der tänzelnde Gibril und der zugeknöpfte, steife Mr. Saladin Chamcha, fielen wie Tabakkrümel aus einer zerbrochenen alten Zigarre. Über, hinter, unter ihnen im leeren Raum hingen zurückgeklappte Sitze, Kopfhörer, Getränkewagen, Tüten für Flugkranke, Einwanderungsformulare, zollfreie Videospiele, bortenbesetzte Käppchen, Papierbecher, Decken, Sauerstoffmasken. Zudem – denn es waren nicht wenige Einwanderer an Bord gewesen, ja eine ziemlich große Anzahl von Ehefrauen, die von einsichtigen, pflichtbewußten Beamten wegen der Länge und der charakteristischen Leberflecke der Genitalien ihrer Ehemänner in die Mangel genommen worden waren, genügend Kinder, deren Ehelichkeit die britische Regierung in begründeten Zweifel zog – mischte sich unter die Überreste des Flugzeugs, ebenso bruchstückhaft, ebenso absurd, der ganze Seelenschutt, schwebten Erinnerungssplitter, abgestreifte Identitäten, herausgeschnittene Muttersprachen, verletzte Intimsphären, unübersetzbare Witze, zunichte gemachte Zukunftshoffnungen, verlorene Lieben, die vergessene Bedeutung hohler, dröhnender Worte, Land, Zugehörigkeit, Heimat. Ein wenig benommen von der Explosion stürzten Gibril und Saladin hinab – wie von einem Storch, der sorglos den Schnabel geöffnet hat, fallen gelassene Bündel –, und weil Chamcha mit dem Kopf voraus fiel, in der für den Eintritt von Babys in den Geburtskanal empfohlenen Lage, begann er, eine leichte Verärgerung zu empfinden über die Weigerung des anderen, auf die übliche Weise hinunterzufallen. Saladin fiel im Sturzflug, wogegen Farishta die Luft umarmte, sie mit Armen und Beinen liebkoste, ein wild fuchtelnder, outrierter Schauspieler, der die Technik künstlerischer Zurückhaltung nicht beherrschte. Unter ihnen, wolkenbedeckt, in Erwartung ihres Auftritts, die trägen, eiskalten Strömungen des Ärmelkanals, die für ihre wäßrige Wiedergeburt bestimmte Zone.

»Aus Japan sind meine schönen Schuh’«, sang Gibril und übersetzte dabei das alte Lied in halbbewußter Hochachtung vor dem entgegenstürmenden Gastland, »die Hosen sind englisch, was meinst du dazu? Auf dem Kopf ein russischer Hut, aber indisch ist mein Blut.« Die Wolken ballten sich ihnen entgegen, und vielleicht war es wegen der mystischen Formationen von Kumulus und Kumulonimbus, der mächtig dahinziehenden Gewitterwolken, die wie Hämmer in der Morgendämmerung aufragten, oder vielleicht war es das Singen (wobei der eine die Vorstellung gab und der andere sie ausbuhte), oder ihr Detonationsdelirium, das ihnen die volle vorherige Kenntnis des ihnen unmittelbar Bevorstehenden ersparte... doch aus welchem Grund auch immer, die beiden Männer, Gibrilsaladin Farishtachamcha, zu diesem endlosen und doch endenden engelgleichen, teuflischen Fall verdammt, merkten nicht, in welchem Augenblick der Prozeß ihrer Transmutation begann.

Mutation?

Jawohl, aber keine zufallsbestimmte. Dort oben im Luftraum, jenem weichen, nicht wahrnehmbaren Bereich, den das Jahrhundert ermöglicht hatte und der daraufhin das Jahrhundert ermöglichte, der zu einer seiner bestimmenden Sphären geworden war, zum Ort des Strebens und des Krieges, zu einem Ort, der den Planeten schrumpfen ließ, einem Mächtevakuum, der unsichersten und unbeständigsten aller Sphären, trügerisch, ständig in Auflösung und Wandlung begriffen – denn wenn man alles in die Luft wirft, wird alles möglich –, hochdortoben jedenfalls fanden Veränderungen in delirierenden Schauspielern statt, die das Herz des alten Herrn Lamarck hätten höher schlagen lassen: unter extremem Außendruck werden charakteristische Merkmale erworben.

Was für Merkmale, welche? Langsam, langsam; Sie glauben wohl, die Schöpfung vollzieht sich im Nu? Aber nein, ebensowenig wie die Offenbarung... sehen Sie sich die beiden an. Fällt Ihnen etwas Ungewöhnliches auf? Nur zwei schnell fallende braune Männer, das ist doch nichts besonders Neues, werden Sie vielleicht denken; stiegen zu weit hinauf, wollten zu hoch hinaus, flogen zu nah an der Sonne, ist es das?

Das ist es nicht. Hören Sie zu:

Mr. Saladin Chamcha, entsetzt über die dem Munde Gibril Farishtas entströmenden Laute, schlug mit eigenen Versen zurück. Was Farishta über den unwahrscheinlichen Nachthimmel wehen hörte, war ebenfalls ein altes Lied, Text von Mr. James Thomson, siebzehnhundert bis siebzehnhundertachtundvierzig. »... durch himmlisches Gebot«, jubilierte Chamcha durch Lippen, die sich aufgrund der Kälte patriotisch rot-weiß-blau verfärbt hatten, »so kaaam, es aus der blauen Seeee.« Farishta, zu Tode erschrocken, sang immer lauter von japanischen Schuhen, russischen Hüten, jungfräulich subkontinentalem Geblüt, konnte jedoch Saladins ungestümen Vortrag nicht zum Verstummen bringen: »Schutzengel sangen in der Höööh.«

Seien wir uns darüber im klaren: Es war unmöglich, daß die beiden einander hören, geschweige denn sich miteinander unterhalten und einen solchen Sängerwettstreit austragen konnten. Wie waren sie dazu fähig gewesen, wo sie sich doch mit immer größerer Geschwindigkeit dem Planeten näherten und die Atmosphäre um sie herum toste? Aber seien wir uns auch darüber im klaren: sie waren es.

Hinabhinab wirbelten sie, und die Winterkälte, die ihre Wimpern mit Reif überzog und ihre Herzen zu gefrieren drohte, war im Begriff, sie aus ihrem ekstatischen Tagtraum zu reißen, und gerade als ihnen das Wunder ihres Gesanges bewußt wurde, der Regen von Gliedmaßen und Babys, von dem sie ein Teil waren, und die Entsetzlichkeit des Schicksals, das von unten auf sie zuraste, trafen sie auf die eiskalt brodelnden Wolkenwogen, wurden von ihnen bis auf die Haut durchnäßt und augenblicklich mit einer Eisschicht glasiert.

Sie befanden sich anscheinend in einem langen, vertikalen Tunnel. Chamcha, steif, starr und immer noch kopfüber, sah, wie Gibril Farishta in seinem purpurroten Buschhemd in diesem Tunnel mit Wolkenwänden auf ihn zuschwamm, und hätte gerufen: »Weg, weg von mir«, wenn ihn nicht etwas daran gehindert hätte, das Entstehen von etwas Flatterndem, Schrillem in seinen Eingeweiden, so daß er, statt Worte der Ablehnung zu äußern, die Arme ausbreitete, und Farishta schwamm hinein, bis sie sich Kopf an Fuß umarmten, und die Wucht des Aufpralls ließ sie gemeinsame Räder schlagen den ganzen langen Schacht hinunter, der ins Wunderland führte; und während sie vorwärts drängten, bahnte sich aus dem Weiß eine Prozession sich ständig wandelnder Wolkenformen ihren Weg, Götter wurden zu Stieren, Frauen zu Spinnen, Männer zu Wölfen. Hybride Wolkenwesen stürmten auf sie zu, riesenhafte Blumen mit menschlichen Brüsten, die von fleischigen Stengeln baumelten, geflügelte Katzen, Zentauren, und halb bewußtlos, wie er war, wurde Chamcha von der Vorstellung gepackt, daß auch er Wolkennatur angenommen hatte, seine Gestalt veränderte, zum Zwitterwesen wurde, wie wenn er in die Person hineinwachsen würde, deren Kopf nun zwischen seinen Beinen gebettet lag und deren Beine um seinen langen, aristokratischen Hals geschlungen waren.

Diese Person hatte allerdings keine Zeit für solch »hochtrabendes Geschwätz«, war dazu gar nicht fähig. Hatte sie doch eben aus dem Wolkenwirbel die Gestalt einer bezaubernd schönen Frau in einem gewissen Alter auftauchen sehen, die einen Sari aus grünem und goldenem Brokat und einen Diamanten in der Nase trug, das hochgesteckte Haar mit Haarlack gegen den Wind in diesen Höhen geschützt, und gleichmütig auf einem fliegenden Teppich saß. »Rekha Merchant«, begrüßte Gibril sie. »Du hast wohl den Weg in den Himmel nicht gefunden?« Wie gefühllos, solche Worte an eine Tote zu richten! Aber sein erzwungener Sturzflug mag als mildernder Umstand angeführt werden... Chamcha umklammerte Farishtas Beine und erkundigte sich verständnislos: »Was zum Teufel soll das?«

»Siehst du sie nicht?« rief Gibril. »Siehst du ihren verdammten Bucharateppich nicht?«

Nein, nein, Gibbo, flüsterte ihre Stimme ihm ins Ohr, erwarte von ihm keine Bestätigung. Ich bin ausschließlich für deine Augen bestimmt, vielleicht bist du am Verrücktwerden, was meinst du, du Namaqool, du Stück Schweinedreck, mein Lieber. Mit dem Tod kommt die Ehrlichkeit, mein Liebster, also kann ich dich bei deinen richtigen Namen nennen.

