Die schwarze Dame - Andreas Gruber - E-Book
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Die schwarze Dame E-Book

Andreas Gruber

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Beschreibung

Auf der Suche nach einer spurlos verschwundenen Kollegin wird der Wiener Privatermittler Peter Hogart nach Prag geschickt. Doch die Goldene Stadt zeigt sich Hogart von ihrer düstersten Seite: Mit seinen Ermittlungen sticht er in ein Wespennest und hat binnen Stunden nicht nur eine Reihe äußerst zwielichtiger Gestalten, sondern auch die gesamte Prager Kripo gegen sich aufgebracht. Nur die junge Privatdetektivin Ivona Markovic, die gerade eine Reihe bizarrer Verstümmelungsmorde untersucht, scheint auf Hogarts Seite zu stehen. Als die beiden bei einem Anschlag nur knapp dem Tod entrinnen, wird klar, dass es eine Verbindung zwischen ihren Fällen geben muss. Und dass ihnen die Zeit bis zum nächsten Mord davonläuft ...

In den dunklen Gassen Prags fordert ein skrupelloser Killer seine Gegner zu einem teuflischen Spiel heraus ...

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Seitenzahl: 418

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Buch

Der Wiener Privatdetektiv Peter Hogart wird von einer großen Versicherung beauftragt, so rasch wie möglich nach Prag zu fahren. Eine deren Mitarbeiterinnen war dort einem gewaltigen Versicherungsbetrug auf der Spur und verschwand spurlos, kurz bevor sie den Kollegen ihre entscheidende Entdeckung mitteilen konnte. Hogart soll nicht nur die Verschwundene wieder aufspüren, sondern auch ihren Fall aufklären. Doch in den Straßen der von dunklen Mythen beherrschten Stadt gelten ganz eigene Regeln, und Hogart bekommt keine Antworten auf seine Fragen. Stattdessen sticht er in ein Wespennest und bringt binnen kürzester Zeit nicht nur die Prager Kripo, sondern auch den örtlichen Mafia-Boss gegen sich auf. Nur die junge tschechische Privatdetektivin Ivona Markovic, die gerade eine Reihe bizarrer Verstümmelungsmorde untersucht, scheint auf Hogarts Seite zu sein. Als die beiden bei einem Anschlag nur knapp dem Tod entrinnen, wird klar, dass es eine Verbindung zwischen ihren Fällen geben muss. Und dass ihnen die Zeit davonläuft …

Andreas Gruber

Die schwarze Dame

Peter Hogart ermittelt

Thriller

Erstmals erschienen 2007 im Festa Verlag, Leipzig, unter dem Titel »Schwarze Dame«. Für die vorliegende Ausgabe hat der Autor den Text neu durchgesehen und überarbeitet.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2007 by Andreas Gruber / www.agruber.com

Copyright © dieser Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel (Claudia Carlsen; Marc Owen)

Karte Umschlaginnenseite: Nastasic/iStock by getty images

TH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-22666-4 V006

www.goldmann-verlag.de

für Günter,

hier ist endlich der Thriller,

auf den du so lange gewartet hast

Ich kenne keine Stadt, die wie Prag,

wenn man in ihr wohnt und mit ihr geistig verwittert ist,

einen so oft und in so merkwürdig zauberhafter Art lockt,

die Orte ihrer Vergangenheit aufzusuchen.

Es ist, als riefen die Toten die Lebenden bis an die Stellen,

wo sie einst ihr Dasein verbracht, um uns zuzuraunen,

dass Prag nicht umsonst den Namen die Schwelle führt– dass es in Wirklichkeit eine Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits ist, eine Schwelle, viel schmäler als an

anderen Orten.

Gustav Meyrink

Liebe Krimi-Fans,

da ich schon immer Bücher schreiben und spannende Geschichten erfinden wollte, stand eines Tages, nach den ersten Erfolgen mit Kurzgeschichten und Ausflügen in andere Genres, eine wichtige Entscheidung ins Haus: Worüber sollte ich in meinem nächsten Buch schreiben?

Damals waren meine Bücher zwar noch nicht so dick wie heute, aber da ich nebenher noch einen Bürojob hatte, arbeitete ich trotzdem etwa eineinhalb Jahre an einem Roman. Also womit wollte ich mich so lange beschäftigen?

Ich hatte schon öfter mit dem Thriller-Genre geliebäugelt, und meine Frau und meine Schwiegermutter, die schon damals als Testleser für meine Manuskripte herhalten mussten, lagen mir seit längerer Zeit in den Ohren, so einen Thriller auch endlich einmal zu schreiben und nicht nur ständig davon zu reden.

Tatsächlich hatte ich auch eine Idee für dieses Buch: Es sollte um eine geheimnisvolle Schwarze Dame gehen – was es mit dieser auf sich hat, werden Sie auf den folgenden Seiten erfahren – und um einen Versicherungsdetektiv, den ein kniffliger Auftrag von Wien nach Prag führt, eine dunkle Stadt, in der nichts so ist, wie es scheint. Dort sollte er die Bekanntschaft mit einer ebenso hübschen wie geheimnisvollen Prager Privatdetektivin machen, und beide sollten auf sehr persönliche Art und Weise in einen komplexen Serienkiller-Fall verwickelt werden, den die Polizei nicht lösen kann.

Aber ich zögerte immer noch. War ich dem Thema gewachsen?

Als dann auch noch ein befreundeter Testleser immer beharrlicher auf mich einredete, endlich diesen Prag-Krimi zu Papier zu bringen, gab ich schließlich nach und schrieb Die schwarze Dame. Ihm ist übrigens dieses Buch gewidmet – als Dank dafür, dass er mich mit seiner Hartnäckigkeit zum Schreiben von Thrillern gebracht hat.

In diesem Buch spielt das Stadtbild von Prag eine wichtige Rolle. Warum? Das werden Sie spätestens ab der Hälfte des Romans herausgefunden haben. Jedenfalls saß ich in der Konzeptionsphase des Buches tagelang über einem Stadtplan von Prag und habe gebrütet und getüftelt, wie sich die Handlung realistisch umsetzen lässt.

Nachdem ich schließlich einen Großteil des Buches geschrieben hatte, schenkte mir meine Frau eine mehrtägige Reise nach Prag, um gemeinsam mit ihr und bewaffnet mit Notizbuch und Fotoapparat die Schauplätze der Handlung zu besuchen. Und siehe da: In Wahrheit sahen viele Locations ganz anders aus als im Reiseführer beschrieben.

Natürlich war das zunächst ein Schock, mein Buch sollte schließlich ebenso spannend wie authentisch sein. Am Ende musste ich den Roman mehrmals umschreiben, damit sich alles plausibel ineinanderfügt.

Wäre das alles nicht passiert, wäre ich vermutlich nie zum Schreiben von Thrillern gekommen – so aber hatte ich Blut geleckt und habe mittlerweile einige weitere Romane in diesem Genre verfasst. Obwohl ich mich in dieser Zeit als Autor weiterentwickelt und viel dazugelernt habe – so sind beispielsweise die Handlungen meiner Bücher komplexer geworden –, ist mir Die schwarze Dame mit ihrem Privatdetektiv Peter Hogart ans Herz gewachsen.

