Mitternachtskinder - Salman Rushdie - E-Book
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Mitternachtskinder E-Book

Salman Rushdie

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Beschreibung

"Dieses Buch ist einzigartig, und sein Autor gehört in eine Reihe mit den Großen der Weltliteratur." New York Times

Als Saleem Sinai am 15. August 1947 um Mitternacht zur Welt kommt, wird er mit Fanfaren und Feuerwerken begrüßt – denn genau in diesem Moment erlangt Indien seine Unabhängigkeit. Von da an ist Saleems Leben untrennbar mit dem Schicksal dieses außergewöhnlichen Subkontinents verbunden. Doch obwohl er nur eines von eintausend Mitternachtskindern ist, hat er eine ganz besondere Fähigkeit. Seine telepathische Gabe ermöglicht es ihm, in die faszinierende Geschichte seiner Familie einzutauchen – eine Geschichte, die sich vor dem Hintergrund eines von Umwälzungen gebeutelten Jahrhunderts abspielt.

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

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Seitenzahl: 1073

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Salman Rushdie

MITTERNACHTS KINDER

Roman

Aus dem Englischen von Karin Graf

Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel »Midnight’s Children« bei Jonathan Cape, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 1981 by Salman Rushdie

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Karin Graf

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: plainpicture/whatapicture

ISBN 978-3-641-26152-8V002

www.penguin-verlag.de

Am 15. August 1947, Schlag Mitternacht, wird Saleem Sinai geboren – begrüßt von Fanfaren und Feuerwerken, denn in genau diesem Moment erlangt Indien seine Unabhängigkeit. Fortan ist Saleems Leben untrennbar mit dem Schicksal des neugeborenen Staates verbunden. Und wie die eintausend anderen Mitternachtskinder, die in dieser Nacht das Licht der Welt erblicken, verfügt auch Saleem über eine besondere telepathische Gabe, die es ihm und dem Leser ermöglicht, in die faszinierende Geschichte seiner Familie einzutauchen – eine Saga vor dem Hintergrund der wechselhaften Geschichte Indiens im 20. Jahrhundert.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Preise, er wurde u. a. als der beste aller Booker-Preisträger ausgezeichnet, 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU zuerkannt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter. Zuletzt erschienen seine gefeierte Autobiografie »Joseph Anton« und der Roman »Golden House«.

Inhaltsverzeichnis

BUCH I
Das Laken mit dem LochJodTriff-den-SpucknapfUnter dem TeppichEine öffentliche AnkündigungVielköpfige UngeheuerMethwoldTicktack
BUCH II
Der deutende Finger des FischersSchlangen und LeiternVorfall in einer WäschetruheAll-India RadioLiebe in BombayMein zehnter GeburtstagIm Café PionierAlpha und OmegaDas Kolynos-KindFregattenkapitän Sabarmatis StabEnthüllungenZüge mit PfefferstreuernDränage und die WüsteJamila die SängerinWie Saleem Reinheit erlangte
BUCH III
Der BuddhaIn den SundarbansSam und der TigerDer Schatten der MoscheeEine HochzeitMitternachtAbrakadabra

Für Zafar Rushdie, der, entgegen allen Erwartungen, am Nachmittag geboren wurde.

BUCHI

Das Laken mit dem Loch

Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren ... Nein, so geht es nicht, ich kann mich um das Datum nicht herummogeln: Ich wurde am 15. August 1947 in Dr. Narlikars privatem Entbindungsheim geboren. Und die Zeit? Die Zeit spielt auch eine Rolle. Also dann: nachts. Nein, man muss schon genauer sein ... Schlag Mitternacht, um die Wahrheit zu sagen. Uhrzeiger neigten sich einander zu, um mein Kommen respektvoll zu begrüßen. Oh, sprich’s nur aus: Genau in dem Augenblick, in dem Indien die Unabhängigkeit erlangte, purzelte ich in die Welt. Schweres Atmen war zu hören. Und draußen vor dem Fenster Feuerwerk und Menschenmassen. Ein paar Sekunden später brach mein Vater sich den großen Zeh; aber verglichen mit dem, was mich in diesem verhängnisvollen Augenblick befallen hatte, war sein Unfall eine bloße Lappalie, denn dank der verborgenen Willkürherrschaft dieser verbindlich grüßenden Uhren war ich auf geheimnisvolle Weise an die Geschichte gefesselt, war mein Geschick unlösbar mit dem meines Landes verkettet worden. Für die nächsten drei Jahrzehnte sollte es kein Entkommen geben. Wahrsager hatten mich prophezeit, Zeitungen feierten meine Ankunft, Politiker bescheinigten meine Echtheit. Ich hatte in der ganzen Sache nichts zu sagen. Ich, Saleem Sinai, später auch verschiedentlich Rotznase, Fleckengesicht, Kahlkopf, Schnüffler, Buddha und sogar Scheibe-vom-Mond genannt, war vom Schicksal schwer mit Beschlag belegt worden – selbst unter günstigsten Umständen eine gefährliche Verstrickung. Und ich konnte mir zu der Zeit noch nicht einmal selbst die Nase putzen.

Nun läuft jedoch die Zeit ab (da sie keine weitere Verwendung für mich hat). Ich werde bald einunddreißig Jahre alt. Vielleicht. Wenn mein zerfallender, überbeanspruchter Körper es zulässt. Aber ich kann nicht darauf hoffen, mein Leben zu retten, ich kann nicht einmal damit rechnen, tausendundeine Nacht zu haben. Ich muss schnell arbeiten, schneller als Scheherazade, wenn mein Leben bei meinem Tod einen Sinn – ja, Sinn – gehabt haben soll. Ich gebe es zu: Mehr als alles andere fürchte ich die Sinnlosigkeit.

Und es gibt so viele Geschichten zu erzählen, zu viele, solch ein Übermaß an ineinander verwobenen Leben, Ereignissen, Wundern, Orten, Gerüchten, solch ein unentwirrbares Gemisch aus Unwahrscheinlichem und Alltäglichem! Ich habe Leben verschlungen; und um mich, nur mich allein, kennen zu lernen, müssen Sie auch das Ganze verschlingen. Verzehrte Massen drängen und schieben in mir; und nur von der Erinnerung an ein großes weißes Laken geleitet, in dessen Mitte ein annähernd rundes Loch mit einem Durchmesser von ungefähr fünfzehn Zentimetern geschnitten worden war, an den Traum von diesem löchrigen, verstümmelten Leinenviereck geklammert, das mein Talisman, mein Sesam-öffnedich ist, muss ich mich an die Arbeit machen, mein Leben von dem Punkt an neu zu schaffen, an dem es wirklich begann, gut zweiunddreißig Jahre vor irgendetwas so Offensichtlichem, so Gegenwärtigem wie meiner von Uhren geplagten, von Verbrechen befleckten Geburt.

Übrigens ist auch das Laken befleckt, mit drei Tropfen eines alten verblichenen Rots. Wie der Koran uns sagt: Lies im Namen deines Herrn, der erschuf. Er schuf den Menschen aus einem Klumpen Blut.

 

An einem kaschmirischen Morgen zu Beginn des Frühjahrs 1915 schlug mein Großvater Aadam Aziz sich, als er zu beten versuchte, an einem frostgehärteten Erdklumpen die Nase auf. Drei Tropfen Blut kullerten aus seinem linken Nasenloch, wurden in der frostigen Luft sofort hart und lagen, in Rubine verwandelt, vor seinen Augen auf dem Gebetsteppich. Nachdem er sich ruckartig aufgerichtet hatte und wieder erhobenen Kopfes kniete, merkte er, dass auch die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, sich verfestigt hatten; und in dem Augenblick, in dem er sich verächtlich Diamanten von den Wimpern wischte, beschloss er, nie wieder, weder für einen Gott noch für einen Menschen, die Erde zu küssen. Dieser Entschluss hinterließ jedoch ein Loch in ihm, eine Leerstelle in einer lebenswichtigen Kammer seines Inneren, und machte ihn anfällig für Frauen und Geschichte. Trotz seines unlängst abgeschlossenen Medizinstudiums war er sich dessen zunächst nicht bewusst, stand auf, rollte den Gebetsteppich zu einem dicken Stumpen, klemmte ihn sich unter den rechten Arm und blickte mit klaren, diamantfreien Augen über das Tal.

Die Welt war wieder neugeboren. Nachdem das Tal einen Winter lang in einer Eischale aus Eis herangereift war, hatte es sich feucht und gelb seinen Weg ins Freie gepickt. Das junge Gras wartete seine Zeit unter der Erdoberfläche ab; die Berge zogen sich für die warme Jahreszeit in ihre luftigen Erholungsorte zurück. (Im Winter, wenn das Tal unter dem Eis schrumpfte, drängten die Berge heran und grollten um die Stadt am See wie wütend aufgerissene Rachen.)

In jenen Tagen war der Sendemast noch nicht gebaut, und der Tempel von Sankara Acharya, eine kleine schwarze Blase auf einem staubfarbenen Hügel, beherrschte noch die Straßen und den See von Srinagar. In jenen Tagen gab es am Ufer des Sees noch kein Armeelager; keine endlosen Schlangen von Lastern und Jeeps in Tarnfarben verstopften die schmalen Bergstraßen, keine Soldaten versteckten sich hinter den Berggipfeln jenseits von Baramulla und Gulmarg. In jenen Tagen wurden Reisende nicht als Spione erschossen, wenn sie Brücken fotografierten, und das Tal hatte sich, abgesehen von den Hausbooten der Engländer auf dem See, trotz seiner frühjährlichen Erneuerungen seit dem Mogul-Reich kaum verändert; die Augen meines Großvaters aber – die wie alles übrige an ihm fünfundzwanzig Jahre alt waren – sahen die Dinge anders ... und seine Nase hatte angefangen zu kribbeln.