Die wolkige Rekha murmelte Säuerlichkeiten, doch Gibril wandte sich erneut an Chamcha: »Spoono? Siehst du sie oder siehst du sie nicht?«

Saladin Chamcha sah nichts, hörte nichts, sagte nichts. Gibril blickte ihr allein ins Angesicht. »Das hättest du nicht tun sollen«, wies er sie zurecht. »Auf keinen Fall. Eine Sünde. Sowassowas.« Ach, jetzt belehrst du mich auch noch, lachte sie, hältst Moralpredigten, das ist wohl ein Witz. Du warst es, der mich verlassen hat, gab ihre Stimme seinem Ohr zu bedenken und schien dabei am Ohrläppchen zu knabbern. Du warst es, o Mond meiner Wonne, der sich hinter einer Wolke versteckte. Und ich in der Finsternis, blind, verloren, aus Liebe.

Er bekam es mit der Angst. »Was willst du? Nein, sag es nicht, geh fort.«

Als du krank warst, durfte ich dich nicht besuchen, um einen Skandal zu vermeiden, du hast gewußt, daß es nicht ging, daß ich deinetwegen wegblieb, aber hinterher hast du mich bestraft, du hast es als Grund benutzt, mich zu verlassen, als dein Wolkenversteck. Das und auch sie, die Eisfrau. Schuft. Jetzt, da ich tot bin, habe ich vergessen, wie man verzeiht. Ich verfluche dich, mein Gibril, dein Leben soll die Hölle sein. Die Hölle, denn dorthin hast du mich geschickt, verdammt sollst du sein, von dort kommst du her, du Teufel, dort gehst du hin, du Blutsauger, genieß dein blutiges Bad. Rekhas Fluch; und danach Verse in einer Sprache, die er nicht verstand, harsch, zischend; wiederholt glaubte er, aber vielleicht irrte er sich, den Namen Al-Lat zu vernehmen.

Er klammerte sich an Chamcha; sie hatten die Wolkendecke durchbrochen.

Die Geschwindigkeit, die Empfindung der Geschwindigkeit kehrte wieder mit einem gräßlichen Pfeifton. Das Wolkendach floh in die Höhe, die Wasserfläche näherte sich rasend, ihre Augen öffneten sich. Ein Schrei, derselbe Schrei, der in seinen Eingeweiden geflattert war, als Gibril quer über den Himmel auf ihn zuschwamm, löste sich von Chamchas Lippen; ein Sonnenpfeil durchbohrte seinen offenen Mund und befreite ihn. Doch sie waren durch die Wolkenmetamorphosen gefallen, Chamcha und Farishta, und es war etwas Fließendes, Unscharfes an ihren Rändern, und als das Sonnenlicht auf Chamcha traf, löste es mehr als einen Schrei aus.

»Flieg«, schrie Chamcha Gibril zu. »Flieg jetzt.« Und ohne seinen Ursprung zu kennen, fügte er einen zweiten Befehl hinzu: »Und sing.«

Wie kommt das Neue in die Welt? Wie wird es geboren?

Aus welchen Verschmelzungen, Verwandlungen, Verbindungen besteht es?

Wie überlebt es, extrem und gefährlich, wie es ist? Welche Kompromisse muß es eingehen, welche Abmachungen treffen, welchen Verrat an seiner verborgenen Natur üben, um die Abbruchkugel abzuwehren, den Würgeengel, die Guillotine? Ist Geburt immer ein Fall?

Haben Engel Flügel? Können Menschen fliegen?

Als Mr. Saladin Chamcha aus den Wolken über dem Ärmelkanal fiel, spürte er, wie sein Herz von einer so unerbittlichen Macht ergriffen wurde, daß er die Unmöglichkeit seines Todes erkannte. Nachher, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, begann er zu zweifeln, die Unwahrscheinlichkeiten seines Sturzes auf seine durch die Explosion durcheinandergeratene Wahrnehmung zurückzuführen und sein und Gibrils Überleben einem blinden, dummen Zufall zuzuschreiben. Aber während er fiel, bestand für ihn kein Zweifel; was sich seiner bemächtigt hatte, war der Wille zu leben, unverfälscht, unwiderstehlich, rein, und das erste, was dieser Wille tat, war, ihn davon zu unterrichten, daß er nichts mit seiner erbärmlichen Persönlichkeit zu tun haben wollte, dieser zur Hälfte wiederhergestellten Angelegenheit aus Mimikry und Stimmen, er wollte das alles umgehen, und er, Chamcha, merkte, daß er sich ihm unterwarf, ja, mach nur, als ob er in seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Körper ein Zuschauer wäre, denn dieser Wille begann genau im Mittelpunkt seines Leibes und breitete sich nach außen aus, ließ sein Blut zu Eisen werden, verwandelte sein Fleisch in Stahl, doch gleichzeitig fühlte er sich an wie eine Faust, die ihn umfaßte und in einer Weise hielt, die sowohl unerträglich fest und als auch unzumutbar sanft war; bis ihn dieser Wille schließlich völlig überwältigt hatte und seinen Mund, seine Finger, was immer er wollte, lenken konnte, und sobald er seiner Herrschaft sicher war, drang er aus Chamchas Körper und packte Gibril Farishta an den Eiern.

»Flieg«, befahl er Gibril. »Sing.«

Chamcha hielt sich an Gibril fest, während der andere erst langsam und dann mit zunehmender Geschwindigkeit und Kraft mit den Armen wie mit Flügeln zu schlagen begann. Immer fester schlug er mit den Armen, und währenddessen brach ein Lied aus ihm hervor, und wie das Lied des Geistes von Rekha Merchant ertönte es in einer Sprache, die er nicht kannte, zu einer Melodie die er nie gehört hatte. Gibril bestritt dieses Wunder nie; anders als Chamcha, der es mit logischen Überlegungen aus der Welt zu schaffen suchte, hörte er nie auf zu behaupten, daß das Ghasel himmlischen Ursprungs war, daß ohne das Lied das Armeschlagen zwecklos gewesen wäre und daß sie ohne das Armeschlagen mit Sicherheit wie ein Stein oder so auf die Wellen geprallt und bei der ersten Berührung mit der straffgespannten Trommel des Meeres in tausend Stücke geborsten wären. Statt dessen jedoch wurden sie allmählich langsamer. Je entschiedener Gibril flatterte und sang, sang und flatterte, desto deutlicher wurde die Verlangsamung, bis die beiden schließlich wie Papierschnitzel im sanften Wind auf den Kanal hinunterschwebten.

Sie waren die einzigen Überlebenden des Unglücks, die einzigen, die aus der Bostan stürzten und am Leben blieben. Man fand sie an einen Strand gespült. Der Redseligere der beiden, der im purpurroten Hemd, schwor in seinen wild ausschweifenden Erzählungen, sie wären auf dem Wasser gewandelt, die Wellen hätten sie sachte ans Ufer getragen; aber der andere, auf dessen Kopf wie durch Zauberei eine aufgeweichte Melone klebte, bestritt das. »Gott im Himmel, wir hatten Glück«, sagte er.

»Wieviel Glück kann man haben?«

Ich kenne die Wahrheit, das liegt auf der Hand. Ich habe alles gesehen. Auf Allgegenwärtigkeit und -mächtigkeit erhebe ich im Augenblick keinen Anspruch, aber soviel läßt sich sagen, hoffe ich: Chamcha wollte es, und Farishta tat das Gewollte.

Wer wirkte das Wunder?

Welcher Art – engelhaft oder satanisch – war Farishtas Lied?

Wer bin ich?

Sagen wir es so: Wer hat die schönsten Melodien?

Folgendes waren die ersten Worte, die Gibril Farishta sprach, als er auf dem schneebedeckten englischen Strand erwachte, neben seinem Ohr, so unwahrscheinlich es klingt, ein Seestern: »Wiedergeboren, Spoono, du und ich. Alles Gute zum Geburtstag, mein Herr; alles Gute zum Geburtstag.«

Worauf Saladin Chamcha hustete, prustete, die Augen öffnete und, wie es sich für ein Neugeborenes gehört, in lächerliche Tränen ausbrach.

