Scham und Schande - Salman Rushdie - E-Book
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Scham und Schande E-Book

Salman Rushdie

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Beschreibung

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

»Scham und Schande« ist ein vor Fantasie schäumendes Märchen über ein ungenanntes Land, das »nicht ganz Pakistan« ist, und der Roman, der für Salman Rushdies modernen Klassiker »Die satanischen Verse« den Weg bereitete. In dieser grandiosen Geschichte über ein fortwährendes Duell zwischen den Familien zweier Männer – der eine ein gefeierter Kriegsführer, der andere ein hemmungsloser Liebhaber des Vergnügens – schildert Rushdie brillant eine Welt, die zwischen Ehre und Demütigung gefangen ist.

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Seitenzahl: 521

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SALMAN RUSHDIE, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Preise, er wurde u. a. als der beste aller Booker-Preisträger ausgezeichnet, 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU zuerkannt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter. Zuletzt erschien bei C. Bertelsmann sein Roman »Golden House«.

»Der große Phantast Salman Rushdie in Höchstform!« Cosmopolian

Außerdem von Salman Rushdie lieferbar:

Grimus, Roman

Mitternachtskinder, Roman

Das Lächeln des Jaguars, Eine Reise durch Nicaragua

Die Satanischen Verse, Roman

Harum und das Meer der Geschichten, Roman

Heimatländer der Phantasie, Essays und Kritiken

Osten, Westen, Kurzgeschichten

Des Mauren letzter Seufzer, Roman

Der Boden unter ihren Füßen, Roman

Wut, Roman

Shalimar der Narr, Roman

Joseph Anton, Die Autobiografie

Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, Roman

Golden House, Roman

Salman Rushdie

Scham und Schande

Roman

Aus dem Englischen von Karin Graf

Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel»Shame« bei Jonathan Cape, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.Copyright © 1985 by Salman RushdieAlle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Karin GrafCopyright © dieser Ausgabe 2019 byPenguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlag: buerosued.de unter Verwendungeines Motivs von GettyImages/Jehanzeb AhmedSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-23271-9V001www.penguin-verlag.de

Für Sameen

Inhalt

I Fluchten aus dem Mutterland

Erstes Kapitel Der Stumme Diener

Zweites Kapitel Eine Halskette aus Schuhen

Drittes Kapitel Schmelzendes Eis

II Die Duellanten

Viertes Kapitel Hinter der Leinwand

Fünftes Kapitel Das falsche Wunder

Sechstes Kapitel Ehrenhändel

III Scham, Gute Nachrichten und die Jungfrau

Siebtes Kapitel Erröten

Achtes Kapitel Die Schöne und das Untier

IV Im fünfzehnten Jahrhundert

Neuntes Kapitel Alexander der Große

Zehntes Kapitel Die Frau mit dem Schleier

Elftes Kapitel Monolog eines Gehenkten

Zwölftes Kapitel Stabilität

V Tag des Gerichts

Danksagung

Anmerkungen

I Fluchten aus dem Mutterland

Erstes Kapitel Der Stumme Diener

In der entlegenen Grenzstadt Q., die aus der Vogelperspektive am ehesten einer missproportionierten Hantel gleicht, lebten einmal drei liebliche und liebende Schwestern. Ihre Namen … doch ihre richtigen Namen wurden nie benutzt, wie das beste Geschirr im Haus, das nach der Nacht ihrer gemeinsamen Tragödie in einen Schrank gesperrt wurde, dessen Standort allmählich in Vergessenheit geriet, sodass das prunkvolle tausendteilige Service aus den Gardner-Manufakturen im zaristischen Russland zum Familienmythos wurde und sie nach einer Weile nicht mehr so recht wussten, ob es das Geschirr überhaupt je gegeben hatte … die drei Schwestern, sollte ich ohne weitere Verzögerung bemerken, trugen den Familiennamen Shakil und waren (in absteigender Reihenfolge des Alters) allgemein als Chhunni, Munnee und Bunny bekannt. Und eines Tages starb ihr Vater.

Der alte Mr. Shakil, zum Zeitpunkt seines Todes seit achtzehn Jahren verwitwet, hatte die Eigenart entwickelt, die Stadt, in der er lebte, als Höllenloch zu bezeichnen. In seinem letzten Delirium holte er zu einem ununterbrochenen und weitgehend unverständlichen Monolog aus, dessen wirren Abschweifungen die Hausangestellten lange obszöne Passagen, Flüche und Verwünschungen entnehmen konnten, deren Blutrünstigkeit die Luft um sein Bett in Wallung brachte. In dieser Abrechnung verbreitete der verbitterte alte Einsiedler noch einmal seinen lebenslänglichen Hass auf seine Vaterstadt; im einen Augenblick rief er Dämonen herbei, die den Wirrwarr der niedrigen graubraunen Gebäude, die wie Kraut und Rüben um den Basar verstreut waren, zerstören sollten; im nächsten verdammte er mit vom Tode verkrusteten Worten die kühle weiß gekalkte Adrettheit des Kolonialviertels. Die zwei Kugeln der hantelförmigen Stadt: Altstadt und Kolonialviertel; Erstere war von der einheimischen kolonisierten Bevölkerung bewohnt und Letzteres von den ausländischen Kolonialisten, den Angrez, das heißt britischen Sahibs. Beide Welten waren dem alten Shakil verhasst, und er hatte sich seit vielen Jahren hinter den hohen Mauern seiner gigantischen festungsähnlichen Residenz verschanzt, deren Fenster größtenteils auf einen schachtartigen, lichtlosen Innenhof blickten. Das Haus lag neben einem offenen Markt und war von Basar und Kolonialviertel gleich weit entfernt. Durch eins der wenigen zur Straße gehenden Fenster konnte Mr. Shakil von seinem Totenbett aus auf die Kuppel eines großen, im Stil Palladios gebauten Hotels starren, das wie eine Luftspiegelung aus den Straßen des unerträglichen Kolonialviertels ragte und in dem es goldene Spucknäpfe und zahme Klammeraffen in Uniformen mit Messingknöpfen und Pagenkäppis gab und ein volles Orchester, das jeden Abend in einem stuckverzierten Ballsaal zwischen unbeirrt üppig wuchernden fantastischen Gewächsen, gelben Rosen und weißen Magnolien und haushohen smaragdgrünen Palmen spielte – kurzum, das Hotel Flashman, dessen große goldene Kuppel schon damals einen Riss hatte, aber desungeachtet mit dem schwerfälligen Stolz ihres kurzen, dem Untergang geweihten Glanzes schimmerte; jene Kuppel, unter der sich allabendlich die uniformierten und gestiefelten Angrez-Offiziere und die Zivilisten mit weißen Krawatten und die beringten und gelockten Damen mit hungrigen Augen versammelten, die aus ihren Bungalows hierherkamen, um zu tanzen und sich gemeinsam der Illusion hinzugeben, sie seien farbenprächtig – während sie doch in Wirklichkeit bloß weiß oder vielmehr grau waren, infolge der schädlichen Wirkung der lähmenden Hitze auf ihre zarte, unter Wolken gewachsene Haut und dank ihrer Gewohnheit, unter nobler Missachtung der Leber in der teuflischen mittäglichen Sonnenglut schwere Burgunder zu trinken. Aus dem goldenen Hotel hörte der alte Mann die Musik der Imperialisten schallen, aus der die Ausgelassenheit der Verzweiflung dröhnte, und er verwünschte das Hotel der Träume mit lauter, klarer Stimme.

»Macht das Fenster zu«, brüllte er, »soll ich mit diesem Radau in den Ohren sterben?« Und als die alte Dienerin Hashmat Bibi die Läden geschlossen hatte, entspannte er sich ein wenig und gab unter Aufbietung seiner letzten Energiereserven dem Kurs seines verhängnisvollen, delirierenden Redeflusses eine neue Wendung.

»Kommt schnell!« Hashmat Bibi lief aus dem Zimmer und schrie laut nach den Töchtern des alten Mannes. »Euer Vaterji schickt sich selbst zum Teufel.« Mr. Shakil hatte die Außenwelt als Thema erschöpft; jetzt wütete er in seinem Sterbemonolog gegen sich selbst und rief ewige Verdammnis auf seine Seele herab. »Weiß Gott, warum er so wütend ist«, rief Hashmat Bibi verzweifelt, »aber das ist keine Art zu sterben.«

Der Witwer hatte seine Kinder mithilfe parsischer Ammen, christlicher Ayahs und einer eisernen Moral großgezogen, die zum größten Teil moslemisch war, wenngleich Chhunni behauptete, die Sonne habe ihn noch mehr gehärtet. Bis zu seinem Todestag hatten die drei Mädchen das labyrinthische Herrenhaus nie verlassen dürfen; so gut wie ungebildet, waren sie im Frauenflügel eingesperrt, wo sie einander damit unterhielten, Privatsprachen zu erfinden und sich auszumalen, wie ein Mann wohl aussah, wenn er entkleidet war; in den Jahren vor ihrer Pubertät ersannen sie bizarre Geschlechtsorgane wie zum Beispiel Löcher im Brustkasten, in die ihre Brustwarzen sich genau einfügen würden, »denn damals wussten wir so wenig« – wie sie einander später voller Verwunderung in Erinnerung rufen sollten –, »dass uns eine Befruchtung durch die Brust nicht sonderlich unwahrscheinlich erschien«. Die ununterbrochene Gefangenschaft schmiedete zwischen den drei Schwestern ein Band der Vertrautheit, das nie ganz reißen sollte. Sie verbrachten ihre Abende an einem Fenster, abgeschirmt hinter Gitterwerk, sahen zur goldenen Kuppel des großen Hotels und wiegten sich zu den Klängen der geheimnisvollen Tanzmusik … und es geht das Gerücht, dass sie in der schwülen Schläfrigkeit der Nachmittage träge gegenseitig ihre Körper erforschten und des Nachts geheime Zaubersprüche ersannen, die das Ableben ihres Vaters beschleunigen sollten. Doch was behaupten böse Zungen nicht alles, besonders von schönen Frauen, die fern von den entblößenden Augen der Männer leben. Nahezu gewiss hingegen ist, dass die drei, die sich mit der abstrakten Leidenschaft ihrer Jungfräulichkeit nach Kindern sehnten, in diesen Jahren, lange vor dem Skandal um das Baby, ihren geheimen Pakt schlossen, dreieinig zu bleiben, für immer durch die Vertraulichkeiten ihrer Jugend aneinander gebunden, auch wenn sie Kinder haben sollten; das heißt, sie beschlossen, sich die Babys zu teilen. Das ekelhafte Gerücht, dieser Vertrag sei mit dem vermischten Menstruationsblut der isolierten Dreieinigkeit niedergeschrieben und unterzeichnet worden, um dann zu Asche verbrannt zu werden und nur in den Kreuzgängen ihrer Erinnerung weiterzubestehen, kann ich weder erhärten noch entkräften.

