Quichotte - Salman Rushdie - E-Book
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Salman Rushdie

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Beschreibung

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

Ismael Smile ist ein Reisender, der besessen ist von der »unwirklichen Wirklichkeit« des Fernsehens. Er will das Herz der Königin aller Talkshows erobern und begibt sich auf eine Reise quer durch Amerika, um sich ihrer als würdig zu erweisen. Auf dem Beifahrersitz, Sancho, der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, aber niemals bekam.

Auf grandiose versetzt Bestsellerautor Salman Rushdie die Abenteuer des klassischen tragischen Helden Quichotte in unser Zeitalter des »Alles ist möglich«.

»Mit Cervantes durch die USA von heute: eine witzige und scharfsinnige Road-Novel.« DIE ZEIT

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Salman Rushdies Quichotte ist ein Reisender, der besessen ist von der Wirklichkeit des Fernsehens. Er ist entschlossen, das Herz von Salma R., der Königin der Talkshows, zu erobern, und begibt sich auf eine Reise quer durch Amerika, um sich ihrer als würdig zu erweisen.

Auf dem Beifahrersitz erscheint plötzlich Sancho, der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, den es aber nie gab.

Rushdie versetzt die Abenteuer des klassischen tragischen Helden in unser Zeitalter des »Alles ist möglich«. Dabei erzählt er auch von Vater-Sohn-Beziehungen, Geschwisterstreitigkeiten, unverzeihlichem Handeln, alltäglichem Rassismus, der Opioid-Krise, Cyber-Spionen, dem Leben des Autors, der diesen neuen Quichotte geschaffen hat, und nicht zuletzt vom Ende der Welt.

»Dieser Roman kann fliegen, er kann schweben, er ist anekdotisch, sprudelnd, bezaubernd und erzählt obendrein eine ausnehmend gute Geschichte.« Sunday Times

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman Mitternachtskinder wurde er weltberühmt. Seine bislang dreizehn Romane erhielten renommierte internationale Preise und sind in mehr als vierzig übersetzt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter. Die 2012 erschienene Autobiographie Joseph Anton wurde ein international hochgelobter Bestseller. Zuletzt erschien bei C. Bertelsmann der Roman Golden House.

Salman Rushdie

Quichotte

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Herting

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Quichotte bei Random House, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Salman Rushdie

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: buerosued, München unter Verwendung eines Motivs vonGettyimages / Claudio Capucho

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN978-3-641-25575-6V002

www.cbertelsmann.de

Für Eliza

Eine quichottische Anmerkung zur Aussprache

Erster Teil

1. Kapitel

Quichotte, ein alter Mann, verliebt sich, begibt sich auf die Quest & wird Vater

2. Kapitel

Ein Autor, Sam DuChamp, sinnt über seine Vergangenheit nach & betritt neues Territorium

3. Kapitel

Quichottes Angebetete, ein Stern aus einer Sternendynastie, zieht um in eine andere Galaxie

4. Kapitel

Bruders Schwester erinnert sich an ihren Streit & ist in eine andere heftige Auseinandersetzung verwickelt

5. Kapitel

Quichottes Cousin, der »gute« Dr. Smile, ist ein Mann mit vielen Geheimnissen

6. Kapitel

Sancho, Quichottes erfundener Sohn, strebt danach, seine Natur zu verstehen

7. Kapitel

Quichotte & Sancho betreten das erste Tal der Quest, & Sancho begegnet einem italienischen Insekt

8. Kapitel

In dem wir uns von der Helligkeit der Geliebten abwenden & ihre Dunkelheit erforschen

Zweiter Teil

9. Kapitel

Eine Unerfreulichkeit am Lake Capote & nachfolgende Störungen in der Realität

10. Kapitel

In dem sie das zweite Tal durchqueren, auch Sancho die Liebe findet & später, im dritten Tal, die Erkenntnis hinter sich lassen

11. Kapitel

Dr. Smile trifft Mr. Thayer; & ein Großvater taucht aus der Vergangenheit auf, um die Gegenwart heimzusuchen

12. Kapitel

Eine Reihe absurder Ereignisse während eines kurzen Aufenthalts in New Jersey

13. Kapitel

Quichotte in der großen Stadt, viele Enthüllungen; & Sancho widerfährt ein schwerwiegendes Unglück

14. Kapitel

Der Autor, bekannt als Sam DuChamp, trifft einen ungebetenen Fremden

15. Kapitel

Schwester betreffend & das Unverzeihliche

Dritter Teil

16. Kapitel

Das Trampolin erzählt Sancho & Quichotte eine alte Geschichte vom Verrat, & der Weg ist eröffnet

17. Kapitel

In dem Schwester die Familiengeschichte beendet & ihr eigenes Spiel

18. Kapitel

Quichotte erreicht sein Ziel, woraufhin Scham & Skandal die Geliebte verschlingen

19. Kapitel

In dem Sanchos Frage beantwortet wird

20. Kapitel

Welches das Herz des Autors betrifft

21. Kapitel

In dem die Welt explodiert & der Wanderer zeitlos wird

Dank

Eine quichottische Anmerkung zur Aussprache

Quichotte, im Französischen »ki-SCHOT« und im Deutschen ­»ki-SCHOT-eh« ausgesprochen, und Chisciotte im Italienischen, »ki-SCHO-teh« ausgesprochen, sind alternative Schreibweisen/Aussprachen des spanischen Quixote oder Quijote, ausgesprochen »ki-HO-te«. Die Portugiesen nutzen auch eher einen »sch«-Laut als einen »h«-Laut für das x oder das j in der Mitte von Don Quixotes/Quijotes illustrem Namen. Cervantes hätte vermutlich im Spanischen seiner Zeit »ki-SCHO-teh« gesagt. Für die Absichten dieses Texts ist die empfohlene Aussprache das elegante französische »ki-SCHOT«, das wie das englische Wort key-shot klingt, aus Gründen, die der Text selbst erhellen wird; aber, geneigter Leser, handeln Sie nach Belieben. Jedem/jeder/allen die eigene Aussprache des universellen Don.

Erster Teil

1. Kapitel

Quichotte, ein alter Mann, verliebt sich, begibt sich auf die Quest & wird Vater

Einst lebte an verschiedenen Adressen quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika ein Reisender indischen Ursprungs, fortgeschrittenen Alters und mit schwindenden geistigen Kräften, der angesichts seiner Liebe zum geistlosen Fernsehen viel zu viel Lebenszeit im gelben Licht von geschmacklosen Motelzimmern verbracht hatte, wo er es bis zum Exzess schaute, und der als Folge eine absonderliche Form des Hirnschadens davongetragen hatte. Er verschlang Morgenshows, Mittagsshows, Late-­Night-Talkshows, Soaps, Stand-up-Comedys, ­Lebenslinien, Kran­kenhausdramen, Polizeiserien, Vampir- und Zombie-Serien, die Dramen der Hausfrauen von Atlanta, New Jersey, Beverly Hills und New York, die Liebesgeschichten und Streitigkeiten von vermögenden-Hotel-Prinzessinnen und selbst ernannten Schahs, das Herumgetolle von Individuen, die durch unbeschwerte Nacktheit berühmt wurden, die fünfzehn Minuten des Ruhms, der den jungen Leuten mit vielen Followern in den Social Media zuteilwurde, aufgrund ihrer Plastischen-Chirurgie-Errungenschaft einer dritten Brust oder ihrer Post-Rippenentfernungs-Figur, die die unmögliche Gestalt der Barbie-Puppe der Mattel Company nachahmte, oder sogar, einfacher, ihre Fähigkeit, einen gigantischen Karpfen in pittoresker Landschaft zu fangen, während sie nur den winzigsten String-Bikini anhatten; ebenso wie Gesangswettbewerbe, Kochwettbewerbe, Wettbewerbe für Geschäftsideen, Wettbewerbe um Lehrstellen, Wettbewerbe zwischen ferngesteuerten Monsterfahrzeugen, Modewettbewerbe, Wettbewerbe um Zuneigung von Bachelors und Bacheloretten, Baseballspiele, Basketballspiele, Fußballspiele, Wrestlingkämpfe, Kickboxkämpfe, Extremsportprogramme und natürlich Schönheitswettbewerbe. (»Hockey« schaute er sich nicht an. Für Menschen seiner Ethnie und mit tropischer Jugend war Hockey, das in Amerika in »Feldhockey« umbenannt wurde, ein Rasenspiel. Feldhockey auf Eis zu spielen war seiner Meinung nach das absurde Äquivalent von Schlittschuhlaufen auf einer Wiese.)

Als Konsequenz seiner nahezu totalen Beschäftigung mit dem Material, in früheren Zeiten ihm von Kathodenstrahl-Röhren dargeboten und heute von Flachbildschirmen, von Flüssigkristall-, Plasma- und organischen lichtemittierenden Diodenbildschirmen, wurde er zum Opfer dieser zunehmend vorherrschenden psychischen Erkrankung, bei der die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge scheckig wurde und verschwamm, sodass er manches Mal unfähig war, das eine vom anderen zu unterscheiden, die Realität von der »Realität«, und sich selbst als einen natürlichen Bürger (und potenziellen Bewohner) dieser imaginierten Welt hinter dem Bildschirm empfand, der er so zugetan war und die, wie er glaubte, ihm und somit jedem die moralischen, sozialen und praktischen Richtlinien vermittelte, mit denen alle Männer und Frauen leben sollten.