Nachdem das Buch viele Jahre lang nur als E-Book erhältlich war, ist es mir eine große Freude gewesen, wieder in Peter Hogarts Welt einzutauchen, den Roman gründlich zu überarbeiten und als gedrucktes Buch neu auflegen zu dürfen.

Genießen Sie gemeinsam mit Peter Hogart die Reise nach Prag, in diese düstere und gleichzeitig so schöne ehemalige k. u. k. Stadt, und begeben Sie sich mit ihm auf Mörderjagd.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und natürlich einige schlaflose Nächte.

PROLOG

Wiener Innenstadt, Freitagabend. Die übliche Rushhour. Abgaswolken standen in der Luft, das Blech wälzte sich wie zähe Lava durch die Straßen. Offenbar wollten alle zur gleichen Zeit nach Hause. Mit Ausnahme von Peter Hogart.

Sein Job begann erst jetzt. Die meisten Firmenvorstände scheuten sich nicht, ihn kurz vor Wochenendbeginn zu engagieren. Während andere ihre Freizeit genossen, sollte er sich durch Aktenberge ackern, um bereits am Montagmorgen die ersten Ergebnisse zu liefern. Was ihm meistens auch gelang. Immerhin tat er alles für seinen Job. Privatleben gab es im Moment ohnehin keines für ihn, doch das musste er seinen Auftraggebern ja nicht unbedingt auf die Nase binden – außerdem konnte er manchen Kunden die Wochenendarbeit doppelt in Rechnung stellen.

Hogart scherte aus der Autokolonne aus und zwängte den Skoda in eine Seitengasse des Donauufers. Der mächtige Glasturm am Ende der darauffolgenden Allee hätte glatt einem Entwurf von Daniel Swarovski entstammen können. In den blau getönten Scheiben, die durch die Baumwipfel blitzten, spiegelte sich die Abendsonne. Träge beobachtet von den Linsen der Überwachungskameras lenkte Hogart den Wagen auf den Besucherparkplatz vor dem Bürogebäude. Der Motor erstarb, Duke Ellington verstummte im Radio. Als Hogart ausstieg, riss ihm der Wind beinahe die Autotür aus der Hand. Laub wirbelte ins Wageninnere. Ein Blick zum Himmel, und Hogarts Laune sank in den Keller. Einer der letzten schönen Sommertage ging zu Ende. Soeben schob sich eine schwarze Wolkenfront vor die Sonne. Als Kind hatte er die Herbstgewitter geliebt und mit dem Fahrrad weite Strecken in Kauf genommen, nur um durch die tiefsten Pfützen zu rasen. Doch seit er vierzig geworden war, hasste er Regenwetter. Sobald es feucht wurde, begann seine Hüfte zu schmerzen.

Hogart warf sich das Sakko über die Schulter, lief die Marmortreppe zur gläsernen Drehtür hinauf und schlüpfte in die Eingangshalle, bevor die ersten Tropfen fielen. In den elf Etagen über ihm befand sich die Wiener Zweigstelle des internationalen Versicherungsriesen Medeen & Lloyd. Hier wurden keine gewöhnlichen Haushaltspolicen abgeschlossen, sondern Millionenwerte versichert: Rennpferde, Diamanten, Oldtimer, barocke Gemälde, Güterzüge, Fluglinien und ganze Öltankerflotten. Dazu offerierte das Unternehmen Serviceleistungen, deren Liste länger war als das Wiener Branchenverzeichnis. Mit weltweit über zweihundert Vertriebsbüros und zwei Milliarden Euro Jahresumsatz zählte Medeen & Lloyd zu den Branchenriesen. Hogart kannte die Zahlen. Er hatte schon mehrfach für Medeen & Lloyd gearbeitet und stand in regelmäßigem Kontakt mit den Außendienstmitarbeitern.

Diesmal allerdings hatte ihn Kommerzialrat Rast, der Vorstandsdirektor und Geschäftsführer der Wiener Zweigstelle, persönlich in die Chefetage gebeten. Was auf den ersten Blick beeindruckend klang, konnte sich genauso gut als bedeutungslos erweisen. Immerhin war Hogarts Vater ein guter Freund von Rast gewesen. Somit war bei diesem Besuch alles möglich, von einem neuen Auftrag bis zum Aufwärmen alter Erinnerungen.

Die Besucherkarte an die Brust geheftet verließ Hogart in der elften Etage den Fahrstuhl. Die trockene Luft kratzte wie Sandpapier in seinem Hals. In dem Gebäude roch es nach Kunststoff und den Fasern des grässlich roten Teppichs, der sich endlos durch die Gänge wand. Kaum hatte sich die Lifttür geschlossen, flog vor Hogart eine Bürotür auf, und Helmut Rast trat in den Korridor. Wie immer trug der hochgewachsene Mann mit dem dünn gesäten Haarkranz und der Statur einer Vogelscheuche einen der feinsten Anzüge, die Hogart je gesehen hatte. Doch auch sein gepflegtes Äußeres konnte nicht verbergen, dass der alte Herr an diesem Nachmittag noch betagter als sonst wirkte. Die Tränensäcke unter den Augen waren gerötet und die Hände – von Altersflecken übersät – so knorrig wie Wurzelholz. Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht, aber der Mann sträubte sich beharrlich, von der Chefetage in die Rente zu wechseln. Er brauchte die Firma, seine Untergebenen und die Aufsichtsratssitzungen wie ein alter Dampfkessel die Kohlen.

»Hallo, Junge. Schön, dich zu sehen«, knarrte Rast.

Hogart wollte ihm die Hand reichen, doch Rast legte ihm den Arm um die Schulter.

»Schicker Anzug«, sagte Hogart. »Gut siehst du darin aus.«

»Sei still, ich hasse es, belogen zu werden«, presste Rast in seiner typisch mürrischen Art hervor. »Wenn man einmal so viele Jahre wie ich auf dem Buckel hat, plagen einen Gicht, müde Knochen, morsche Gelenke und Hämorrhoiden so groß wie Orangen.« Er ballte die Hand zur Faust. »Du dankst Gott, wenn du den Tag mit einem schmerzfreien Stuhlgang beginnst. Doch das alles ist im Moment nebensächlich. Wir haben schlimmere Probleme am Hals. Später mehr darüber.« Rast packte ihn an der Schulter. »Aber du siehst gut aus, Junge! Groß und kräftig, wie dein Vater.«

Ständig wurde Hogart mit seinem Vater verglichen, der bereits seit sechs Jahren tot war. Hogart konnte sich noch lebhaft an die Sätze erinnern, die Rast auf der Beerdigung zu ihm gesagt hatte. Zeit seines Lebens hat dein Vater versucht, sich raufzuarbeiten, doch er hatte einfach nicht den richtigen Riecher. Er war zu ehrlich für diese Welt und hat sich zu oft von seinen Partnern, diesen Aasgeiern, übers Ohr hauen lassen.