Doch zwanzig Jahre lang sollten sie nur ein einziges Kind haben. Sein Name sollte Omar Chajjam lauten.

All das trug sich im vierzehnten Jahrhundert zu. Ich beziehe mich natürlich auf den islamischen Kalender; glauben Sie nicht, Geschichten dieser Art spielten sich immer vor langer, langer Zeit ab. Zeit lässt sich nicht so leicht homogenisieren wie Milch, und in jenen Breiten waren bis vor Kurzem die Dreizehnhundert noch am Zuge.

Als Hashmat Bibi den Schwestern mitteilte, dass es mit ihrem Vater zu Ende gehe, gingen sie in ihren buntesten Gewändern zu ihm. Sie trafen ihn an, gebeutelt von einem erstickenden Anfall von Scham, in dem er Gott mit Seufzern von überwältigender Schwermut aufforderte, er möge ihn für alle Ewigkeit an einen Wüstenvorposten von Jahannum, in irgendein Grenzland der Hölle versetzen. Dann verstummte er, und Chhunni, die älteste Tochter, fragte ihn schnell das Einzige, was die drei jungen Frauen bewegte: »Vater, wir werden sehr reich sein, nicht wahr?«

»Huren«, verfluchte der Sterbende sie, »freut euch bloß nicht zu früh!«

Das unergründliche Meer des Reichtums, auf dem, wie jeder angenommen hatte, die Geschicke der Familie Shakil dahinsegelten, erwies sich am Morgen nach seinem anstößigen Tod als ausgetrockneter Krater. Die stechende Sonne seiner Inkompetenz in finanziellen Dingen (die er jahrzehntelang mit seinem imposanten patriarchalischen Gehabe, seinem unflätigen Naturell und der anmaßenden Arroganz, die sein verderblichstes Vermächtnis an seine Töchter war, erfolgreich getarnt hatte) hatte alle Ozeane von Bargeld trockengelegt, sodass Chhunni, Munnee und Bunny die ganze Trauerzeit damit zubrachten, die Schulden zu begleichen, die die Gläubiger des alten Mannes zu seinen Lebzeiten nie einzutreiben gewagt hatten und auf deren Bezahlung (plus Zinseszinsen) sie jetzt nicht einen Augenblick länger zu warten bereit waren. Die Mädchen tauchten aus ihrer lebenslangen Abgeschiedenheit auf und trugen einen Ausdruck vornehmer Abscheu vor diesen Geiern zur Schau, die herabstürzten, um sich am Kadaver der großen Unbedachtsamkeit ihres Vaters zu weiden. Und weil sie so erzogen worden waren, dass Geld eines der beiden Themen war, die man nicht mit Fremden erörterte, traten sie ihr Vermögen ab, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Papiere zu lesen, die die Geldverleiher vorlegten. Zu guter Letzt waren all die ausgedehnten Ländereien um Q., die schätzungsweise fünfundachtzig Prozent der überhaupt ertragbringenden Obstgärten und fruchtbaren Ackerböden in diesem weitgehend unfruchtbaren Gebiet ausmachten, samt und sonders dahin. Den drei Schwestern blieb nichts als das unübersichtlich weitläufige Herrenhaus, das von unten bis oben mit Besitzgütern vollgestopft war und in dem die paar Dienstboten herumspukten, die weniger aus Loyalität als aus der Angst des lebenslänglich Gefangenen vor der Außenwelt nicht gehen wollten. Und sie reagierten – wie es vielleicht bei aristokratisch erzogenen Leuten weltweit üblich ist – auf die Nachricht von ihrem Bankrott mit dem Entschluss, ein Fest zu geben.

In späteren Jahren erzählten sie einander die Geschichte dieses berüchtigten Galaabends mit einer kindlichen Heiterkeit, die in ihnen die Illusion weckte, wieder jung zu sein. »Ich ließ im Kolonialviertel Einladungen drucken«, fing Chhunni Shakil zu erzählen an, neben ihren Schwestern auf einer alten Holzschaukel sitzend. Sie kicherte beglückt in Gedanken an längst vergangene Abenteuer und fuhr fort: »Und was für Einladungen! Mit Prägedruck und goldenen Buchstaben auf Karten so steif wie Holz. Es war, als würde man dem Schicksal ins Auge spucken.«

»Und auch unserem toten Vater ins geschlossene Auge«, setzte Munnee hinzu. »Für ihn wäre es die verkörperte Schamlosigkeit gewesen, eine Abscheulichkeit, der Beweis, dass es ihm nicht gelungen war, uns seinen Willen aufzuzwingen.«

»Genauso«, fuhr Bunny fort, »wie unser Bankrott der Beweis war, dass er auch in einem anderen Bereich versagt hatte.«

Anfangs hatten sie gemeint, die Scham ihres sterbenden Vaters sei aus seinem Wissen um den bevorstehenden Bankrott erzeugt worden. Später begannen sie jedoch weniger prosaische Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Vielleicht«, vermutete Chhunni, »hatte er auf dem Totenbett eine Zukunftsvision.«

»Gut«, sagten ihre Schwestern, »dann ist er so erbärmlich gestorben, wie er uns zu leben zwang.«

Die Nachricht, dass die Schwestern Shakil in das Gesellschaftsleben eintraten, verbreitete sich rasch in der Stadt. Und an dem lang erwarteten Abend stürmte eine Armee von musikalischen Genies das alte Haus, deren dreisaitige Dumbiras, siebensaitige Sarandas, Rohrflöten und Trommeln das puritanische Herrenhaus zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten mit festlicher Musik erfüllten; Regimenter von Bäckern und Konditoren und Snack-Wallahs marschierten mit Arsenalen von Speisen herein, die auf und hinter den Ladentheken der Stadt Leere und Öde hinterließen und das Innere eines riesigen vielfarbigen Shamiana-Zeltes füllten, das im Herzen des Anwesens errichtet worden war und dessen spiegelverzierte Stoffwände die Pracht der festlichen Vorbereitungen widerspiegelten. Indes zeigte sich, dass der Snobismus, der den drei Schwestern vom Vater ins Knochenmark eingeimpft worden war, fatale Auswirkungen auf die Gästeliste gehabt hatte. Die meisten Bürger Q.s waren bereits tödlich beleidigt, als sie feststellten, dass sie der Gesellschaft der illustren Damen, deren goldumrandete Einladungen Stadtgespräch waren, nicht für würdig erachtet wurden. Nun kamen zu den Unterlassungssünden auch noch tatsächlich begangene hinzu, denn es stellte sich heraus, dass die Schwestern den unverzeihlichsten Fauxpas von allen begangen hatten: Einladungen, die die Türmatten der einheimischen Würdenträger verschmähten, hatten den Weg ins Kolonialviertel der Angrez und in den Ballsaal der tanzenden Sahibs gefunden. Der Haushalt, der so lange Zeit niemandem zugänglich gewesen war, blieb bis auf wenige Ausnahmen allen Ortsansässigen verschlossen, doch nach der Cocktailstunde im Flashman wurden die Schwestern von einer uniformierten und festlich gewandeten Schar von Ausländern aufgesucht. Die Imperialisten! Die grauhäutigen Sahibs und ihre behandschuhten Begums! Mit heiseren Stimmen und voll überströmender Leutseligkeit betraten sie das spiegelverzierte Vergnügungszelt.

»Und Alkohol gab es!« Die alte Mutter Chhunni schwelgte in Erinnerungen und klatschte ob deren Grausigkeit entzückt in die Hände. Doch an diesem Punkt ließ die Erinnerungsseligkeit immer nach, und alle drei Damen wurden merkwürdig vage, sodass ich die Unglaubwürdigkeiten, die um dieses Fest im dunklen Verlauf der Jahre wie die Pilze aus dem Boden schossen, nicht aufklären kann.

Kann es wirklich stimmen, dass die wenigen nichtweißen Gäste – örtliche Zamindars mit ihren Frauen, deren Reichtum einst neben den Milliarden der Shakils lächerlich erschienen war – in einem festgeklumpten wütenden Haufen beieinanderstanden und den umherstolzierenden Sahibs Unheil verkündende Blicke zuwarfen? Dass sie alle nach sehr kurzer Zeit gleichzeitig gingen, ohne Brot gebrochen oder Salz gegessen zu haben, und die Schwestern den Kolonialbehörden überließen? Wie wahrscheinlich ist es, dass die drei Schwestern mit Augen, die von Kajal und Erregung glänzten, in würdevollem Schweigen von Offizier zu Offizier schritten, als gälte es, sie zu taxieren, gepflegte Schnurrbärte auf Glanz hin zu überprüfen und Kiefer nach der Schärfe ihrer Kontur zu beurteilen? Und dass dann die Shakil-Mädchen (wie die Legende berichtet) unisono in die Hände geklatscht und den Musikern befohlen hätten, westliche Tanzmusik zu spielen, Menuette, Walzer, Foxtrotts, Polkas, Gavotten – eine Musik, die auf einmal fatal dämonisch wirkte, als sie den misshandelten Instrumenten der Virtuosen abgerungen wurde?