Um das Geheimnis der veränderten Sehweise meines Großvaters zu offenbaren: Er hatte fünf Jahre, fünf Frühlinge, fern von zu Hause verbracht. (Der Erdklumpen war im Grunde nicht mehr als ein Katalysator, wenn auch seine Gegenwart, als er unter einer zufälligen Falte im Gebetsteppich kauerte, entscheidend war.) Bei seiner Rückkehr nun sah er alles durch weit gereiste Augen. Anstelle der Schönheit des winzigen, von Riesenzähnen umschlossenen Tals bemerkte er nun die Beschränktheit und unmittelbare Nähe des Horizonts; und er war traurig, zu Hause zu sein und sich so vollkommen eingeschlossen zu fühlen. Er hatte auch – ihm unerklärlich  – das Gefühl, der gewohnte Ort weise ihn ab, weil er gebildet und mit Stethoskop ausgestattet zurückkam. Unter dem Wintereis war er kühl neutral gewesen, aber jetzt bestand kein Zweifel mehr: Die Jahre in Deutschland hatten ihn in eine feindliche Umgebung zurückkehren lassen. Lange Zeit später, als das Loch in ihm vor Hass verkrampft war und er kam, um sich vor dem Schrein des schwarzen steinernen Gottes im Tempel auf dem Hügel zu opfern, sollte er versuchen, sich an die Frühlinge seiner Kindheit im Paradies zu erinnern, daran, wie es war, bevor Reisen und Erdklumpen und Panzer alles durcheinander brachten.

An dem Morgen, an dem das Tal, mit einem Gebetsteppich wie mit einem Handschuh bekleidet, ihm einen Nasenstüber versetzte, hatte er widersinnigerweise versucht, so zu tun, als hätte sich nichts geändert. So war er in der um Viertel nach vier herrschenden bitteren Kälte aufgestanden, hatte die vorgeschriebenen Waschungen vorgenommen, sich angezogen und die Astrachanmütze seines Vaters aufgesetzt; danach hatte er den zu einem Stumpen zusammengerollten Gebetsteppich in den kleinen Garten vor ihrem alten, dunklen Haus am Seeufer gebracht und ihn über dem wartenden Klumpen ausgebreitet. Der Boden unter seinen Füßen trat sich trügerisch weich und machte ihn gleichzeitig unsicher und unvorsichtig.«Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen ...» – der Einleitungsteil, bei dem er die Hände wie ein Buch gefaltet vor sich hielt, tröstete einen Teil in ihm, beunruhigte aber einen anderen, größeren –«... Preis sei Allah, dem Herrn der Welten ...» – aber nun kam ihm Heidelberg in den Sinn; dort war Ingrid, kurze Zeit seine Ingrid, und ihr Gesicht drückte Verachtung aus für sein nach Mekka gewandtes geistloses Plappern; dort ihre Freunde Oskar und Ilse Lubin, die Anarchisten, die seine Gebete mit ihren Antiideologien verspotteten –«... Dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts ...!» – Heidelberg, wo er zusammen mit Medizin und Politik gelernt hatte, dass Indien – wie das Radium – von den Europäern «entdeckt» worden war; selbst Oskar war von Bewunderung für Vasco da Gama erfüllt, und das hatte Aadam Aziz letztendlich von seinen Freunden getrennt, ihr Glaube, dass er irgendwie die Erfindung ihrer Vorfahren sei –«... dir allein dienen wir, und zu dir allein flehen wir um Beistand ...» – hier war er also und versuchte, obwohl sie ihm nicht aus dem Kopf gingen, sich wieder mit einem früheren Ich zu vereinigen, das nichts von ihrem Einfluss wusste, aber alles kannte, was es wissen sollte, Unterwerfung beispielsweise, das, was er nun tat, als seine Hände, von alten Erinnerungen geführt, nach oben flogen, die Daumen sich auf die Ohren pressten und die Finger sich spreizten, als er auf die Knie sank –«... Führe uns auf den rechten Weg, den Weg derer, denen du deinen Segen gewährt hast ...» Aber es hatte keinen Zweck, er war in einem seltsamen Zwischenreich gefangen, saß in der Falle zwischen Glauben und Unglauben, und dies war letzten Endes nur eine Scharade –«... die nicht dein Missfallen erregt haben und die nicht irre gegangen sind.» Mein Großvater beugte den Kopf zur Erde. Vornüber beugte er sich, und die Erde, vom Gebetsteppich bedeckt, wölbte sich nach oben, ihm entgegen. Und jetzt war die Zeit des Erdklumpens gekommen. Gleichzeitig ein Verweis von Ilse-Oskar-Ingrid-Heidelberg wie auch von Tal-und-Gott, schlug er ihn hart auf die Nasenspitze. Drei Tropfen fielen. Rubine und Diamanten gab es. Und sich aufrichtend, fasste mein Großvater einen Entschluss. Stand da. Rollte einen Stumpen. Starrte über den See. Und wurde für immer in dieses Zwischenreich gestoßen, unfähig, einen Gott zu verehren, dessen Existenz er nicht ganz bezweifeln konnte. Bleibende Veränderung: ein Loch.

Der junge, frisch promovierte Doktor Aadam Aziz stand da, blickte auf den frühlingshaften See und witterte den Geruch von Veränderung, während sein (äußerst gerader) Rücken noch mehr Veränderungen zugewandt war. Sein Vater hatte während Aadams Auslandsaufenthalt einen Schlaganfall gehabt, und seine Mutter hatte das verheimlicht. Die Stimme seiner Mutter, die stoisch flüsterte: «... weil dein Studium zu wichtig war, Sohn.» Diese Mutter, ihr Leben lang ans Haus gebunden, in der Abgeschiedenheit des Purdah, hatte plötzlich die enorme Kraft gefunden, ihre vier Wände zu verlassen, um das kleine Edelsteingeschäft (Türkise, Rubine, Diamanten) zu führen, das zusammen mit einem Stipendium Aadams Medizinstudium ermöglicht hatte; so kehrte er zurück und fand die anscheinend unwandelbare Ordnung seiner Familie auf den Kopf gestellt. Seine Mutter ging zur Arbeit, während sein Vater hinter dem Schleier verborgen saß, den der Schlaganfall über seinen Verstand geworfen hatte ... auf einem Holzstuhl, in einem verdunkelten Raum saß er und machte Vogelgeräusche. Dreißig verschiedene Arten von Vögeln besuchten ihn, saßen draußen auf dem Sims vor seinem mit Läden verschlossenen Fenster und unterhielten sich über dieses und jenes. Er schien ganz glücklich zu sein.

(... Und schon kann ich sehen, wie die Wiederholungen losgehen, denn fand nicht auch meine Großmutter enorme ... und der Schlaganfall war auch nicht der einzige ... und auch das Messingäffchen hatte seine Vögel ... schon beginnt der Fluch, und wir sind noch nicht einmal zu den Nasen gekommen!)

Der See war nicht mehr zugefroren. Das Tauwetter war wie gewöhnlich schnell gekommen; viele der kleinen Boote, der Schikaras, waren im Schlummer überrascht worden, was ebenfalls normal war. Aber während diese Faulpelze auf dem Trockenen weiterschliefen und friedlich neben ihren Besitzern schnarchten, war das älteste Boot, wie alte Leute oft, im Nu auf und das erste Fahrzeug, das sich über den aufgetauten See bewegte. Tais Schikara ... auch das war üblich.

Seht, wie der alte Fährmann Tai schnell den Weg über das vom Nebel umspielte Wasser zurücklegt, vornübergebeugt am Heck seines Bootes stehend! Wie sein Ruderblatt, ein hölzernes Herz an einer gelben Stange, sich ruckweise durch die Wasserpflanzen bewegt! Weil er im Stehen rudert, wird er in dieser Gegend für höchst sonderbar gehalten ... und auch noch aus anderen Gründen. Tai, der Doktor Aziz eine dringende Botschaft überbringt, wird gleich die Geschichte in Gang setzen ... während Aziz, der ins Wasser hinabschaut, sich ins Gedächtnis ruft, was Tai ihn vor Jahren lehrte: «Das Eis wartet immer, Aadam Baba, direkt unter der Haut des Wassers.» Aadams Augen sind von einem klaren Blau, dem erstaunlichen Blau des Berghimmels, das in die Pupillen der Menschen von Kaschmir herabzutröpfeln pflegt; sie haben nicht vergessen, wie man sieht. Sie sehen – dort!, direkt unter der Oberfläche des Dalsees, wie das Skelett eines Geistes – das zarte Flechtwerk, das verschlungene Netz farbloser Linien, die kalten wartenden Adern der Zukunft. Seine deutschen Jahre, die so vieles andere ausgelöscht haben, haben ihn nicht der Gabe des Sehens beraubt. Tais Gabe. Er blickt auf, sieht das sich nähernde V von Tais Boot, winkt einen Gruß. Tais Arm hebt sich – aber das ist ein Befehl. «Warte!» Mein Großvater wartet; und in dieser Spanne, in der er den letzten Frieden seines Lebens, einen konfusen, bedenklichen Frieden, erlebt, mache ich mich am besten daran, ihn zu beschreiben.