Hogarts Vater war tatsächlich ein fescher Kerl gewesen, und möglicherweise hatte Hogart dieses Aussehen geerbt. Aber mit den grauen Schläfen, die sein schwarzes Haar jeden Morgen ein Stück mehr verdrängten, fühlte er sich jetzt schon weitaus älter, als in seinem Pass stand. Er halste sich zu viel Arbeit auf und drosselte sein Privatleben auf ein Minimum. Die wenigen Male im Jahr, die er seine Mutter besuchte, Flohmärkte durchstöberte, auf Kurzfilmfestivals ging oder sich mit Kurt, seinem jüngeren Bruder, und dessen Tochter zum Abendessen verabredete, ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Ebenso gut konnte er auch noch den Rest seines Privatlebens aufgeben; niemand würde es bemerken. Dabei war seine Arbeitswut nichts weiter als ein Schutzmechanismus, um Eva zu vergessen – das wusste er besser als jeder andere.

Gleichzeitig war ihm klar, dass er auf verlorenem Posten stand. Wie sollte er Eva je wirklich vergessen? Sie hatte ihn wegen eines Geschäftsführers von Coca Cola verlassen – einem um fünf Jahre älteren grauhaarigen Mann im Nadelstreifenanzug. Er selbst war ihr wohl einfach zu sehr auf die Nerven gegangen. So hatte sie sich zum Beispiel ständig wegen des Krempels aufgeregt, den Hogart regelmäßig von Tauschbörsen heimbrachte und damit die Wohnung vollstopfte. Immer wieder hatte er Besserung gelobt. Aber er konnte einfach nicht anders – es schien eine Art Zwang zu sein, der in ihm steckte. Vielleicht hatte Eva aber auch nie verkraftet, dass seine körperlichen Schmerzen einen Zyniker aus ihm gemacht hatten. Durch sein kürzeres rechtes Bein lag seine Hüfte schief. Wenn man genau hinsah, merkte man, dass er leicht hinkte. An kalten, verregneten Tagen quälte ihn das Ziehen in der Wirbelsäule mehr, an sonnigen Tagen weniger. Die Ärzte prophezeiten ihm schon seit Jahren, dass sich die Schmerzen verschlimmern würden, doch solange er täglich seine Runde durch den Wienerwald joggte, hielt er sie in Schach. Aber trotz seines Zynismus hatte er Eva stets zum Lächeln bringen können, was Mister Coca Cola nicht gelang. Leider war das, wenn er darüber nachdachte, auch schon alles, was er besser konnte. Dazu gehörte auch, aus sich herauszugehen. Und so war ihre Beziehung wohl auch gescheitert, weil er Eva nie den Heiratsantrag gemacht hatte, mit dem Mister Management nicht einmal einen Monat lang gewartet hatte.

Seit der Trennung war Hogart allein, und in die Rolle des hinkenden Zynikers hatte er sich besser denn je hineingefunden: harmlos, aber trotzdem bissig – was bei der Ausübung seines Berufs ganz nützlich war.

Er war ein Freelancer, wie man es heutzutage nannte, doch er selbst bezeichnete sich als Versicherungsdetektiv. Das klang bodenständiger. Manchmal untersuchte er Einbrüche oder angebliche Autodiebstähle, doch meist übernahm er größere Aufträge wie Personenunfälle, darunter gelegentlich sogar einen Totschlag. Egal, worum es ging – jeder Versicherungsschwindler glaubte, die perfekte Masche für den absolut glaubwürdigen Betrug gefunden zu haben, doch fast immer machten sie einen Fehler. Hogarts Job bestand darin, diesen Fehler aufzuspüren – und er war gut darin. Da er stets die Konkurrenzklausel aus seinen Verträgen strich, arbeitete er für mehrere Versicherungen gleichzeitig, und ausgerechnet die kleinen Firmen zahlten termingerechter als die großen Konzerne. Medeen & Lloyd war einer dieser stets säumig zahlenden Konzerne, und dabei half Hogart nicht einmal, dass er den Vorstandsdirektor persönlich kannte. Leider war er auf jeden Auftrag angewiesen.

Rast hielt vor einer gepolsterten Bürotür. »Ist dein Tschechisch immer noch so gut wie früher?«

»Ich bin aus der Übung, warum?«

»Wirst du gleich erfahren.« Rast öffnete die Tür und ließ Hogart den Vortritt.

Das Besprechungszimmer wurde von dem wolkenverhangenen Sonnenuntergang in ein düsteres Zwielicht getaucht. Beim Fenster standen zwei Männer, ein Hüne mit Schultern so breit wie ein Schrank und ein Zwerg mit einem glänzenden Seitenscheitel.

»Peter, ich möchte dir zwei Herren vorstellen. Magister Kohlschmied, der Leiter unserer Außendienstabteilung, und Walter Sedlack, unser Sicherheitsbeamter im Haus.«

Kohlschmied, der kleinere von beiden, trat als Erster vor. Hogart schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er trug einen Nadelstreifenanzug, besaß einen kräftigen Händedruck und wirkte trotz seiner geringen Größe selbstbewusster als so mancher Vertreter, den Hogart bisher kennengelernt hatte. Allerdings war Hogart in den letzten zwanzig Jahren niemandem mit so viel Pomade im Haar begegnet. Es passte nicht zu Kohlschmieds übrigem professionellem Auftreten; vielleicht beschäftigte er einfach nur den falschen Stylingberater.

Wie als Kontrastprogramm trug der Sicherheitsbeamte eine Anzughose mit breitem Gürtel zu einem schlichten schwarzen Poloshirt. Seine Unterarme waren ebenso gebräunt wie die Kopfhaut unter der Stoppelfrisur. Sedlack ließ die Arme vor der voluminösen Brust verschränkt. Seine markanten Gesichtszüge, die schmale rahmenlose Brille und der breite Mund erinnerten Hogart an das Aussehen eines Haifisches. Warum stellten Geschäftsführer bloß immer solche Kerle in Sicherheitsangelegenheiten ein? Das Raubtier machte sich erst gar nicht die Mühe, Hogart die Hand zu geben, was ihn nicht weiter verwunderte. Er war es gewohnt, dass Sicherheitsleute alle anderen in ihrer Umgebung ignorierten. Höflichkeit gehörte niemals zu deren Repertoire.

Nachdem Rast in einem Lederstuhl am Kopfende des langen Konferenztisches Platz genommen hatte, setzten sich Kohlschmied und Hogart an die beiden Längsseiten einander gegenüber. Der Tisch war viel zu groß für die kleine Runde. Auf der spiegelnden Tischplatte befanden sich nur Kaffeegeschirr, einige Mappen und ein Diktafon. Der Hai blieb indessen mit verschränkten Armen vor dem Fenster stehen.

Während die Männer Hogart beobachteten, ohne ein Wort zu sagen, leerte dieser seine Sakkotaschen aus und legte Autoschlüssel, Handy und Zigaretten vor sich auf den Tisch. Es war ein Tick von ihm. Er hasste es, mit vollen Taschen in einer Unterredung zu sitzen.

Wie zu Beginn aller wichtigen Besprechungen blieb die Stimmung zunächst angespannt. Niemand bot Hogart Kaffee an, niemand führte Small Talk über das Wetter, niemand machte einen Scherz, um die Atmosphäre aufzulockern. Man konnte glauben, mitten in einen Streit geplatzt zu sein. Hogart schien es fast, als wüssten die beiden Männer nicht, dass er bereits für Medeen & Lloyd gearbeitet hatte, und nahmen nun an, dass Rast hier einem abgebrannten Bekannten zu einem Job verhelfen wollte. Wie auch immer – da er auch ohne Protektion gut leben konnte, würde er sich erst einmal anhören, was sie zu sagen hatten, und abwägen, ob ihn der Fall interessierte und überhaupt irgendeine Aussicht auf Erfolg bestand. Jedenfalls war es nun erst einmal an Rast, das Eis zwischen ihnen zu brechen, damit die Stimmung nicht vollends gefror. Doch als Rast den Mund aufmachte, wurde alles noch schlimmer. Erst lächelte er schief zu Kohlschmied hinüber, dann strahlte er Hogart an, dass man Bauchschmerzen davon bekommen konnte.