2

Reinkarnation war stets ein Lieblingsthema von Gibril gewesen, der seit fünfzehn Jahren der größte Star in der Geschichte des indischen Films war, schon bevor er »wundersamerweise« den Phantom-Bazillus besiegte, von dem alle geglaubt hatten, er würde seinen Verträgen für immer ein Ende setzen. Vielleicht hätte also irgend jemand voraussagen können – nur tat es niemand –, daß ihm, sobald er wieder auf den Beinen war, sozusagen das gelingen würde, woran die Bakterien gescheitert waren, und daß er eine Woche vor seinem vierzigsten Geburtstag auf immer aus seinem alten Leben hinausmarschieren und – pffft! – wie durch einen Zaubertrick verschwinden würde, ins Nichts.

Die ersten, die seine Abwesenheit bemerkten, waren die vier Mitglieder seines Filmstudio-Rollstuhlteams. Schon lange vor seiner Krankheit hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, sich auf dem großen D.-W.-Rama-Gelände von dieser Truppe schneller, verläßlicher Athleten von Szene zu Szene transportieren zu lassen, weil ein Mann, der »si-multan« bis zu elf Filme drehte, seine Kräfte schonen mußte. Gelenkt von einem komplexen System von Codes, das aus Strichen, Kreisen und Punkten bestand und das Gibril noch aus seiner Kindheit inmitten der legendären Essensläufer von Bombay (von denen später noch die Rede sein wird) in Erinnerung war, flitzten die Rollstuhlschieber mit ihm von Rolle zu Rolle und lieferten ihn genauso pünktlich und unfehlbar ab, wie sein Vater einst das Essen abgeliefert hatte. Und nach jeder abgedrehten Szene sprang Gibril wieder in den Stuhl und ließ sich mit hoher Geschwindigkeit zur nächsten bringen, wurde umkostümiert, geschminkt und bekam seinen Text in die Hand gedrückt. »Eine Filmkarriere in Bombay«, erklärte er seiner getreuen Mannschaft, »ist eher wie ein Rollstuhlrennen mit ein, zwei Boxenstopps unterwegs.«

Nach der Krankheit, der Gespenstischen Bakterie, der Mysteriösen Malaise, dem Bazillus, arbeitete er wieder, ließ es langsam angehen, mit nur sieben Filmen gleichzeitig... und dann, einfach so, war er nicht mehr da. Der Rollstuhl stand leer zwischen den verstummten Studios; seine Abwesenheit enthüllte die schäbige Scheinwelt der Kulissen. Rollstuhlfahrer eins bis vier baten um Nachsicht für den fehlenden Star, als sich der Zorn der Filmverantwortlichen auf sie entlud: Ji, sicher ist er krank, er war immer für seine Pünktlichkeit berühmt, nein, warum kritisieren, Maharadschas, großen Künstlern muß man von Zeit zu Zeit ihre Launen zugestehen, na; und zum Dank für ihre Beteuerungen wurden sie zu den ersten Opfern von Farishtas unerklärlichem Simsalabim, sie wurden gefeuert, vier drei zwei eins, ekdumjaldi, vor die Pforten des Studios gesetzt, und ein Rollstuhl lag verwaist und verstaubt unter den künstlichen Kokospalmen auf einem Strand aus Sägemehl.

Wo war Gibril? Filmproduzenten, siebenfach im Stich gelassen, gerieten in kostspielige Panik. Sehen Sie dort, auf dem Willingdon-Golfplatz  – heutzutage nur noch neun Löcher, nachdem aus den anderen neun Wolkenkratzer wie turmhohes Unkraut gesprossen waren, oder besser wie Grabsteine, die das Gelände markieren, wo der gefledderte Leichnam der alten Stadt lag – dort, genau dort verpatzen hochrangige Manager die einfachsten Schläge; und blicken Sie hinauf, von den höheren Etagen wehen Büschel gepeinigten Haars herunter, das vormals auf Direktorenköpfen wuchs. Die Aufregung der Produzenten war nur zu verständlich, denn in jenen Tagen der sinkenden Besucherzahlen und der Produktion historischer Seifenopern und zeitgenössischer Hausfrauenschnulzen durch das Fernsehen gab es nur einen Namen, der, wenn er über einem Filmtitel prangte, immer noch eine todsichere, hundertprozentige Garantie für einen Ultrahit, eine Supersensation bedeutete, und der Träger besagten Namens war abgereist, nach oben, nach unten oder zur Seite, jedenfalls unzweifelhaft und unbestreitbar verduftet...

Nachdem Telefone, Motorradfahrer, Polizisten, Froschmänner und Boote, die den Hafen mit Netzen nach seiner Leiche absuchten, sich nach Kräften, jedoch vergeblich bemüht hatten, begann man, in der ganzen Stadt Totenklagen im Gedenken an den erloschenen Star anzustimmen. Auf einer der sieben ausgestorbenen Bühnen der Rama-Studios entbot ihm Miss Pimple Billimoria, die neuentdeckte, extrascharfe Sexbombe – sie ist keine dumme, geschwätzige Mamsell, sondern ’ne flotte Puppe mit ’nem irren Fahrgestell –, in das verschleierte Nichts einer Tempeltänzerin gehüllt und unter sich windenden Pappfiguren kopulierender Tantra-Gestalten aus der Chandela-Zeit postiert – in der Erkenntnis, daß ihr großer Auftritt nicht sein sollte, daß ihr Durchbruch zu Bruch gegangen war –, einen boshaften Abschiedsgruß vor einem Publikum aus Tontechnikern und Elektrikern, die zynische Bidis rauchten. Begleitet von einer stumm bekümmerten Ayah, die ihr stets zur Seite stand, versuchte Pimple es mit Verachtung. »Gott, was für ein Glück, dem Himmel sei Dank«, rief sie. »Heute wäre nämlich die Liebesszene dran gewesen, tsch, tsch, ich bin fast gestorben bei dem Gedanken, mich diesem Fettsack mit seinem nach faulem Kakerlakendreck stinkenden Atem nähern zu müssen.« Glöckchenschwere Knöchel klingelten bei jedem Aufstampfen. »Verdammt gut für ihn, daß Filme nicht riechen, sonst würde er nicht mal die Rolle eines Aussätzigen kriegen.« An dieser Stelle gipfelte Pimples Monolog in einem derartigen Schwall von Obszönitäten, daß die Bidi-Raucher sich erstmals aufrichteten und lebhaft begannen, Pimples Vokabular mit dem der berüchtigten Bandenführerin Phoolan Devi zu vergleichen, deren Flüche im Handumdrehen Gewehrläufe zum Schmelzen bringen und die Kugelschreiber der Journalisten in Gummi verwandeln konnten.

Abgang Pimple, weinend, ein Opfer der Zensur, unbrauchbares Material auf dem Boden eines Schneideraums. Bergkristalle fielen aus ihrem Nabel, als sie ging, Spiegel ihrer Tränen... was Farishtas Mundgeruch betraf, hatte sie allerdings nicht ganz unrecht; im Gegenteil, sie hatte untertrieben. Gibrils Exhalationen, diese ockerfarbenen Schwefelwolken, hatten ihm immer schon – zusammen mit seinem in der Mitte der Stirn spitz zulaufenden Haaransatz und seinem rabenschwarzen Haar – eher düstere, denn heilig leuchtende Züge verliehen, obwohl er den Namen des Erzengels trug. Nach seinem Verschwinden war man der Ansicht gewesen, daß er leicht zu finden sein müsse – man brauche nur eine halbwegs gute Nase... und eine Woche nachdem er sich abgesetzt hatte, trug ein tragischerer Abgang als der von Pimple Billimoria einiges dazu bei, den teuflischen Gestank zu intensivieren, der sich an den Namen zu heften begann, welcher so lange lieblich geduftet hatte. Man könnte sagen, daß er von der Leinwand herab- und in die Welt hineingeschritten war, und im Leben, anders als im Film, merken die Leute, wenn man stinkt.

Wir sind Geschöpfe der Luft, Wir wurzeln in Träumen Und Wolken, werden wiedergeboren Im Flug. Lebt wohl. Die rätselhaften Zeilen, die von der Polizei in Gibril Farishtas Penthouse gefunden wurden, im obersten Stockwerk des Everest-Vilas-Wolkenkratzers auf dem Malabar Hill, der höchstgelegenen Wohnung im höchsten Gebäude auf dem höchstgelegenen Gelände der Stadt, einem dieser Apartments mit Blick nach zwei Seiten, auf der einen über die abendliche Halskette des Marine Drive und auf der anderen über Scandal Point und das Meer, gestatteten den Zeitungen, ihre Schlagzeilen-Kakophonie fortzusetzen. FARISHTA UNTERGETAUCHT, vermutete Blitz etwas makaber, während Busybee vom Daily GIBRIL VERDUFTET den Vorzug gab. Viele Fotos dieser legendären Residenz wurden veröffentlicht, für die französische Innenarchitekten, die Empfehlungsschreiben von Reza Pahlevi für ihre Arbeiten in Persepolis vorweisen konnten, eine Million Dollar ausgegeben hatten, um in dieser luftigen Höhe die Wirkung eines Beduinenzeltes zu erzielen. Eine weitere Illusion, die durch seine Abwesenheit zerstört wurde; GIBRIL BRICHT SEINE ZELTE AB, gellten die Schlagzeilen, aber war er nach oben, nach unten oder zur Seite verschwunden? Niemand wußte es. In dieser Metropole des Geredes und Geflüsters hörten nicht einmal die schärfsten Ohren etwas Verläßliches. Aber Mrs. Rekha Merchant, die alle Zeitungen las, sich alle Radiomeldungen anhörte und wie gebannt vor den Doordarshan-Fernsehsendungen saß, las aus Farishtas Nachricht etwas heraus, hörte einen Ton, der allen anderen entging, und nahm ihre zwei Töchter und ihren Sohn zu einem Spaziergang auf dem Dach ihres Wohnhauses mit. Das Gebäude hieß Everest-Vilas.