Als die Zeit verging und er immer tiefer im Treibsand dessen versank, was man das ­unreale Reale nennen könnte, fühlte er sich emotional mit vielen Bewohnern dieser anderen, helleren Welt verbunden, eine Mitgliedschaft, auf die er von Rechts wegen Anspruch erhob, wie eine moderne Dorothy, die ein dauerhaftes Leben in Oz erwägt; und zu einem unbekannten Zeitpunkt entwickelte er eine ungesunde, weil gänzlich einseitige Passion für eine gewisse Fernsehpersönlichkeit, für die schöne, geistreiche, bewunderte Miss Salma R., eine Vernarrtheit, die er recht irrig als Liebe bezeichnete. Im Namen dieser sogenannten Liebe beschloss er eilfertig, seiner »Liebsten« nachzusetzen, direkt durch den Fernsehbildschirm in die wie auch immer gehobene High-Definition-Realität, die sie und ihresgleichen bewohnten, und durch Taten als auch durch Charme ihr Herz zu gewinnen.

Er sprach langsam, bewegte sich langsam und zog sein rechtes Bein beim Gehen ein wenig nach – die anhaltende Folge eines dramatischen Inneren Geschehnisses viele Jahre zuvor, das auch sein Gedächtnis beeinträchtigt hatte, sodass, während Begebenheiten aus der fernen Vergangenheit lebendig blieben, seine Erinnerungen an die mittlere Phase seines Lebens sich nur aufs Geratewohl einstellten, mit großen Lücken und anderen Klüften, die – als gäbe es einen achtlosen, eiligen Baumeister – mit falschen Erinnerungen aufgefüllt wurden, die er vielleicht im Fernsehen gesehen hatte. Ansonsten schien er für einen Mann seines Alters recht gut in Form zu sein. Er war ein großer, man könnte sogar sagen, ein hochgewachsener Mann, von der Art, wie man sie auf den kargen Gemälden von El Greco und bei den hageren Skulpturen von Alberto Giacometti antrifft, und obgleich derartige Männer (zum Großteil) ein melancholisches Gemüt haben, war er mit einem freundlichen Lächeln und der charmanten Art eines Gentleman alter Schule gesegnet, beides wertvolle Vorzüge für einen Handelsreisenden, zu dem er in diesen seinen goldenen Jahren für sehr lange Zeit wurde. Zudem war schon sein Name freundlich: Er hieß Smile. Mr. Ismael Smile, Verkaufsleiter, Smile Pharmaceuticals Inc., Atlanta, GA., so stand es auf seiner Visitenkarte. Als Handelsvertreter war er immer stolz gewesen, dass sein Name mit dem des Unternehmens, das er repräsentierte, identisch war. Sein Familienname. Es verlieh ihm eine gewisse gravitas, oder zumindest glaubte er es. Dies war allerdings nicht der Name, unter dem er bei seinem letzten, närrischsten Abenteuer bekannt werden wollte.

(Der unübliche Nachname »Smile« war übrigens die amerikanisierte Version von »Ismael«, somit war der alte Handelsreisende eigentlich Mr. Ismael Ismael oder alternativ Mr. Smile Smile. Er war ein braunhäutiger Mann in Amerika, der sich nach einer braunhäutigen Frau sehnte, aber er sah seine Geschichte nicht unter ethnischen Gesichtspunkten. Er hatte sich, so könnte man sagen, von seiner Haut losgelöst. Dies war eines der vielen Dinge, die seine Quest infrage stellen und ändern würde.)

Je mehr er über die Frau nachdachte, die zu lieben er ­beteuerte, umso klarer wurde ihm, dass eine so herrliche Person nicht einfach vor Freude bei der ersten Erklärung der amourfou von einem ihr völlig Fremden umfallen würde. (So verrückt war er nicht.) Deshalb wäre es notwendig, dass er sich ihrer würdig erwiese, und die Vorkehrungen für solche Beweise würden fortan sein einziges Interesse sein. Ja! Er würde seinen Wert reichlich unter Beweis stellen! Es würde notwendig sein, wenn er seine Quest aufnähme, das Objekt seiner Zuneigung gänzlich über seine Taten zu informieren, und daher beabsichtigte er, eine Korrespondenz mit ihr aufzunehmen, eine Reihe von Briefen zu schreiben, die seine Aufrichtigkeit, die Tiefe seiner Zuneigung enthüllen würden, und wie weit er bereit wäre zu gehen, um ihr Herz zu gewinnen. An diesem Punkt seiner Überlegungen überwältigte ihn eine Art Scheu. Würde er ihr enthüllen, wie bescheiden seine Stellung im Leben wirklich war, könnte sie seinen Brief mit einem hübschen Lachen in den Müll werfen und wäre mit ihm für immer fertig. Würde er sein Alter offenbaren oder ihr Einzelheiten seines Äußeren schildern, könnte sie mit einer Mischung aus Erheiterung und Entsetzen vor der Information zurückschrecken. Würde er ihr seinen Namen anvertrauen, den zugegebenermaßen erhabenen Namen Smile, einen Namen, an dem großes Geld hing, könnte sie in einem Anflug schlechter Laune die Behörden alarmieren, und auf Geheiß des Objekts seiner Verehrung wie ein Hund gehetzt zu werden würde ihm das Herz brechen, und er würde sicherlich sterben. Deshalb würde er ihr für den Augenblick seine wahre Identität verheimlichen und sie erst offenlegen, wenn seine Briefe und die Taten, die darin beschrieben wären, ihre Haltung ihm gegenüber erweicht hätten und sie für seine Avancen empfänglich sein würde. Wie würde er wissen, wann dieser Augenblick gekommen wäre? Diese Frage würde später beantwortet werden. Wichtig war es, jetzt zu beginnen. Und eines Tages fiel ihm der richtige Name ein, den er benutzen könnte, die beste aller Identitäten, die er annehmen könnte, in diesem Augenblick zwischen Wachen und Schlafen, wenn die imaginierte Welt hinter unseren Augenlidern ihre Magie in die Welt hineintröpfelt, die wir sehen, wenn wir die Augen öffnen.

An diesem Morgen schien er sich in einem Traum zu sehen, der zu sich im wachen Zustand sprach. »Sieh dich an«, murmelte sein halb schlafendes Ich zu seinem halb wachen Ich. »So groß, so mager, so alt, und doch kannst du nichts besser kultivieren als den wucherndsten aller Bärte, als wärest du ein Teenager mit Pickeln. Und ja, gib es zu, vielleicht ein bisschen angeknackst im Kopf, einer dieser Kopf-in-den-Wolken-Kerle, der fälschlicherweise Kumulus- oder Kumulonimbus- oder sogar Zirrostratus-Formationen für festen Boden hält. Denk einfach zurück an das Musikstück, das dir als Junge am liebsten war! Ich weiß, derzeit ziehst du das Getriller vor, das du bei American Idol oder The Voice hörst. Aber damals mochtest du, was dein künstlerischer Vater mochte, du hast dir seinen Musikgeschmack zu eigen gemacht. Erinnerst du dich an seine liebste Platte?« Woraufhin der halb träumende Smile mit schwungvoller Gebärde eine Vinyl-LP hervorzog, die der halb wache Smile sofort erkannte. Es war eine Aufnahme der Oper Don Quichotte von Jules Massenet. »Lediglich frei nach Cervantes’ großem Meisterwerk, nicht wahr«, grübelte das Phantom. »Und was dich betrifft, scheint es, als wärest du auch frei nach dir selbst.«

Es war entschieden. Er stieg in seinem gestreiften Schlafanzug aus dem Bett – rascher, als er es wollte – und klatschte in die Hände. Ja! Dies wäre das Pseudonym, das er in seinen Liebesbriefen verwenden würde. Er wäre ihr geistreicher Ehrenmann Quichotte. Er wäre der Lancelot zu ihrer Guinevere und würde sie zu seinem Joyous Gard bringen. Er wäre – um Chaucers Canterbury Tales zu zitieren – ihr wahrhaftig wohlgeratener edler Ritter.

Es war das Zeitalter von Alles-ist-möglich, rief er sich in Erinnerung. Er hatte das viele Leute im Fernsehen sagen hören und in den übertriebenen Videoclips, die im Cyberspace umherschwirrten, was seiner Hingabe eine weitere, neu-technologische Tiefe hinzufügte. Und im Zeitalter von Alles-ist-möglich war, nun ja, allesmöglich. Es gab keine Regeln mehr. Alte Freunde könnten zu neuen Feinden und traditionelle Feinde deine neuen besten Freunde oder sogar Geliebte werden. Es war nicht mehr möglich, das Wetter vorherzusagen oder die Wahrscheinlichkeit eines Krieges oder das Ergebnis von Wahlen. Eine Frau ­könnte sich in ein Ferkel verlieben und ein Mann mit einer Eule zusammenleben. Eine Schönheit könnte in den Schlaf fallen und, nachdem sie geküsst wurde, aufwachen und eine andere Sprache sprechen, und in dieser neuen Sprache offenbarte sie einen völlig anderen Charakter. Ein Hochwasser könnte deine Stadt überfluten. Ein Tornado könnte dein Haus in ein weit entferntes Land davontragen, wo es beim Hinabstürzen eine Hexe zerquetschte. Kriminelle könnten Könige werden und Könige als Kriminelle enttarnt werden. Ein Mann könnte entdecken, dass die Frau, mit der er zusammenlebte, das außereheliche Kind seines Vaters war. Eine ganze Nation könnte wie ein Schwarm Lemminge von der Klippe springen. Männer, die im Fernsehen Präsidenten spielten, könnten Präsidenten werden. Das Wasser könnte zur Neige gehen. Eine Frau könnte ein Baby zur Welt bringen, das sich als ein wiederkehrender Gott herausstellte. Worte könnten ihre Bedeutung verlieren und neue erlangen. Die Welt könnte untergehen, wie es jedenfalls ein prominenter Wissenschaftler und Unternehmer wiederholt voraussagte. Ein übler Geruch würde über diesem Ende hängen. Und ein TV-Star könnte wundersamerweise die Liebe eines närrischen alten Kauzes erwidern, was ihm einen unwahrscheinlichen Liebestriumph bescheren würde, der ein langes, kleines Leben aufwöge und ihm schließlich den strahlenden Glanz von Erhabenheit verliehe.