»Wie Sie wissen, ist Peter Hogart für seine Ausdauer bekannt. Er hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt und besitzt jahrelange Erfahrung in unserem Geschäft. Er ist clever und kennt sämtliche Tricks der Branche, nicht wahr?« Er räusperte sich. »Soviel ich weiß, haben auch wir ihn schon mehrmals für besonders knifflige Fälle engagiert.«

Kohlschmied trommelte mit den Fingern auf einer Aktenmappe, als hätte er derartige Vorschusslorbeeren befürchtet. Hogart konnte sich denken, welche Skepsis gerade in ihm hochkam. Er blickte erst gar nicht zu dem Hai hin. Nun stand Hogart vor den beiden nicht nur als Protektionsliebkind des Chefs, sondern auch als eingebildeter Klugscheißer da – und das, obwohl er noch nicht einmal den Mund aufgemacht hatte. Was für ein gelungener Start! Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen.

Rast lehnte sich in seinem Lederstuhl zurück, womit die Vorstellung beendet war.

Während Kohlschmied begann, den Fall zu erläutern, schenkte sich Hogart selbst eine Tasse Kaffee ein. Obwohl er das Gebräu immer schwarz und ohne Zucker trank, rührte er, solange er jemandem zuhörte, mit einem Löffel in der Tasse. Den Strudel zu fixieren hielt seine Gedanken in Bewegung. Ein weiterer Tick – ebenso wie die blöde Angewohnheit, dass er seit der Trennung von Eva nie Coca Cola, sondern nur noch Pepsi trank.

Kohlschmied sah ihn an. »Sagt Ihnen der Name Oktavian Wenzel etwas?«

Hogart schüttelte den Kopf.

»Wenzel wurde 1599 in der Prager Altstadt geboren. Bereits mit neunzehn Jahren reiste er nach Belgien, wo er in die Antwerpener Malergilde aufgenommen wurde und unter anderem für Rubens arbeitete. Nach Aufenthalten in England und Italien wurde Wenzel bei seiner Rückkehr in Prag mit Aufträgen überschüttet. Fortan nannte er sich nur noch Oktavian. Er wurde der größte böhmische Maler seiner Zeit, und obwohl er bereits im Alter von zweiundvierzig Jahren starb, hinterließ er ein enormes Gesamtwerk. Heute zählen seine Ölgemälde neben jenen von Rembrandt, Rubens und van Dyck zu den schönsten Exponaten des Barocks. Uns geht es um dreizehn Ölporträts, die Oktavian während seiner Antwerpener Periode geschaffen hat, und zwar jene von Jesus Christus und seinen Aposteln. Bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war diese Gemäldeserie stets vereint im Privatbesitz verschiedener, zunächst niederländischer, später italienischer Sammler. Doch 1911 brach der Münchner Kunsthändler Julius Köhler diese fast 300-jährige Tradition, indem er die Sammlung erwarb und stückweise verkaufte. Heute sind diese Gemälde – unter Kunstkennern als die Köhler-Serie bekannt – weltweit verstreut und in den Museen von Dresden, Brüssel, Berlin und Florenz ausgestellt.«

Kohlschmied legte eine Pause ein. Irritiert betrachtete er Hogarts Kaffeetasse. »Könnten Sie mit dem Geklimper aufhören?«

Ohne ein Wort zu sagen, nahm Hogart den Löffel aus der Tasse und nippte an dem Kaffee. Das Gebräu schmeckte nach Abwaschwasser und war mit Abstand der schlechteste Aufguss, den er je getrunken hatte. Angewidert schob er die Tasse zur Seite.

Kohlschmied hob eine Braue. »Haben Sie bisher Fragen?«

»Würden Sie mir das Wasser reichen?«

Verunsichert schob Kohlschmied eine der Flaschen und ein Glas zu ihm hin. »Sonst noch Fragen?«

Hogart schüttelte den Kopf. Bedächtig ließ er den Sprudel ins Glas schäumen. Kunst war keines seiner Spezialgebiete. Meist wurde er von Versicherungen engagiert, wenn sich jemand mit einer Schleifmaschine die Hand abgeschnitten hatte, um die Versicherungssumme zu kassieren, gelegentlich auch von Rechtsanwälten, um zu prüfen, ob jemand seine Frau betrog. Doch Oktavian und barocke Gemälde? Er konnte kaum eine Kinderzeichnung von moderner Kunst unterscheiden.

»In knapp drei Monaten jährt sich Oktavians Todestag zum 365. Mal«, fuhr Kohlschmied fort. »Aus diesem Anlass gibt es eine weltweit einzigartige Ausstellung seiner Werke, die bis zum 15. Dezember dauert. Zu diesem Zweck wurden die dreizehn Gemälde der Köhler-Serie zum ersten Mal seit hundert Jahren wieder vereint, um sie in der Prager Nationalgalerie zu präsentieren.«

Prag! Deshalb hatte Rast ihn gefragt, wie sein Tschechisch sei.

Kohlschmied reichte Hogart einen Hochglanzprospekt, der sich dreimal aufklappen ließ. Darauf war ein Gemäldezyklus zu sehen. Der bußfertige Apostel Petrus stammte aus der Eremitage in St. Petersburg, Simon aus dem J. Paul Getty Museum in Los Angeles, je ein Porträt aus dem Palazzo Pitti in Florenz, der Augustinerkirche in Antwerpen und den Musées Royaux des Beaux-Arts aus Brüssel, las Hogart in den klein gedruckten Fußnoten des Prospekts. Jesus und der Heilige Thomas kamen aus dem Besitz des Earl Spencer of Althorp aus Northamptonshire, zwei weitere Gemälde jeweils von der Dresdener Gemäldegalerie und den Staatlichen Museen zu Berlin.

Kohlschmied reckte sich über den Tisch, um mit dem Kugelschreiber auf zwei Abbildungen zu deuten. »Die beiden Apostel Bartholomäus und Judas Thaddäus wurden aus dem Kunsthistorischen Museum Wien nach Prag geflogen – die beiden schönsten Exponate, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Allein die Organisation, diese Sammlung zu vervollständigen, nahm drei Jahre in Anspruch.«

Hogart betrachtete Jesus und die Apostel. Selbst auf den kleinen Abbildungen sahen die Gemälde aus, als würden die Männer leben. Der Charakter jedes Einzelnen von ihnen wurde durch ungebändigtes Haar, einen wilden Bart, eine tief gefurchte Stirn und ausdrucksstarke Gesichtszüge dargestellt, die ihre Zweifel, Ängste und Sehnsüchte zeigten. Ihre intensiven Blicke spiegelten viel von dem wider, was sie als Zeugen eines kargen und trostlosen Zeitalters gesehen haben mochten, in das Hogart sich nun zurückversetzt fühlte.