Die Tanzerei dauerte, so wird berichtet, die ganze Nacht. Das Skandalöse einer solchen Begebenheit hätte den Ruf der frisch verwaisten Mädchen ohnehin ruiniert, doch es sollte noch schlimmer kommen. Bald nach dem Fest, nachdem die erbosten Genies sich verabschiedet hatten und Berge unberührter Speisen den Straßenkötern vorgeworfen worden waren – denn so vornehm waren die Schwestern, dass sie nicht zulassen konnten, dass für ihresgleichen bestimmtes Essen an die Armen verteilt wurde –, kursierte in den Basars von Q. das Gerücht, eins jener drei hochnäsigen Mädchen sei in besagter wilder Nacht geschwängert worden.

O Schande, Schande, klatschmohnrote Schande!

Doch falls die Schwestern Shakil von überwältigenden Gefühlen der Schmach geplagt wurden, dann zeigten sie es nicht. Stattdessen schickten sie Hashmat Bibi, eine der Bediensteten, die nicht hatten gehen wollen, nach Q., wo sie sich der Dienste eines gewissen Mistri Yakoob Balloch versicherte, des besten Faktotums der Stadt, und das größte in Übersee gefertigte Vorhängeschloss erwarb, das in der Eisenwarenhandlung »So Gott will« zu finden war. Das Vorhängeschloss war so groß und so schwer, dass Hashmat Bibi es auf dem Rücken eines gemieteten Maulesels nach Hause befördern musste, dessen Besitzer die Dienerin fragte: »Was wollen deine Begums jetzt noch mit diesem Mordsschloss? Die Invasion ist doch schon vorbei.« Hashmat Bibi verdrehte die Augen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und sagte: »Mögen deine Enkelsöhne auf dein Armengrab pissen!«

Das Faktotum, Mistri Yakoob, war von der grimmigen Ruhe der vorsintflutlichen Vettel so beeindruckt, dass er bereitwillig unter ihrer Aufsicht arbeitete, ohne eine Bemerkung zu wagen. Sie hieß ihn einen merkwürdigen Außenaufzug, eine Art Stummen Diener, bauen, der so groß war, dass er drei Erwachsene fassen konnte, und mit dem man mittels eines Elektroflaschenzugs Gegenstände von ebener Erde in die oberen Stockwerke befördern konnte und umgekehrt. Hashmat Bibi betonte, dass der ganze Mechanismus unbedingt so angelegt werden musste, dass man ihn bedienen konnte, ohne dass die Bewohner des Herrenhauses sich an einem Fenster zeigen mussten – nicht einmal ein kleiner Finger durfte sichtbar werden. Dann zählte sie die ungewöhnlichen Sicherheitsmaßnahmen auf, die er in das wunderliche Gerät einbauen sollte. »Setz hier«, befahl sie ihm, »eine Sprungfeder ein, die vom Haus aus bedient werden kann. Wenn sie betätigt wird, soll der ganze Aufzugboden mir nichts, dir nichts herausfallen. Dort und dort und dort fügst du Geheimpaneele ein, aus denen siebenundzwanzig Zentimeter lange Stilettklingen hervorschießen können, scharf, scharf. Meine Herrinnen müssen sich vor Eindringlingen schützen können.«

Der Stumme Diener verbarg also viele schreckliche Geheimnisse. Der Mistri vollendete seine Arbeit, ohne dass er die drei Schwestern Shakil auch nur einmal zu Gesicht bekommen hätte, doch als er sich wenige Wochen später sterbend in der Gasse wälzte, sich den Bauch hielt und Blut in den Schmutz spuckte, ging das Gerücht um, die schamlosen Weiber hätten ihn vergiftet, um sich seines Schweigens über seinen letzten und geheimnisvollsten Auftrag zu versichern. Der Anstand gebietet jedoch, darauf hinzuweisen, dass in diesem Fall der Obduktionsbefund dem Gerücht widerspricht. Yakoob Balloch, der schon seit Längerem ab und zu Schmerzen in der Blinddarmgegend verspürt hatte, starb höchstwahrscheinlich eines natürlichen Todes. Sein Todeskampf wurde nicht durch die übernatürlichen Gifte der mutmaßlichen Mörderschwestern, sondern durch eine wahrhaft verhängnisvolle, banale Bauchfellentzündung verursacht. Oder etwas Derartiges.

Es kam der Tag, da man die letzten drei männlichen Dienstboten der Shakil-Schwestern das riesige Eingangstor aus massivem Teakholz und Messing zuschieben sah. Und bevor sich nun die Tore der Einsamkeit vor den Schwestern schlossen und länger als ein halbes Jahrhundert nicht mehr geöffnet wurden, erblickte die kleine Schar neugieriger Stadtbewohner, die sich draußen versammelt hatten, einen Schubkarren, auf dem das überdimensionale Schloss, das ihren Rückzug besiegelte, in mattem Glanz ruhte. Und als die Türen dann geschlossen waren, verkündeten die Geräusche, als das große Schloss angebracht und der Schlüssel umgedreht wurde, den Beginn der seltsamen anderen Umstände der drei skandalösen Damen und ihrer Diener.

Es stellte sich heraus, dass Hashmat Bibi auf ihrem letzten Ausflug in die Stadt in den Niederlassungen der führenden Warenlieferanten und Dienstleistungsbetriebe am Platze eine Reihe versiegelter Umschläge mit detaillierten Anweisungen hinterlassen hatte, sodass sich fortan an den vereinbarten Tagen und zu den festgesetzten Stunden die erwählte Wäscherin, der Schneider und der Schuster ebenso wie die auserwählten Verkäufer von Fleisch, Obst, Kurzwaren, Blumen, Schreibwaren, Gemüse, Hülsenfrüchten, Büchern, nicht kohlensäurehaltigen Getränken, kohlensäurehaltigen Getränken, ausländischen Zeitschriften, Zeitungen, Salben, Parfüms, Kajal, Streifen von Eukalyptusrinde zum Zähneputzen, Gewürzen, Stärke, Seifen, Küchenutensilien, Bilderrahmen, Spielkarten und Saiten für Musikinstrumente am Fuß von Mistri Yakoobs letztem Werk einfanden. Sie gaben verschlüsselte Pfeifsignale, und der Stumme Diener fuhr summend mit geschriebenen Anweisungen zu ihnen hinab. So gelang es den Shakil-Damen, sich vollkommen und auf alle Zeiten von der Welt zurückzuziehen; freiwillig kehrten sie in das einsiedlerische Dasein zurück, dessen Ende sie nach dem Tod ihres Vaters so kurz hatten feiern können; und ihre Vorkehrungen zeugten von solchem Hochmut, dass ihre Isolation nicht von Reue, sondern von Stolz diktiert schien.

Dabei erhebt sich eine delikate Frage: Wie bezahlten sie das alles?

Etwas peinlich berührt um ihretwillen, und sei es nur, um zu zeigen, dass der Verfasser dieser Zeilen, der schon viele Fragen in einem Zustand ungeklärter Vieldeutigkeit belassen musste, eindeutige Antworten geben kann, wenn es unbedingt erforderlich ist, verrate ich, dass Hashmat Bibi einen letzten versiegelten Umschlag an der Tür des am wenigsten appetitlichen Ladens der Stadt abgegeben hatte, in dem die Vorschriften des Korans, den Wucher betreffend, nicht zählten, dessen Regale und Vorratstruhen unter der Last der angehäuften Relikte unzähliger vermoderter Geschichten ächzten … ach, verdammt. Um die Wahrheit zu sagen – sie ging zum Pfandleiher. Und er, der Pfandleiher, der alterslose, bleistiftdünne Chalaak Sahib mit seinen unschuldig dreinblickenden großen Augen, fand sich hinfort ebenfalls am Stummen Diener ein (im Schutze der Nacht, wie angewiesen), um den Wert der Gegenstände, die er darin vorfand, zu veranschlagen und umgehend bares Geld in der Höhe von circa achtzehn Komma fünf Prozent des Marktwertes der unwiderruflich versetzten Schätze ins Innere der stummen Gemächer zu schicken. Die drei Mütter des ins Haus stehenden Omar Chajjam Shakil benutzten die Vergangenheit, das einzige ihnen verbliebene Kapital, zum Erwerb der Zukunft.

Doch wer war schwanger?

Chhunni, die Älteste, oder Munnee-in-der-Mitte, oder die »kleine« Bunny, das Nesthäkchen unter den dreien? – Niemand kam je dahinter, nicht einmal das Kind, das geboren wurde. Sie hatten die Reihen dicht geschlossen, unter penibelster Beachtung jedes Details. Man stelle sich vor: sie ließen die Dienstboten Treueeide auf das heilige Buch schwören. Die Dienstboten teilten die selbst auferlegte Gefangenschaft der Schwestern und verließen das Haus nur mit den Füßen voran, in weiße Laken gehüllt und natürlich via der von Yakoob Balloch konstruierten Route. Während der ganzen Dauer jener Schwangerschaft wurde kein Arzt ins Haus geholt. Und während sie voranschritt, bewiesen die drei Schwestern, weil sie sich darüber im Klaren waren, dass es nicht gewahrten Geheimnissen immer gelingt zu entweichen, unter einer Tür hervor, durch ein Schlüsselloch oder ein offenes Fenster, bis jeder alles weiß und niemand weiß wie … bewiesen die Schwestern, sage ich, die einzigartig leidenschaftliche Solidarität, die ihr bemerkenswertester Charakterzug war, indem sie – jedenfalls zwei von ihnen – die ganze Palette von Symptomen vortäuschten, die die dritte wohl oder übel aufwies.