Seine Nachbarin; genauer gesagt, sie wohnte direkt unter ihm. Seine Nachbarin und seine Freundin; warum sollte ich noch mehr sagen? Natürlich füllten sich die Skandalspalten der gehässigen Gazetten der Stadt mit Anspielungen, Anzüglichkeiten und Andeutungen, aber das ist kein Grund, sich auf ihr Niveau zu begeben. Warum Rekhas guten Ruf jetzt in den Schmutz ziehen?

Wer war sie? Reich, gewiß, aber schließlich war Everest Vilas nicht gerade ein Mietshaus in Kurla, oder? Verheiratet, jawohl, seit dreizehn Jahren, mit einem Mann, der eine Größe im Kugellagergeschäft war. Unabhängig, ihre Teppich- und Antiquitätenläden florierten in bester Lage in Colaba. Sie nannte ihre Teppiche Klims und Kliens und die alten Kunstgegenstände Anti-qujus. Ja, und sie war schön, schön auf die harte, glänzende Art jener vergeistigten Bewohner der himmelhohen Häuser der Stadt, Knochen Haut Haltung allesamt Zeugen ihrer langen Trennung von der verarmten, schweren, wuchernden Erde. Alle waren sich darin einig, daß sie ein starker Charakter war, wie ein Fisch aus Lalique-Kristall trank und ihren Hut schamlos auf einen Chola Natraj hängte, daß sie wußte, was sie wollte und wie sie es bekam, und zwar auf der Stelle. Ihr Mann war ein Angsthase mit Geld und ein guter Squashspieler. Rekha Merchant las Gibril Farishtas Abschiedszeilen in der Zeitung, schrieb ihrerseits einen Brief, scharte ihre Kinder um sich, holte den Lift und begab sich himmelwärts (ein Stockwerk), auf daß sich das ihr bestimmte Los erfüllte.

»Vor vielen Jahren«, so lautete ihr Brief, »habe ich aus Feigheit geheiratet. Nun endlich beweise ich Mut.« Sie ließ eine Zeitung auf ihrem Bett liegen, in der Gibrils Mitteilung rot eingekreist und dick unterstrichen war – drei starke Striche, von denen einer voll Wut ein Loch in die Seite gerissen hatte. Natürlich legte sich die Kanaillen-Journaille ins Zeug, überall war zu lesen: LIEBESTRAUM ENDET MIT TODESSPRUNG und SCHÖNHEIT STÜRZTE SICH IN DEN TOD – WEGEN GEBROCHENEM HERZEN. Jedoch:

Vielleicht hatte auch sie der Wiedergeburtsvirus infiziert, und Gibril, der die furchtbare Macht der Metapher nicht erkannte, hatte das Fliegen empfohlen. Um wiedergeboren zu werden, mußt du erst, und sie war ein Geschöpf des Himmels, sie trank Lalique-Champagner, sie wohnte auf dem Everest, und einer ihrer Mit-Olympier war ausgeflogen; und wenn er es konnte, dann konnte auch sie beflügelt und in Träumen verwurzelt sein. Sie schaffte es nicht. Der Lala, der als Türsteher des Everest- Vilas-Komplexes angestellt war, legte ungeniert Zeugnis vor der Öffentlichkeit ab: »Ich spazierte gerade herum, hier, nur auf dem Grundstück, als ich etwas aufschlagen hörte, patsch. Ich drehte mich um. Es war die älteste Tochter. Ihr Schädel war völlig zerschmettert. Ich schaute hinauf und sah den Jungen fallen und dann das jüngere Mädchen. Was soll ich sagen, fast hätten sie mich erschlagen. Ich legte die Hand auf den Mund und ging hin. Das kleine Mädchen wimmerte leise. Dann blickte ich nochmals auf, und da kam die Begum. Ihr Sari blähte sich wie ein großer Ballon, und ihr Haar hatte sich gelöst. Ich sah weg, weil es sich nicht schickte, ihr unter die Kleider zu schauen.«

Rehka und ihre Kinder fielen vom Everest; niemand überlebte. Das Geflüster gab Gibril die Schuld. Lassen wir es für den Augenblick dabei bewenden.

Ach ja, denken Sie daran: Er sah sie nach ihrem Tod. Er sah sie mehrmals. Es dauerte lange, bis die Leute begriffen, wie krank der große Mann war. Gibril, der Star. Gibril, der die Namenlose Krankheit besiegte. Gibril, der den Schlaf fürchtete.

Nachdem er verschwunden war, begannen die allgegenwärtigen Abbildungen seines Gesichts zu verwittern. Auf den riesigen grell bemalten Plakatwänden, von denen er die Volksmenge überblickt hatte, schuppten sich seine trägen Augenlider und blätterten ab, erschlafften mehr und mehr, bis seine Pupillen aussahen wie zwei von Wolken oder von den sanften Messern seiner langen Wimpern durchschnittene Monde. Schließlich fielen die Lider ab und verliehen seinen gemalten Augen einen wilden, rollenden Blick. Vor den Kinopalästen in Bombay sah man kolossale Gibrilfiguren aus Pappmaché, die verrotteten und sich zur Seite neigten. Kraftlos hingen sie an den Stützgerüsten, verloren die Arme, verwelkten, knickten am Hals ein. Seine Fotos auf den Titelseiten der Filmzeitschriften wurden totenblaß, die Augen lösten sich auf, sie verblichen. Zuletzt verschwanden seine Bilder einfach von den gedruckten Seiten, so daß an den Zeitungsständen auf den glänzenden Umschlägen von Celebrity und Society und Illustrated Weekly nichts mehr zu sehen war und die Verleger die Drucker entließen und die Qualität der Druckerschwärze verantwortlich machten. Selbst auf der Leinwand, hoch über den Köpfen seiner Anbeter im Dunkeln, begann die vermeintlich unsterbliche Physiognomie zu verwesen, Blasen zu werfen und auszubleichen; jedesmal, wenn er durch das Filmfenster kam, blockierten die Projektoren unerklärlicherweise, die Filme kamen knirschend zum Stillstand, und die Hitze der kaputten Projektorenlämpchen verbrannte die Zelluloiderinnerung an ihn: ein Stern, zur Supernova geworden, und die alles verzehrenden Flammen nahmen sinnigerweise ihren Ausgang zwischen seinen Lippen.

Es war der Tod Gottes. Oder etwas ganz Ähnliches; hatte nicht dieses überlebensgroße Gesicht, das in der künstlichen Kinonacht über seinen Anhängern schwebte, geleuchtet wie das eines überirdischen Wesens, das irgendwo zumindest auf halbem Wege zwischen dem Sterblichen und dem Göttlichen angesiedelt war? Weiter als auf halbem Weg, hätten viele behauptet, denn Gibril hatte den Großteil seiner einzigartigen Karriere damit verbracht, mit absoluter Überzeugungskraft die zahllosen Gottheiten des Subkontinents in den beliebten, sogenannten »Theologicals« zu verkörpern. Es war Teil des Zaubers seiner Persönlichkeit, daß es ihm gelang, religiöse Grenzen zu überschreiten, ohne Anstoß zu erregen. Blauhäutig wie Krishna tanzte er, die Flöte in der Hand, zwischen glücklichen Gopis und ihren schwereutrigen Kühen; Handflächen nach oben meditierte er in heiterer Gelassenheit (als Gautama) über die Leiden der Menschheit unter einem rachitischen, künstlichen Bodhibaum. Bei jenen seltenen Gelegenheiten, da er vom Himmel herabstieg, ging er nie zu weit, spielte beispielsweise sowohl den Großmogul als auch dessen für seine Listigkeit berühmten Minister im Klassiker Akbar und Birbal. Über eineinhalb Jahrzehnte hatte er für Hunderte Millionen von Gläubigen in diesem Land, in dem bis auf den heutigen Tag die menschliche Bevölkerung die göttliche lediglich in einem Verhältnis übersteigt, das weniger als drei zu eins beträgt, das annehmbarste und sofort erkennbare Antlitz Gottes dargestellt. Für viele seiner Fans hatte die Grenze, die den Schauspieler und seine Rolle trennt, seit langem aufgehört zu existieren.

Die Fans, ja, und? Wie stand es mit Gibril?