»Beeindruckend.«

»Nicht dass Sie enttäuscht sind, die Gemälde sind etwa sechzig mal siebzig Zentimeter groß und damit nur eine Spur größer als die Mona Lisa.«

»Ich bin nicht enttäuscht«, versicherte Hogart. »Wie komme ich ins Spiel?« Bisher hatte er sich keine Notizen gemacht. Er wusste ja noch nicht mal, welche Richtung die Geschichte nehmen würde.

Kohlschmied schlang die Finger ineinander. »Haben Sie von dem schrecklichen Brand in der Prager Nationalgalerie gehört, bei dem dreizehn Gemälde vernichtet wurden?«

Vor einem Monat hatte er so etwas aufgeschnappt, aber nicht weiter über die Medien mitverfolgt. Er nickte abwartend.

»Die beiden Gemälde des Kunsthistorischen Museums sind bei uns versichert, sieben bei unserer Londoner Zentrale, die anderen vier bei Hapag-Lloyd, Marsh & McLennan, Wells Fargo und der Aon Service Group. Wir haben den Fall übernommen, da unsere Zweigstelle Osteuropa am nächsten liegt.«

Kohlschmied lehnte sich zurück. »Wir haben acht angestellte Versicherungsdetektive im Haus, jeweils einen Brandexperten und weitere Spezialisten für Antiquitäten, Einbruch, Wasser-, Transportschäden und so weiter. Alexandra Schelling war unsere Kunstexpertin und zugleich Brandsachverständige.«

War? In Hogarts Kopf schrillten die Alarmglocken.

»Sie ist vor vier Wochen nach Prag gereist, um den Fall zu untersuchen. Unfallprotokoll der tschechischen Polizei, Schadensmeldung der Nationalgalerie, Bericht der Feuerwehr – das gesamte Programm.«

»Ich bin weder Gemälde- noch Brandexperte«, unterbrach Hogart ihn.

»Das musst du auch nicht sein«, knarrte Rasts Stimme aus dem Hintergrund.

Kohlschmied beugte sich nach vorne. »Schellings Gutachten fiel positiv aus. Das bedeutet, bei dem Feuer wurden andere Bilder zerstört. Fälschungen! Jedenfalls sind nicht die Originale verbrannt, aber wir wissen nicht, wo sie sich befinden und wer den Betrug inszeniert hat.«

Er nahm das Diktafon. »Ich spiele Ihnen das letzte Telefonat von Alexandra Schelling vor. Sie rief vor drei Wochen, am Donnerstag, dem 31. August, kurz nach 19.00 Uhr hier an, doch zu dieser Zeit war niemand mehr in den Büros. Sie hinterließ uns folgende Nachricht auf dem Anrufbeantworter.«

Der Einschaltknopf des Gerätes klickte.

»Hallo, Marga, hier spricht Schelling …«

Hogart lehnte sich zurück und lauschte der angenehmen Frauenstimme.

»… ich kann weder Rast noch Kohlschmied auf dem Handy erreichen, werde es aber in einer Stunde noch einmal versuchen. Die gute Nachricht: Der Fall ist gelöst. Es war ein hartes Stück Arbeit, die entsprechenden Unterlagen und Hinweise zu finden. Fakt ist: Wir müssen die Versicherungssumme nicht – ich wiederhole – nicht bezahlen! Die verbrannten Gemälde sind Fälschungen.«

Das Klappern von Stöckelschuhen auf einem Fliesenboden war kaum zu überhören. Hogart stellte sich vor, wie Schelling ihr Handy ans Ohr presste. Das Gemurmel im Hintergrund sowie ein kurzes Läuten erinnerten ihn an die Geräusche einer Hotellobby.

»Aber jetzt zur schlechten Nachricht. So wie die Dinge im Moment liegen, kann ich die Prager Kripo nicht in die Ermittlungen einbeziehen – Details folgen später. Sobald ich wieder in Wien bin, übergebe ich meine Unterlagen unserer Rechtsabteilung. Mit etwas Glück kommen wir binnen vierundzwanzig Stunden an die Originalgemälde heran. Mein Flug geht noch heute Abend. Wir sehen uns morgen im Büro.«

Die Verbindung endete. Eine Sekunde später hörte man das automatische Klicken des Anrufbeantworters.

»Weshalb konnte sie die tschechische Polizei nicht einschalten?«, fragte Hogart nach einer Weile.

Kohlschmied nahm die Kassette aus dem Tonband. »Wissen wir nicht.«

»Wer profitiert von dem Versicherungsschwindel? Das Kunsthistorische Museum Wien, die anderen Museen?«

Kohlschmied lächelte milde, als habe er es mit einem vollkommenen Kunstbanausen zu tun. »Falls ein Ölgemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert bei einem Brand zerstört wird, profitiert kein Museum, egal wie hoch die Versicherungssumme ist, glauben Sie mir. Die beiden Gemälde des Kunsthistorischen Museums waren sogar unterversichert, der Gesamtwert betrug sieben Millionen Euro je Stück. Außerdem pflegen wir gute Kontakte zu Generaldirektor Dr. Wilhelm Eschenbach, der über jeden Verdacht erhaben ist. Es muss also jemand anderes dahinterstecken. Alexandra Schelling war demjenigen auf der Spur, leider hat sie uns keinen Hinweis hinterlassen – und zu ihrem angekündigten zweiten Anruf ist es nie gekommen.«

»Klingt so, als hätte sie den Fall längst aufgeklärt. Weshalb brauchen Sie mich?« Obwohl Hogart die Antwort bereits kannte, wollte er es aus Kohlschmieds Mund hören.

Da meldete sich der Hai zu Wort. »Alexandra Schelling buchte einen Flug von Prag nach Wien. An diesem Abend startete die Maschine der Austrian Airlines pünktlich um 21.55 Uhr. Schelling checkte aber anscheinend nicht ein und kam auch nie in Wien an. Wir haben also ein Zeitfenster von knapp drei Stunden, in dem sie mit ihren Unterlagen verschwunden ist.«

»Jemand mit beträchtlichen kriminellen Möglichkeiten hatte seine Finger im Spiel. Hier geht es immerhin um dreizehn barocke Ölgemälde von unbezahlbarem Wert«, schaltete sich Kohlschmied wieder in das Gespräch ein.

»Im Grunde genommen ist Schellings Verschwinden ein Fall für das Bundeskriminalamt«, erklärte Hogart.

»Ach! Was Sie nicht sagen!« Die Stimme des Hais triefte förmlich vor der Ablehnung, die er Hogart gegenüber von Minute zu Minute mehr spüren ließ.

Betont langsam, wie um die gereizte Stimmung zu entschärfen, sprach Kohlschmied weiter: »Nachdem Schelling aus Prag nicht mehr zurückkam, gab ihre Mutter eine Vermisstenanzeige auf. Das Bundeskriminalamt in Wien nahm den Auslandsschriftverkehr mit der Prager Kripo auf, doch es kam keine Antwort. Nach mehrmaligen Telefonaten und unzähligen E-Mails und Faxsendungen, die ebenfalls nichts brachten, wurde eine Auslandsreise für zwei Wiener Kripobeamte genehmigt, um den Fall Alexandra Schelling zu überprüfen. Doch sie kehrten ohne Ergebnisse zurück. Ich unterstelle niemandem, er habe nicht tief genug gegraben, doch als wir beim Bundeskriminalamt anfragten, erhielten wir zur Antwort, die Kripo verfüge nicht über unbegrenztes Budget, und da es keine Leiche gebe und wichtigere Fälle vorlägen, könne in dieser Sache vorerst nichts weiter unternommen werden.«

Kohlschmied machte eine Pause. »Das war vor drei Tagen.«

»Was hat Schellings Mutter in der Zwischenzeit unternommen?«, hakte Hogart nach.