Obwohl gut fünf Jahre Chhunni von Bunny trennten, begannen die Schwestern zu jener Zeit dank gleicher Kleidung und dank der unbegreiflichen Auswirkungen ihres ungewöhnlichen selbst gewählten Lebens einander so sehr zu ähneln, dass selbst die Dienstboten sie mitunter verwechselten. Ich habe sie als Schönheiten bezeichnet, doch waren sie nicht der mondgesichtige, mandeläugige Typ, den die Dichter in jenen Breiten so lieben, sondern kräftig gebaute, zielstrebig ausschreitende Frauen mit stark ausgeprägtem Kinn, von einem fast bedrückenden Charisma. Nun wurden alle drei gleichzeitig um Taille und Brust fülliger; wenn des Morgens einer übel war, begannen die beiden anderen in so perfekt abgestimmtem Mitempfinden zu würgen, dass man unmöglich sagen konnte, wessen Magen zuerst den Brechreiz verspürt hatte. Übereinstimmend wölbten ihre Bäuche sich dem Ende der Schwangerschaft entgegen. Es ist natürlich möglich, dass all dies mithilfe äußerlicher Tricks, mit Kissen und Polstern und sogar ohnmachtsauslösenden Dämpfen, erreicht wurde, doch bin ich der unerschütterlichen Überzeugung, dass eine solche Erklärung die zwischen den Schwestern herrschende Liebe gemein herabwürdigt. Trotz der biologischen Unwahrscheinlichkeit bin ich bereit zu schwören, dass sie so innig wünschten, die Mutterschaft ihres Geschwisters zu teilen – die öffentliche Schande unehelicher Empfängnis in den privaten Triumph des lang ersehnten Gruppenbabys zu verwandeln –, dass, kurz gesagt, eine Zwillingsscheinschwangerschaft die echte begleitete; die Simultaneität ihres Verhaltens wiederum lässt auf das Wirken einer Art von Gemeinschaftsgeist schließen.

Sie schliefen im selben Zimmer. Sie empfanden die gleichen Gelüste – nach Marzipan, Jasminblüten, Pinienkernen, Schlamm – zur gleichen Zeit; ihr Stoffwechsel veränderte sich in gleichem Maß. Mit der Zeit wogen sie das Gleiche, fühlten sich im selben Augenblick erschöpft und erwachten jeden Morgen gleichzeitig, als hätte jemand eine Glocke geläutet. Sie empfanden die gleichen Schmerzen; in drei Bäuchen trat und wand sich ein einziges Baby und seine beiden geisterhaften Spiegelbilder mit der Präzision einer hervorragend trainierten Tanztruppe … da sie in gleichem Maße litten, verdienten es die drei – wage ich zu sagen – voll und ganz, als gemeinsame Mütter des kommenden Kindes betrachtet zu werden. Und als eine von ihnen – ich will den Namen noch nicht einmal raten – niederkam, sah niemand sonst, wessen Fruchtwasser abging noch wessen Hand eine Schlafzimmertür von innen verschloss. Kein Außenstehender war Zeuge des Verlaufs der drei Wehen, zweier scheinbarer, einer echten, noch des Augenblicks, in dem leere Ballons in sich zusammenfielen, während zwischen einem dritten Schenkelpaar das illegitime Kind wie in einer Gasse auftauchte, noch des Augenblicks, da Hände Omar Chajjam Shakil bei den Fußknöcheln ergriffen, ihn mit dem Kopf nach unten hielten und ihm auf den Rücken klopften.

Unser Held, Omar Chajjam, tat seinen ersten Atemzug in jenem unglaublichen Herrenhaus, das zu groß war, als dass man seine Räume zählen konnte, schlug die Augen auf und sah durch ein offenes Fenster die makabren Gipfel der Unvorstellbaren Berge verkehrt herum am Horizont. Eine – aber welche? – seiner drei Mütter hatte ihn an den Knöcheln genommen, hatte den ersten Atem in seine Lungen geknufft … bis das Baby, das noch immer auf die umgedrehten Gipfel starrte, anfing zu schreien.

Als Hashmat Bibi hörte, wie sich ein Schlüssel in der Tür drehte, und zaghaft mit Speisen und Getränken und frischen Laken und Schwämmen und Seife und Handtüchern ins Zimmer kam, saßen die drei Schwestern zusammen in dem geräumigen Bett, in dem ihr Vater gestorben war, einem riesigen Mahagoni-Himmelbett, um dessen Pfosten sich geschnitzte Schlangen zum brokatenen Eden des Baldachins hochschlängelten. Alle zeigten den erhitzten Ausdruck seligster Freude, die das wahre Vorrecht der Mutter ist; und das Baby wurde von Brust zu Brust gereicht, und keine der sechs war ohne Milch.

Dem jungen Omar Chajjam wurde allmählich zu Bewusstsein gebracht, dass seiner Geburt gewisse Regelwidrigkeiten vorausgegangen und nachgefolgt waren. Mit dem Vor haben wir uns schon befasst, und was das Nach betrifft:

»Ich habe mich schlicht geweigert«, sagte seine älteste Mutter Chhunni an seinem siebten Geburtstag zu ihm, »dir den Namen Gottes ins Ohr zu flüstern.«

An seinem achten Geburtstag gestand Munnee, die mittlere: »Es kam gar nicht infrage, dir den Kopf scheren zu lassen. Du bist mit so schönem schwarzen, schwarzen Haar auf die Welt gekommen, das hätte dir niemand vor meinen Augen abschneiden dürfen, o nein, mein Herr!«

Genau ein Jahr später setzte seine jüngste Mutter eine ernste Miene auf. »Unter keinen Umständen«, verkündete Bunny, »hätte ich zugelassen, dass die Vorhaut entfernt wird. Was soll das? Sie ist doch keine Bananenschale!«

Omar Chajjam trat ins Leben, ohne der Wohltaten der Verstümmelung, des Friseurs und des Segens Gottes teilhaftig zu werden. Vielen sollte das als Handicap erscheinen.

Geboren in einem Totenbett, das (neben Vorhängen und Moskitonetzen) das Geisterbild eines Großvaters umwehte, der sich sterbend den Randbezirken der Hölle anheimgegeben hatte; eine Kette auf dem Kopf stehender Berge als erste Wahrnehmung … Omar Chajjam war vom Tag seiner Geburt an mit dem undeutlichen Empfinden geschlagen, alles sei verkehrt, die Welt stehe auf dem Kopf. Und mit etwas Schlimmerem: der Angst, er lebe so nah am Rand der Welt, dass er jeden Augenblick hinunterfallen könne. Durch ein altes Teleskop betrachtete das Kind Omar Chajjam von den Fenstern im oberen Stock des Hauses die Leere der Landschaft um Q., die ihn davon überzeugte, dass er sich am äußersten Rand Aller Dinge befand und dass jenseits der Unvorstellbaren Berge am Horizont das große Nichts lag, in das er in seinen Albträumen mit eintöniger Regelmäßigkeit zu fallen begonnen hatte. Der erschreckendste Aspekt dieser Träume war das im Schlaf empfundene Gefühl, seine Stürze ins Leere seien nicht unverdient, und es geschehe ihm ganz recht … er erwachte inmitten von Moskitonetzen, in Schweiß gebadet und sogar schreiend bei der Erkenntnis, dass seine Träume ihn über die eigene Nichtswürdigkeit informierten. Die Neuigkeit behagte ihm nicht.

In diesen Jahren also, da manches noch in der Schwebe war, fasste Omar Chajjam den nie widerrufenen Entschluss, seine Schlafenszeit zu verkürzen, ein lebenslanges Bestreben, das ihn am Ende, um die Zeit, als seine Frau in Rauch aufging – doch nein, das Ende darf dem Anfang und der Mitte nicht vorausgehen, auch wenn neuere wissenschaftliche Versuche uns gezeigt haben, dass in bestimmten Arten von geschlossenen Systemen und unter starkem Druck die Zeit dazu bewegt werden kann rückwärtszulaufen, sodass Wirkungen ihren Ursachen vorangehen. Das ist genau jene Art von nutzlosem Fortschritt, von dem Geschichtenerzähler überhaupt keine Notiz nehmen dürfen; auf diesem Weg lauert der Wahnsinn! –, das ihn schließlich dahin brachte, dass bloße vierzig Minuten in der Nacht, das berühmte Nickerchen, genügten, ihn zu erfrischen. Wie jung war er, als er den überraschend erwachsenen Entschluss fasste, der ungenießbaren Realität der Träume in die etwas annehmbareren Illusionen seines alltäglichen, wachen Lebens zu entfliehen! »Kleine Fledermaus«, nannten seine Mütter ihn nachsichtig, als sie von seinen nächtlichen Wanderungen durch die unerschöpflichen Kammern ihres Heims erfuhren; ein dunkelgrauer Tschador flatterte um seine Schultern und bot Schutz gegen die Kälte der Winternächte; aber ob er sich zu einem Kreuzritter im Umhang oder einem Blutsauger unter verhüllendem Mäntelchen, zu Batman oder Dracula entwickelte, das mag der Leser entscheiden.

Seine Frau, die ältere Tochter General Raza Hyders, litt ebenfalls unter Schlaflosigkeit, doch darf Omar Chajjams Schlaflosigkeit nicht mit ihrer verglichen werden, denn während seine beabsichtigt war, lag sie im Bett, die törichte Sufiya Zinobia, und quetschte ihre Augenlider mit Daumen und Zeigefinger zu, als könne sie das Bewusstsein durch die Augenwimpern hinausdrücken wie Staubkörnchen oder Tränen. Und sie verbrannte, sie verschmorte in ebendem Zimmer, in dem ihr Mann geboren und sein Großvater gestorben war, neben dem Bett mit den Schlangen und dem Paradies … zum Teufel mit dieser ungehorsamen Zeit! Auf der Stelle beordere ich diese Sterbeszene in die Kulissen zurück: Shazam!