Dieses Gesicht. Im wirklichen Leben, auf Lebensgröße reduziert, unter gewöhnlichen Sterblichen, offenbarte es sich als eigenartig unspektakulär. Die tief herabhängenden Lider verliehen ihm bisweilen einen erschöpften Ausdruck. Er hatte zudem eine etwas derbe Nase, der Mund war zu voll, um markant zu sein, die Ohrläppchen waren lang wie die unreifen, gekerbten Früchte des Brotbaums. Ein höchst gewöhnliches Gesicht, ein höchst sinnliches Gesicht. In dem in letzter Zeit die Furchen zu erkennen waren, die seine eben erst überstandene, beinahe tödliche Krankheit gezogen hatte. Und dennoch, trotz aller Gewöhnlichkeit und Entkräftung, war es ein Gesicht, das untrennbar mit Heiligkeit, Vollkommenheit, Gnade verbunden war: Stoff, aus dem die Götter sind. Über Geschmack läßt sich nicht streiten, so ist es eben. Jedenfalls werden Sie mir beipflichten, daß es nicht so überraschend ist, wenn ein solcher Schauspieler (vielleicht jeder Schauspieler, selbst Chamcha, aber vor allem er) besessen ist von Avataras, wie dem vielgestaltigen Wischnu. Wiedergeburt: auch das ist Götterstoff.

Oder, aber, andererseits... nicht immer. Es gibt auch weltliche Wiedergeburten. Gibril Farishta wurde geboren als Ismail Najmuddin in Poona, dem britischen Poona, während der letzten Tage des Britischen Weltreiches, lange vor dem Pune des Rajneesh und so weiter (Pune, Vadodara, Mumbai; selbst Städte können heutzutage Künstlernamen annehmen). Ismail nach dem Kind, das mit dem Opfer Ibrahims zu tun hatte, und Najmuddin, Stern des Glaubens; er gab einen außerordentlichen Namen auf, als er den des Engels annahm.

Später, als die Bostan in der Gewalt der Entführer war und die Passagiere, die um ihre Zukunft fürchteten, in ihre Vergangenheit flüchteten, vertraute Gibril Saladin Chamcha an, daß er mit der Wahl des Pseudonyms auf seine Weise seine tote Mutter geehrt hatte, »meine Mummyji, Spoono, meine eine und einzige Mamo, denn sie war’s, die mit der ganzen Engelsgeschichte angefangen hat, ihren persönlichen Engel nannte sie mich, farishta, weil ich offenbar so verdammt lieb war, ob du es glaubst oder nicht, ich war ein verdammt goldiges Kind.«

Poona konnte ihn nicht halten. In zartem Kindesalter brachte man ihn in die Hure Stadt, seine erste Reise; sein Vater bekam einen Job bei den leichtfüßigen Vorbildern künftiger Rollstuhlquartette, den Essensträgern oder Dabbawallas von Bombay. Und Ismail, der farishta, trat mit dreizehn in die Fußstapfen seines Vaters.

Gibril, Gefangener an Bord der AI-420, verfiel in verzeihliche Schwärmereien, fixierte Chamcha mit leuchtenden Augen und erläuterte ihm die Geheimnisse des Codesystems der Läufer, schwarzes Hakenkreuz roter Kreis gelber Schrägstrich Punkt, lief im Geiste die ganze Strecke von zu Hause bis zu einem Büroschreibtisch; dieses unglaubliche System, mit dessen Hilfe zweitausend Dabbawallas, jeden Tag über hunderttausend Henkelmänner ablieferten, und an einem schlechten Tag, Spoono, verirrten sich vielleicht fünfzehn, wir waren fast alle Analphabeten, aber die Zeichen waren unsere Geheimsprache.

Die Bostan kreiste über London, bewaffnete Terroristen patrouillierten in den Gängen, die Lichter in den Passagierabteilen waren ausgeschaltet, doch Gibrils Energie erhellte das Halbdunkel. Auf der fleckigen Filmleinwand, auf der früher die unvermeidliche Ungeschicklichkeit von Walter Matthau kummervoll in die ätherische Allgegenwart von Goldie Hawn gestolpert war, bewegten sich Schatten, projiziert von den wehmütigen Erinnerungen der Geiseln, und der am schärfsten umrissene war dieser hochaufgeschossene Halbwüchsige, Ismail Najmuddin, Mamas Engel mit der Gandhikappe, der mit dem Tiffins durch die Stadt lief. Der junge Dabbawalla sprang behende durch das Gedränge der Schatten, denn er war an solche Verhältnisse gewöhnt, denk nur, Spoono, stell dir vor, dreißig, vierzig Tiffins auf einem langen Holztablett auf dem Kopf, und wenn der Zug stehenbleibt, hast du vielleicht eine Minute Zeit, um dich hinein- oder hinauszuquetschen, und dann rennst du durch die Straßen, dahin dahin, yaar, zwischen Lastautos Bussen Motorrollern Fahrrädern und allem möglichen, eins-zwei, eins-zwei, Essen, Essen, die Dabbas müssen durchkommen, und im Monsunregen die Bahnlinie entlang, wenn der Zug steckengeblieben ist, oder bis zur Hüfte im Wasser auf einer überfluteten Straße, und es gab Banden, Salad Baba, wirklich, organisierte Banden, die es auf die Dabbas abgesehen hatten, das ist eine hungrige Stadt, Herzchen, das brauch’ ich dir nicht zu sagen, aber wir wurden mit ihnen fertig, wir waren überall, wußten alles, kein Dieb entwischte unseren Augen und Ohren, wir gingen nie zur Polizei, wir paßten selbst auf uns auf.

Am Abend kehrten Vater und Sohn todmüde zu ihrer Baracke neben der Rollbahn des Flughafens von Santa Cruz zurück, und wenn die Mutter Ismail kommen sah, erleuchtet vom Grün Rot Gelb der startenden Flugzeuge, sagte sie immer, daß all ihre Träume wahr würden, wenn sie ihn nur ansähe; das war das erste Anzeichen dafür, daß etwas Besonderes an Gibril war, denn von Anbeginn an, so schien es, konnte er die geheimsten Wünsche der Menschen erfüllen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie er das machte. Seinem Vater, Najmuddin senior, schien es nie etwas auszumachen, daß seine Frau nur Augen für ihren Sohn hatte, daß die Füße des Jungen allabendlich massiert wurden, wogegen die des Vaters ungestreichelt blieben. Ein Sohn ist ein Segen, und ein Segen erfordert die Dankbarkeit der Gesegneten. Naima Najmuddin starb. Ein Bus überfuhr sie, und damit hatte es sich, Gibril war nicht in der Nähe, um ihre Gebete um Leben zu erhören. Weder Vater noch Sohn sprachen je über ihre Trauer. Schweigend, als ob es üblich wäre und von ihnen erwartet würde, begruben sie ihren Kummer unter zusätzlicher Arbeit und nahmen einen unausgesprochenen Wettkampf auf, wer die meisten Dabbas auf dem Kopf tragen konnte, wer die meisten neuen Verträge pro Monat abschließen, wer schneller laufen konnte, als ob größere Mühe größere Liebe bedeuten würde. Wenn er seinen Vater am Abend sah, mit den knotig hervortretenden Adern im Nacken und an den Schläfen, verstand Ismail Najmuddin, welchen Groll der ältere Mann gegen ihn hegte und wie wichtig es für den Vater war, den Sohn zu besiegen und so die widerrechtlich geraubte Vorrangstellung in der Liebe seiner toten Frau wiederzugewinnen. Nachdem er das begriffen hatte, nahm sich der Junge mehr Zeit, aber der Eifer seines Vaters war unerbittlich, und sehr bald wurde er befördert, war nicht länger ein einfacher Läufer, sondern einer der für die Organisation zuständigen Muqaddams. Als Gibril neunzehn war, wurde Najmuddin senior Mitglied der Essensläufergilde, der Bombay Tiffin Carriers’ Association, und als Gibril zwanzig war, war sein Vater tot, urplötzlich von einem Schlaganfall getroffen, der ihn nahezu auseinanderriß. »Er hat sich in Grund und Boden gelaufen«, sagte der Generalsekretär der Gilde, Babasaheb Mhatre persönlich. »Der arme Teufel, es ist ihm einfach der Dampf ausgegangen.« Aber das Waisenkind wußte es besser. Gibril wußte, daß sein Vater schließlich ausdauernd und lange genug gelaufen war, um die Grenze zwischen den Welten abzutragen, er war eindeutig aus seiner Haut gefahren und in die Arme seiner Frau gerannt, der er damit ein für allemal die Überlegenheit seiner Liebe bewiesen hatte. Manche Auswanderer sind froh abzureisen.