Ich unterdrücke in meiner Stimme den natürlichen Neid des hässlichen Menschen auf das auffallend Eindrucksvolle und berichte, dass Doktor Aziz ein großer Mann war. Flach an eine Wand seines Elternhauses gepresst, maß er fünfundzwanzig Ziegel (ein Ziegel für jedes Lebensjahr) oder etwas mehr als ein Meter fünfundachtzig. Auch ein starker Mann war er. Sein Bart war dicht und rot – und ärgerte seine Mutter, die sagte, nur Hadschis, Männer, die die Wallfahrt nach Mekka gemacht hatten, sollten sich rote Bärte wachsen lassen. Sein Haupthaar jedoch war sehr viel dunkler. Über seine Himmelsaugen wissen Sie Bescheid. Ingrid hatte gesagt:«Sie haben sich mit den Farben ausgetobt, als sie dein Gesicht gemacht haben.» Aber das Hauptmerkmal der Anatomie meines Großvaters war weder Größe noch Farbe, weder Muskelkraft noch Geradheit des Rückens. Hier war es, spiegelte sich im Wasser, wogte wie eine groteske Banane mitten in seinem Gesicht ... Aadam Aziz betrachtet, während er auf Tai wartet, seine sich kräuselnde Nase. Sie hätte auch ein weniger dramatisches Gesicht als das seine leicht beherrscht, und selbst bei ihm sah man sie zuerst und erinnerte sich ihrer am längsten. «Eine Cyranase», sagte Ilse Lubin, und Oskar fügte hinzu: «Ein Proboscissimus.» Ingrid verkündete: «Auf dieser Nase könnte man einen Fluss überqueren.» (Ihr Rücken war breit.) Meines Großvaters Nase: Ihre Nasenflügel blähen sich, kurvenreich geschwungen wie Tänzerinnen. Zwischen ihnen wölbt sich der triumphale Bogen der Nase, zuerst auf- und auswärts, dann hinab und einwärts, die derzeit rot getupfte Spitze in einem prachtvollen Schwung zur Oberlippe hin gebogen. Mit dieser Nase war es einfach, einen Erdklumpen zu treffen. Ich möchte meine Dankbarkeit gegenüber diesem mächtigen Organ, diesem kolossalen Apparat, der auch mein Geburtsrecht sein sollte, schriftlich niederlegen – wenn diese Nase nicht gewesen wäre, wer hätte mir je geglaubt, dass ich wirklich meiner Mutter Sohn, meines Großvaters Enkel war? Doktor Aziz’ Nase – vergleichbar nur dem Rüssel des elefantenköpfigen Gottes Ganesch – begründete unbestreitbar sein Recht, ein Patriarch zu sein. Auch das lehrte ihn Tai. Als der junge Aadam gerade die Pubertät hinter sich gebracht hatte, sagte der verlotterte Fährmann: «Mit der Nase kann man eine Familie gründen, mein Prinzchen. Da gäbe es keinen Zweifel, wer die Brut gezeugt hat. Die Mogul-Kaiser hätten ihre rechte Hand für so eine Nase gegeben. In ihr warten Dynastien» – und hier wurde Tai grob –«wie Rotz.»

Bei Aadam Aziz nahm die Nase also ein patriarchalisches Aussehen an. Bei meiner Mutter sah sie edel und ein wenig kummervoll aus, bei meiner Tante Emerald snobistisch; bei meiner Tante Alia intellektuell; bei meinem Onkel Hanif war sie das Organ eines erfolglosen Genies, mein Onkel Mustapha machte sie zum Instrument eines zweitklassigen Schnüfflers; das Messingäffchen entging ihr vollkommen; aber bei mir – bei mir war sie etwas vollkommen anderes. Aber ich darf nicht alle meine Geheimnisse auf einmal enthüllen.

(Tai kommt langsam näher. Er, der die Macht der Nase offenbarte und nun meinem Großvater die Botschaft bringt, die ihn in seine Zukunft katapultieren wird, rudert seine Schikara über den frühmorgendlichen See ...)

Niemand konnte sich erinnern, wann Tai jung gewesen war. Schon immer versah er den Fährdienst auf den Seen Dal und Nageen mit demselben Boot und stand in derselben vornübergebeugten Haltung. Wenigstens, soviel man wusste. Er lebte irgendwo in den schmuddeligen Eingeweiden des alten Holzhüttenviertels, und seine Frau zog Lotoswurzeln und andere seltsame Gemüse in einem der vielen «schwimmenden Gärten», die im Frühling und Sommer auf der Wasseroberfläche wippten. Tai selbst gab fröhlich zu, dass er keine Ahnung hatte, wie alt er war. Seine Frau wusste es auch nicht – er sei, sagte sie, schon lederartig gewesen, als sie heirateten. Sein Gesicht war eine Skulptur wie von Wind auf Wasser: Kräuselwellen aus ledriger Haut. Er hatte zwei Zähne aus Gold und sonst keine. In der Stadt hatte er nur wenige Freunde. Wenige Fährmänner oder Händler luden ihn ein, eine Huka zu rauchen, wenn er an den Schikara-Liegeplätzen oder einem der vielen baufälligen Proviantläden oder Teebuden am Ufer des Sees vorbeiglitt.

Die vorherrschende Meinung über Tai hatte Aadam Aziz’ Vater, der Edelsteinhändler, schon vor langer Zeit ausgesprochen. «Der Verstand ist ihm zugleich mit den Zähnen ausgefallen.» (Aber nun saß der alte Aziz Sahib verloren inmitten von Vogelgezwitscher, während Tai schlicht und erhaben weitermachte.) Diesen Eindruck nährte der Fährmann durch sein Geschwätz, das phantastisch, bombastisch und endlos war und meistens nur für ihn selbst bestimmt. Wasser trägt Geräusche, und die Leute am See kicherten über seine Monologe, aber mit einem Unterton von Ehrfurcht und sogar Angst. Ehrfurcht, weil der alte Schwachkopf die Seen und Hügel besser kannte als jeder seiner Verleumder; Angst, weil er für sich in Anspruch nehmen konnte, so unermesslich alt zu sein, dass sich die Jahre nicht mehr zählen ließen, die zudem so leicht um seinen Hühnerhals hingen, dass es ihn nicht davon abgehalten hatte, eine höchst begehrenswerte Frau zu erobern und mit ihr vier Söhne zu zeugen ... und mit Ehefrauen am See, erzählte man, auch noch weitere. Die jungen Draufgänger an den Anlegestellen der Schikaras waren überzeugt, dass er irgendwo einen Haufen Geld versteckt hatte – einen Vorrat wertvoller Goldzähne vielleicht, die in einem Sack klapperten wie Walnüsse. Jahre später, als Onkel Puffs versuchte, mir seine Tochter anzudrehen, indem er anbot, ihr die Zähne ziehen zu lassen und durch goldene zu ersetzen, dachte ich an Tais vergessenen Schatz ... und als Kind hatte Aadam Aziz ihn geliebt.

Trotz all der Munkeleien über Reichtum verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als einfacher Fährmann, brachte Heu und Ziegen und Gemüse und Holz und auch Menschen gegen Bargeld über den See. Wenn sein Taxidienst in Betrieb war, baute er mitten auf der Schikara einen Pavillon auf, ein buntes Ding aus blumengemusterten Vorhängen und einem Baldachin mit passenden Kissen, und desodorierte sein Boot mit Räucherstäbchen. Der Anblick von Tais Schikara, die sich mit fliegenden Vorhängen näherte, war für Doktor Aziz immer ein charakteristisches Bild für das Nahen des Frühlings gewesen. Bald trafen dann auch die englischen Sahibs ein, und Tai setzte sie zu den Gärten von Shalimar und der Königsquelle über, plaudernd und knochendürr und vornübergebeugt. Er war der lebende Gegenbeweis für Oskar-Ilse-Ingrids Glauben an die Unvermeidlichkeit der Veränderung ... ein verschrobener, ausdauernder, vertrauter Geist des Tals. Ein Kaliban des Wassers, ein wenig zu sehr dem billigen kaschmirischen Schnaps zugetan.

Erinnerung an die blaue Wand meines Schlafzimmers: Dort hing neben dem Brief des Premierministers viele Jahre lang der Knabe Raleigh und starrte schwärmerisch auf einen alten Fischer, der so etwas wie einen roten Dhoti trug und auf – was nur? – auf einem Stück Treibholz? – saß und hinaus aufs Meer deutete, während er seine fischigen Geschichten erzählte ... und der Knabe Aadam, der mein Großvater werden sollte, liebte den Fährmann Tai gerade wegen des endlosen Wortschwalls, aufgrund dessen die anderen ihn für übergeschnappt hielten. Es war eine Zaubersprache, Worte, die wie Narrengold aus ihm strömten, an seinen zwei Goldzähnen vorbei, durchsetzt mit Schluckauf und Schnaps, zu den entlegensten Himalajahöhen der Vergangenheit emporstrebten und dann listig niedersausten zu irgendeiner Belanglosigkeit der Gegenwart. Aadams Nase zum Beispiel, deren Bedeutung viviseziert wurde wie eine Maus. Diese Freundschaft hatte Aadam mit großer Regelmäßigkeit in heißes Wasser gestürzt. (Kochendes Wasser. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wozu seine Mutter sagte: «Das Ungeziefer dieses Fährmanns bringen wir um, selbst wenn es dich umbringt.») Aber trotzdem kreuzte der alte Soliloquist in seinem Boot vor den Zehenspitzen des Gartens im See, und Aziz saß zu seinen Füßen, bis eine Stimme ihn ins Haus befahl, um ihn über Tais Schmutzigkeit zu belehren und vor den plündernden Armeen von Bakterien zu warnen, die in der Vorstellung seiner Mutter von dem gastfreundlichen alten Körper auf die gestärkten weißen, weiten Pajamas ihres Sohnes übersprangen. Aber immer wieder kehrte Aadam an das Seeufer zurück, um die Nebel nach der gekrümmten Gestalt des zerlumpten Bösewichts abzusuchen, der sein Zauberboot durch die magischen Wasser des Morgens steuerte.