»Nachdem auch sie bei den Behörden nichts erreicht hatte, wollte sie einen Privatdetektiv engagieren, doch niemand war bereit, den Fall in Prag zu übernehmen.«

»Günter Kiesmeier«, schlug Hogart vor.

Der Hai fletschte die Zähne. »Hat abgelehnt!«

Kohlschmied räusperte sich. »Ich gebe es nur ungern zu, aber wir treten seit Wochen auf der Stelle, brauchen jedoch dringend eine Entscheidung, ob wir zahlen müssen oder nicht. Daher können wir die Sache nur noch selbst zu Ende bringen. Wenn Sie den Fall übernehmen, lautet Ihr Auftrag, Alexandra Schelling zu finden. Nur sie weiß, wo sich die Originalgemälde befinden.«

Kohlschmied zog einige hochglänzende Farbausdrucke aus der Mappe hervor. »Das ist sie. Aufgenommen am Tag ihrer Abreise von den Kameras in der Empfangshalle und auf unserem Parkplatz.«

Hogart betrachtete die erstaunlich scharfen Fotos. Das Aussehen der Frau passte zu der Stimme, die er von dem Diktafon kannte. Er schätzte ihr Alter auf etwa vierzig Jahre. Sie war groß. Mit dem ernsten Blick, den langen Wimpern und schulterlangen schwarzen Haaren strahlte sie das Selbstbewusstsein einer Karrierefrau aus, die ihr Leben lang nichts anderes getan hatte, als von einem Meeting zum nächsten die Erfolgsleiter zu erklimmen. Keine Kinder, ledig, ein Apartment in der Wiener Innenstadt, vermutete Hogart. Sie trug einen cremefarbenen Hosenanzug, wobei die Schulterpolster des Blazers ihre tolle Figur betonten – eine geradezu beängstigende Erscheinung. Auf einem weiteren Foto stieg sie gerade in ein Taxi, während der Chauffeur ihren roten Trolley im Kofferraum verstaute.

Kohlschmied nickte. »Alexandra Schelling ist unsere einzige Außendienstmitarbeiterin ohne Führerschein. Sie reist mit dem Flugzeug und fährt sämtliche Strecken mit dem Taxi.«

Normalerweise bekam man ohne Führerschein keinen Job im Außendienst. Aber wenn die Konzernleitung das bezahlte, warum nicht, dachte Hogart. Das war nicht seine Sache.

Er studierte das letzte Foto, das Schelling in einer Großaufnahme zeigte. Deutlich zu erkennen: ihre dezent überschminkten Falten unter den Augen. Auffällig erschien ihm der doppelte Windsorknoten ihrer roten Damenkrawatte, passend zur Farbe des Trolleys. Der Knoten fiel ihm nur deshalb auf, weil er selbst bloß diese eine Bindetechnik beherrschte. Bevor er sich als Versicherungsdetektiv selbstständig gemacht hatte, war er als Sachbearbeiter und Vertreter in diversen Branchen beschäftigt gewesen, unter anderem als Versicherungsberater für Großkunden, wo es üblich war, steife Hemden mit weitem Kragen und der dazu passenden Krawatte zu tragen. Doch diese Zeiten waren zum Glück vorbei.

Hogart schob die Fotos zusammen. »Ich bin offen zu Ihnen. Ist eine Frau in einer fremden Stadt seit drei Wochen spurlos verschwunden, ist die Wahrscheinlichkeit, sie lebend zu finden, gleich null.«

Aus den Augenwinkeln sah er Rast zusammenzucken.

»Es tut mir leid, aber das ist die Wahrheit.«

Während eine Sekretärin frischen Kaffee brachte und die Deckenbeleuchtung einschaltete, da es draußen zu dämmern begann, herrschte eisige Stille im Büro. Als die Frau das Zimmer verließ, zog Kohlschmied einige Blätter aus seiner unerschöpflichen Mappe.

»Wir haben folgenden Vertrag für Sie vorbereitet.«

»Haben Sie mir nicht zugehört?« Hogart beugte sich nach vorne. »Ich sagte doch …«

»Unser Standardmodell für externe Berater beinhaltet eine Pauschale von achthundert Euro pro Tag, zuzüglich Tagesdiäten und Wochenendzuschlag«, fuhr Kohlschmied unbeirrt fort. »Die Kosten für Leihwagen und Unterkunft übernehmen wir. Ihr Flug ist für morgen Früh gebucht. Sie haben vier Tage Zeit, bis Dienstagabend, danach muss der Vorstand eine Entscheidung über die Auszahlung der Versicherungssumme treffen.« Er schob den Vertrag über den Tisch. »Wir haben Ihnen ein Zimmer im Hotel Ventana in der Prager Altstadt reserviert – dasselbe Hotel, in dem Alexandra Schelling logierte. Sie bekommen einen Leihwagen, eine Firmen-Kreditkarte, vierundsechzigtausend tschechische Kronen und eine Akontozahlung über zweitausend Euro in bar.«

Kohlschmied zückte zwei Geldbündel aus einem Kuvert. Die tschechischen Scheine waren abgegriffen und speckig, die Euronoten druckfrisch.

»Um in Prag an Informationen heranzukommen, ist allein für Schmiergelder der doppelte Betrag notwendig«, wandte Hogart ein.

»Verwenden Sie die Kreditkarte am Bankomatschalter.«

»Darüber lassen sich keine Belege ausstellen.«

»Wir brauchen keine Belege, die schreiben wir uns selbst. Wir brauchen Ergebnisse!« Kohlschmied zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Hier ist Ihr Ticket.«

Abflugzeit war um 7.10 Uhr am Samstagmorgen. Economy Class, mit einer Maschine der Austrian Airlines. Falls er den Auftrag annahm, würde er das Wochenende in Prag verbringen. Das Angebot klang verlockend, doch da war noch eine Kleinigkeit, die Kohlschmied vergessen hatte zu erwähnen.

»Im Erfolgsfall beträgt mein Honorar zwei Promille von der Versicherungssumme«, erinnerte Hogart ihn.

»Das wären für beide Gemälde achtundzwanzigtausend Euro«, murmelte Kohlschmied. Er blickte kurz zu Kommerzialrat Rast. Dieser nickte, ohne eine Sekunde nachzudenken.