Babasaheb Mhatre saß in einem blauen Büro hinter einer grünen Tür über einem labyrinthischen Basar, eine ehrfurchtgebietende Gestalt, fett wie ein Buddha, eine der bedeutenden, treibenden Kräfte der Riesenstadt, er besaß die geheimnisvolle Gabe, völlig reglos zu verharren, sich nicht aus dem Zimmer zu rühren, und dennoch an allen wichtigen Orten zu sein und mit jedem zusammenzutreffen, der in Bombay etwas zu sagen hatte. Am Tag, nachdem der Vater des jungen Ismail über die Grenze zu Naima gelaufen war, rief der Babasaheb den jungen Mann zu sich. »Also? Ganz durcheinander, oder wie?« Die Antwort, mit niedergeschlagenen Augen: ji, danke, Babaji, es geht. »Halt die Klappe«, sagte Babasaheb Mhatre. »Ab heute wohnst du bei mir.« Aber aber, Babaji ... »Kein Aber. Ich habe meiner Frau schon Bescheid gesagt. Ich habe gesprochen.« Bitte um Entschuldigung Babaji aber wie was warum? »Ich habe gesprochen.« Gibril Farishta erfuhr nie, warum der Babasaheb beschlossen hatte, Mitleid mit ihm zu haben und ihn von den Straßen ohne Zukunft aufzulesen, aber nach einer Weile dämmerte es ihm. Mrs. Mhatre war eine dünne Frau, wie ein Bleistift neben dem Tintenfaß von Babasaheb, aber sie war so voller Mutterliebe, daß sie eigentlich dick wie eine Kartoffel hätte sein müssen. Wenn der Baba nach Hause kam, steckte sie ihm eigenhändig Süßigkeiten in den Mund, und abends konnte der neue Mitbewohner hören, wie der große Generalsekretär der BTCA protestierte: Laß mich, Frau, ich kann mich selbst ausziehen. Beim Frühstück fütterte sie Mhatre mit großen Malzportionen, und bevor er zur Arbeit ging, bürstete sie ihm das Haar. Sie waren ein kinderloses Ehepaar, und der junge Najmuddin begriff, daß der Babasaheb die Last mit ihm teilen wollte. Komischerweise jedoch behandelte die Begum den jungen Mann nicht wie ein Kind. »Aber er ist doch erwachsen«, sagte sie zu ihrem Mann, als der arme Mhatre flehte: »Gib dem Jungen den verdammten Löffel Malz.« Ja, erwachsen, »wir müssen einen Mann aus ihm machen, Liebster, wir dürfen ihn nicht verzärteln.«

»Verdammt noch mal«, explodierte der Babasaheb, »warum machst du es dann mit mir?« Mrs. Mhatre brach in Tränen aus. »Aber du bist doch mein Alles«, schluchzte sie, »du bist mein Vater, mein Geliebter und auch mein Baby. Du bist mein Herr und mein Säugling. Wenn ich dir mißfalle, dann habe ich kein Leben.«

Babasaheb Mhatre ergab sich in sein Schicksal und schluckte den Löffel Malz hinunter.

Er war ein gütiger Mann, was er unter Beschimpfungen und polterndem Benehmen verbarg. Um den verwaisten Jungen zu trösten, sprach er im blauen Büro mit ihm über die Philosophie der Wiedergeburt und überzeugte ihn davon, daß der Wiedereintritt seiner Eltern irgendwo anders schon geplant war, außer natürlich sie hätten ein so frommes Leben geführt, daß sie die höchste Gnade erlangt hätten. Es war also Mhatre, der ihn auf die Sache mit der Wiedergeburt brachte, und nicht nur Wiedergeburt. Der Babasaheb war ein Amateurokkultist, ein Tischbeinklopfer und Flaschengeistbeschwörer. »Aber das habe ich aufgegeben«, sagte er zu seinem Schützling unter vielen angemessen melodramatischen Krümmungen, Gesten und Stirnrunzeln, »nachdem ich den Schreck meines Lebens bekommen habe.«

Einmal (so erzählte Mhatre) hatte ein höchst kooperativer Geist die Flasche aufgesucht, ein ausgesprochen freundlicher Geselle, weißt du, also kam mir der Gedanke, ihm ein paar wesentliche Fragen zu stellen. Gibt es einen Gott? Und die Flasche, die wie eine Maus oder so im Kreis gelaufen war, blieb auf der Stelle stehen, mitten auf dem Tisch, ohne sich zu rühren, futsch, aus. Na ja, okay, sagte ich, wenn du diese Frage nicht beantworten willst, versuch’s doch mit der, und ich fragte ganz direkt: Gibt es einen Teufel? Daraufhin begann die Flasche – babrebap! – zu vibrieren – spitz die Ohren! – anfangs langsamlangsam, dann schneller-schneller, wie ein Wackelpudding, bis sie – ai-hai! – vom Tisch sprang, in die Luft, auf die Seite fiel und – o-ho! – in tausendundein Stück zerbrach, kaputt. Glaub es oder glaub es nicht, sagte der Babasaheb Mhatre zu seinem Mündel, aber dortunddamals lernte ich meine Lektion: Misch dich nicht ein in Dinge, Mhatre, von denen du nichts verstehst.

Diese Geschichte hinterließ einen tiefen Eindruck im Bewußtsein des jungen Zuhörers, denn schon vor dem Tod seiner Mutter war er von der Existenz einer übernatürlichen Welt überzeugt gewesen. Manchmal, wenn er um sich blickte, besonders in der Nachmittagshitze, wenn die Luft klebrig wurde, schien die sichtbare Welt, ihre Konturen und Bewohner und Gegenstände, wie eine Fülle von heißen Eisbergen in die Atmosphäre zu ragen, und er stellte sich vor, daß sich alles unter der Oberfläche der brodelnden Luft fortsetzte: Menschen, Autos, Hunde, Filmreklamen, Bäume, wobei neun Zehntel ihrer Realität seinen Augen verborgen waren. Wenn er blinzelte, verblaßte die Illusion, aber die Empfindung davon verließ ihn nie. Er wuchs auf im Glauben an Gott, Engel, Teufel, Afrits, Dschinns, sie waren ihm so selbstverständlich wie Ochsenkarren oder Laternenpfähle, und es kam ihm wie ein Versagen seiner Augen vor, daß er noch nie einen Geist gesehen hatte. Er träumte davon, einen magischen Optiker zu finden und sich bei ihm eine grüngetönte Brille zu kaufen, die seine beklagenswerte Kurzsichtigkeit korrigieren würde, und dann würde er durch die dicke, blendende Luft hindurch bis zur märchenhaften Welt darunter blicken.

Von seiner Mutter Naima Najmuddin hatte er viele Geschichten über den Propheten gehört, und falls sich Ungenauigkeiten in ihre Versionen geschlichen hatten, so interessierte ihn nicht, um welche es sich handelte. »Was für ein Mann!« dachte er. »Welcher Engel würde nicht gern mit ihm sprechen?« Manchmal jedoch ertappte er sich bei gotteslästerlichen Gedanken, zum Beispiel wenn seine schlaftrunkene Phantasie, während er auf dem Feldbett im Haus des Mhatre einschlief, ohne es zu wollen, seine eigene Lage mit der des Propheten zu vergleichen begann, als dieser, verwaist und mittellos, als Geschäftsführer der reichen Witwe Khadija reüssierte und sie schließlich sogar heiratete. Während er in den Schlaf glitt, sah er sich auf einem mit Rosen bestreuten Podest sitzen, albern und schüchtern lächelnd unter dem Sari-Pallu, den er sittsam vor das Gesicht gezogen hatte, während sein neuer Ehemann, Babasaheb Mhatre, sich ihm liebevoll zuneigte, um den Schleier zu entfernen und seine Gesichtszüge in einem in seinem Schoß liegenden Spiegel zu betrachten. Dieser Traum, den Babasaheb zu heiraten, weckte ihn und ließ ihn vor heißer Scham erröten, und dann begann er, sich über die Unlauterkeit seines Wesens Sorgen zu machen, die so schreckliche Phantasiebilder hervorzurufen vermochte.

Meist jedoch war sein Glaube etwas Unauffälliges, ein Teil von ihm, der nicht mehr Aufmerksamkeit erforderte als irgendein anderer. Als Babasaheb Mhatre ihn zu sich nahm, war das für den jungen Mann die Bestätigung, daß er nicht allein auf der Welt war, daß etwas sich um ihn kümmerte; deshalb war er nicht wirklich überrascht, als der Babasaheb ihn am Morgen seines einundzwanzigsten Geburtstags ins blaue Büro rief und an die Luft setzte, ohne Bereitschaft zu zeigen, sich irgendwelche Bitten anzuhören.

»Du bist gefeuert«, sagte Mhatre mit Nachdruck und strahlte.