«Aber wie alt bist du wirklich, Taiji?» (Doktor Aziz, erwachsen, mit rotem Bart und der Zukunft zugeneigt, erinnert sich an den Tag, an dem er jene Frage stellte, die nicht gestellt werden durfte.) Einen Augenblick lang Schweigen, lauter als ein Wasserfall. Der Monolog unterbrochen. Schlag des Ruderblattes ins Wasser. Er fuhr mit Tai in der Schikara, hockte auf einem Strohhaufen inmitten von Ziegen und war sich dessen wohl bewusst, dass ihn Stock und Badewanne zu Hause erwarteten. Er war wegen der Geschichten gekommen – und hatte den Geschichtenerzähler mit einer einzigen Frage zum Schweigen gebracht.

«Sag’s mir, Taiji, wie alt, ehrlich?» Und nun materialisierte sich aus dem Nichts eine Schnapsflasche: billiger Fusel aus den Falten des weiten, warmen Chughamantels. Dann ein Schaudern, ein Rülpser, ein funkelnder Blick. Glitzern von Gold. Und – endlich – Worte: «Wie alt? Du fragst, wie alt, du kleiner Grünschnabel, du Naseweis ...»Tai nahm den Fischer auf meiner Wand vorweg und wies auf die Berge. «So alt, Nakkoo!» Aadam, der Nakkoo, der Naseweis, folgte seinem ausgestreckten Finger. «Ich habe zugesehen, wie die Berge geboren wurden; ich habe Herrscher sterben sehen. Hör zu. Hör zu, Nakkoo ...» Und wieder die Schnapsflasche, dann eine Schnapsstimme und Worte, berauschender als Schnaps. «... Ich habe diesen Isa, diesen Christus, gesehen, als er nach Kaschmir kam. Lächle, lächle nur, es ist deine Geschichte, die ich in meinem Kopf aufbewahre. Einst wurde sie in alten, verloren gegangenen Büchern niedergeschrieben. Einst wusste ich, wo ein Grab lag, in dessen Stein durchbohrte Füße eingemeißelt waren, die einmal im Jahr bluteten. Selbst mein Gedächtnis lässt nun nach, doch ich weiß, auch wenn ich nicht lesen kann.» Analphabetentum wurde mit einem Schlenker abgetan, Literatur zerfiel unter dem Wüten seiner umherschweifenden Hand. Die fuhr nun wieder in die Tasche des Chughamantels, zur Schnapsflasche, zu den vor Kälte aufgesprungenen Lippen. Tai hatte Lippen wie eine Frau. «Nakkoo, hör zu, hör zu. Ich habe viel gesehen. Yara, du hättest sehen sollen, wie dieser Christus kam, mit einem Bart bis zu den Eiern und einem Kopf, kahl wie ein Ei. Er war alt und ausgepumpt, aber er wusste, wie er sich zu benehmen hatte. <Nach Ihnen, Taiji>, pflegte er zu sagen und <bitte nehmen Sie Platz>, immer eine respektvolle Ausdrucksweise. Er nannte mich nie einen Spinner, sprach mich auch nie mit tu an, immer mit aap. Höflich, verstehst du? Und was für ein Appetit! Solch ein Hunger, dass ich mich vor Schrecken fast hingesetzt hätte. Egal, ob Heiliger oder Teufel, ich schwöre dir, er konnte ein ganzes Kitz auf einmal essen. Na und? Ich habe ihm gesagt, essen Sie, stopfen Sie sich das Loch, ein Mann kommt nach Kaschmir, um das Leben zu genießen oder um es zu beenden oder beides. Seine Arbeit war erledigt. Er ist nur hierher gekommen, um es noch ein wenig auszukosten.» Hypnotisiert von diesem mit Schnaps versetzten Bildnis eines kahlköpfigen, gefräßigen Christus, lauschte Aziz und wiederholte später zur Bestürzung seiner Eltern, die mit Steinen handelten und keine Zeit für solchen «Kraftstoff» hatten, jedes Wort.

«So, du glaubst mir nicht?» Er leckte grinsend seine rauen Lippen, weil er wusste, dass das Gegenteil stimmte. «Deine Aufmerksamkeit schweift ab?» Wieder wusste er, wie gebannt Aziz an seinen Lippen hing. «Vielleicht sticht dir das Stroh in den Hintern, he? Oh, es tut mir so Leid, Babaji, dass ich dir keine Seidenkissen mit Goldbrokatarbeit zur Verfügung stellen kann – Kissen wie die, auf denen Kaiser Jehangir saß! Du hältst Kaiser Jehangir zweifellos bloß für einen Gärtner», beschuldigte Tai meinen Großvater, «weil er Shalimar angelegt hat. Du Dummkopf! Was weißt du schon? Sein Name bedeutet Umfasser der Erde. Ist das ein Name für einen Gärtner? Gott allein weiß, was sie euch Burschen heutzutage beibringen! Wohingegen ich» – hier plusterte er sich ein wenig auf –«sein genaues Gewicht kenne, bis aufs Tola! Frag mich, wie viele Man, wie viele Sihr! Wenn er glücklich war, wurde er schwerer, und in Kaschmir war er am schwersten. Ich habe seine Sänfte getragen ... nein, nein, schau, du glaubst mir schon wieder nicht, die große Gurke in deinem Gesicht wackelt wie die kleine in deinen Pajamas! So, dann komm, mach, stell mir Fragen! Prüfe mich! Frag mich, wie oft die Lederriemen um die Tragstangen der Sänfte gewickelt wurden – die Antwort lautet: einunddreißigmal. Frag mich, was das letzte Wort des Kaisers war – ich sage dir, es war <Kaschmir>. Er hatte einen schlechten Atem und ein gutes Herz. Was denkst du denn, wer ich bin? Irgendein gewöhnlicher, unwissender, verlogener, verwilderter Hundebastard? Los, steig jetzt aus dem Boot, deine Nase macht es so schwer, dass man nicht mehr rudern kann, und außerdem wartet dein Vater darauf, meinen Kraftstoff aus dir rauszuprügeln, und deine Mutter, dir die Haut abzukochen.»

In der Schnapsflasche des Fährmanns Tai sehe ich die Dschinns vorhergesagt, von denen mein Vater besessen war ... und noch einen weiteren kahlköpfigen Ausländer wird es geben ... und Tais Kraftstoff prophezeit einen anderen Stoff, der der Alterstrost meiner Großmutter war und ihr auch Geschichten beibrachte ... und verwilderte Hundebastarde sind nicht weit. Genug. Ich mache mir selbst Angst. Trotz der Prügel und des heißen Wassers glitt Aadam Aziz immer wieder mit Tai in seiner Schikara umher, inmitten von Ziegen, Heu, Blumen, Möbeln, Lotoswurzeln, wenn auch nie mit den englischen Sahibs, und immer wieder hörte er die wundersamen Antworten auf die eine fürchterliche Frage: «Aber Taiji, wie alt bist du, ehrlich?»

Von Tai lernte Aadam die Geheimnisse des Sees – wo man schwimmen konnte, ohne von Pflanzen hinabgezogen zu werden; die elf Arten von Wasserschlangen; wo die Frösche laichten; wie man eine Lotoswurzel kocht und wo die drei Engländerinnen wenige Jahre zuvor ertrunken waren. «Es gibt einen gewissen Stamm europäischer Frauen, die zu diesem Gewässer kommen, um zu ertrinken», sagte Tai. «Manchmal wissen sie es, manchmal nicht, aber ich weiß es in dem Augenblick, in dem ich sie rieche. Sie verstecken sich unter dem Wasser vor Gott weiß was oder wem – aber vor mir können sie sich nicht verstecken, Baba!» Tais Lachen erhob sich und steckte Aadam an – ein gewaltiges, dröhnendes Lachen, das makaber klang, wenn es aus diesem alten, verdorrten Körper herausbrach, bei meinem hünenhaften Großvater aber so natürlich war, dass in späteren Zeiten niemand wusste, dass es nicht wirklich seins war (mein Onkel Hanif erbte sein Lachen, sodass bis zu seinem Tod ein Stück von Tai in Bombay lebte). Und von Tai erfuhr mein Großvater auch etwas über Nasen.

Tai tippte an sein linkes Nasenloch. «Weißt du, was das ist, Nakkoo? Das ist die Stelle, an der die Außenwelt die Welt in dir trifft. Wenn sie sich nicht vertragen, spürst du es hier. Dann reibst du dir verlegen die Nase, um das Jucken wegzukriegen. So eine Nase, du kleiner Dummkopf, ist eine große Gabe. Ich sage dir: Verlass dich darauf. Wenn sie dich warnt, pass auf, sonst bist du erledigt. Folge deiner Nase, und du wirst es weit bringen.» Er räusperte sich, seine Augen verzogen sich in das Gebirge der Vergangenheit. Aziz lehnte sich ins Stroh zurück. «Ich kannte einmal einen Offizier – in der Armee jenes Alexanders des Großen. Der Name tut nichts zur Sache. Der hatte genauso eine Pflanze wie du zwischen den Augen hängen. Als die Armee bei Gandhara Rast machte, verliebte er sich in eine Schlampe aus der Gegend. Sofort begann seine Nase wie verrückt zu jucken. Er kratzte, aber das war zwecklos. Er inhalierte Dämpfe von zerstampften und gekochten Eukalyptusblättern. Es nützte immer noch nichts, Baba! Das Jucken hat ihn verrückt gemacht, aber der verdammte Narr stemmte die Fersen in den Boden und blieb bei seiner kleinen Hexe, als die Armee nach Hause marschierte. Er wurde – was? – ein Einfaltspinsel, weder das eine noch das andere, nichts Halbes und nichts Ganzes, mit einer nörgelnden Frau und einer juckenden Nase, und am Ende stieß er sich sein Schwert in den Bauch. Was hältst du davon?»