»In Ordnung.« Kohlschmied nahm die Papiere wieder an sich. »Wir ergänzen den Vertrag.«

»Dann wäre ja alles besprochen.« Rast erhob sich von seinem Stuhl. Bevor er das Büro verließ, drückte er Hogart die Hand. Dabei senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Du bist der Einzige, dem ich die Sache anvertrauen möchte. Ich hoffe, du findest das Mädchen.«

Einen Augenblick später war Hogart mit den beiden Angestellten allein. Der Hai löste sich aus seiner starren Haltung, um sich an den Tisch zu setzen. Noch bevor er den Mund aufmachen konnte, kam ihm Hogart zuvor. »Sie ist vermutlich tot.«

Der Sicherheitsmann strich sich über das Kinn, sodass man das Kratzen der Bartstoppeln hören konnte. »Ich weiß, aber der alte Mann will daran glauben, dass sie noch lebt.«

Hogart gefiel der Ton nicht, in dem der Hai plötzlich über seinen Arbeitgeber sprach. Aber was er sagte, stimmte. Natürlich dachte Rast das, er war ein unverbesserlicher Optimist.

Hogart betrachtete die Schwarzhaarige auf dem Foto. »Rast geht die Sache ziemlich nahe. Vermutlich ist das seine erste Mitarbeiterin, die er auf diese Weise verloren hat.«

»Sie ist seine Nichte«, präzisierte Kohlschmied. Eine eisige Kälte ergriff Hogart. »Rast glaubt an Sie, enttäuschen Sie ihn nicht.«

Im gleichen Moment wusste Hogart, er hätte den Auftrag nicht annehmen dürfen. Er konnte nur verlieren. Falls er bis Dienstag überhaupt etwas herausfand, konnte es nur eine Hiobsbotschaft sein, die Rast das Herz brechen würde.

Während Kohlschmied nur dasaß, sprach der Hai weiter, wobei seine Stimme mit jedem Wort leiser wurde. »Als der alte Mann vorschlug, Sie zu engagieren, begann ich mich über Sie zu erkundigen. Ich habe mich gegen Sie entschieden, aber nicht, weil Sie vor zwei Jahren ein ziemliches Desaster verursacht haben, über das sämtliche Zeitungen berichteten. Ihre Vergangenheit geht mich nichts an, jeder macht mal einen Fehler. Sie sind ganz einfach der falsche Mann für diesen Job. Ich habe Rast vorgeschlagen, selbst nach Prag zu fahren, doch er wollte Sie – um jeden Preis. Daher sollten Sie diesen Auftrag besser nicht vermasseln.«

Hogart schätzte Offenheit, auch wenn sie von einem Fleischberg stammte, dem er den Job weggeschnappt hatte. Zumindest wusste er, woran er war. Und anscheinend sah Kohlschmied die Lage genauso. Zumindest widersprach der Außendienstleiter mit keinem Wort, setzte bloß sein peinlich berührtes Vertreterlächeln auf, das hervorragend zu der Pomade in seinem Haar passte.

Schließlich zog Kohlschmied eine Karte mit einer Telefonnummer aus der Anzugtasche. »Handeln Sie nicht auf eigene Faust. Halten Sie rund um die Uhr Kontakt zu uns, und teilen Sie uns jeden Ihrer Schritte mit.«

Natürlich. Man brauchte ihm nicht zu sagen, wie er einen Auftrag durchzuführen hatte. Hogart legte die Visitenkarte zu dem Flugticket und den Fotos. Er betrachtete die attraktive Dame im Hosenanzug mit dem doppelten Windsorknoten. Rasts Nichte! So eine Scheiße! Die Frau wurde seit drei Wochen in der Goldenen Stadt an der Moldau vermisst. Der Fall konnte nicht gut ausgehen, das spürte er – und bis auf ein einziges Mal hatte ihn sein Gefühl noch nie getrogen. Andererseits war Prag nicht so groß. Er würde Alexandra Schellings Schicksal klären und sie zurückbringen. Ob sie nun tot war oder lebendig.

KAPITEL 1

Die Moldau schlängelte sich wie ein silbergraues Band durch Prag und bildete mal hier, mal dort Inseln und Landzungen. Der Fluss teilte die alte Hauptstadt Böhmens in zwei Hälften, die durch mächtige jahrhundertealte Brücken miteinander verbunden waren. Langsam zerrissen die Nebelbänke über dem Fluss, während die Goldene Stadt aus ihrem Schlaf erwachte. Die Dächer funkelten in der Morgensonne. In den Straßen wurden die ersten Rollläden der Geschäfte hochgekurbelt, Baldachine ausgeklappt und Rattanstühle vor die Kaffeehäuser gestellt, während über der Stadt eine Maschine der Austrian Airlines in den Sinkflug ging.

Der Tag begann ausgezeichnet. Peter Hogart landete mit vierzig Minuten Verspätung in Prag, da wegen des dichten Verkehrs Dutzende Maschinen in einer Warteschleife über dem Flughafen kreisten. Noch bevor er den Autoschlüssel und die Papiere des für ihn reservierten Mietwagens beim Sixt-Stand abholte, zeigte er Alexandra Schellings Foto bei der Gepäckabholung, den Check-in-Schaltern, im Flughafenrestaurant sowie am Taxistand vor dem Terminal herum, aber niemand konnte sich an die Österreicherin mit dem roten Trolley erinnern. Die Fragerei brachte nichts, außer dass er sich wieder an die Fremdsprache gewöhnte und seinen verschütteten Wortschatz auffrischte.

Eine Stunde später saß er einen halben Kilometer entfernt in einer Tiefgarage hinter dem Lenkrad eines Audis. Verblüfft starrte er auf den CD-Player in der Mittelkonsole, dabei hatte er ausdrücklich einen Wagen mit Kassettendeck verlangt. Er warf seine Schachtel mit den Bändern von Duke Ellington und Muddy Waters auf den Rücksitz, die er umsonst im Handgepäck mitgeschleppt hatte. Zudem war der Audi nur zur Hälfte aufgetankt, und der Fahrersitz ließ sich nicht verstellen. Irgendein Idiot hatte den Riegel abgebrochen.

Nach einem kurzen Stopp an der Flughafen-Tankstelle schaltete er einen tschechischen Radiosender ein und faltete seine Straßenkarte auf dem Beifahrersitz auseinander, um den raschesten Weg aus dem Labyrinth des Geländes zu finden. Erst als er sich auf der Schnellstraße in das vierzehn Kilometer entfernte Stadtzentrum befand, besserte sich seine Laune. Das Wetter in Prag war eine Spur freundlicher als in Wien, windstill und spätsommerlich warm. Trotzdem waren nur wenige Menschen in der Prager Altstadt unterwegs, einige davon Touristen, bepackt mit Stadtplänen und Fotoapparaten. Der Anblick erinnerte ihn an die Zeit, als er selbst durch Prag getrampt war. Damals hatte er sich nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt bewegt, was auch jetzt klüger gewesen wäre. Nach mehreren Runden fand er einen Parkplatz zwischen der Karlsbrücke und dem Wenzelsplatz, gut zehn Gehminuten von seinem Hotel entfernt. Zwar war Prag keine gänzlich unbekannte Stadt für ihn, dennoch lag sein jüngster Besuch ziemlich lange zurück. Vieles hatte sich in den letzten zwanzig Jahren verändert. Nur ein paar Straßennamen klangen vertraut, der Rest wirkte genauso fremd wie das nur teilweise verständliche Gerede der Menschen.