»Hinausgeworfen, du hast ausgespielt. Gekündigt.«

»Aber Onkel –«

»Halt die Klappe.«

Dann machte der Babasaheb dem Waisen das größte Geschenk seines Lebens, indem er ihn davon unterrichtete, daß für ihn ein Termin in den Studios des legendären Filmmagnaten D. W. Rama vereinbart worden war, zwecks Probeaufnahmen. »Um den Schein zu wahren«, sagte der Babasaheb. »Rama ist ein guter Freund von mir, und wir haben darüber gesprochen. Eine kleine Rolle für den Anfang, alles weitere liegt an dir. Jetzt geh mir aus den Augen und hör auf, so ergeben dreinzuschauen, das ist nicht angemessen.«

»Aber Onkel –«

»Ein Junge wie du sieht viel zu gut aus, um sein ganzes Leben Tiffins auf dem Kopf zu tragen. Mach dich auf die Socken, verschwinde, und werde ein schwuler Filmschauspieler. Vor fünf Minuten habe ich dich entlassen.«

»Aber Onkel –«

»Ich habe gesprochen. Danke deinem Glücksstern.«

Er wurde zu Gibril Farishta, aber es dauerte vier Jahre, bis er ein Star wurde; zunächst absolvierte er seine Lehrzeit in einer Reihe von kleineren komischen Klamaukrollen. Er blieb ruhig, gelassen, als könnte er in die Zukunft blicken, und sein offensichtlicher Mangel an Ehrgeiz machte ihn in dieser selbstsüchtigsten aller Branchen zu einem Außenseiter. Man hielt ihn für dumm oder arrogant oder beides. Und während dieser vier Jahre in der Wüste gelang es ihm nicht, auch nur eine einzige Frau auf den Mund zu küssen.

Auf der Leinwand spielte er den Betrogenen, den Dummkopf, der die Schöne liebt und nicht begreift, daß sie sich um nichts in der Welt mit ihm einlassen würde, den komischen Onkel, den armen Verwandten, den Dorftrottel, den Diener, den erfolglosen Gauner, keine einzige Rolle, die für eine Liebesszene in Frage gekommen wäre. Die Frauen traten ihn mit Füßen, ohrfeigten ihn, foppten ihn, lachten ihn aus, doch niemals warfen sie ihm auf dem Zelluloid einen Blick zu, noch sangen oder tanzten sie für ihn mit Kinoliebe im Blick. Außerhalb der Leinwand lebte er allein in zwei leeren Zimmern in der Nähe der Studios und versuchte, sich vorzustellen, wie Frauen aussahen, wenn sie nichts anhatten. Um sich von den Themen Liebe und Begierde abzulenken, bildete er sich weiter, wurde zu einem allesfressenden Autodidakten, der die metamorphen Mythen der klassischen Antike verschlang, die Avataras des Jupiter, den Jungen, der zu einer Blume wurde, die Spinnenfrau, Circe, alles; und die Theosophie von Annie Besant und die Feldtheorie und die Episode der Satanischen Verse aus einem frühen Stadium der Laufbahn des Propheten und Mohammeds Haremspolitik nach seiner triumphalen Rückkehr nach Mekka; und den Surrealismus der Tageszeitungen, in denen Schmetterlinge jungen Mädchen in den Mund flogen und darum baten, verzehrt zu werden, und Kinder ohne Gesichter geboren wurden, und Jungen in undenkbarer Ausführlichkeit von früheren Inkarnationen träumten, zum Beispiel als goldenes Schloß voller Edelsteine. Er fraß sich voll mit Gott weiß was, aber er konnte nicht leugnen, daß er in den frühen Morgenstunden seiner Schlaflosigkeit erfüllt war von etwas, das noch nie genützt worden war, das er noch nicht zu nutzen verstand, nämlich von Liebe. In seinen Träumen wurde er gepeinigt von Frauen von unerträglicher Lieblichkeit und Schönheit, und deshalb blieb er lieber wach und zwang sich, einen Teil seines Allgemeinwissens zu wiederholen, um das tragische Gefühl auszulöschen, mit einer größeren Liebesfähigkeit als üblich ausgestattet zu sein, ohne diese auch nur einer einzigen Person auf der Welt darbieten zu können.

Sein großer Durchbruch gelang ihm mit dem Populärwerden der theologischen Filme. Sobald sich das Rezept für Filme, die auf den Puranas basierten und denen die übliche Mischung von Liedern, Tänzen, komischen Onkeln und so weiter beigefügt war, bezahlt gemacht hatte, bekam jeder Gott im Pantheon seine oder ihre Chance, ein Star zu werden. Als D. W. Rama eine Produktion plante, die auf die Geschichte von Ganesh zurückging, hatte keiner der damals tonangebenden Kassenmagneten Lust, einen ganzen Film über versteckt im Inneren eines Elefantenkopfs zu agieren. Gibril ergriff diese Chance mit beiden Händen. Es war sein erster Erfolg, Ganpati Baba, und plötzlich war er ein Superstar, aber nur mit Rüssel und riesigen Ohren. Nachdem er in sechs Filmen den elefantenköpfigen Gott verkörpert hatte, gestattete man ihm, die dicke, schwankende graue Maske ab- und statt dessen einen langen behaarten Schwanz anzulegen, um in einer Serie von Abenteuerfilmen den Affenkönig Hanuman zu spielen, die einer gewissen billigen, aus Hongkong stammenden Fernsehserie mehr verdankte als dem Ramayana. Diese Serie erwies sich als so beliebt, daß Affenschwänze für die jungen Stutzer der Stadt bald zu einem Muß wurden, wenn sie zu Partys gingen, die von Klosterschülerinnen besucht wurden, die man ihrerseits wegen der Bereitschaft, mit einem Knall hochzugehen, »Knallfrösche« nannte.

Nach Hanuman gab es für Gibril kein Halten mehr, und sein phänomenaler Erfolg vertiefte seinen Glauben an einen Schutzengel. Aber er führte auch zu einer eher bedauerlichen Entwicklung.

(Ich sehe schon, daß ich doch die Sache mit der armen Rekha ausplaudern muß.)

Noch bevor er den unechten Kopf mit dem falschen Schwanz vertauschte, hatte er bei Frauen eine unwiderstehliche Attraktivität erworben. Der verführerische Reiz seines Ruhms war so groß geworden, daß ihn mehrere dieser jungen Damen baten, bei der Liebe doch die Ganesh-Maske aufzubehalten, aber aus Respekt vor der Würde des Gottes weigerte er sich. Infolge der Unschuld, in der er aufgewachsen war, konnte er damals nicht zwischen Qualität und Quantität unterscheiden, und er hatte das Bedürfnis, Versäumtes nachzuholen. Er hatte so viele Bettgenossinnen, daß es nichts Ungewöhnliches war, wenn er ihre Namen bereits vergessen hatte, noch bevor sie aus dem Zimmer waren. Er wurde nicht nur zu einem Schürzenjäger der schlimmsten Sorte, sondern lernte auch die Kunst der Verstellung, denn ein Mann, der Götter darstellte, mußte über jeden Tadel erhaben sein. So geschickt verheimlichte er sein skandalöses, ausschweifendes Leben, daß sein alter Gönner, Babasaheb Mhatre, ihn, ein Jahrzehnt nachdem er einen jungen Dabbawalla in die Welt der Illusion, des Schwarzgeldes und der Lust hinausgeschickt hatte, auf dem Totenbett bat, sich zu verheiraten, zum Beweis, daß er ein Mann sei. »Herrgott noch mal«, sprach der Babasaheb, »als ich damals sagte, du sollst schwul werden, hab’ ich doch nicht im Traum geglaubt, daß du das ernst nehmen würdest, schließlich hat der Respekt vor dem Alter seine Grenzen.« Gibril hob die Hände und schwor, daß er nichts derart Schändliches sei und daß er, wenn ihm das richtige Mädchen über den Weg laufe, natürlich bereitwillig Hochzeit feiern würde. »Worauf wartest du? Auf eine Göttin? Greta Garbo, Gracekali, oder wen?« rief der alte Mann und spuckte Blut, aber Gibril verließ ihn mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen, das ihm zu sterben erlaubte, ohne daß seine Seele gänzlich Frieden gefunden hätte.

Der Lawine von Sex, die Gibril Farishta überrollt hatte, war es zuzuschreiben, daß sein größtes Talent so tief begraben wurde, daß es leicht für immer hätte verlorengehen können, nämlich sein Talent zu echter, tiefer, rückhaltloser Liebe, der seltenen und zarten Gabe, die er nie hatte entfalten können. Als seine Krankheit ausbrach, hatte er die Pein nahezu vergessen, die er wegen seiner Sehnsucht nach Liebe empfunden hatte und die wie ein Messer in seinem Fleisch stak. Jetzt, am Ende jeder durchturnten Nacht, schlief er tief und fest, als wäre er nie von Traumfrauen gequält worden, als hätte er nie die Hoffnung gehegt, sein Herz zu verlieren.

»Dein Problem«, sagte Rekha Merchant, als sie in den Wolken Gestalt annahm, »besteht darin, daß alle dir stets vergeben haben. Gott allein weiß, warum, aber du bist immer mit heiler Haut davongekommen, sogar Mord hast du dir leisten können. Niemand hat dich für das, was du getan hast, je zur Verantwortung gezogen.« Dem hatte er nichts entgegenzusetzen. »Gottesgeschenk«, schrie sie ihn an, »keine Ahnung, was du geglaubt hast, woher du kommst, aus der Gosse kommst du, wer weiß, was für Krankheiten du angeschleppt hast.«

Aber so waren die Frauen eben, dachte er damals, sie waren die Gefäße, in die er sich ergießen konnte, und wenn er weiterzog, dann sahen sie ein, daß er seiner Natur gemäß handelte, und vergaben ihm. Und es stimmte: daß niemand sich über sein Fortgehen beklagte, über seine tausendundeine Gedankenlosigkeit, wie viele Abtreibungen, fragte Rekha zwischen den Wolken, wie viele gebrochene Herzen. In all den Jahren war er der Nutznießer der grenzenlosen Großzügigkeit der Frauen, aber er war auch ihr Opfer, denn ihre Vergebung ermöglichte die tiefste und süßeste aller Verderbtheiten, nämlich die Vorstellung, daß er kein Unrecht beging.