... Doktor Aziz, den Rubine und Diamanten zu nichts Halbem und nichts Ganzem gemacht haben, erinnert sich 1915 an diese Geschichte, als Tai in Grußnähe kommt. Seine Nase juckt immer noch. Er kratzt, zuckt die Achseln, wirft den Kopf zurück, und dann ruft Tai: «Ohé! Doktor Sahib! Die Tochter von Ghani dem Grundbesitzer ist krank.»

Die barsch ausgerichtete, ohne Umschweife über die Seeoberfläche gerufene Botschaft, ausgesprochen von Frauenlippen, die keinen Lange-nicht-gesehen-Gruß lächeln, obwohl Fährmann und Schüler sich ein halbes Jahrzehnt lang nicht gesehen haben, schickt die Zeit in einen sich beschleunigenden, wirbelnden, verschwimmenden Strudel der Erregung ...

«... Denk dir bloß, Sohn», sagt Aadams Mutter, während sie in einer Haltung resignierter Erschöpfung auf einem Takht ruht und frisches Limonenwasser schlürft, «wie das Leben so spielt. So viele Jahre waren selbst meine Fußknöchel ein Geheimnis, und nun muss ich mich von fremden Menschen anstarren lassen, die noch nicht einmal zur Familie gehören.»

... Während Ghani der Grundbesitzer unter einem großen Ölgemälde der Jagdgöttin Diana in verschnörkeltem Goldrahmen steht. Er hat eine dicke dunkle Brille und sein berühmtes boshaftes Lächeln aufgesetzt und redet über Kunst. «Ich habe es von einem vom Pech verfolgten Engländer gekauft, Doktor Sahib. Fünfhundert Rupien nur – und ich habe mir nicht einmal die Mühe gegeben, ihn herunterzuhandeln. Was sind schon fünfhundert Scheinchen? Denn sehen Sie, ich bin ein Liebhaber der Kultur.»

«... Sieh nur, mein Sohn», sagt Aadams Mutter, als er sie zu untersuchen beginnt, «was eine Mutter nicht alles für ihr Kind tut. Sieh, wie ich leide. Du bist Arzt ... befühle diese entzündeten, diese fleckigen Stellen. Begreife, dass mein Kopf morgens, mittags und abends schmerzt. Füll mein Glas auf, Kind.»

Aber der junge Doktor ist beim Ruf des Fährmanns in Krämpfe einer höchst unhippokratischen Erregung verfallen und schreit: «Ich komme gleich! Lass mich nur meine Sachen holen!» Der Bug der Schikara berührt den Saum des Gartens. Aadam eilt ins Haus, den Gebetsteppich wie einen Stumpen gerollt unter einem Arm. Seine blauen Augen blinzeln in dem plötzlichen Dämmerlicht drinnen, den Stumpen legt er auf ein hohes Regalbord auf einen Stapel von Nummern des Vorwärts und Lenins Was tun? und anderer Broschüren, staubiger Widerhall seines halb entschwundenen deutschen Lebens; unter seinem Bett zieht er eine gebrauchte Ledertasche heraus, die seine Mutter seinen Doktori-Koffer nennt, und als er ihn und sich selbst mit Schwung hochreißt und aus dem Zimmer rennt, wird kurz das Wort HEIDELBERG sichtbar, auf dem Boden der Tasche ins Leder gebrannt. Eine Grundbesitzerstochter ist wahrhaftig eine gute Nachricht für einen Arzt, der Karriere machen will, selbst wenn sie krank ist. Nein: weil sie krank ist.

... Während ich wie ein leeres Picklesglas im Lichtkegel einer Schwenklampe sitze, heimgesucht von dieser Vision meines Großvaters vor dreiundsechzig Jahren, die aufgezeichnet werden will und meine Nasenlöcher mit dem beißenden Gestank der Verlegenheit seiner Mutter füllt, die ihre Furunkel hervorgebracht hat, mit der essigsauren Kraft von Aadam Aziz’ Entschlossenheit, eine so erfolgreiche Praxis aufzubauen, dass sie nie wieder in das Edelsteingeschäft zurückkehren muss, mit der blinden Muffigkeit eines großen schattigen Hauses, in dem der junge Doktor befangen das Gemälde eines unscheinbaren Mädchens mit lebendigen Augen betrachtet, hinter dem am Horizont wie angewurzelt ein Hirsch steht, durchbohrt von einem Pfeil ihres Bogens. Das meiste von dem, was für unser Leben wichtig ist, findet in unserer Abwesenheit statt: Doch ich scheine irgendwo den Trick gefunden zu haben, die Lücken in meinem Wissen zu füllen, sodass ich alles im Kopf habe, bis zum letzten Detail, so wie zum Beispiel den Dunst, der schräg durch die frühmorgendliche Luft zu treiben schien ... alles, und nicht nur die paar Hinweise, auf die man zufällig stößt, indem man beispielsweise einen alten Blechkoffer öffnet, der spinnwebig und verschlossen hätte bleiben sollen.

... Aadam füllt das Glas seiner Mutter nach und fährt besorgt mit der Untersuchung fort. «Streich Salbe auf diese Entzündungen und Flecken, Amma. Gegen die Kopfschmerzen gibt es Tabletten. Die Furunkel müssen aufgeschnitten werden. Aber wenn du vielleicht Purdah tragen würdest, wenn du im Laden sitzt ... damit keine respektlosen Augen ... solche Beschwerden beginnen oft in der Seele ...»

... Das Ruderblatt klatscht ins Wasser. Spucke plumpst in den See. Tai räuspert sich und murmelt böse: «Eine schöne Bescherung. Da geht ein Nakkoo-Kind fort, das noch feucht hinter den Ohren ist, ehe es auch nur das kleinste bisschen gelernt hat, und kommt zurück als großer Doktor Sahib mit einer großen Tasche voll ausländischer Maschinen und ist doch immer noch so dumm wie eine Eule. Das ist eine schlimme Bescherung, ich schwör’s.»

... Unter dem Einfluss des Lächelns des Grundbesitzers, in dessen Gegenwart er sich nicht entspannen kann, tritt Doktor Aziz unruhig von einem Fuß auf den anderen und wartet auf eine spontane Reaktion auf seine eigene außergewöhnliche Erscheinung. Er hat sich daran gewöhnt, dass die Leute vor Überraschung über seine Größe, sein vielfarbiges Gesicht, seine Nase unwillkürlich zusammenzucken ... aber Ghani macht keine Anstalten dazu, und der junge Arzt beschließt seinerseits, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Wie angewurzelt bleibt er stehen. Sie sehen sich ins Gesicht, wobei jeder (so sieht es jedenfalls aus) seine Ansicht über den anderen unterdrückt, und legen so den Grundstein für ihre spätere Beziehung. Und nun verändert Ghani sich, wird vom Kunstliebhaber zum Mann der Tat. «Dies ist eine große Chance für Sie, junger Mann», sagt er. Aziz’ Augen sind zu Diana abgeschweift. Große Flächen ihrer lädierten rosa Haut sind zu sehen.

... Kopfschüttelnd stöhnt seine Mutter: «Nein, was weißt du schon, Kind, du bist Arzt, ein großes Tier geworden, aber das Edelsteingeschäft ist etwas anderes. Wer würde einen Edelstein von einer Frau kaufen, die von Kopf bis Fuß unter einem Überwurf versteckt ist? Es geht darum, Vertrauen herzustellen. Also müssen sie mich ansehen, und ich muss Schmerzen und Furunkel bekommen. Geh, geh, zerbrich dir nicht den Kopf über deine arme Mutter.»

«... Großes Tier», Tai spuckt in den See. «Großes Tier, große Tasche. Pah! Haben wir denn nicht genug Taschen zu Hause, dass du so ein Ding aus Schweinshaut mit zurückbringen musst, das einen schon unrein macht, wenn man es nur ansieht? Und Gott weiß, was alles drinnen ist.» Zwischen geblümte Vorhänge und duftende Räucherstäbchen platziert, wird Doktor Aziz aus den Gedanken an die Patientin gerissen, die auf der anderen Seite des Sees wartet. Tais bitterer Monolog dringt ihm ins Bewusstsein und verursacht einen dumpfen Schock, einen Geruch wie der auf einer Unfallstation, der den des Weihrauchs verdrängt ... der alte Mann ist ohne Zweifel wütend auf etwas, besessen von einem unbegreiflichen Zorn, der sich gegen seinen einstmaligen Gefährten oder, genauer und merkwürdiger, gegen dessen Tasche zu richten scheint. Doktor Aziz versucht Konversation zu machen ... «deiner Frau geht es gut? Reden sie immer noch von deinem Sack mit Goldzähnen?» ... versucht, eine alte Freundschaft wieder zu beleben, aber Tai ist nun voll in Fahrt, ein Strom von Schmähungen ergießt sich aus ihm. Die Tasche aus Heidelberg erbebt unter diesem Sturzbach von Beschimpfungen.«Blutschänderische Schweinshauttasche aus dem Ausland, voll mit Ausländertricks. Typische Tasche für ein großes Tier. Wenn ein Mann sich nun den Arm bricht, lässt diese Tasche nicht zu, dass der Knochenrichter ihn in Blätter bindet. Jetzt muss ein Mann seine Frau heißen, sich neben diese Tasche zu legen und zuzusehen, wie ein Messer herauskommt und sie aufschneidet. Eine schöne Bescherung, was diese Ausländer euch jungen Männern da in den Kopf setzen. Es ist wirklich schlimm, ich schwör’s dir. Diese Tasche sollte zusammen mit den Hoden der Gottlosen in der Hölle schmoren.»