Quichottes große Entscheidung fiel im Red Roof Inn in Gallup, New Mexico (21 678 Einw.) Der Handelsreisende sah sehnsüchtig und neidisch auf Gallups historisches El Rancho Hotel, das in der Blütezeit der Western viele der Filmstars während der Dreharbeiten in der Gegend als Gäste aufgenommen hatte, von John Wayne und Humphrey Bogart bis zu Katharine Hepburn und Mae West. Das El Rancho lag außerhalb seiner Preisklasse, und deshalb fuhr er an ihm vorbei zu dem bescheideneren Red Roof, was ihm sehr genehm war. Er war ein Mann, der gelernt hatte, sein Los klaglos zu akzeptieren. An jenem Morgen lief der Fernseher, als er mit seiner strahlend neuen Identität erwachte – er war eingeschlafen, ohne daran zu denken, ihn auszuschalten –, und der Wettermann von KOB 4, Steve Stucker, war auf Sendung mit seiner Hundeparade, mit den berühmten Wetterhunden Radar, Rez, Squeaky und Tuffy. Das bedeutete, es war Freitag, und der neu benannte Mister Quichotte (er hatte nicht das Gefühl, ihm stehe der honorige Don zu oder er habe ihn gar verdient), energiegeladen durch seinen neu gefassten Entschluss, durch die Eröffnung des mit Blumen bestreuten Weges vor ihm, der zur Liebe führte, war voll Begeisterung, obwohl er sich am Ende einer ermüdenden Woche befand, in der er die Arztpraxen der Gegend in Albuquerque und anderswo besucht hatte. Den Tag zuvor hatte er in den Gebäuden der Rehoboth McKinley Christian Health Care Services verbracht, bei der Western New Mexico Medical Group und dem Gallup Indian Medical Center (das sich um die beträchtliche Urbevölkerung der Stadt, vom Stamm der Hopi, der Navajo und Zuni, kümmerte). Die Verkaufszahlen seien gut gewesen, dachte er, auch wenn er so manch gerunzelte Stirn und verlegenes Lachen auf seine jovialen Hinweise geerntet hatte, er werde demnächst in New York City (8 550 405 Einw.) Urlaub machen mit einer neuen Freundin, einer Sehr Berühmten Lady, der Königin des Das-muss-man-unbedingt-sehen-Fernsehens. Und sein kleines Bonmot im Indian Medical Center – »Eigentlich bin ich auch ein Indianer! mit einem Punkt, ohne Federn! Darum bin ich sehr glücklich, hier im Indianerland zu sein« – war gar nicht gut angekommen.

Er hatte keinen festen Wohnsitz mehr. Die Straße war sein Zuhause, der Wagen sein Wohnzimmer, der Kofferraum sein Schrank, und eine Reihe von Red Roof Inns, Motel 6s, Days Inns und andere Gasthäuser versorgten ihn mit Betten und Fernsehern. Er zog Häuser mit Premium-Kabelkanälen vor, aber wenn es keine gab, war er auch mit der normalen Network-Kost zufrieden. Doch an diesem speziellen Morgen hatte er keine Zeit für den örtlichen Wettermann und seine Rettungshunde. Er wollte mit seinen Freunden über die Liebe reden und über die Quest eines Liebenden, auf die er sich begeben wollte.

Die Wahrheit war, dass er fast keine Freunde mehr hatte. Es gab seinen reichen Cousin, den Unternehmer und Chef Dr. R. K. Smile, und Dr. Smiles Ehefrau Happy, mit beiden verbrachte er nicht viel Zeit, und es gab Rezeptionisten in einigen Motels, wo er regelmäßig abstieg. Es gab einige wenige Leute im ganzen Land und auf dem Erdball verstreut, die vielleicht noch so etwas wie Freundschaft für ihn empfanden. Da war vor allem eine Frau in New York City (sie nannte sich selbst das Menschliche Trampolin), die ihn vielleicht wieder anlächeln würde, wenn er Glück hätte und sie seine Entschuldigungen annehmen sollte. (Er wusste oder dachte, er wüsste, dass Entschuldigungen fällig seien, aber an das Warum konnte er sich nur noch zum Teil erinnern, und manches Mal dachte er, dass sein beeinträchtigtes Gedächtnis vielleicht die Dinge durcheinandergebracht habe und es an ihr sei, sich bei ihm zu entschuldigen.) Aber er hatte keine soziale Gruppe, keine Kohorte, keine Schar, keine wirklichen Kumpel, da er vor langer Zeit das gesellschaftliche Treiben aufgegeben hatte. Auf seiner Facebook-Seite hatte er nur eine kleine schwindende Gruppe von Handelsreisenden als »Freunde« und »Freunde von Freunden«, und auch eine Sammlung von einsamen Herzen, Angebern, Exhibitionisten und lüsternen Damen, die sich so erotisch benahmen, wie die irgendwie puritanischen Regeln des sozialen Mediums es erlaubten. Jeder einzelne dieser zitierten »Freunde« sah sein Vorhaben, als er es begeistert gepostet hatte, als das an, was es war – als einen närrischen Plan, der an Wahnsinn grenzte –, und versuchte, ihn in seinem eigenen Interesse davon abzubringen, Miss Salma R. zu stalken oder zu belästigen. Als Reaktion auf seinen Post gab es stirnrunzelnde Emojis und Bitmojis, die tadelnd den Zeigefinger erhoben, und es gab GIFs von Salma R. persönlich, mit schielendem Blick, mit herausgestreckter Zunge und einem rotierenden Zeigefinger an der rechten Schläfe, all das fügte sich zu dem universell anerkannten Set von Gesten, die »total irre« bedeuteten. Wie auch immer, er würde sich nicht abhalten lassen.

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

In seiner Jugend – die für sein Erinnerungsvermögen lang genug zurücklag, sodass er sie klar im Kopf hatte – war er ein Wanderer reinerer Art gewesen als der Handelsreisende, der er schließlich wurde, er hatte sich nah und fern herumgetrieben, einfach um zu sehen, was er sehen konnte, vom Kap Horn und der Tierra del Fuego, von den Enden der Erde, wo alle Farben aus der Welt schwanden, sodass Dinge und Menschen nur in Schwarz-Weiß existierten, bis in die östlichen Weiten des Iran, von der Kakerlaken-geplagten Stadt Bam bis zu der wilden Grenzstadt Zahedan in den untergegangenen Zeiten des Schahs, von der Shark Bay in Australien, wo er gefühlsselig inmitten von Delfinen geschwommen war, zu der großen Wanderung der Gnus durch die unfassbare Ebene der Serengeti. Er hatte das Holi-Fest mit den Bhojpuri sprechenden Nachkömmlingen der indischen Sklavenarbeiter auf Mauritius begangen und Bakr Eid mit Tuchwebern in dem Hochgebirgsdorf Aru in der Nähe des Kolahoi-Gletschers in Kaschmir gefeiert. Doch an einem gewissen Punkt in seinen frühen mittleren Jahren hatte das Innere Geschehnis alles geändert. Als er nach dem Geschehnis wieder zu Sinnen gekommen war, hatte er allen persönlichen Ehrgeiz und Neugier verloren, er fand seither große Städte bedrückend und ersehnte nur noch Anonymität und Einsamkeit.

Außerdem hatte er eine akute Flugangst entwickelt. Er erinnerte sich an einen Traum, in dem er erst fiel und dann ertrank, und war anschließend überzeugt, dass Fliegen die lächerlichste aller Fantasien und Unwahrheiten war, die die Rechnungsprüfer der Erde versuchten, unschuldigen Männern und Frauen wie ihm aufzubürden. Wenn ein Flugzeug flog und seine Passagiere sicher ihren Zielort erreichten, war das nur eine Frage des Glücks. Es bewies nichts. Er wollte nicht sterben, indem er vom Himmel ins Wasser (sein Traum) oder auf den Erdboden fiel (was sogar noch weniger angenehm wäre), und darum hatte er beschlossen, wenn ihm die Gesundheitsgötter eine Art von Genesung gewährten, würde er nie mehr wieder in eine dieser ungeheuer schweren Büchsen steigen, die versprach, ihn dreißigtausend Fuß oder mehr über den Boden zu heben. Und er genas, wenn auch mit einem Humpelbein, und seither war er lediglich über Straßen gereist. Manchmal dachte er daran, eine Seereise zu unternehmen, die amerikanische Küste gen Süden, nach Brasilien oder Argentinien oder über den Atlantik nach Europa, aber er hatte nie die notwendigen Vorkehrungen getroffen, und heute wären seine wenig verlässliche Gesundheit und das fragile Bankkonto wahrscheinlich nicht in der Lage, die Anstrengung so einer Reise zu stemmen. Er war also zu einem Geschöpf der Straßen geworden und würde es bleiben.