Im Alter von zehn Jahren war der junge Omar bereits für die einhegende, schützende Gegenwart der Berge am westlichen und südlichen Horizont dankbar. Die Unvorstellbaren Berge: den Namen werden Sie in Ihren Atlanten nicht finden, einerlei, wie groß der Maßstab ist. Geografen haben freilich ihre Grenzen; der junge Omar Chajjam, der sich in ein wundersam glänzendes Messingteleskop verliebte, das er aus der überströmenden Fülle der Dinge, die sein Heim verstopften, ausgrub, war sich immer bewusst, dass jegliche Geschöpfe aus Silizium oder Ungeheuer aus Gasen, die die Sterne der allnächtlich über seinem Kopf dahinfließenden Milchstraße bewohnten, ihre Heimat an den Namen in seinen abgegriffenen Sternkarten nie erkannt hätten. »Wir hatten unsere Gründe«, sagte er sein Leben lang, »für den Namen, den wir unserer eigenen Bergkette gaben.«

Die schlitzäugigen, felsenharten Angehörigen der Stämme, die in jenen Bergen hausten und die gelegentlich in den Straßen von Q. gesehen wurden (dessen empfindsamere Einwohner auf die andere Straßenseite gingen, um dem gewaltigen Gestank und den schaukelnden, ungehobelten Schultern der Gebirgler auszuweichen), nannten die Bergkette auch »das Dach des Paradieses«. Das Gebirge, überhaupt die ganze Gegend, sogar Q. selbst wurden von periodisch auftretenden Erdbeben heimgesucht; es war eine instabile Zone, und die Leute aus den Bergen glaubten, die Beben würden durch Engel verursacht, die aus Felsspalten auftauchten. Lange ehe sein eigener Bruder sah, wie ein geflügelter und goldglänzender Mann ihn von einem Dach aus beobachtete, hatte Omar Chajjam Shakil die Theorie eingeleuchtet, dass das Paradies nicht im Himmel, sondern direkt unter seinen Füßen lag und dass die Erdbewegungen das Interesse der Engel an der Erforschung weltlicher Angelegenheiten bewiesen. Die Form der Gebirgskette änderte sich ständig unter diesem engelhaften Druck. Aus den schrundigen, ockerfarbenen Abhängen erhob sich eine endlose Zahl pfeilerähnlicher Felsformationen aus Schichtgestein, deren geologische Schichten sich so deutlich voneinander absetzten, dass die titanischen Säulen von Kolossen errichtet schienen, die in der Steinmetzkunst bewandert waren … und auch diese göttlichen Traumtempel stiegen und fielen mit dem Kommen und Gehen der Engel.

Oben die Hölle, unten das Paradies; ich habe mich bei dieser Darstellung der veränderungsanfälligen Wüstenei, aus der Omar Chajjam stammte, länger aufgehalten, um die These zu betonen, dass er zwischen Zwillingsewigkeiten aufwuchs, deren herkömmliche Ordnung seiner Erfahrung zufolge genau umgedreht war; dass solche Kopfstände Auswirkungen haben, die schwerer zu messen sind als Erdbeben – denn welcher Erfinder hätte je einen Seismografen der Seele patentieren lassen?; und dass ihre Gegenwart in Omar Chajjam, den man nicht beschnitt, dem man nichts zuflüsterte, den man nicht schor, das Gefühl verstärkte, anders als andere zu sein.

Aber ich habe mich jetzt lange genug draußen aufgehalten und muss meine Erzählung aus der Sonne holen, ehe ihr Luftspiegelungen und Hitzschlag zu schaffen machen. – Später, am anderen Ende seines Lebens (offenbar lässt sich die Zukunft nicht bändigen und ist nicht davon abzuhalten, immer wieder in die Vergangenheit einzudringen), als sein Name wegen des Skandals um die kopflosen Morde in allen Zeitungen stand, machte die Zollbeamtentochter Farah Rodrigues den Mund auf und entließ aus ihrem Gewahrsam die Geschichte jenes Tages, da der halbwüchsige Omar Chajjam, schon damals ein dicker Kerl, dem in Nabelhöhe ein Knopf fehlte, sie zum Posten ihres Vaters an der Landesgrenze vierzig Meilen westlich von Q. begleitet hatte. Sie saß in einer illegalen Schnapsbude und redete niemand Bestimmten an – ihr ehemals kristallenes Lachen war im Lauf der Zeit und infolge der Wüstenluft zu einem schrillen Gegacker geworden, das klang wie zersplitterndes Glas: »Unglaublich, ich schwör’s«, hing sie ihren Erinnerungen nach, »wir waren gerade mit dem Jeep angekommen, und sofort kam eine Wolke runter und ließ sich auf dem Boden nieder, direkt an der Grenze, als käme sie ohne Visum nicht rüber, und dieser Shakil ist so erschrocken, dass ihm schwindlig geworden ist, er ist umgekippt und ohnmächtig geworden, obwohl er mit beiden Füßen fest auf dem Boden stand.«

Selbst zur Zeit seines größten Ruhms, selbst als er Hyders Tochter heiratete, selbst nachdem Raza Hyder Präsident geworden war, plagte Omar Chajjam manchmal dieser unwirkliche Schwindel, das Gefühl, ein Geschöpf am Rande zu sein: ein peripherer Mann. Einmal, zur Zeit seiner Sauf- und Zechfreundschaft mit Iskander Harappa, dem Millionär, Playboy, radikalen Denker, Ministerpräsidenten und schließlich wunderwirkenden Leichnam, sprach Omar Chajjam im Rausch zu Isky von sich. »Vor dir hast du«, vertraute er ihm an, »einen Kerl, der noch nicht einmal in seinem eigenen Leben die Hauptrolle spielt, einen Mann, der außerhalb-der-Dinge geboren und erzogen wurde. Die Vererbung, das ist es, meinst du nicht?«

»Das ist ein bedrückender Gedanke«, antwortete Iskander Harappa.

Omar Chajjam Shakil wurde, ohne einen einzigen Vater in Sicht, von nicht weniger als drei Müttern erzogen, ein Rätsel, das später, als Omar schon zwanzig Jahre alt war, noch rätselhafter wurde durch die Geburt eines jüngeren Bruders, der gleichfalls von allen drei weiblichen Elternteilen beansprucht wurde und dessen Empfängnis nicht weniger unbefleckt gewesen zu sein schien. Gleichermaßen beunruhigend für den heranwachsenden Jugendlichen war seine erste Liebeserfahrung, als er mit watschelnder und entflammter Entschlossenheit der wollüstig unerreichbaren Gestalt einer gewissen Farah der Parsin (geborene Zoroaster) nachsetzte, eine Beschäftigung, die, mit der einzigen Ausnahme seiner von Geburt an isolierten Person, bei allen Burschen am Ort als »das Desaster herausfordern« bekannt war.

Von Schwindel ergriffen, am Rande stehend, verdreht, verblendet, schlaflos, sternguckend, dick: Was für ein Held soll das sein?

Zweites Kapitel Eine Halskette aus Schuhen

Einige Wochen nach dem Einmarsch russischer Truppen in Afghanistan kehrte ich nach Hause zurück, um meine Eltern und Schwestern zu besuchen und meinen erstgeborenen Sohn vorzuzeigen. Meine Familie wohnt in der »Defence«, der Pakistan Defence Service Officers’ Cooperative Housing Society, obwohl sie nichts mit dem Militär zu tun hat. Die »Defence« ist eines der besseren Viertel in Karatschi; wenige der Soldaten, die dort zu Schleuderpreisen Grundstücke kaufen durften, konnten es sich leisten, darauf zu bauen.

Aber sie durften die unbebauten Grundstücke auch nicht weiterverkaufen. Um den Anteil eines Offiziers in der »Defence« zu erwerben, musste man einen komplizierten Vertrag aufsetzen. Den Klauseln dieses Vertrags zufolge blieb das Land Eigentum des Verkäufers, obwohl man den vollen Marktwert bezahlt hatte und nun ein kleines Vermögen ausgab, um darauf ein eigenes Haus nach eigenen Angaben zu bauen. Theoretisch war man einfach ein netter Kerl, ein Wohltäter, dem es beliebte, aus seiner grenzenlosen Güte heraus dem armen Offizier ein Heim zu schenken. Doch der Vertrag verpflichtete auch den Verkäufer, einen Dritten zu benennen, der die unbeschränkte Verfügung über das Eigentum erhielt, sobald das Haus fertig war. Dieser Dritte wurde vom Käufer benannt, und wenn die Bauarbeiter den letzten Handgriff getan hatten, überschrieb er ihm einfach das Ganze. Zwei voneinander unabhängige Taten der Selbstlosigkeit waren also für diesen Vorgang vonnöten. Auf dieser Gefälligkeitsbasis war fast die ganze »Defence« entstanden. Dieser Kameradschaftsgeist, dieses selbstlose Hinarbeiten auf ein gemeinsames Ziel ist es wert, festgehalten zu werden.

Es war ein elegantes Verfahren. Der Verkäufer wurde reich, der Mittelsmann bekam sein Entgelt, man bekam sein Haus, und niemand brach ein Gesetz. Deshalb fragte natürlich auch nie jemand danach, wie es kam, dass der begehrteste Baugrund der Stadt den Streitkräften zugeteilt worden war. Auch diese Haltung gehört zu den Fundamenten der »Defence«: Die Luft dort ist voll von ungefragten Fragen. Doch ihr Geruch ist schwach, und die Blumen in den vielen üppig gedeihenden Gärten, die Bäume am Straßenrand, die Parfüms der gepflegten Damen des Viertels überdecken diesen anderen, zu körperlosen Geruch fast völlig. Diplomaten, internationale Geschäftsleute, die Söhne ehemaliger Diktatoren, Schlagerstars, Textilfabrikanten, Kricketspieler der Nationalmannschaft kommen und gehen. Es gibt viele neue Datsuns und Toyotas. Und der Name »Defence Society«, der in manchen Ohren wie ein Symbol klingen könnte (ein Symbol der für beide Seiten vorteilhaften Beziehung zwischen dem Establishment des Landes und seiner Armee), hat in der Stadt keinen derartigen Beigeschmack. Es ist nur ein Name, nichts weiter.