Rekha: Sie trat in sein Leben, als er das Penthouse in Everest-Vilas kaufte und sie sich erbötig machte, ihm in ihrer Eigenschaft als Nachbarin und Geschäftsfrau ihre Teppiche und Antiquitäten zu zeigen. Ihr Mann war auf einem internationalen Kongreß von Kugellagerfabrikanten in Göteborg, Schweden, und während seiner Abwesenheit lud sie Gibril in ihre Wohnung ein, die ausgestattet war mit steinernem Gitterwerk aus Jaisalmar, holzgeschnitztem Geländer aus Kerala-Palästen und einer steinernen Mogul-Chhatri oder Kuppel, die in einen kleinen sprudelnden Pool umgewandelt worden war; während sie ihm französischen Champagner einschenkte, lehnte sie sich gegen Marmorwände und spürte die kühlen Gesteinsadern in ihrem Rücken. Als er am Champagner nippte, zog sie ihn auf, zweifellos sollten Götter keinen Alkohol zu sich nehmen, und er antwortete mit einem Satz, den er einmal in einem Interview mit dem Aga Khan gelesen hatte, ach, wissen Sie, Champagner ist das nur nach außen hin, sobald er meine Lippen berührt, verwandelt er sich in Wasser. Danach dauerte es nicht lange, bis sie seine Lippen berührte und in seinen Armen dahinschmolz. Als ihre Kinder mit der Ayah aus der Schule kamen, war sie wieder tadellos gekleidet und frisiert, saß mit ihm im Salon und verriet ihm die Geheimnisse des Teppichhandels, gestand, daß Kunstseide nichts mit Kunst, sondern mit Künstlichkeit zu tun habe, und riet ihm, sich nicht von ihrer Broschüre täuschen zu lassen, in der ein Teppich angepriesen wurde, dessen Wolle vom Hals junger Lämmer stammte, was, müssen Sie wissen, nichts anderes zu bedeuten hat als minderwertige Wolle, Werbung, was soll man machen, so ist es eben.

Er liebte sie nicht, war ihr nicht treu, vergaß ihren Geburtstag, rief sie nicht an, kreuzte bei ihr auf, wenn es infolge der Anwesenheit von Dinnergästen aus der Welt des Kugellagers äußerst ungelegen war, und wie alle anderen verzieh sie ihm. Aber ihre Vergebung war nicht die stumme, duckmäuserische Nachsicht, die die anderen mit ihm übten. Rekha führte sich auf wie eine Wahnsinnige, machte ihm die Hölle heiß, sie brüllte ihn an und verfluchte ihn als nichtsnutzigen Lafanga und Haramzada und Salah, und – in extremis – zieh sie ihn sogar der unmöglichen Tat, seine eigene Schwester zu vögeln, die er gar nicht hatte. Sie schonte ihn nicht, beschuldigte ihn, ein oberflächliches Geschöpf zu sein, wie eine Filmleinwand, und dann verzieh sie ihm doch und erlaubte ihm, ihre Bluse aufzuknöpfen. Gibril konnte der theatralischen Vergebung Rekha Merchants nicht widerstehen, die ihn um so mehr rührte, als ihre eigene Position nicht makellos war, das heißt, wegen ihrer Untreue gegenüber dem Kugellagerkönig; Gibril überging dies taktvoll und nahm die verbalen Prügel wie ein Mann auf sich. Während die Begnadigungen der anderen Frauen ihn kaltließen und er sie in dem Augenblick vergaß, da sie geäußert wurden, kam er immer wieder zu Rekha zurück, damit sie ihn beschimpfte und dann tröstete, wie nur sie es verstand.

Dann wäre er fast gestorben.

Er filmte in Kanya Kumari, stand auf der äußersten Spitze Asiens und drehte eine Kampfszene auf Kap Komorin, an der Stelle, wo wahrhaftig drei Ozeane ineinanderzutosen scheinen. Gerade als drei Wellenberge aus dem Westen Osten Süden anrollten und zu einem gewaltigen Applaus von Wasserhänden zusammenbrandeten, erhielt Gibril einen Faustschlag auf die Kinnlade, perfekt getimt, kippte auf der Stelle um und fiel nach hinten in tri-ozeanische Gischt. Er stand nicht wieder auf.

Zunächst beschuldigte jeder den hünenhaften englischen Stuntman Eustace Brown, der ihm den Hieb versetzt hatte. Dieser protestierte heftig. War er nicht derjenige, der in vielen theologischen Filmen den Gegenspieler von Premierminister N. T. Rama Rao gemimt hatte? Hatte er nicht die Kunst perfektioniert, den alten Mann im Zweikampf gut aussehen zu lassen, ohne ihm weh zu tun? Hatte er sich je darüber beklagt, daß NTR seine Schläge nie nur vortäuschte, so daß er, Eustace, am Ende unweigerlich am ganzen Körper grün und blau war, dumm und dämlich geschlagen von einem kleinen alten Kerl, den er zum Gabelfrühstück hätte verspeisen können, aufs Brot gestrichen, und hatte er jemals, auch nur ein einziges Mal, seine Geduld verloren? Na also. Wie konnte dann irgend jemand glauben, er würde dem unsterblichen Gibril auch nur ein Haar krümmen? Sie feuerten ihn trotzdem, und die Polizei brachte ihn für alle Fälle hinter Schloß und Riegel.

Aber es war nicht der Faustschlag, der Gibril niedergestreckt hatte. Nachdem der Star von einem eigens für diesen Zweck bereitgestellten Flugzeug der Luftwaffe in das Breach-Candy-Krankenhaus nach Bombay geflogen worden war, nachdem unzählige Untersuchungen nahezu nichts ergeben hatten und während er bewußtlos dalag, im Sterben, mit einem Blutbild, das von den normalen fünfzehn auf mörderische vier Komma zwei abgesunken war, stellte sich ein Sprecher des Krankenhauses auf den breiten weißen Stufen des Breach Candy der nationalen Presse. »Es ist uns ein völliges Rätsel«, gab er bekannt. »Ein Akt Gottes, wenn man so will.«

Gibril Farishta litt ohne ersichtlichen Grund an inneren Blutungen und war schlicht und einfach dabei, in der eigenen Haut zu verbluten. Im schlimmsten Augenblick begann das Blut, aus Rektum und Penis auszutreten, und es schien, als würde es jeden Moment sturzbachartig aus Nase, Ohren und Augenwinkeln strömen. Sieben Tage lang blutete er, erhielt Transfusionen und jedes der Medizin bekannte Gerinnungsmittel, einschließlich einer konzentrierten Form von Rattengift, und obwohl die Behandlung eine geringfügige Besserung zur Folge hatte, wurde er von den Ärzten aufgegeben.

Ganz Indien wachte an Gibrils Krankenbett. Sein Zustand war die Hauptmeldung jeder Nachrichtensendung im Radio, war Gegenstand stündlicher Kurzmeldungen im nationalen Fernsehen, und die Menge, die sich in der Warden Road versammelt hatte, war so groß, daß die Polizei sie mit Lathis zerstreuen mußte und Tränengas, das sie einsetzten, obwohl jeder einzelne der halben Million Trauernden ohnehin schon weinte und wehklagte. Die Premierministerin sagte ihre Termine ab, bestieg ihr Flugzeug und stattete ihm einen Besuch ab. Ihr Sohn, der Pilot, saß in Farishtas Zimmer und hielt des Schauspielers Hand. Besorgnis erfaßte die Nation, denn wenn Gott einen solchen Akt der Vergeltung an seiner meistgefeierten Inkarnation verübte, was hielt er dann für den Rest des Landes in petto? Wenn Gibril starb, würde dann Indien nicht bald folgen müssen? In den Moscheen und Tempeln der Nation beteten dicht gedrängt die Massen, nicht nur für das Leben des sterbenden Schauspielers, sondern für die Zukunft, für sich.

Wer besuchte Gibril nicht im Krankenhaus? Wer schrieb nie, rief nie an, sandte keine Blumen, schickte ihm keine köstlichen selbstgemachten Speisen? Während viele Verehrerinnen ihm ungeniert die besten Wünsche zur Genesung und Lamm-Pasandas schickten, hielt sich die, die ihn am meisten liebte, zurück, über jeden Verdacht erhaben für ihr Kugellager von einem Gatten. Rekha Merchant legte ihr Herz in Ketten und benahm sich, als ob nichts wäre, spielte mit ihren Kindern, plauderte mit ihrem Mann, fungierte bei Bedarf als Gastgeberin und offenbarte niemals, nicht ein einziges Mal, die öde Wüste ihrer Seele. Er genas.