In einem alten Rucksack, sorgsam in Seidenpapier und Luftpolsterfolie gewickelt, transportierte er eine Auswahl von Objekten bescheidener Größe, die er auf seinen Reisen zusammengesammelt hatte: ein poliertes »objet trouvé«, einen chinesischen Stein, dessen Struktur einer Landschaft mit bewaldeten Hügeln im Nebel ähnelte, einen Buddha-ähnlichen Gandhara-Kopf, eine erhobene, hölzerne, kambodschanische Hand mit einem Friedenssymbol in der Mitte der Handfläche, zwei sternengleiche Kristalle, einer groß, der andere klein, ein viktorianisches Medaillon, in das er die Fotos seiner Eltern gesteckt hatte, drei weitere Fotos, die eine Kindheit in einer weit entfernten tropischen Stadt zeigten, einen Zigarrenabschneider aus Messing, der aus der Zeit des englischen Edward VII. stammte und wie ein scharf bezahnter Drachen aussah, eine indische »Cheeta Brand«-Streichholzschachtel, auf der sich das Bild eines umherstreifenden Cheeta, eines Geparden, befand, einen Miniatur-Wiedehopf aus Marmor und einen chinesischen Fächer. Diese dreizehn Gegenstände hatten für ihn eine spirituelle Bedeutung. Wenn er sein Zimmer für die Nacht betrat, verbrachte er vielleicht zwanzig Minuten damit, sie sorgsam in seiner Unterkunft aufzustellen. Sie mussten genau platziert sein, in der richtigen Beziehung zueinander, und wenn er mit dem Arrangement zufrieden war, bekam der Raum für ihn sofort etwas von einem Zuhause. Er wusste, ohne diese heiligen Objekte an ihren richtigen Stellen würde seinem Leben das Gleichgewicht fehlen, und er könnte sich der Panik, der Trägheit und schließlich dem Tod ergeben. Diese Objekte waren das Leben selbst. Solange sie bei ihm waren, barg die Straße keinen Schrecken. Es war sein besonderer Ort.

Er war glücklich, dass das Innere Geschehnis ihn nicht bis zum kompletten Idiotentum reduziert hatte, wie ein stolpernder, beeinträchtigter Kerl, den er mal gesehen hatte, der zu nichts Anspruchsvollerem mehr in der Lage war, als gefallenes Laub im Park aufzuklauben. Er arbeitete als Handelsvertreter, reiste seit vielen Jahren in Sachen Pharmazeutika umher, trotz seines überschrittenen Rentenalters und seines anfangs unbeständigen, unvorhersehbar kapriziösen, zunehmend sprunghaften und schließlich störrisch besessenen Geisteszustands, dank der Freundlichkeit des zuvor erwähnten reichen Cousins, Dr. R. K. Smile, Dr. med., einem erfolgreichen Unternehmer, der, nachdem er eine Produktion von Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden im Fernsehen gesehen hatte, sich geweigert hatte, seinen Verwandten zu feuern, da er fürchtete, wenn er es denn täte, würde das den Niedergang des alten Knaben nur beschleunigen.*

Dr. Smiles stets florierendes pharmazeutisches Unternehmen hatte ihn kürzlich in den Milliardärsstand katapultiert, seine Labore in Georgia hatten die sublinguale Sprayanwendung des Schmerzmittels Fentanyl vervollkommnet. Das starke Opioid unter die Zunge gesprüht, brachte Kranken mit Krebs im Endstadium, die an dem litten, was die Ärzteschaft euphemistisch Durchbruchschmerz nannte, raschere Erleichterung. Durchbruchschmerzen waren unerträgliche Schmerzen. Das neue Spray machte sie erträglich, zumindest für eine Stunde. Der unmittelbare Erfolg dieses Sprays, patentiert und mit dem Markennamen InSmileTM versehen, erlaubte Dr. R. K. Smile den Luxus, seinen betagten armen Verwandten durchzuschleppen, ohne dass er sich übermäßig um dessen Produktivität sorgte. Sonderbar war, dass Quichottes Abstieg in den Irrsinn – dessen eine Definition lautet, nicht fähig zu sein, das Was-ist vom Was-nicht-ist zu unterscheiden – eine Zeitlang seine Fähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigte, seine beruflichen Pflichten zu erfüllen. Tatsächlich erwies sich sein Zustand als ein wahrer Segen, der ihm half, mit absoluter Aufrichtigkeit auch Heikles unter den heiklen Fall für viele der Angebote seines Unternehmens zu präsentieren, da er rückhaltlos an ihre angekündigte Wirksamkeit glaubte und an ihre Überlegenheit gegenüber der Konkurrenz, obwohl die Werbekampagnen ausgesprochen schräg waren und die Produkte in vielen Fällen nicht besser waren als viele ähnliche Marken und in manchen Fällen ausgesprochen schlechter als der Markt im Allgemeinen. Wegen seiner verschwommenen Unsicherheit über den Grenzverlauf zwischen Wahrheit und Lüge, seines persönlichen Charmes und seiner freundlichen Art flößte er Vertrauen ein und schien der perfekte Werber für die Waren seines Cousins.

Doch unvermeidlich kam der Tag, da Dr. Smile das ganze Ausmaß der Wahnvorstellungen seines Cousins bekannt wurde und er ihn endgültig in den Ruhestand versetzte. Er übermittelte Quichotte die Nachricht auf die freundlichstmögliche Art, denn er flog persönlich vom General Aviation Terminal des Hartsfield-Jackson Airports in seiner neuen G650ER, um Quichotte in Flagstaff, Arizona (70 320 Einw.) zu treffen, nachdem er einen besorgten Anruf des Direktors von West Flagstaff Family Medicine Dr. D. F. Winona, D. O., M. B. A., F. A. C. O. F. P., erhalten hatte, dem Quichotte während ihres Termins unglaublicherweise anvertraut hatte, dass er daran denke, die köstliche Miss Salma R. zu der nächsten Vanity-Fair-Oscar-Party zu begleiten, und danach würde ihre heimliche Liebe endlich öffentlich bekannt sein.

Quichotte und Dr. Smile trafen sich im Relax Inn auf der Historic Route 66, knapp vier Meilen vom Flughafen Pulliam entfernt. Sie waren ein seltsames Paar, Quichotte groß, langsam ein Bein nachziehend, und Dr. Smile klein, mit überschäumender Dynamik und eindeutig der Chef. »Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte er betrübt, aber eher mit Endgültigkeit in der Stimme, dieses Mal kann ich dich nicht retten, und Quichotte, mit seiner unsinnigen Äußerung konfrontiert, entgegnete: »Ja, es stimmt, ich war ein bisschen vorschnell, und ich entschuldige mich, dass ich über die Stränge geschlagen habe, aber du weißt, wie Liebende sind, wir können nicht anders, als über die Liebe zu reden.« Derweil drückte er in seinem Zimmer die Fernbedienung, um zwischen einem Basketballspiel auf ESPN und einer Sendung mit wahren Kriminalfällen auf Oxygen hin und her zu schalten, und sein Verhalten kam Dr. Smile freundlich, aber verwirrt vor.

»Du verstehst …«, sagte Dr. Smile so sanft wie irgend möglich, »… dass ich dich gehen lassen muss.«

»Oh, kein Thema«, erwiderte Quichotte. »Denn zufällig muss ich mich sofort auf meine Quest begeben.«

»Ich verstehe«, sagte Dr. Smile bedächtig. »Gut, ich möchte hinzufügen, dass ich bereit bin, dir einen Geldbetrag als Abfindung zu geben – kein Vermögen, aber auch keine geringfügige Summe –, und ich habe hier diesen Scheck für dich. Auch wirst du erkennen, dass die Rentenvereinbarungen von Smile Pharmaceuticals nicht knauserig sind. Ich habe die Hoffnung und bin der Überzeugung, dass du damit zurande kommst. Und wann immer du in Buckhead sein solltest oder in den Sommermonaten auf den Golden Isles, so stehen dir die Türen meiner Häuser stets offen. Komm und genieß mit meiner Frau und mir ein Biryani.« Mrs. Happy Smile war eine üppige Brünette mit einer stufigen Außenwelle. Sie war dem Vernehmen nach so etwas wie eine Magierin in der Küche. Es war ein verlockendes Angebot.

»Danke«, sagte Quichotte und steckte den Scheck ein. »Darf ich fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ich meine Salma zu diesem Besuch mitbringe? Wenn wir erst einmal zusammen sind, werden wir unzertrennlich sein. Und sicherlich wird sie sehr glücklich sein, das wunderbare Biryani deiner Frau zu essen.«

»Selbstverständlich«, versicherte ihm Dr. Smile und stand auf, um zu gehen. »Bring sie unbedingt mit! Ach, da ist noch eins. Da du nun in Rente und nicht länger mein Angestellter bist, könnte es mir von Zeit zu Zeit sinnvoll erscheinen, dich zu bitten, für mich kleine vertrauliche Dienste zu übernehmen. Ich weiß, dass ich mich auf dich als mein nahestehendes und redliches Familienmitglied verlassen kann.«

»Ich werde freudig tun, worum auch immer du mich bittest«, sagte Quichotte und neigte den Kopf. »Du bist der beste aller Cousins.«

»Es werden keine schweren Aufgaben sein, das versichere ich dir«, sagte Dr. Smile. »Lediglich diskrete Lieferungen. Und all deine Ausgaben werden dir vergütet, das versteht sich von selbst. In bar.«

Er blieb an der Türschwelle stehen. Quichotte sah aufmerksam dem Basketballspiel zu.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Dr. Smile.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte Quichotte, und ein glückliches Lächeln blitzte über sein Gesicht. »Ich habe viel zu tun. Ich werde einfach fahren.«

In den langen Wanderjahren, als Quichotte mit seinem grau-metallic Chevy Cruze unterwegs war, hatte er sich oft gewünscht, er hätte geheiratet und wäre Vater geworden. Wie wunderbar wäre es, wenn neben ihm ein Sohn säße, ein Sohn, der für Stunden das Steuer übernehmen könnte, während sein Vater schlief, ein Sohn, mit dem er die aktuellen Themen von weltweiter Tragweite besprechen könnte und ebenso die ewigen Wahrheiten, währenddessen die sich unter ihnen abspulende Straße sie einander näherbringen würde, die Fahrt würde sie vereinen, wie es die Stille eines Zuhauses niemals könnte. Tiefe Verbundenheit ist ein Geschenk, das die Straße allein denen gewährt, die sie zu schätzen wissen und sie mit Respekt befahren. Die Stationen entlang ihrer Route wären die Boxenstopps auf der Reise ihrer Seelen hin zu einer endgültigen mystischen Vereinigung, auf die ewige Glückseligkeit folgen würde.