... Ghani der Grundbesitzer lässt mit den Daumen seine Hosenträger schnappen. «Eine große Chance, ja, in der Tat. Man spricht gut von Ihnen in der Stadt. Gute medizinische Ausbildung. Gute Familie ... gut genug jedenfalls. Und nun ist unsere Ärztin krank, also bekommen Sie die Gelegenheit. Die Frau ist jetzt andauernd krank, zu alt, denke ich, und auch nicht auf der Höhe der Entwicklung, also was? Ich sage: Arzt, heil dich selbst. Und Ihnen sage ich dies: In meinen Geschäftsbeziehungen bin ich vollkommen objektiv. Gefühle, Liebe hege ich allein für meine Familie. Wenn eine Person keine erstklassige Arbeit für mich leistet, dann geht sie! Sie verstehen mich? Also: Meine Tochter Naseem ist unpässlich. Sie werden Sie ausgezeichnet behandeln. Denken Sie daran, dass ich Freunde habe, und Krankheit befällt hoch und niedrig gleich.»

...«Legst du immer noch Wasserschlangen in Schnaps ein, damit sie dir Manneskraft geben, Taiji? Isst du immer noch gern ungewürzte Lotoswurzeln?» Zögernde Fragen, die von Tais Zorneserguss beiseite gewischt werden. Doktor Aziz beginnt zu diagnostizieren. Für den Fährmann stellt die Tasche das Ausland dar, sie ist das Fremde, der Eindringling, der Fortschritt. Und ja, sie hat in der Tat vom Geist des jungen Doktors Besitz ergriffen, und ja, sie enthält Messer und Heilmittel für Cholera und Malaria und Pocken, und ja, sie steht zwischen Arzt und Fährmann und hat sie zu Widersachern gemacht. Doktor Aziz beginnt zu kämpfen, gegen Traurigkeit und gegen Tais Zorn, der beginnt, ihn anzustecken, zu seinem eigenen zu werden, der nur selten ausbricht, aber wenn, dann ohne Vorankündigung und mit Getöse aus seinem tiefsten Innern kommt, alles im Umfeld brachlegt und darauf verschwindet; und er, Aadam, fragt sich, warum jedermann so verstört ist ... Sie nähern sich Ghanis Haus. Ein Träger, der mit verschränkten Händen auf einer kleinen hölzernen Anlegestelle steht, erwartet die Schikara. Aziz konzentriert sich auf die vor ihm liegende Arbeit.

...«Ist Ihre Hausärztin damit einverstanden, dass ich komme, Ghani Sahib?» ... Wieder wird eine zögernde Frage leichthin beiseite gewischt. Der Grundbesitzer sagt: «Oh, sie wird schon einverstanden sein. Jetzt folgen Sie mir bitte!»

... Der Träger wartet an der Anlegestelle. Hält die Schikara fest, als Aadam Aziz mit der Tasche in der Hand aussteigt. Und nun endlich spricht Tai meinen Großvater direkt an. Mit verachtungsvollem Gesicht fragt Tai: «Sag mir eins, Doktor Sahib: Hast du in dieser Tasche aus toten Schweinen auch eine von den Maschinen, mit denen die ausländischen Ärzte immer riechen?» Aadam schüttelt verständnislos den Kopf. Der Ekel in Tais Stimme verdichtet sich. «Du weißt schon, Herr, so ein Ding wie ein Elefantenrüssel.» Aziz, der begreift, was er meint, antwortet: «Ein Stethoskop? Natürlich. »Tai stößt die Schikara von der Anlegestelle ab, spuckt aus, beginnt wegzurudern. «Ich wusste es», sagte er. «Nun wirst du so eine Maschine gebrauchen anstatt deine eigene große Nase.»

Mein Großvater gibt sich nicht die Mühe, zu erklären, dass ein Stethoskop eher einem Ohr als einer Nase gleicht. Er unterdrückt seine Verärgerung, den empörten Zorn eines verstoßenen Kindes, und außerdem wartet ein Patient. Die Zeit kommt zur Ruhe und konzentriert sich auf die Bedeutung des Augenblicks.

 

Das Haus war luxuriös, aber schlecht beleuchtet. Ghani war Witwer, und das nutzten die Dienstboten deutlich aus. In den Ecken hingen Spinnweben, und auf den Simsen lag der Staub in dicken Schichten. Sie gingen einen langen Flur entlang; eine der Türen stand offen, und dahinter sah Aziz einen Raum in ungezügelter Unordnung. Dieser flüchtige Blick und dann noch ein Glitzern des Lichts auf Ghanis dunkler Brille enthüllten Aziz mit einem Mal, dass der Grundbesitzer blind war. Das verstärkte sein Gefühl des Unbehagens: ein Blinder, der behauptete, europäische Gemälde zu schätzen? Er war aber auch beeindruckt, weil Ghani nichts angerempelt hatte ... Vor einer massiven Teakholztür blieben sie stehen. Ghani, sagte: «Warten Sie hier zwei Sekunden!», und ging in das Zimmer hinter der Tür.

In späteren Jahren schwor Doktor Aziz, dass er in jenen zwei Sekunden der Einsamkeit in den finsteren Fluren voller Spinnweben im Herrenhaus des Grundbesitzers von dem fast unkontrollierbaren Verlangen gepackt wurde, umzukehren und wegzulaufen, so schnell die Beine ihn trugen. Das Rätsel des blinden Kunstliebhabers hatte ihn entnervt, sein Inneres war als Ergebnis des heimtückischen Giftes von Tais Gemurmel mit winzigen krabbelnden Insekten erfüllt, seine Nasenlöcher juckten so sehr, dass er überzeugt war, sich eine Geschlechtskrankheit geholt zu haben, und er spürte, wie seine Füße sich so langsam, als steckten sie in Stiefeln aus Blei, zu wenden begannen; er spürte das Blut in den Schläfen pochen, und das Gefühl, an einem Punkt zu stehen, an dem es kein Zurück mehr gab, wurde so übermächtig, dass er beinahe in seine deutsche Wollhose machte. Ohne es zu wissen, errötete er heftig, und in diesem Stadium erschien ihm seine Mutter; sie saß vor einem niedrigen Pult auf dem Boden, und ein Hautausschlag zog sich wie Schamröte über ihr Gesicht, als sie einen Türkis gegen das Licht hielt. Das Gesicht seiner Mutter spiegelte nun die ganze Verachtung des Fährmanns Tai wider. «Geh, geh, lauf», sagte sie ihm mit Tais Stimme. «Mach dir keine Sorgen um deine arme alte Mutter.» Doktor Aziz merkte, wie er stotterte. «Was für einen unnützen Sohn du hast, Amma. Kannst du nicht sehen, dass mitten in mir ein Loch ist, groß wie eine Melone?» Seine Mutter lächelte gequält. «Du warst schon immer ein herzloser Junge», seufzte sie und verwandelte sich dann in eine Eidechse auf der Flurwand und streckte ihm die Zunge heraus. Doktor Aziz hörte auf, sich schwindlig zu fühlen, wusste nicht recht, ob er tatsächlich laut gesprochen hatte, fragte sich, was er mit dieser Sache mit dem Loch meinte, merkte, dass seine Füße nicht mehr zu entkommen versuchten, und erkannte, dass er beobachtet wurde. Eine Frau mit dem Bizeps eines Ringers starrte ihn an und winkte ihm, ihr ins Zimmer zu folgen. Der Zustand ihres Saris machte ihm klar, dass sie eine Dienerin war, aber sie war nicht unterwürfig. «Sie sehen grün aus wie ein Fisch», sagte sie. «Ihr jungen Ärzte. Kommt in ein fremdes Haus, und eure Leber verwandelt sich in Gallert. Kommen Sie, Doktor Sahib, Sie werden erwartet.» Seine Tasche eine Spur zu fest umklammernd, folgte er ihr durch die dunkle Teakholztür.

... In ein geräumiges Schlafzimmer, das genauso schlecht beleuchtet war wie das übrige Haus, wenn hier auch durch ein fächerförmiges Fenster hoch oben in einer Wand staubige Sonnenstrahlen durchsickerten. Diese verstaubten Strahlen illuminierten eine Szene, die bemerkenswerter war als alles, was der Doktor je erlebt hatte: ein Tableau von solch unwahrscheinlicher Fremdartigkeit, dass es seine Füße wieder zur Tür zog. Zwei weitere Frauen, ebenfalls wie Berufsringer gebaut, standen unbeweglich im Licht, und jede hielt mit hoch über den Kopf erhobenen Armen eine Ecke eines riesigen weißen Lakens, sodass es wie ein Vorhang zwischen ihnen hing. Herr Ghani tauchte aus der Düsternis auf, die das sonnenbeschienene Laken umgab, und erlaubte dem verdutzten Aadam, vielleicht eine halbe Minute lang das absonderliche Bild anzustarren. Nach deren Ablauf machte der Doktor, ohne dass ein Wort gesprochen worden war, eine Entdeckung.

Genau in die Mitte des Betttuchs war ein annähernd rundes Loch mit einem Durchmesser von ungefähr fünfzehn Zentimetern geschnitten.«Mach die Tür zu, Ayah», befahl Ghani der ersten der Ringerinnen und wurde dann, sich an Aziz wendend, vertraulich. «Diese Stadt beherbergt viele Tunichtgute, die bei Gelegenheit versucht haben, ins Zimmer meiner Tochter zu klettern. Sie braucht», er nickte in Richtung der drei muskelstrotzenden Frauen, «Beschützerinnen. »

Aziz betrachtete immer noch das Laken mit dem Loch. Ghani sagte: «Nun gut, machen Sie schon, untersuchen Sie meine Naseem auf der Stelle. Pronto.»

Mein Großvater spähte im Raum umher. «Aber wo ist sie, Ghani Sahib?», stieß er schließlich hervor. Die Ringerinnen setzten eine geringschätzige Miene auf und, so schien es ihm, strafften ihre Muskeln für den Fall, dass er versuchen sollte, irgendwelche Kapriolen zu machen.