Kurz nach meiner Ankunft besuchte ich eines Abends einen alten Freund, einen Dichter. Ich hatte mich auf eine unserer langen Unterhaltungen gefreut, darauf, seine Ansichten über die jüngsten Ereignisse in Pakistan und natürlich über Afghanistan zu hören. Wie gewöhnlich war sein Haus voller Besucher; niemand schien Lust zu haben, über irgendetwas anderes als die Kricketländerspiele zwischen Indien und Pakistan zu reden. Ich ließ mich mit meinem Freund an einem Tisch nieder und begann ein müßiges Schachspiel. Doch eigentlich wollte ich über manche Dinge die ungeschminkte Wahrheit erfahren und brachte schließlich vor, was mir am Herzen lag. Ich begann mit einer Frage nach der Hinrichtung Zulfikar Ali Bhuttos. Doch nur die halbe Frage kam über meine Lippen; ihre andere Hälfte gesellte sich zum Heer der vielen unausgesprochenen Fragen in diesem Land, denn ich spürte einen äußerst schmerzhaften Tritt gegen mein Schienbein und kam mitten im Satz, ohne aufzuschreien, wieder auf den Sport zu sprechen. Danach diskutierten wir den einsetzenden Videoboom.

Leute kamen, gingen, machten die Runde, lachten. Nach ungefähr vierzig Minuten sagte mein Freund: »Jetzt ist es o. k.« Ich fragte: »Wer war’s?« Er nannte mir den Namen des Spitzels, der sich in diesen Kreis eingeschlichen hatte. Sie behandelten ihn höflich, ohne anzudeuten, dass sie wussten, warum er da war, denn sonst wäre er verschwunden, und den nächsten Spitzel hätten sie vielleicht nicht so leicht entdeckt. Später lernte ich den Spion kennen. Er war ein netter Kerl, ein angenehmer Gesprächspartner mit einem offenen Gesicht, der zweifelsohne froh war, dass er nichts hörte, was des Kolportierens wert war. Eine Art Gleichgewicht war erreicht worden. Wieder einmal staunte ich über die vielen netten Leute, die es in Pakistan gab, über die Artigkeit, die in den Gärten wuchs und die Luft parfümierte.

Seit meinem letzten Besuch in Karatschi hatte mein Freund, der Dichter, viele Monate im Gefängnis verbracht – aus gesellschaftlichen Gründen. Das heißt, er kannte jemanden, der jemanden kannte, und dieser Jemand war die Frau des angeheirateten Vetters zweiten Grades des Stiefonkels von jemandem, der mit jemandem, der Waffen an die Guerillas in Belutschistan lieferte, in derselben Wohnung gewohnt hatte oder auch nicht. Wenn man Beziehungen hat, kann man in Pakistan überall hinkommen, sogar ins Gefängnis. Mein Freund weigert sich nach wie vor, über das, was ihm während jener Monate widerfuhr, zu reden, aber andere haben mir erzählt, er sei nach seiner Entlassung lange Zeit in schlechter Verfassung gewesen. Sie sagten, er sei mit dem Kopf nach unten an den Knöcheln aufgehängt und geschlagen worden, als wäre er ein Neugeborenes, dessen Lungen angekurbelt werden müssen, damit es schreien kann. Ich habe ihn nie gefragt, ob er damals schrie oder ob durch ein Fenster auf dem Kopf stehende Berggipfel zu sehen waren.

Wohin ich mich auch wende, immer gibt es etwas, für das man sich schämen muss. Doch Scham ist wie alles andere; leben Sie nur lange genug damit, und sie wird Teil des Mobiliars. In der »Defence« findet man Scham in jedem Haus; sie brennt im Aschenbecher, hängt gerahmt an der Wand, liegt als Decke auf dem Bett. Doch niemand nimmt sie mehr wahr. Und alle sind wohlerzogen.

Vielleicht sollte mein Freund diese Geschichte erzählen, oder eine andere, seine eigene, doch er schreibt nichts Poetisches mehr. Statt seiner bin nun ich hier und erfinde, was mir nie widerfuhr, und es wird Ihnen aufgefallen sein, dass mein Held schon an den Knöcheln aufgehängt wurde und sein Name der eines berühmten Dichters ist; doch keine Vierzeiler sind je seiner Feder entsprungen oder werden ihr je entspringen.

Außenseiter! Unbefugter! Du hast kein Recht auf dieses Thema! … Ich weiß, niemand hat mich je verhaftet. Und wahrscheinlich werden sie es auch nie tun. Freibeuter! Plagiator! Wir sprechen dir jede Glaubwürdigkeit ab. Wir kennen dich mit deiner fremden Sprache, die du wie eine Flagge um dich gehüllt hast: Wenn du in deiner gespaltenen Zunge über uns sprichst, was kannst du schon erzählen als lauter Lügen? Ich antworte mit neuen Fragen: Ist die Geschichte als Alleinbesitz der unmittelbar Betroffenen zu betrachten? Welche Gerichtshöfe befinden über solche Forderungen, welche Grenzkommissionen stecken das Terrain ab?

Können nur die Toten sprechen?

Ich sage mir, dass dies ein Roman des Abschiednehmens sein wird, meine letzten Worte über den Osten, von dem mich zu lösen ich vor vielen Jahren begonnen habe. Ich glaube mir manchmal selbst nicht, wenn ich das sage. Er ist ein Teil der Welt, dem ich, ob ich will oder nicht, noch immer verbunden bin, und sei es nur durch dehnbare Bande.

Was Afghanistan betrifft: Nach meiner Rückkehr nach London traf ich bei einem Essen einen ranghohen britischen Diplomaten, von Berufs wegen Spezialist für »meinen« Teil der Welt. Er sagte, »nach Afghanistan« gehöre es sich für den Westen, die Diktatur Präsident Zia ul-Haqs zu unterstützen. Ich hätte keinen Wutanfall bekommen sollen, aber ich bekam einen. Es hatte keinen Zweck. Dann, als wir uns vom Tisch erhoben, sagte seine Frau, eine ruhige, kultivierte Dame, die beschwichtigende Laute geäußert hatte, zu mir: »Sagen Sie, warum entledigen die Leute in Pakistan sich Zias nicht in der, Sie wissen schon, üblichen Weise?«

Scham und Schande, lieber Leser, sind kein ausschließliches Privileg des Ostens.

Das Land dieser Geschichte ist nicht Pakistan, oder nicht ganz. Es gibt zwei Länder, ein reales und ein fiktives, die beide denselben Raum einnehmen, oder beinahe denselben Raum. Meine Geschichte, mein fiktives Land befinden sich, genau wie ich, in einem etwas schiefen Winkel zur Realität. Dieses Abrücken von der Mitte schien mir unabdingbar; doch ob es vernünftig ist, steht natürlich dahin. Meiner Ansicht nach schreibe ich nicht nur über Pakistan.

Ich habe dem Land keinen Namen gegeben. Und Q. ist eigentlich überhaupt nicht Quetta. Aber ich will es nicht übertreiben: Wenn ich von der großen Stadt spreche, werde ich sie Karatschi nennen. Und sie wird eine »Defence« haben.

Omar Chajjam nimmt als Dichter eine merkwürdige Stellung ein. In seinem Heimatland Persien war er nie sehr populär, und im Westen existiert er in einer Übersetzung, die in Wirklichkeit eine vollkommene Neubearbeitung seiner Verse ist und sich in vielen Fällen stark vom Geist (ganz zu schweigen vom Inhalt) des Originals unterscheidet. Auch ich bin ein übersetzter Mann. Ich bin übertragen worden. Im Allgemeinen nimmt man an, bei der Übersetzung gehe etwas verloren; ich klammere mich an die Vorstellung – und nehme den Erfolg von Fitzgerald-Chajjam zum Beweis –, dass auch etwas gewonnen werden kann.

»Dein Anblick durch mein geliebtes Teleskop«, sagte Omar Chajjam Shakil am Tag, da er seine Liebe erklärte, zu Farah Zoroaster, »gab mir die Kraft, meiner Mütter Macht zu brechen.«

»Voyeur!«, antwortete sie. »Ich scheiße auf dein Palaver. Deine Eier sind zu schnell rausgerutscht, und du bist scharf geworden. Das ist alles. Häng mir nicht deine Familienprobleme an den Hals.« Sie war zwei Jahre älter als er, aber dennoch musste Omar Chajjam einräumen, dass sein Herzblatt ein ordinäres Mundwerk hatte …

… Außer dem Namen eines großen Dichters hatte das Kind den Familiennamen seiner Mütter bekommen. Und wie um zu unterstreichen, warum sie ihn nach dem unsterblichen Chajjam nannten, gaben die Schwestern auch dem lichtarmen, korridorreichen Gebäude, dem einzigen Land, das sie nunmehr besaßen, einen Namen: Sie nannten es »Nishapur«. So wuchs ein zweiter Omar an einem zweiten Ort dieses Namens heran, und als er heranwuchs, sah er in den sechs Augen seiner drei Mütter immer wieder einen seltsamen Blick, einen Blick, der zu sagen schien: Beeil dich, wir warten auf deine Gedichte. Doch (wiederhole ich) kein Rubaiyat entsprang je seiner Feder.