Aber er hatte keine Frau. Bislang hatte ihn keine Frau gewollt, und darum gab es kein Kind. Das war die kurze Version. In der längeren Version, die er so tief in sich vergraben hatte, dass selbst er Schwierigkeiten hatte, sie heute wiederzufinden, hatte es Frauen gegeben, für die er Gefühle gehegt und die er fast ebenso sehr angebetet hatte, wie er nun Miss Salma R. verehrte, und dies waren Frauen gewesen, die er persönlich gekannt hatte. Er wusste, dass er ein Mann mit einer wahrhaften Begabung für Anbetung war, ein Bereich, in dem die meisten anderen Männer, die unzivilisierten ignoranten Scheusale, betrübliche Mängel aufwiesen. Es war deshalb schmerzvoll für ihn gewesen, dass fast all die Frauen, denen er nachgelaufen war, kaum hatte er die Verfolgung aufgenommen, sich rasch davon gemacht hatten.

Und er hatte mit dem Menschlichen Trampolin gestritten. Wer auch immer was wem angetan hatte, sie waren nicht freundlich auseinandergegangen. Aber vielleicht könnte er es wiedergutmachen, wenn er sich nur an seine Sünden erinnerte. Das wollte er versuchen.

Aber die »Liebesbande« – diese Damen waren für immer gegangen, und waren sie überhaupt real gewesen? Da er sich nun der Quest nach der Hand von Miss Salma R. hingab, schien es ihm, als würde sich eine kleine Ecke des Schleiers heben, der seine Vergangenheit verdunkelte, und ihn an die Folgen von verlorener Liebe erinnern. Er sah sie vor seinem inneren Auge vorbeigehen, die Gärtnerin, die Werbeleiterin, die tolle PR-Fachfrau, die australische Abenteurerin, die amerikanische Lügnerin, die englische Rose, die rücksichtslose asiatische Schönheit. Nein, unmöglich, auch nur noch einmal über sie nachzudenken. Sie waren weg, und er war sie ganz und gar los, und sie könnten sein Herz nicht noch einmal brechen. Was geschehen war, war geschehen – oder er war sich fast sicher, dass es geschehen war –, und es war richtig, sie tiefer zu begraben als die tiefste Erinnerung, ihre Geschichten auf dem Friedhof seiner gescheiterten Hoffnungen zu beerdigen, sie in der Pyramide seines Bedauerns zu versiegeln; zu vergessen, zu vergessen, zu vergessen. Ja, er hatte sie vergessen, denn er hatte sie in einen Bleisarg des Vergessens gepackt, tief unter dem Grund des sich erinnernden Ozeans in ihm, ein nicht beschrifteter Sarkophag, der selbst für den Röntgenblick eines Superman nicht zu durchdringen wäre, und gemeinsam mit ihnen hatte er den Mann beerdigt, der er damals gewesen war, und die Dinge, die er getan hatte, das Scheitern, das Scheitern, das Scheitern. Er hatte für eine gefühlte Ewigkeit alle Gedanken an Liebe vermieden, bis Miss Salma R. die Gefühle und Wünsche in seiner Brust wieder weckte, von denen er gedacht hatte, er habe sie unterdrückt oder sogar mit seinen zerstörten Beziehungen zerstört – wenn sie denn tatsächlich real gewesen waren, aus der realen Welt und nicht Echos der größeren Realität der Frauen auf dem Bildschirm? –, woraufhin er erkannte, dass in ihm zum letzten Mal eine große Leidenschaft erwacht war, und er würde nicht länger ein normaler Niemand sein und zu guter Letzt zu dem großen Mann werden, der schon immer in ihm geschlummert hatte, was so viel hieß wie Quichotte.

Er war kinderlos, und seine Linie würde mit ihm enden, es sei denn, er bäte um ein Wunder und es würde ihm gewährt. Vielleicht könnte er einen Wunschbrunnen finden. Er klammerte sich an die Vorstellung: Würde er gemäß den okkulten Prinzipien des Wunsches handeln, wären Wunder möglich. Sein Zugriff auf den gesunden Menschenverstand war so dürftig, dass er zu einem Studenten der Kunst des Wünschens geworden war; ebenso wie nach Wunschbrunnen suchte er nach Wunschbäumen, Wunschsteinen und mit zunehmendem Ernst nach Wunschsternen. Nachdem er seine Nachforschungen abgeschlossen hatte, einerseits in staubigen Bibliotheksbüchern, die sich mit den Astro-Arkana beschäftigten, und andererseits auf einer Reihe von, zugegeben, dubiosen Webseiten – auf manchen öffnete sich ein unheilvolles Dialogfenster mit der Warnung: Diese Seite kann Ihren Computer beschädigen –, gewann er die Überzeugung, dass Sternschnuppen das Beste seien, bei dem man sich etwas wünschen sollte, und dass 23:11 die beste Zeit dafür sei, und er bräuchte eine Menge Wunschknochen.

Es gab sieben Sternschnuppenregen im Jahr, im Januar, April, Mai, August, Oktober, November und Dezember: die Quadrantiden, die Lyriden, die Eta-Aquariiden, die Perseiden, die Orioniden, die Leoniden und die Geminiden. Über die Jahre hatte er sie alle nach und nach aufgespürt, um mit einem guten Chronometer an seinem Handgelenk und einem üppigen Vorrat an Hühnerknochen in seiner Tasche einen fallenden Stern aufzufangen. Er konnte sehr entschlossen sein, wenn er es wollte. Er hatte bereits in vergangenen Jahren die Quadrantiden in der Nähe von Muncie, Indiana (68 625 Einw.), die Lyriden im Monument Valley und die Eta-Aquariiden im Rincon Mountain District der Sonona-Wüste in Arizona beobachtet. Bislang hatten diese Expeditionen keine Früchte erbracht. Egal!, sagte er sich. Schon bald würde ihm Salma R. drei, nein!, fünf oder, warum nicht?, sieben wundervolle Söhne und Töchter gebären. Dessen war er sich ganz sicher. Aber mit der Ungeduld seines grauen Haars beschloss er, seine Verfolgung der Meteorschauer fortzusetzen, für die ihm nun, da ihn sein Cousin von seinen Pflichten entbunden hatte, mehr Zeit blieb. Die Himmelskörper mussten von seiner Beharrlichkeit beeindruckt sein, denn in diesem August, in einer heißen Nacht in der Wüste hinter Santa Fe, erfüllten ihm die Perseiden am Devils Tower in der Nähe von Moorcroft, Wyoming (1063 Einw.), seinen Wunsch. Genau um 23:11 zerbrach er sieben Wunschknochen, als das Feuer vom Himmel aus der Richtung der Perseus-Konstellation niederregnete – Perseus der Krieger, Zeus’ und Danaes Sohn, der Drachentöter! – und das Wunder geschah. Der ersehnte Sohn, der aussah, als wäre er etwa fünfzehn Jahre alt, materialisierte sich auf dem Beifahrersitz des Cruze.

Das Zeitalter von Alles-ist-möglich! Wie überglücklich er sei, rief Quichotte in seinem Inneren, wie dankbar er sei, in so einer Zeit zu leben!

Das magische Kind manifestierte sich in Schwarz-Weiß, seine natürlichen Farben waren ungesättigt, wie es in vielen neuen Filmen Mode geworden ist. Vielleicht, so mutmaßte Quichotte, war der Junge astrologisch mit den monochromen Bewohnern der Tierra del Fuego verwandt. Oder vielleicht war er vor langer Zeit entführt worden und wurde nun von den Aliens zurückgegeben – die sich im Mutterschiff am Himmel über den Sternschnuppen versteckten, die den Devils Tower erleuchteten –, nach vielen Jahren, in denen man ihn erforscht und ihm durch Experimente die Farben genommen hatte und er irgendwie nicht alterte. Gewiss, als Quichotte den Jungen kennenlernte, wirkte er viel älter, als er an Jahren war. Er ähnelte stark dem Jungen auf den Fotos, die Quichotte aus seiner eigenen Kindheit am anderen Ende der Welt aufbewahrt hatte. Auf einem dieser Bilder, als Quichotte neun oder zehn war, sah man ihn in einem weißen Kurta-Pajama und mit der Sonnenbrille seines Vaters. Auf einem anderen hatte ein älterer Quichotte, etwa im gleichen Alter wie die Erscheinung, den Hauch eines Schnurrbarts auf der Oberlippe und stand in einem Garten mit seiner promisken Schäferhündin. Als Kind war Quichotte ein wenig klein gewesen, ein Pummelchen im Vergleich zu anderen Jungen seines Alters. Doch dann, in seiner späten Jugend schoss er in die Höhe, als hätte eine unsichtbare göttliche Hand ihn gepackt und in der Mitte wie eine Zahnpastatube zusammengequetscht, er wuchs zu seiner heutigen Größe und wurde so mager wie ein Schatten. Dieser monochrome Junge war eindeutig in der Post-Zahnpastatuben-quetsch-Phase, da er ebenso lang und schmal wie sein Vater war, und er trug die Sonnenbrille, die Quichotte all die vergangenen Jahre getragen hatte. Er hatte aber keinen Kurta-Pajama an, sondern war wie ein guter, ganz und gar amerikanischer Junge mit einem karierten Holzfällerhemd und einer umgekrempelten Blue Jeans gekleidet. Nach einer Weile stimmte er einen alten Werbesong an. Seine Stimme krächzte. Ein neuer Adamsapfel hüpfte in seiner Kehle.