«Aha, ich sehe Ihre Verwirrung», sagte Ghani mit breiter werdendem boshaften Lächeln. «Ihr aus Europa zurückgekehrten Kerlchen vergesst gewisse Dinge. Doktor Sahib, meine Tochter ist ein anständiges Mädchen, das versteht sich von selbst. Sie stellt ihren Körper nicht unter der Nase fremder Männer zur Schau. Sie werden verstehen, dass Ihnen nicht erlaubt werden kann, sie zu sehen, nein, unter keinen Umständen. Folglich habe ich darum gebeten, dass man sie hinter diesem Laken aufstellt. Dort steht sie, wie es sich für ein braves Mädchen gehört.»

Ein hitziger Ton hatte sich in Doktor Aziz’ Stimme geschlichen. «Ghani Sahib, sagen Sie mir, wie ich sie untersuchen soll, ohne sie anzusehen!»

Ghani hörte nicht auf zu lächeln. «Sie werden freundlicherweise im Einzelnen anführen, welcher Teil meiner Tochter der Untersuchung bedarf. Ich werde ihr dann den Befehl erteilen, den verlangten Körperteil gegen das Loch zu halten, das Sie hier sehen. Und auf diese Weise mag die Sache dann durchgeführt werden.»

«Aber über was für Beschwerden klagt die Dame eigentlich?» – mein Großvater war der Verzweiflung nahe. Worauf Herr Ghani, dessen Augen sich in ihren Höhlen nach oben drehten und dessen Lächeln sich zu einer Grimasse des Kummers verzerrte, entgegnete:«Das arme Kind! Es hat schreckliche, wirklich zu fürchterliche Magenschmerzen.»

«In diesem Fall», sagte Doktor Aziz mit einiger Selbstbeherrschung,«wird sie mir bitte ihren Magen zeigen.»

Jod

Padma – unsere pummelige Padma – schmollt großartig. (Sie kann nicht lesen, und wie alle Leute, die Fisch mögen, hat sie es nicht gern, wenn andere etwas wissen, was sie nicht weiß. Padma: stark, lustig, der Trost meiner letzten Tage. Aber ganz gewiss ein Neidhammel.) Sie versucht, mich von meinem Schreibtisch wegzulocken:«Iss, komm schon, das Essen verdirbt ja.» Ich bleibe eigensinnig übers Papier gebeugt. «Aber was ist denn so kostbar», verlangt Padma zu wissen und durchteilt mit der rechten Hand erbittert die Luft, aufniederaufnieder, «dass es all diesen Schreibscheiß braucht?» Ich antworte: Nun, da ich die Details meiner Geburt ausgeplaudert habe, nun, da das Laken mit dem Loch zwischen Arzt und Patientin steht, gibt es kein Zurück mehr. Padma schnaubt, schlägt sich mit dem Handgelenk an die Stirn. «Meinetwegen, verhungre doch, verhungre, wen kümmert das schon?» Ein lauteres, endgültigeres Schnauben ... aber ich nehme keinen Anstoß an ihrem Verhalten. Sie verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie den ganzen Tag in einem brodelnden Kessel rührt; etwas Heißes und Essigsaures hat sie heute Abend auf Hochdampf gebracht. Mit stämmiger Taille, etwas behaartem Unterarm windet sie sich, gestikuliert, verschwindet. Arme Padma! Alles bringt sie auf die Palme. Vielleicht sogar ihr Name: verständlich genug, denn ihre Mutter erzählte ihr, als sie noch ganz klein war, sie sei nach der Lotosgöttin genannt worden, die bei der Dorfbevölkerung gewöhnlich heißt: «die, die Dung besitzt».

In der wieder eingekehrten Stille wende ich mich erneut Papierbogen zu, die ein ganz klein wenig nach Gelbwurz riechen – bereit und willens, eine Erzählung, die ich gestern unvollendet ließ, aus ihrem Elend zu erlösen – so wie Scheherezade, deren Überleben davon abhing, dass Prinz Schehrijar von Neugierde verzehrt wurde, Abend um Abend! Ich beginne auf der Stelle, indem ich enthülle, dass die Vorahnungen meines Großvaters, die ihn in jenem Flur überkamen, nicht unbegründet waren. In den folgenden Monaten und Jahren verfiel er einem Zauber, den ich nur als den magischen Bann dieses riesigen – und bis jetzt noch unbefleckten – Tuches bezeichnen kann.

«Schon wieder?›, sagte Aadams Mutter und rollte mit den Augen. «Ich sage dir, mein Kind, dieses Mädchen ist bloß deshalb so kränklich, weil es zu verweichlicht lebt. Zu viel Zuckerwerk und zu verwöhnt, weil die strenge Hand der Mutter fehlt. Aber geh, kümmre dich um deine unsichtbare Patientin, deiner Mutter geht es schon ganz gut mit ihrem kleinen Nichts von Kopfschmerz.»

In jenen Jahren, sehen Sie, zog die Grundbesitzerstochter Naseem Ghani sich eine ganz außerordentliche Reihe leichterer Erkrankungen zu, und jedes Mal wurde ein Schikarabesitzer losgeschickt, um den hoch gewachsenen jungen Doktor Sahib mit der großen Nase zu holen, der sich im Tal so einen guten Ruf erwarb. Aadam Aziz’ Besuche in dem Schlafzimmer mit dem Sonnenstrahl und den drei Ringerinnen wurden zu einem beinahe wöchentlichen Ereignis; und bei jeder Visite wurde ihm durch das verstümmelte Betttuch hindurch ein Blick auf ein anderes fünfzehn Zentimeter großes Körpersegment der jungen Frau gewährt. Auf die anfänglichen Magenschmerzen folgten ein nur ganz leicht verrenkter rechter Knöchel, ein ins Fleisch gewachsener Nagel am großen Zeh des linken Fußes, ein winziger Schnitt im linken Unterschenkel. («Wundstarrkrampf ist mörderisch, Doktor Sahib», sagte der Grundbesitzer. «Meine Naseem darf nicht wegen eines Kratzers sterben.») Da war die Sache mit ihrem steifen rechten Knie, das der Doktor durch das Loch im Laken behandeln musste ... und nach einer Weile wanderten die Krankheiten nach oben, wobei sie gewisse unaussprechliche Zonen vermieden, und begannen, sich auf ihrer oberen Hälfte fortzupflanzen. Sie litt an etwas Mysteriösem, das ihr Vater Fingerfäule nannte und das die Haut an ihren Händen abschuppen ließ; an schwachen Handgelenken, für die Aadam Kalziumtabletten verschrieb; und an Verstopfungsanfällen, gegen die er Abführmittel verordnete, da es außer Frage stand, dass ihm nicht erlaubt würde, ihr ein Klistier zu verabreichen. Sie hatte Fieber, und sie hatte Untertemperatur. Zu dieser Zeit wurde ihr das Thermometer in die Achselhöhle geklemmt, und er murmelte und brummelte etwas über die Unzulänglichkeit dieser Methode. In der anderen Achselhöhle entwickelte sie einmal einen leichten Anfall von Tinea chloris, und er bestäubte sie mit gelbem Puder; nach dieser Behandlung – die verlangte, dass er den Puder sanft, aber fest einrieb, obwohl der weiche verborgene Körper zu beben und zu zittern begann und Aadam hilfloses Gelächter durch das Betttuch dringen hörte, weil Naseem Ghani sehr kitzlig war – hörte das Jucken auf, aber Naseem fand schnell ein neues Sortiment von Beschwerden. Sie wechselte zwischen Anämie im Sommer und Bronchitis im Winter. («Ihre Bronchien sind äußerst zart», erklärte Ghani, «wie kleine Flöten.») Weit weg schritt der Große Krieg von Krise zu Krise fort, während Doktor Aziz in dem Haus mit den Spinnweben ebenfalls in einen totalen Krieg gegen die unerschöpflichen Beschwerden seiner unterteilten Patientin eingespannt war. Und in all diesen Jahren wiederholte Naseem keine einzige Krankheit.«Was nur beweist», teilte Ghani ihm mit, «dass Sie ein guter Arzt sind. Wenn Sie eine Krankheit heilen, ist sie ein für alle Mal davon geheilt. Aber ach!» – er schlug sich an die Stirn –, «das arme Kind sehnt sich nach seiner verstorbenen Mutter, und sein Körper leidet. Es ist ein zu anhängliches Kind.»

So bekam Doktor Aziz in seiner Vorstellung allmählich ein Bild von Naseem, eine schlecht zusammenpassende Collage ihrer gesondert untersuchten Teile. Dieses Phantombild einer unterteilten Frau begann ihn zu verfolgen, und das nicht nur in seinen Träumen. Von seiner Vorstellungskraft zusammengeleimt, begleitete sie ihn auf all seinen Visiten, sie zog in die vorderste Kammer seines Geistes, sodass er im Wachen und Schlafen in den Fingerspitzen ihre weiche kitzlige Haut oder die perfekten winzigen Handgelenke oder die Schönheit ihrer Knöchel spürte; er konnte ihren Duft von Lavendel oder Jasmin riechen; er konnte ihre Stimme und ihr hilf loses Jungmädchengelächter hören; aber sie war kopflos, denn nie hatte er ihr Gesicht gesehen.