Seine Kindheit war in jeder Hinsicht außergewöhnlich gewesen, denn was auf Mütter und Dienstboten zutraf, verstand sich von selbst auch für unseren peripheren Helden. Omar Chajjam saß zwölf lange Jahre, die entscheidendsten seines Lebens, in diesem abgeschiedenen Herrenhaus in der Falle, in dieser dritten Welt, die weder eine materielle noch eine geistige war, sondern etwas wie eine geballte Hinfälligkeit, die aus den vermodernden Überresten der beiden vertrauteren Weltordnungen zusammengebastelt war; eine Welt, in der er nicht nur ständig in die mottenkugelgespickte, spinnwebverhangene, staubumhüllte Überfülle zerfallender Gegenstände geriet, sondern auch in die immer noch in der Luft hängenden verebbenden Ausdünstungen verworfener Ideen und vergessener Träume. Die wohlüberlegte Geste, mit der seine drei Mütter sich von der Außenwelt abgekapselt hatten, hatte eine schwüle entropische Zone geschaffen, in der trotz des ganzen Komposts von Vergangenheit nichts Neues wachsen zu können schien und der bald zu entkommen das innigste Bestreben des jugendlichen Omar wurde. Ohne in diesem unerträglich vagen Grenzuniversum etwas von der Krümmung von Raum und Zeit zu wissen, dank deren derjenige, der am längsten und schnellsten läuft, unweigerlich schnaubendschnaufend, mit verzerrten schmerzenden Sehnen an der Startlinie ankommt, träumte er von Auswegen; es kam ihm vor, als stünde in der beklemmenden Enge von »Nishapur« sein eigenes Leben auf dem Spiel. War er doch etwas Neues in diesem unfruchtbaren, vom Zahn der Zeit benagten Labyrinth.

Haben Sie von den Wolfskindern gehört, die – so muss man annehmen – an den wilden Zitzen eines behaarten, den Mond anheulenden Muttertiers gesäugt wurden? Aus dem Rudel gerettet, beißen sie ihre Erlöser niederträchtig in den Arm; in Netzen und Käfigen, nach rohem Fleisch und Kot stinkend, werden sie ans befreiende Licht der Welt gebracht; ihre Hirne sind zu mangelhaft entwickelt, als dass sie mehr als die fundamentalsten Bruchstücke der Zivilisation erfassen könnten … Auch Omar Chajjam wurde von zu vielen Milchdrüsen genährt; und er wandelte wohl viertausend Tage in dem von Dingen überschwemmten Dschungel von »Nishapur«, seiner ummauerten Wildnis, seinem Mutterland; bis es ihm gelang, Neuland zu erschließen, indem er einen Geburtstagswunsch äußerte, der durch nichts erfüllt werden konnte, was sich in Mistri Ballochs Apparat heraufschaffen ließ.

»Lass diesen Dschungeljungenquatsch«, spottete Farah, als Omar es mit ihr probierte, »du bist kein Scheiß-Affenmensch, Sonny Jim.« Und pädagogisch gesehen hatte sie recht, doch gleichzeitig hatte sie das Wilde, das Böse an ihm verkannt; und er bewies ihr am eigenen Leibe, dass sie unrecht hatte.

Alles der Reihe nach: Zwölf Jahre lang durfte er im Haus machen, was er wollte. Wenig (außer der Freiheit) wurde ihm verweigert. Ein verzogener und verschlagener Fratz; wenn er heulte, liebkosten ihn seine Mütter … und nachdem die Albträume angefangen hatten und er langsam das Schlafen aufgab, tauchte er immer tiefer in die scheinbar bodenlosen Abgründe dieses verfallenden Reiches ein. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass er durch Korridore stolperte, die so lange nicht mehr betreten worden waren, dass seine Füße in ihren Sandalen bis über die Knöchel in Staub einsanken; dass er zusammengefallene Treppen entdeckte, die Erdbeben vor langer, langer Zeit unpassierbar gemacht und zu gezackten Gebirgen aufgetürmt hatten, die steil abfielen und dunkle Abgründe der Angst offenbarten … in der Stille der Nacht und bei den ersten Geräuschen des Morgengrauens erkundete er die unzweifelhaft archäologische Vorzeit »Nishapurs«, die jenseits aller Geschichtlichkeit lag, entdeckte in Schränken, deren Holztüren unter seinen tastenden Fingern zerbröckelten, die unvorstellbaren Formen bemalten neolithischen Steinguts im Stil der Kot-Diji-Kultur; in Küchentrakten, deren Vorhandensein nicht einmal mehr vermutet wurde, starrte er verständnislos auf bronzenes Arbeitsgerät von wahrhaft sagenhaftem Alter; in Fluchten des gigantischen Palastes, die vor langer Zeit verlassen worden waren, weil ihre Installationen geborsten waren, betrachtete er andächtig das komplizierte Röhrenwerk der Kanalisation aus Ziegelstein, das seit Jahrhunderten nicht mehr gebräuchlich war und das die Erdbeben freigelegt hatten.

Einmal verirrte er sich völlig und lief verstört umher, wie ein Zeitreisender, der seine Zauberkapsel verloren hat und fürchtet, nie wieder aus der zerfallenden Geschichte seiner Rasse aufzutauchen – und plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und starrte entsetzt in einen Raum, dessen Außenwand zu Teilen von großen, dicken, Wasser suchenden Baumwurzeln aufgebrochen war. Er war vielleicht zehn Jahre alt, als er diesen ersten flüchtigen Blick auf die freie Außenwelt erhaschte. Er brauchte nur durch die zertrümmerte Wand zu gehen – doch das Geschenk überfiel ihn ohne Vorwarnung, und überwältigt von der grellen Verheißung des Morgenlichts, das durch das Loch strömte, gab er Fersengeld und floh. Sein Schrecken führte ihn blindlings in das eigene tröstliche, traute Zimmer zurück. Später, als er Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, versuchte er mit einem Garnknäuel bewaffnet den Weg zu rekonstruieren; aber es war vergebens; nie wieder fand er zurück an den Ort im Irrgarten seiner Kindheit, wo der Minotaurus verbotenen Sonnenlichts lebte.

»Manchmal habe ich Skelette gefunden«, schwor er der ungläubigen Farah, »von Menschen und von Tieren.« Und selbst wenn keine Knochen da waren, verfolgten die längst verstorbenen Bewohner des Hauses ihn auf Schritt und Tritt. Nicht so, wie Sie denken! – Kein Heulen, kein Kettenklirren! – Sondern körperlose Gefühle, die erstickenden Dünste vergangener Hoffnungen, Ängste, Lieben; und Omar Chajjam, den das von Vorfahren erfüllte, geisterhaft Beklemmende dieser verborgenen Winkel des heruntergekommenen Gebäudes schließlich zur Raserei trieb, übte (nicht lange nach dem Erlebnis mit der geborstenen Mauer) Rache an seiner unnatürlichen Umgebung. Mich schaudert bei der Beschreibung seiner vandalischen Ausschreitungen: Bewaffnet mit einem Besen und einem widerrechtlich angeeigneten Beil, tobte er durch staubige Flure und madenzerfressene Schlafräume, schlug Glasvitrinen ein, fällte vom Mehltau des Vergessens umhüllte Diwane, zermalmte wurmstichige Bibliotheken; Kristall, Gemälde, rostige Helme, die papierdünnen Reste unschätzbarer Seidenteppiche wurden unwiederbringlich zerstört. »Dir geb ich’s!«, schrie er gellend inmitten der Leichname seiner nutzlosen, massakrierten Geschichte. »Dir geb ich’s, altes Zeug!« – und brach dann (als er das schuldbeladene Beil und den reinfegenden Besen fallen ließ) in folgewidrige Tränen aus.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass selbst in jenen Tagen niemand den Geschichten des Jungen über die sich ins Unendliche erstreckende Weitläufigkeit des Hauses Glauben schenkte. »Einzelkind«, krächzte Hashmat Bibi, »immer, immer spielt sich ihr Leben in ihrem armen Kopf ab.« Und auch die drei Diener lachten: »Wenn wir dich hören, Baba, denken wir, das Haus ist groß, so groß geworden, dass es auf der Welt für nichts anderes mehr Platz gibt!« Und drei Mütter, die verständnisvoll auf ihrer Lieblingsschaukel saßen, streckten tätschelnde Hände aus und zogen den Schlussstrich unter die Sache. »Zumindest hat er eine lebhafte Fantasie«, sagte Munnee-in-der-Mitte, und Mutter Bunny fiel ein: »Kommt von seinem poetischen Namen.« Besorgt, er könne schlafwandeln, kommandierte Chhunni-ma einen Diener ab, der seine Schlafmatte vor Omar Chajjams Zimmer legen musste; doch da hatte er die fantastischeren Zonen von »Nishapur« bereits für alle Zeiten zum Tabu erklärt. Nachdem er über die Kohorten der Geschichte hergefallen war wie ein Wolf (oder Wolfskind) über eine Schafherde, beschränkte sich Omar Chajjam Shakil auf die ausgetretenen, gefegten und geputzten bewohnten Regionen des Hauses.

Etwas – möglicherweise Reue – führte ihn in das dunkel getäfelte Arbeitszimmer seines Großvaters, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren und das die Schwestern seit dem Tod des alten Mannes nie mehr betreten hatten. Hier entdeckte er, dass Mr. Shakils gelehrtes Gehabe Schwindel gewesen war, genau wie sein angeblicher Geschäftssinn, denn die Bücher waren alle mit dem Exlibris eines gewissen Colonel Arthur Greenfield versehen, und viele Seiten waren noch nicht aufgeschnitten. Es war die Bibliothek eines Gentlemans, die in toto von dem unbekannten Colonel gekauft und während ihres gesamten Verbleibs im Shakil-Haushalt nie benutzt worden war. Nun machte Omar Chajjam sich eifrig darüber her.

Hier muss ich seine autodidaktischen Fähigkeiten loben. Denn als er »Nishapur« verließ, hatte er klassisches Arabisch und Persisch gelernt, ebenso Latein, Französisch und Deutsch, und alles mithilfe ledergebundener Wörterbücher und der unbenutzten Texte der betrügerischen Eitelkeit seines Großvaters. In was für Bücher der junge Bursche sich versenkte! Illuminierte Handschriften mit den Versdichtungen Gãlibs; Bände mit Briefen von Mogulkaisern an ihre Söhne; Burtons Übersetzung des Alf lai la wa-lai la, und die Reisebeschreibung Ibn Battutas und die Qisas, das sind die Erzählungen des legendären Abenteurers Hatim Tai … ja, ja, ich sehe, ich muss das irreführende Bild von Mowgli, dem Dschungeljungen, zurückziehen (so wie Farah Omar befahl, sich zurückzuziehen).