We love baseball, hot dogs, apple pie and Chevrolet,

baseball, hot dogs, apple pie and Chevrolet …

Ein breites Lächeln ging über Quichottes längliches Gesicht. Es war, als würde dieser wundersame Sohn, der wie Athene, die in voller Gestalt aus Zeus’ Kopf hervorbricht, aus den Träumen seines Vaters geboren war, ihm ein Begrüßungslied singen, ein Liebeslied für seinen Vater. Freudig erhob der Reisende die eigene Stimme und sang gemeinsam mit seinem Jungen.

Baseball, hot dogs, apple pie and Chevrolet,

baseball, hot dogs, apple pie and Chevrolet!

»Sancho«, rief Quichotte, voll des Glücks, von dem er nicht wusste, wie er es in Worte fassen sollte. »Mein dummer kleiner Sancho, mein dicker großer Sancho, mein Sohn, mein Sidekick, mein Schildknappe! Hutch für meinen Starsky, Spock für meinen Kirk, Scully für meinen Mulder, BJ für meinen Hawkeye, Robin für meinen Batman! Peele für meinen Key, Stimpy für meinen Ren, Niles für meinen Frasier, Arya für meinen Schattenwolf! Peggy für meinen Don, Jesse für meinen Walter, Tubbs für meinen Crockett, ich liebe dich! O, mein Krieger Sancho, mir von Perseus geschickt, damit du mir hilfst, meine Medusen zu töten und das Herz meiner Salma zu erobern, hier bist du endlich.«

»Hör auf damit, ›Dad‹«, fiel der erfundene Sohn ein. »Was habe ich denn von dem Ganzen?«

Nach der Nacht des Perseiden-Wunders verbrachte Quichotte wegen der Ankunft des geheimnisvollen schwarz-weißen Knaben, den er Sancho benannt hatte, einige Tage im Freudentaumel. Er schickte eine Textnachricht an Dr. R. K. Smile, Dr. med., und teilte ihm die gute Nachricht mit. Dr. Smile antwortete nicht.

Sancho war dunkelhäutiger als sein Vater, was in Schwarz-Weiß schlicht egal war, und letztendlich war es dies, was es Quichotte ermöglichte, das Rätsel von der Ankunft des Jungen – zumindest zu seiner eigenen Zufriedenheit – zu lösen. Es schien, dass Sancho ungefähr den gleichen Hautton hatte wie die Geliebte, wie Miss Salma R. Somit war er vielleicht ein Besucher aus der Zukunft, das Kind aus Quichottes bevorstehender Ehe mit der großen Lady, und er war durch Zeit und Raum zurückgereist, um dem Bedürfnis seines Vaters nach der Gesellschaft eines Sohnes nachzukommen und dessen langer Einsamkeit ein Ende zu bereiten. Für einen Menschen, der ein tiefes Verständnis für Zeitreisen aus dem Fernsehen gewonnen hatte, war dies voll und ganz möglich. Er erinnerte sich an den Doktor, den britischen Time Lord, und vermutete, Sancho könne in einem TARDIS-ähnlichen Gefährt gekommen sein, das sich am dunklen Himmel hinter den glitzernden Sternschnuppen versteckt hatte. Und vielleicht war dieser Farbverlust, dieser Schwarz-Weiß-Effekt, nur eine vorübergehende Nebenerscheinung der Zeitreise. »Willkommen, mein zukünftiger Sohn!«, schwärmte er. »Willkommen in der Gegenwart. Wir werden gemeinsam deiner Mutter den Hof machen. Wie kann sie widerstehen, wenn sie nicht nur vom zukünftigen Vater ihrer Kinder umworben wird, sondern auch von einem dieser Kinder? Unser Erfolg ist uns gewiss. – Was du davon hast? Junger Mann, wenn wir scheitern, hörst du auf zu existieren. Wenn sie nicht einverstanden ist, deine Mutter zu werden, dann wirst du nie geboren, und daraus folgt, dass du jetzt nicht hier wärest. Schärft das deine Gedanken?«

»Ich habe Hunger«, murmelte Sancho aufmüpfig. »Können wir nicht aufhören zu reden und essen?«

Quichotte fiel der ungezähmte, rebellische, irgendwie vogelfreie Charakter seines Sohnes auf. Das freute ihn. Helden, Superhelden und auch Antihelden waren nicht aus gefälligem Stoff gemacht. Sie waren nicht im Takt, gingen gegen den Strich, tanzten aus der Reihe. Er dachte an Sherlock Holmes, an Arrow, an Negan. Er verstand auch, dass er die Kindheit des Jungen verpasst hatte, dass er nicht für ihn da gewesen war, wo auch immer da gewesen sein mochte. Der Knabe war höchstwahrscheinlich voller Groll und sogar Vergehen. Es würde Zeit brauchen, bis er ihn überzeugt hätte, sich zu öffnen, nicht mehr grimmig zu gucken, die väterliche Liebe anzunehmen und ihm im Gegenzug die Liebe eines Sohnes zurückzugeben. Die Straße war dafür der richtige Ort. Männer, die zusammen unterwegs sind, haben drei Wahlmöglichkeiten. Sie trennen sich, sie töten einander oder sie finden Lösungen.

»Ja«, entgegnete Quichotte seinem Sohn mit hoffnungsfrohem Herzen. »Unbedingt, lass uns etwas essen.«

*Aber Dr. Smile war keineswegs in allen Angelegenheiten freundlich. Wie wir sehen werden. Wie wir alsbald sehen werden.

2. Kapitel

Ein Autor, Sam DuChamp, sinnt über seine Vergangenheit nach & betritt neues Territorium

DerAutordervorhergehenden Geschichte – nennen wir ihn Bruder** – war ein in New York lebender Schriftsteller indischen Ursprungs, der zuvor acht bescheiden (nicht-)erfolgreiche Spionageromane unter dem Pseudonym Sam DuChamp verfasst hatte. Dann entwickelte er in einem überraschenden Richtungswechsel die Idee, die Geschichte des verrückten Quichotte und seiner unglückseligen Verehrung der prachtvollen Miss Salma R. zu erzählen, und zwar in einem Buch, das radikal anders sein würde als alles, was er je in Angriff genommen hatte. Kaum hatte er diese Idee entwickelt, verspürte er Angst davor. Anfangs konnte er nicht ergründen, wie eine so exzentrische Absicht sich in seinem Hirn eingenistet hatte und warum sie so ungestüm darauf drängte, niedergeschrieben zu werden, dass ihm keine andere Wahl blieb als anzufangen. Als er dann weiter darüber nachsann, verstand er allmählich, dass in einer Weise, die er noch nicht gänzlich erfasste, Quichotte – der Einzelgänger auf der Suche nach Liebe, der Versager-Niemand, der sich für fähig hielt, das Herz einer Königin zu erobern – sein ganzes Leben bei ihm gewesen war, ein Schatten-Ich, das er ab und zu aus dem Augenwinkel erhascht, aber noch nicht den Mut gefunden hatte, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Stattdessen hatte er seine abgehalfterten Fiktionen der Geheimwelt unter dem Namen eines anderen geschrieben. Nun begriff er, dass dies eine Möglichkeit gewesen war, der Geschichte aus dem Weg zu gehen, die sich ihm jeden Tag im Spiegel enthüllte, wenn auch nur aus dem Augenwinkel.

Sein nächster Gedanke war sogar noch beängstigender: Um dem Leben des fremden Mannes Sinn zu verleihen, dessen letzte Tage er aufzeichnen wollte, müsste er sich nebst seinem Gegenstand selbst enthüllen, denn die Geschichte und der Erzähler waren durch Ethnie, Ort, Generation und Umstände zusammengejocht. Vielleicht war diese bizarre Geschichte eine gewandelte Version seiner eigenen. Quichotte selbst könnte sagen, wenn er sich denn Bruders bewusst wäre (was natürlich unmöglich war), dass tatsächlich die Geschichte des Schriftstellers die abgeänderte Version seiner Geschichte sei, eher als anders herum, und er könnte anführen, dass sein »imaginiertes« Leben sich zu dem authentischeren Narrativ der beiden hinzufüge.

Also in Kürze: Sie waren beide indischstämmige Amerikaner, einer real, einer fiktional, beide vor langer Zeit in der Stadt, die damals Bombay hieß, geboren, in benachbarten Apartmentblocks, beide real. Ihre Eltern hätten sich gekannt (außer dass ein Elternpaar imaginär war) und vielleicht im Willingdon Club miteinander Golf und Badminton gespielt und im Bombay Gym Sunset-Cocktails geschlürft (beides Orte der realen Welt). Sie waren etwa im gleichen Alter, in dem nahezu jeder Waise ist, und ihre Generation, die aus dem Planeten ein königliches Fiasko gemacht hat, war dabei abzutreten. Beide litten unter körperlichen Beschwerden: Bruders schmerzender Rücken, Quichottes Humpelbein. Sie begegneten Freunden (realen, fiktionalen) und Bekannten (fiktionalen, realen) mit zunehmender Häufigkeit in den Todesanzeigen. Und das würde in Zukunft nicht weniger werden. Und es gab auch tiefgründigere Echos. Wenn Quichotte durch sein Verlangen nach den Leuten hinter dem Fernsehbildschirm in den Irrsinn getrieben wurde, dann war er, Bruder, vielleicht auch durch die Nähe zu einer anderen verschleierten Realität zerrüttet worden, in der nichts verlässlich war, überall war Verrat, Identitäten waren fließend und unbeständig, Demokratie war bestechlich, der doppelgesichtige Doppelagent und der dreigesichtige Dreifachagent waren alltägliche Ungeheuer, die Liebe brachte die Geliebte/den Geliebten in Gefahr, Verbündeten konnte man nicht trauen, Information war ebenso oft Narrengold wie golden, und Patriotismus war eine Tugend, für die es nie eine Anerkennung oder eine Belohnung geben würde.