Seine Mutter lag auf ihrem Bett, flach ausgestreckt auf dem Bauch. «Komm, komm her und drück mich», sagte sie, «mein Doktorsohn, dessen Finger die Muskeln seiner alten Mutter lockern können. Drück, drück, mein Kind mit dem Ausdruck einer Gans, die Verstopfung hat.» Er knetete ihre Schultern durch. Sie ächzte, wand sich, entspannte sich. «Tiefer jetzt», sagte sie. «Jetzt höher. Nach rechts. Gut. Mein brillanter Sohn, der nicht erkennt, was der Grundbesitzer Ghani anstellt. So klug ist mein Kind, aber er errät nicht, warum das Mädchen ständig mit so albernen Krankheiten darniederliegt. Hör zu, mein Junge, sieh dir die Nase in deinem Gesicht wenigstens ein einziges Mal an: Dieser Ghani denkt, du bist ein guter Fang für sie. Im Ausland studiert und alles. Ich habe in Läden gearbeitet, und die Augen Fremder haben mich ausgezogen, damit du diese Naseem heiraten sollst! Natürlich habe ich Recht; weshalb sonst würde er auch nur einen zweiten Blick auf unsere Familie werfen?» Aziz massierte seine Mutter stärker. «O Gott, hör auf jetzt, du brauchst mich nicht umzubringen, weil ich dir die Wahrheit sage!»

Im Jahre 1918 war es mit Aadam Aziz so weit gekommen, dass die regelmäßigen Ausflüge über den See zu seinem Lebensinhalt geworden waren. Und nun wurde er sogar noch eifriger, weil klar wurde, dass nach drei Jahren der Grundbesitzer und seine Tochter willens geworden waren, gewisse Schranken zu senken. Nun sagte Ghani zum ersten Mal: «Ein Knoten in der rechten Brust. Ist das beunruhigend, Doktor? Sehen Sie nach. Sehen Sie gut nach!,› Und dort, von dem Lochrand eingerahmt, war eine vollkommen geformte und lyrisch schöne... «Ich muss sie anfassen», sagte Aziz mit schier versagender Stimme. Ghani schlug ihm auf den Rücken. «Fassen Sie an, fassen Sie an!», rief er. «Die Hände des Heilers! Die heilende Berührung, was, Doktor?» Und Aziz streckte eine Hand aus ... «Verzeihen Sie meine Frage, aber hat die Dame ihre Tage?» ... Auf den Gesichtern der Ringerinnen erschien ein kleines, unerforschliches Lächeln. Ghani nickte leutselig. «Ja. Seien Sie doch nicht so verlegen, alter Knabe. Wir sind doch jetzt Familie und Arzt.» Und Aziz: «Dann machen Sie sich keine Sorgen. Die Knoten verschwinden, wenn die Tage vorbei sind.» ... Und beim nächsten Mal: «Eine Muskelzerrung hinten an ihrem Oberschenkel, Doktor Sahib. Solche Schmerzen!» Und dort im Laken hing, Aadam Aziz’ Augen schwächend, eine prachtvoll gerundete und unwahrscheinliche Hinterbacke ... Und nun Aziz: «Ist es gestattet ...?»Daraufhin ein Wort von Ghani, eine gehorsame Antwort hinter dem Betttuch, eine Schnur wird gezogen, und Pajamas fallen von dem himmlischen Hinterteil, das sich wundersam durch das Loch wölbt. Aadam Aziz zwingt sich in eine medizinische Geistesverfassung ... streckt die Hand aus ... fühlt. Und schwört verblüfft bei sich, dass er sieht, wie in der Hinterbacke eine scheue, aber entgegenkommende Schamesröte aufsteigt.

An jenem Abend sinnierte Aadam über das Erröten. Wirkte der Zauber des Lakens auf beiden Seiten des Loches? Aufgeregt stellte er sich seine kopflose Naseem vor, wie sie unter seinen prüfenden Augen, seinem Thermometer, seinem Stethoskop erschauerte und versuchte, sich in ihrer Vorstellung ein Bild von ihm zu machen. Sie befand sich natürlich im Nachteil, weil sie nichts als seine Hände gesehen hatte ...

Mit unerlaubter Verzweiflung begann Aadam zu hoffen, dass Naseem Ghani, eine Migräne entwickele oder ihr unerblicktes Kinn abschürfe, damit sie sich ins Gesicht sehen konnten. Er wusste, wie berufswidrig seine Gefühle waren, unternahm aber nichts, sie zu unterdrücken. Viel konnte er auch nicht tun. Sie hatten ein eigenes Leben angenommen. Kurzum: Mein Großvater hatte sich verliebt und betrachtete das Laken mit dem Loch als etwas Geheiligtes und Magisches, denn durch dieses Laken hatte er die Dinge gesehen, die das Loch in ihm gefüllt hatten, das entstanden war, als er von einem Erdklumpen auf die Nase geschlagen und von dem Fährmann Tai beleidigt worden war.

An dem Tag, an dem der Weltkrieg endete, bekam Naseem die ersehnten Kopfschmerzen. Solche historischen Zusammentreffen haben die Existenz meiner Familie in der Welt verunreinigt und vielleicht besudelt.

Er traute sich kaum, auf das im Loch des Lakens Eingerahmte zu blicken. Vielleicht war sie abgrundtief hässlich – vielleicht erklärte das dieses ganze Theater ... er blickte hin. Und sah ein sanftes Gesicht, das ganz und gar nicht hässlich war, eine gepolsterte Fassung für ihre glänzenden Edelsteinaugen – die braun und goldgesprenkelt waren: Tigeraugen. Doktor Aziz verfiel ihr endgültig. Und Naseem platzte heraus: «Aber Doktor, mein Gott, was für eine Nase!» Ghani, wütend: «Tochter, hüte deine ...» Aber Patientin und Arzt lachten gemeinsam, und Aziz sagte: «Ja, ja, sie ist ein ganz beachtliches Exemplar. Man sagt mir, Dynastien warten darin ...» Und er biss sich auf die Zunge, weil er beinah hinzugefügt hätte: «... wie Rotz.»

Und Ghani, der drei lange Jahre blind neben dem Betttuch gestanden und immer gelächelt hatte, begann wieder einmal sein unerforschliches Lächeln zu lächeln, das sich auf den Lippen der Ringerinnen spiegelte.

 

In der Zwischenzeit hatte der Fährmann Tai seine unerklärte Entscheidung getroffen, das Waschen aufzugeben. In einem von Süßwasserseen getränkten Tal, in dem selbst die Ärmsten auf ihre Sauberkeit stolz sein konnten (und es auch waren), zog Tai es vor, zu stinken. Drei Jahre lang hatte er sich nun weder gewaschen noch gebadet, nachdem er den Rufen der Natur nachgekommen war. Jahrein, jahraus trug er dieselben Kleider; seine einzige Konzession an den Winter bestand darin, dass er seinen Chughamantel über seine verfaulenden Pajamas zog. Der kleine Korb mit heißen Kohlen, den er nach kaschmirischer Art unter dem Chughamantel trug, um sich in der bitteren Kälte warm zu halten, belebte und verstärkte seine üblen Gerüche nur. Er gewöhnte sich an, langsam an dem Haus der Aziz’ vorbeizutreiben und seine fürchterlichen Ausdünstungen über den kleinen Garten und ins Haus hinein auszuströmen. Blumen starben. Vögel flohen vom Sims vor dem Fenster des alten Vater Aziz. Natürlich verlor Tai Arbeit, besonders den Engländern widerstrebte es, von einer menschlichen Abtrittgrube übergesetzt zu werden. Rund um den See erzählte man sich, dass Tais Frau, von der plötzlichen Schmutzigkeit des Alten zum Wahnsinn getrieben, flehentlich um eine Erklärung gebeten habe. Er habe geantwortet: «Frag unseren aus dem Ausland zurückgekehrten Doktor, frag diesen Nakkoo, diesen deutschen Aziz!» War es also ein Versuch, die überempfindliche Nase des Doktors zu beleidigen (in der das Jucken der Gefahr unter dem betäubenden Beistand der Liebe etwas nachgelassen hatte)? Oder eine Geste der Unveränderlichkeit, dem Eindringen des Doktori-Koffers aus Heidelberg zum Trotz? Einmal fragte Aziz den steinalten Mann geradeheraus, wofür das alles gut sei, aber Tai hauchte ihn nur an und ruderte weg. Der Atem warf Aziz beinahe um; er war schneidend wie eine Axt.

1918 starb Doktor Aziz’ Vater, seiner Vögel beraubt, im Schlaf, und sofort legte seine Mutter, die dank des Erfolgs von Aziz’ Praxis das Edelsteingeschäft hatte verkaufen können und den Tod ihres Ehemanns nun als barmherzige Erlösung von einem Leben voller Verpflichtungen ansah, sich auf ihr eigenes Sterbebett und folgte ihrem Mann noch vor Ablauf der vierzigtägigen Trauerzeit. Als die indischen Regimenter bei Kriegsende zurückkehrten, war Doktor Aziz eine Waise und ein freier Mann – abgesehen davon, dass sein Herz durch ein Loch von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser gefallen war. Verheerende Wirkung von Tais Benehmen: Es zerstörte Doktor Aziz’ gute Beziehungen zu der auf dem Wasser lebenden Bevölkerung des Sees. Er, der als Kind ungezwungen mit Fischfrauen und Blumenverkäufern geplaudert hatte, fand sich nun schief angesehen. «Frag diesen Nakkoo, diesen deutschen Aziz!» Tai hatte ihn als Fremdling gebrandmarkt und damit als Person, der man nicht voll vertrauen konnte. Sie mochten den Fährmann nicht, aber die Verwandlung, die der Doktor augenscheinlich in ihm bewirkt hatte, fanden sie noch beunruhigender. Doktor Aziz fand sich von den Armen verdächtigt, sogar geächtet, und das verletzte ihn tief. Nun verstand er, was Tai im Schilde führte: Der Mann versuchte, ihn aus dem Tal zu verjagen. Auch die Geschichte vom Laken mit dem Loch sickerte durch. Die Ringerinnen waren offenbar weniger diskret, als sie aussahen. Aziz begann zu merken, dass die Leute mit dem Finger auf ihn zeigten. Frauen kicherten hinter vorgehaltener Hand ...