Der ständige Transit von Gegenständen (Wohngemächer – Stummer Diener – Pfandleihe) brachte in regelmäßigen Abständen Verborgenes ans Licht. Die riesigen Räume, bis zum Rand vollgestopft mit dem materiellen Vermächtnis von Generationen raffgierig-habsüchtiger Vorfahren, wurden langsam geleert, und als Omar Chajjam zehneinhalb war, war genügend Platz, dass man sich bewegen konnte, ohne sich bei jedem Schritt an den Möbeln zu stoßen. Und eines Tages schickten die drei Mütter einen Diener ins Arbeitszimmer, damit er einen meisterhaft geschnitzten Wandschirm aus Walnussholz aus ihrem Leben entfernte, auf dem der kreisrunde mythische Berg Quaf dargestellt war, mitsamt den dreißig Vögeln, die darauf Gott spielten. Der Abflug des Vogelparlaments enthüllte Omar Chajjam einen kleinen Bücherschrank, vollgestopft mit Bänden über Theorie und Praxis der Hypnose: Mantras in Sanskrit, Handbücher über die Lehre der persischen Weisen, eine Lederausgabe des finnischen Kalevala, ein Bericht über die Teufelsaustreibungen des Bruders Gassner aus Klosters mittels Hypnose und eine Schrift zur Theorie des animalischen Magnetismus von Franz Anton Mesmer selbst; daneben (und am nutzbringendsten) eine Reihe billig gedruckter Do-it-yourself-Lehrbücher. Gierig begann Omar Chajjam diese Bücher zu verschlingen, die als einzige nicht den Namen des literaturbeflissenen Colonels trugen; sie waren das wahre Vermächtnis seines Großvaters, und sie führten ihn zu seiner lebenslangen Beschäftigung mit jener Geheimwissenschaft, deren furchtbare Macht sich zum Guten wie zum Bösen wenden lässt.

Die Hausangestellten waren genauso unterbeschäftigt wie er; seine Mütter waren in Angelegenheiten wie Sauberkeit und Küche allmählich sehr lasch geworden. So wurde das Dienertrio zu Omar Chajjams erstem willfährigen Versuchsobjekt. Mithilfe einer glänzenden Vier-Anna-Münze »versenkte« er sie und entdeckte nicht ohne Stolz seine Befähigung zu dieser Kunst: mühelos hielt er seine Stimme in einer ausdruckslosen, monotonen Höhe und lullte die drei in Trance; unter anderem erfuhr er auf diesem Weg, dass der Sexualtrieb, den seine Mütter seit seiner Geburt vollkommen verloren zu haben schienen, in diesen Männern nicht gleichermaßen zum Erliegen gekommen war. Entrückt gestanden sie beglückt die Geheimnisse ihrer gegenseitigen Liebkosungen und priesen die mütterliche Dreieinigkeit, weil sie ihre Lebensumstände so geändert hatte, dass ihnen ihre wahren Begierden offenbar werden konnten. Die befriedigte dreigestalte Liebe der Diener bildete ein merkwürdiges Gegengewicht zur gleich starken, doch vollkommen platonischen Liebe der drei Schwestern zueinander. (Omar Chajjam jedoch wurde immer verdrießlicher, obwohl er von so viel Vertraulichkeit und Zuneigung umgeben war.)

Hashmat Bibi willigte ebenfalls ein, sich »versenken« zu lassen. Omar redete ihr ein, sie schwebe auf einer weichen, rosigen Wolke. »Du sinkst immer tiefer«, skandierte er, während sie auf ihrer Matte lag, »und tiefer in die Wolke. Es ist schön, in der Wolke zu sein; du willst immer tiefer sinken.« Diese Experimente hatten eine tragische Nebenwirkung. Kurz nach seinem zwölften Geburtstag erfuhren seine Mütter von den drei liebenden Dienern, die dabei vorwurfsvoll auf den jungen Herrn blickten, dass Hashmat sich offenbar willentlich in den Tod versetzt hatte; gegen Ende hatte man sie murmeln hören: »… tiefer und tiefer in die rosige Wolke hinein.« Die alte Dame, die durch die Mittelsmacht der Stimme des jungen Hypnotiseurs Einblicke in das Nichtsein erhascht hatte, hatte zu guter Letzt den eisernen Willen gelockert, mit dem sie ihrer Behauptung nach über hundertzwanzig Jahre lang das Leben festgehalten hatte. Die drei Mütter hörten auf zu schaukeln und befahlen Omar Chajjam, den Mesmerismus aufzugeben. Doch da hatte die Welt sich schon verändert. Um diese Veränderung zu beschreiben, muss ich ein wenig zurückgreifen.

Was in den langsam leer werdenden Räumen noch gefunden wurde: das schon erwähnte Teleskop. Mit welchem Omar Chajjam aus den Fenstern des oberen Stockwerks spähte (die im Erdgeschoss waren ständig verriegelt und verrammelt): die Welt als glänzende Scheibe, ein Mond zu seinem Entzücken. Er beobachtete Drachenwettkämpfe zwischen farbenprächtigen, langschwänzigen patangs, deren Schnüre schwarz und in Glas getaucht waren, um sie rasiermesserscharf zu machen; er hörte die Schreie der Sieger – »Boi-oi-oi! Boi-oi!« –, die der sandige Wind zu ihm trug; einmal fiel ein grün-weißer Drachen, dessen Schnur abgerissen war, durch sein offenes Fenster hinein. Und als kurz vor seinem zwölften Geburtstag die unfassbar anziehende Gestalt Farah Zoroasters, zu jener Zeit nicht älter als vierzehn, aber bereits mit einem Körper ausgestattet, der sich mit dem physischen Wissen einer Frau bewegte, auf diesen okularen Mond zuspazierte, da spürte er in ebenjenem Augenblick, wie seine Stimme in der Kehle brach, während unterhalb seines Gürtels andere Dinge ebenfalls nach unten rutschten, um etwas früher als planmäßig den für sie vorgesehenen Platz in bis dahin leeren Säcken einzunehmen. Seine Sehnsucht nach der Außenwelt verwandelte sich auf der Stelle in einen dumpfen Schmerz in der Leistengegend, ein Reißen in den Lenden; was folgte, war vielleicht unvermeidbar.

Er war nicht frei. Seine ausschweifende Freiheit innerhalb des Hauses war nur die Pseudofreiheit eines Zootiers, und seine Mütter waren seine liebenden, sorgenden Wärter. Seine drei Mütter: Wer sonst pflanzte seinem Herzen die Überzeugung ein, eine Nebenrolle zu spielen, das eigene Leben aus den Kulissen zu beobachten? Er beobachtete sie zwölf Jahre lang, und, ja, es muss gesagt werden, er hasste sie für ihre Innigkeit, dafür, wie sie Arm in Arm auf ihrer quietschenden Schaukel saßen, für ihre Neigung, kichernd in die Privatsprache ihrer Mädchenzeit zu verfallen, für die Art, wie sie einander umarmten, ihre drei Köpfe zusammensteckten und über Gott weiß was flüsterten und gegenseitig ihre Sätze zu Ende führten. Omar Chajjam, eingemauert in »Nishapur«, war durch den merkwürdigen Entschluss seiner Mütter von der Gesellschaft der Menschen ausgeschlossen worden; und die Dreieinigkeit seiner Mütter verdoppelte das Gefühl der Ausgeschlossenheit, das Gefühl, inmitten von Gegenständen den Dingen entfremdet zu sein.

Zwölf Jahre fordern ihren Zoll. Anfangs hatte der anmaßende Stolz, der Chhunni, Munnee und Bunny dazu getrieben hatte, sich von Gott, dem Andenken an ihren Vater und ihrem Platz in der Gesellschaft loszusagen, sie befähigt, ihr gutes Benehmen, so ungefähr das Einzige, was ihr Vater ihnen vermacht hatte, zu wahren. Jeden Morgen standen sie fast gleichzeitig auf, schrubbten sich mit Eukalyptusrinde fünfzigmal die Zähne horizontal und vertikal und ölten und kämmten sich dann, identisch gekleidet, gegenseitig das Haar und flochten weiße Blumen in die schwarzen Knoten, zu denen sie ihre Locken drehten. Sie verkehrten mit den Dienern und auch untereinander in der Höflichkeitsform des »Sie«. Ihr steifes Betragen und die Präzision, mit der sie das Hauswesen führten, verliehen all ihren Handlungen einen Schein von Legitimität, einschließlich (und das war zweifellos der Grund) der Hervorbringung eines illegitimen Sohnes und Erben. Doch ganz allmählich wurden sie nachlässig.

An dem Tag, als Omar Chajjam in die große Stadt fortzog, teilte ihm seine älteste Mutter ein Geheimnis mit, das den Beginn ihres Niedergangs zeitlich markierte. »Wir wollten nie aufhören, dich zu stillen«, gestand sie. »Mittlerweile weißt du, dass es nicht üblich ist, wenn ein sechsjähriger Junge noch die Brust bekommt; aber du hast von einem halben Dutzend getrunken, eine für jedes Jahr. An deinem sechsten Geburtstag haben wir auf diese größte aller Wonnen verzichtet, und danach war nichts mehr wie vorher. Wir vergaßen allmählich, worin der Sinn der Dinge lag.«

In den nächsten sechs Jahren, während die Brüste eintrockneten und schrumpften, verloren die Schwestern die Elastizität und aufrechte Haltung ihres Körpers, die so viel von ihrer Schönheit ausgemacht hatte. Sie wurden schlaff, ihr Haar verfilzte sich, sie verloren das Interesse an der Küche, die Dienstboten machten, was sie wollten. Und doch verfielen sie im selben Maße und auf die gleiche Weise; das Band ihrer Identität riss nicht.