Bruder war wegen vieler Dinge beunruhigt. Wie Quichotte war er allein und kinderlos, außer dass er einmal einen Sohn gehabt hatte. Das Kind war vor langer Zeit verschwunden wie ein Geist und musste unterdessen ein junger Mann sein, und Bruder dachte jeden Tag an ihn und war über seine Abwesenheit bestürzt. Auch seine Frau war schon lange gegangen, und seine finanzielle Situation grenzte ans Prekäre. Und – über diese privaten Dinge hinaus – beschlich ihn so langsam das Gefühl, etwas würde ihn verfolgen, Autos mit dunklen Scheiben standen mit laufendem Motor an der Ecke seines Blocks, Schritte hielten inne, wenn er innehielt, und setzten sich wieder in Bewegung, wenn er sich wieder in Bewegung setzte, Knacken in seinem Telefon, sonderbare Probleme mit seinem Laptop, Marketing-Nachrichten mit, wie er dachte, einer Drohung hinter den banalen Worten, Drohungen auf seinem Twitter-Account, Gemurmel von seinem Verlag, dass mittelgut verkäufliche Autoren wie er Schwierigkeiten haben würden, in Zukunft veröffentlicht zu werden. Es gab Probleme mit seinen Kreditkarten, und sein Social-Media-Konto war zu oft gehackt worden, als dass es noch ein Zufall sein könnte. Einmal kam er des Nachts nach Hause und war sich sicher, jemand habe seine Wohnung betreten, obwohl nichts in Unordnung war. Wenn die zwei Grundprinzipien des Universums Paranoia (die Überzeugung, die Welt habe eine Bedeutung, diese Bedeutung sei aber auf einer verborgenen Ebene angesiedelt, die sehr wahrscheinlich der offenkundigen, absurden Ebene gegenüber feindlich sei, was in Kürze bedeutete, dir gegenüber) und Entropie waren (die Überzeugung, das Leben sei bedeutungslos, alles gehe in die Binsen, und der Hitzetod des Universums sei unvermeidlich), dann gehörte er zweifellos in das Lager der Paranoiden.

Wenn die Verrücktheit Quichotte dazu führte, dass er seinem Schicksal entgegeneilte, dann waren Bruders Ängste nahe daran, eine Fluchtreaktion auszulösen. Er wollte davonrennen, wusste aber nicht wohin und wie, was ihn noch ängstlicher machte, denn er wusste, dass er sich in seinen Spionageromanen bereits die Antwort gegeben hatte. Du kannst davonlaufen, aber du kannst dich nicht verstecken.

Vielleicht wäre das Schreiben über Quichotte eine Möglichkeit, vor dieser Wahrheit davonzulaufen.

Es fiel ihm schwer, über Persönliches zu sprechen, denn er war nie der bekennende Typ gewesen. Schon seit seiner Kindheit fühlte er sich zum Geheimen hingezogen. Als kleiner Junge hatte er die Sonnenbrille seines Vaters aufgesetzt, um seine Augen zu verstecken, die zu viel preisgaben. Er hatte Gegenstände versteckt und mit Begeisterung beobachtet, wenn seine Eltern danach suchten – ihre Brieftaschen, ihre Zahnbürsten, ihre Autoschlüssel. Seine Freunde hatten sich ihm anvertraut, denn sie hatten begriffen, dass sein Schweigen ernsthaft war, das Schweigen eines Pharaos in seiner Pyramide; manchmal eine unschuldige Vertraulichkeit, manchmal eine nicht so unschuldige. Unschuldig: dass sie sich in den und den Jungen, Schrägstrich, in das und das Mädchen verknallt hatten; dass ihre Eltern zu viel tranken und ständig stritten; dass sie die Freuden der Masturbation entdeckt hatten. Nicht so unschuldig: wie sie die Katze der Nachbarn vergiftet hatten, wie sie Comic-Bücher aus dem Buchladen Reader’s Paradise geklaut hatten, und die Dinge, die sie mit den, siehe oben, verknallten Mädchen, Schrägstrich, Jungen anstellten. Sein Schweigen war wie ein Vakuum gewesen, das ihnen die Geheimnisse aus dem Mund und direkt in seine Ohren sog. Er hatte keinen Gebrauch von seinem geheimen Wissen gemacht. Ihm hatte gereicht, einfach zu wissen, dass er der eine war, der wusste.

Auch seine eigenen Geheimnisse hatte er gewahrt. Seine Eltern hatten ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Sorge betrachtet. »Wer bist du?«, hatte ihn einmal seine Mutter ungehalten gefragt. »Bist du überhaupt mein Kind? Manchmal kommst du mir wie ein Alien von einem anderen Planeten vor, der hergeschickt wurde, um uns zu beobachten und Informationen zu sammeln, und eines Tages wird dich ein Raumschiff in die Lüfte heben, und deine kleinen grünen Verwandten erfahren all unsere Geheimnisse.« So war sie: zu emotionaler Brutalität fähig und nicht in der Lage, wenn ihr ein schlauer Einfall in den Sinn kam, sich zurückzuhalten, ganz gleich wie tief die Wunde war, die sie einem zufügte. Sein Vater hatte sich sanfter ausgedrückt, aber dasselbe gemeint. »Sieh dir deine kleine Schwester an«, hatte er oft zu seinem Sohn gesagt. »Bemühe dich, wie sie zu sein. Sie redet unentwegt. Sie ist ein offenes Buch.«

TrotzdeselterlichenDrängenshatteerweitergemachtwiebisher,erhatteseineeigenenBelangeverschwiegenundnahm,wannimmersichihmdieGelegenheitbot,dasGeflüsterandererLeuteinsichaufgenommen.AproposoffeneBücher,dieBücher,dieerinseinerJugendaufgeschlagenhatte,warenfürgewöhnlichKriminalromanegewesen.AlsJungehatteerdieSchwarzeSiebenbeiWeitemdenFünfFreundenvorgezogen,denGeheimenGartendemWunderland.Undalserheranwuchs,warenesElleryundErleStanleyundAgathagewesen,SamSpadeundMarlowe,räudigundwortkarg!SeinegeheimenWeltenhattensichmitdenJahrenvervielfacht.DerGeheimagent,DerMann,derDonnerstagwar,GeschichtenvonSpionageundGeheimgesellschaften,siewarenseinLeitfadengewesen.InseinenTeenagerjahrenhatteerBücherüberschwarzeMagieunddasTarotgelesen –dieArkanadesgeheimenWissens,diegroßenunddiekleinen,hattenihnunwiderstehlichangezogen –underhattegelernt,seineFreundezuhypnotisieren,obwohldasZielseinerneuenFähigkeit,einattraktivesMädchen,daserbegehrte,sichseinenAvancenwidersetzthatte,auchwennsieunterseinemBannstand.Alserältergewordenwar,hatteerdiegeheimenZutatenderCoca-Colaergründenwollen,erhattesichdiegeheimenIdentitätenallerSuperheldengemerkt,undwasüberhauptwar»Victoria’ssecret«?DassLadysinihremZeitalterschlechtgemachteUnterwäschetrugen?SIS,ISI,OSS,CIA,daswarendieInitialenseinerWahl.

So wurde er zum Autor von Spionageromanen unter Pseudonym. Er war nicht sehr bekannt, eine Situation, die sich durch das Quichotte-Buch bestimmt nicht großartig verändern würde, wenn er es denn je schaffen sollte, es zu schreiben und einen Verlag zu finden. Sam DuChamp, Autor der Five-Eyes-Serie, nicht bejubelt, nicht berühmt, nicht großartig: Wenn Leute im Buchladen nach einem seiner Titel fragten, sprachen sie seinen Künstlernamen falsch aus, nannten ihn Sam the Sham, wie den Wooly-Bully-Typen, der in einem Packard-Leichenwagen zu seinen Gigs fuhr. Das war ein bisschen beleidigend.

Ja, der Name auf den Büchern verschleierte seine ethnische Identität, so wie sich hinter Freddie Mercury der parsische Inder Farrokh Bulsara verbarg. Nicht weil der Frontmann von Queen sich seiner Herkunft schämte, sondern weil er nicht vorschnell beurteilt, nicht ghettoisiert sein wollte in einer ethno-musikalischen Schublade, die von den Schranken weißer Standpunkte umstellt war. Bruder empfand genauso. Und außerdem war es das Zeitalter der erfundenen Namen. Die Social Media hatten dafür gesorgt. Jeder war jetzt ein anderer.

Pseudonyme waren in der Bücherwelt nie ungewöhnlich gewesen. Frauen hatten sie oft für notwendig erachtet. Bruder glaubte (ohne zu wagen, sein armseliges Talent mit ihrem Genius zu vergleichen), dass Currer, Ellis und Acton Bell, George Eliot und selbst J. K. Rowling (die die Genderneutralität des »J. K.« dem »Jo« vorzog) das verstanden hätten.

Menschen mit brauner Haut von südasiatischer Ethnizität hatten eine verwirrende Geschichte in Amerika. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde Quichottes und Dr. R. K. Smiles angeblich gemeinsamem Vorfahren (nicht fiktional), vermutlich dem Ersten ihres Clans, der in den USA lebte und arbeitete, die amerikanische Staatsbürgerschaft aufgrund des ersten Zuwanderungsgesetzes von 1790 verwehrt; es verfügte, dass nur eine »freie weiße Person« Anspruch auf eine Staatsbürgerschaft habe. Und mit der Unterzeichnung des Zuwanderungsgesetzes von 1917 wurden Südasiaten, Hindus genannt, offiziell insgesamt von der Zuwanderung in die Vereinigten Staaten ausgeschlossen. In United States v. BhagatSingh Thind (1923) befand der Supreme Court, dass der rassische Unterschied zwischen Indern und Weißen so weitreichend sei, dass »unser großer Volkskörper« die Assimilation mit Indern ablehne. Dreiundzwanzig Jahre später erlaubte der Luce-Celler-Act, dass lediglich einhundert Inder pro Jahr nach Amerika einwandern durften und die Staatsbürgerschaft bekamen (vielen Dank). Dann öffnete 1965 ein neuer Immigration and Nationality Act die Türen. Danach etwas Unvorhergesehenes. Es stellte sich heraus, dass letztendlich die Hindus kein größeres Ziel des amerikanischen Rassismus waren. Diese Ehre blieb weiterhin der afroamerikanischen Gemeinschaft vorbehalten; und indische Immigranten – viele vertraut mit dem weißen britischen Rassismus in Südafrika und Ostafrika, ebenso wie in Indien und Großbritannien selbst – waren nahezu verlegen, in weiten Teilen der USA nicht rassistischem Missbrauch und Angriffen ausgesetzt zu sein. Und sie machten sich daran, Musterbürger zu werden.

Doch nicht in Gänze nicht ausgesetzt. 1987 terrorisierte die Dotbuster-Gang indisch-amerikanische Familien in Jersey City. Ein Brief dieser Bande, veröffentlicht im Jersey Journal, drohte Gewalt an. »Wir greifen zu jedem Extrem, damit die Inder Jersey City verlassen. Wenn ich über die Straße gehe und einen Hindu sehe und die Umstände gut sind, schlage ich ihn oder sie. Wir planen einige unserer heftigsten Angriffe wie Fenster einschlagen, Autoscheiben einschlagen und Familienfeste sprengen.« Die Drohungen wurden wahr. Ein indischer Mann wurde angegriffen und starb vier Tage später. Ein anderer wurde ins Koma geprügelt. Es kam zu weiteren nächtlichen Angriffen und auch Einbrüchen.

Dann kam der 11. September2001, und junge indische Männer trugen T-Shirts, auf denen stand, Gib mir nicht die Schuld, ichbin Hindu, und Sikhs wurden angegriffen, weil ihr Turban sie islamisch aussehen ließ, und Taxifahrer klebten Abziehbilder von Flaggen und Sticker mit God blessAmerica auf die Windschutzscheibe, und plötzlich erschien es Bruder, dass es vielleicht doch nützlich sei, sein Pseudonym als Tarnung beizubehalten. Zu viele feindliche Augen schauten nun auf Leute wie ihn. Da war es besser, Sam the Sham zu sein. Der Spionagetyp.

DieFiveEyesoderFveywarendieGeheimdienstevonAus­tralien,Kanada,Neuseeland,demVereinigtenKönigreichunddenVereinigtenStaaten,dieinderZeitnachdemZweitenWeltkriegdamitbegannen,dieErgebnissedesriesigenECHELON-ÜberwachungssystemsunddessenNachfolgerauszutauschen,undnunteiltensieauchInformationen,diesieausderÜberwachungdesInternetsgewannen.IndenBüchernvonSamDuChampwardasgegenseitigeMisstrauenderfünfLändereinzentralesThema.NiemandtrautedenAmerikanern,dasiekeineGeheimnissewahrenkonnten,unddasgefährdetediewichtigstenAktivpostenderFiveEyes,nämlichdieUndercover-AgentenvorOrt.NiemandtrautedenBriten,obwohlsieimFührenvonMaulwürfendieBestenwaren –inRussland,imIran,inderarabischenWelt –,dennhäufigdrangenMaulwürfevonirgendwoindenSISein.NiemandtrautedenKanadiern,dasiesoverdammtselbstgefällighandelten,niemandtrautedenAustraliern,dasieAustralierwaren,undniemandtrautedenNeuseeländern,dasienichteineinzigesnützlichesÜberwachungsprogrammzustandebrachten.(DiewesentlichenPost-ECHELON-Programme,PRISM,XKeyscore,Tempora,MUSCULARundSTATEROOM,wurdenhauptsächlichvondenBritishGovernmentCommunicationsHeadquartersoderGCHQundderAmericanNationalSecurityAgency,derNSA,betrieben,unterMitwirkungderAustralierundKanadier.)DiesesNetzwerkvonsichfeindlichgesonnenenVerbündetenwurdeinderGegenwartdurchdenbritischenKlein-Engländer-SeparatismusunddieamerikanischepopulistischeSchikaneweiteraufdieProbegestellt,welchebeidedemFeindimAllgemeinenundRusslandimBesonderenhalfen.BruderwarimmeraufdieAuthentizitätderGeheimwelt,dieererschaffenhatte,stolzgewesen,abernunfürchteteersie.WomöglichwarergewissenunbequemenWahrheitenzunahegekommen.WomöglichwarendieLeute,diedieFive-Eyes-Bücheramsorgfältigstengelesenhatten,dieFiveEyesselbst.Womöglichdachtensie,esseianderZeit,das»sechsteAuge«zuschließen,dassieetwaszugenaubeobachtete.

Solch unwillkommene Aufmerksamkeit von den Phantomen auf sich zu ziehen, als er gerade seinen Blick von der Agentenwelt abwendete, war eine Ironie, auf die er verzichten konnte. Er war alt, und die Wahrheit war inzwischen viel absonderlicher als seine Fiktionen, und er hatte keine Energie mehr, die Nachrichten zu überflügeln. Deshalb Quichotte, pikaresk und verrückt und gefährlich, der Zug eines Springers aus einer bedrängten Position auf dem Spielbrett. Deshalb also sein neuer, nach innen gewandter Blick, seine wiedergekehrte Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause im Osten. Vor langer Zeit war er von der Vergangenheit abgerückt, und später war sie von ihm abgerückt. Lange Zeit hatte er vorgegeben, sogar sich selbst gegenüber, er habe sein Schicksal akzeptiert. Er sei nun ein Mann des Westens, er sei Sam DuChamp, und das sei gut so. Und das sagte er, wenn er gefragt wurde: Er sei nicht ohne Wurzeln, nicht entwurzelt, sondern verpflanzt. Oder besser noch, vielfach verwurzelt wie ein alter Banyanbaum, der »Luftwurzeln« bildet, die dicker werden und mit der Zeit vom ursprünglichen Stamm nicht mehr zu unterscheiden sind. Zu viele Wurzeln! Das bedeutete, seine Geschichten hatten einen breiteren Blätterbaldachin, unter dem man vor der sengenden, feindlichen Sonne Schutz fand. Das bedeutete, sie konnten an vielen verschiedenen Orten eingepflanzt werden, in verschiedenartige Böden. Das ist ein Geschenk, sagte er, aber er wusste, dieser Optimismus war eine Lüge. Nun, nach dem Psalmisten währt die Zeit unseres Lebenssiebzig Jahre, wenn es hochkommt, achtzig, und oft empfand er wie das traurige Herz von Keats’ Ruth, als sie heimwehkrank und tränenüberströmt durch fremde Gassen schritt.

Er ging der Endstation entgegen und war in die allgemeine Nähe des kapuzentragenden Schnitters vorgerückt. In das Stadtviertel, in die Nachbarschaft, vielleicht sogar in den Postleitzahlenbereich. Er stand noch nicht richtig fest mit beiden Beinen auf dem Boden. Aber es war ernüchternd, dass die Wegstrecke vor ihm so viel kürzer war als die bereits zurückgelegte. Ehe Quichotte in seinem Chevy Cruze mit seinem imaginierten Sohn neben sich vorfuhr, hatte Bruder fast geglaubt, die Arbeit habe ihn verlassen, selbst wenn das Leben im Augenblick noch weiterging. Hier war dieses Ding, wenn auch noch so mittelmäßig, dem er sein Leben gewidmet hatte, sein bestes Ich, seinen Optimismus; doch selbst die reichste Mine birgt am Ende kein Gold mehr. Wenn man sein eigener Steinbruch war, wenn das Material, das man herausholte, in den Höhlen des Ich begraben lag, blieb irgendwann nur noch Leere übrig.

Also dann, hör auf!, sagte der böse Engel auf seiner linken Schulter. Das interessiert niemanden, nur dich.

Der böse Engel auf seiner linken Schulter war der Schatten. Doch auf seiner rechten Schulter saß der Cherub des Lichts, der ihn aufmunterte, ihn antrieb, ihm Selbstmitleid verwehrte. Noch ging jeden Tag die Sonne am Himmel auf. Noch immer hatte er Entschlossenheit, Kraft, und war es gewohnt zu arbeiten. Er fasste Mut beim großen Muhammad Ali, der sich nach langen Jahren in der Wüste seine Krone zurückerobert hatte, als er George Fore­man in Zaire schlug. Auch er konnte auf einen »Rumble in the ­Jungle« hoffen. Sam DuChamp, bomayé. Töte ihn, Sam the Sham.

Und darum auf zu Quichottes Geburtsort, der auch seiner war, um gewisse vertrauliche Angelegenheiten zu überprüfen, die äußerst nah und zugleich unmöglich fern waren. Der Fachbegriff für derartige Angelegenheiten lautete Familie. Ein recht guter Ausgangspunkt für eine Geschichte über obsessive Liebe.

Vor vielen, vielen Jahren