An Hogarts Unterkunft hatte sein Auftraggeber nicht gespart. Das gelbe vierstöckige Jugendstilgebäude des Hotel Ventana lag in der Celetna, unmittelbar vor dem Altstädter Ring, dem Platz mit den meisten Sehenswürdigkeiten. Im obersten Stock, direkt unter dem Dach, bezog er eine Suite mit Balkon und Ausblick auf die Fußgängerzone. Es war dasselbe Zimmer, in dem bereits vier Wochen zuvor Alexandra Schelling untergebracht worden war. Von Tereza, der Dame am Empfang mit der niedlichen Pagenfrisur, die einwandfreies Deutsch sprach, erfuhr er, dass das Zimmer seit Schellings Abreise fünfmal vermietet gewesen war. Demnach hatte das Personal die Räume entsprechend oft gereinigt – und bestimmt alle interessanten Spuren beseitigt. Trotzdem durchsuchte er das Bad, den Wohnraum und die Schränke des Schlafzimmers nach Hinweisen – ergebnislos. Weder im Safe noch unter dem Fernsehgerät, in der Minibar oder der Klimaanlage hatte Schelling eine Nachricht hinterlassen – und erst recht nicht im Toilettenspülkasten oder im Batteriefach der TV-Fernbedienung, wo er in einer brenzligen Situation selbst eine Botschaft versteckt hätte. Anscheinend hatte Rasts Nichte nicht geahnt, dass sie möglicherweise beobachtet worden war oder auf der Abschussliste jener Versicherungsbetrüger stand, mit denen sie sich angelegt hatte.

Nachdem Hogart seinen Koffer ausgepackt hatte, ging er auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen, wie immer, wenn er nachdenken wollte. Ferner Autolärm drang zwischen den Häusern heran. Während er überlegte, wo er mit der Suche beginnen sollte, füllte sich die Fußgängerzone mit Menschen. Der Altstädter Ring war ein gigantischer Platz, gesäumt von Gebäuden aller Epochen. Der Ausblick auf die Spitzgiebel, Uhrtürme und Erker erinnerte ihn an die Aussicht von der Prager Burg. Das letzte Mal war er mit Turnschuhen und Rucksack hier gewesen, ein Interrail-Ticket in der Hand und nichts weiter als fünfhundert Kronen in der Tasche. Drei Monate lang hatte er an den Wochenenden in verschiedenen Restaurants die Küche geschrubbt, Bierkisten geschleppt und Toiletten gesäubert, um das Geld für die Jugendherberge zu verdienen. Wahrscheinlich gab es die meisten Lokale nicht mehr, in denen er früher gearbeitet und literweise schwarzen Kaffee getrunken hatte. Am Ende seines Tramperurlaubs war sein Visum längst abgelaufen gewesen, und die österreichische Botschaft musste seine Ausreise mit dem Zug organisieren. Wie hatte sein Vater damals getobt und ihn einen leichtsinnigen Bengel genannt! Aber diese Erlebnisse konnte ihm keiner nehmen, und er war sogar ein wenig stolz darauf. Zum Glück war er heute, als Mann am Beginn einer Midlife-Crisis, nicht ganz so verbohrt und konservativ wie sein Vater damals. In ihm loderte immer noch diese Abenteuerlust, wenn es darum ging, ein Rätsel zu lösen oder Verbrecher zur Strecke zu bringen.

Das Läuten des Handys riss ihn aus den Gedanken. Auf dem Display erschien die Nummer seines Bruders. Kurt, knapp drei Jahre jünger als er, führte eine Praxis als Chiropraktiker in der Wiener Innenstadt und hatte alles, was Hogart nicht besaß: ein Haus, eine Familie und ein regelmäßiges Einkommen. Aber Kurt hatte auch Probleme, um die ihn Hogart nicht beneidete – vor allem mit dem Finanzamt und mit seiner Frau.

»Hallo, Kurt.«

»Hallo, mein Großer!« Kurts Stimme klang entspannt, und in diesem Fall konnte man darauf wetten, dass er gut gelaunt war. »Besuchst du uns heute zum Abendessen?«

»Ich bin eben erst in Prag angekommen.«

»Was machst du in Prag? Nach Schellacks und einer signierten Kafka-Biografie stöbern? Hast du doch schon alles!«

»Ein Auftrag.« Mehr wollte Hogart nicht verraten. »Wie geht es deiner Frau?«

»Du kannst einem die Stimmung vermiesen! Keine Ahnung.«

»Und Tatjana?«

»Wie soll es der Göre schon gehen? Sie ist drauf und dran, sich ein Nabelpiercing stechen zu lassen … sieht bestimmt hässlich aus, auf ihrem fetten Bauch … Aua! Sie steht neben mir, schönen Gruß!«

»Danke.« Hogart musste grinsen. Tatjana, Kurts sechzehnjährige Tochter, war alles andere als fett. Sie fuhr eine blitzblaue aufgemotzte Aprilia, trainierte zweimal in der Woche in einer Boxhalle und spielte Bass in einer Punkband, die Johnny Depp hieß. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie und ihre Bandkolleginnen sich neben dem Gothic-Tattoo auch ein Piercing stechen ließen. Doch trotz ihres wilden Aussehens war sie blitzgescheit und seit der ersten Klasse Vorzugsschülerin. Sonst hätte ihr Kurt die Eskapaden nie durchgehen lassen.

»Tatjana und ich hatten eigentlich geplant, uns einen Familienabend mit dir zu gönnen. Es gibt Lasagne, und außerdem hat sie bei einem Bandwettbewerb eine Espressomaschine gewonnen, die macht sogar Cappuccino mit Vanillegeschmack.«

»Scheußlich!«

»Obendrein läuft heute Der dritte Mann im Fernsehen. He, mein Großer, Der dritte Mann!«

Er überragte Kurt nicht nur um eine halbe Kopflänge, sein Bruder nannte ihn auch deshalb Großer, weil er der Ältere war. Hogart hatte es zwar nie zu einer Familie und einem Haus gebracht, trotzdem war er in Kurts Augen immer noch der erwachsenere von beiden, und daran würde sich wohl nie etwas ändern. »Verlockend, aber es geht nicht. Ich komme erst in vier Tagen zurück.«

»Vier Tage? Das heißt, du bist morgen nicht auf dem Flohmarkt?«

»Das heißt es!«

»Übernimmt Conrad deinen Stand?«

»Hab vergessen, ihn anzurufen!«

»Hast du meine Edgar-Wallace-Filme schon verkauft?«

»Wie denn, wenn ich in Prag bin?«

»Schon klar, klingt nach Arbeit … Tatjana möchte wissen, worum es bei deinem Fall geht. Oder kannst du etwa im Moment nicht reden?« Kurt begann zu flüstern. »Hält dir jemand eine Knarre an die Schläfe?«

»Es geht um Ölgemälde.«

»Du und Gemälde? Konnten die für den Job keinen anderen finden?«

Hogart hörte, wie sie im Hintergrund kicherten.

»Leute, ich muss Schluss machen, ich rufe an, wenn ich wieder zurück bin.« Er trennte die Verbindung.

Der letzte gemeinsame Abend mit seinem Bruder lag bereits Monate zurück. Dieses Treffen mit Kurt und Tatjana hätte ihn möglicherweise für ein paar Stunden aus seinem Arbeitstrott gerissen und vor allem Eva vergessen lassen, die ihm nach wie vor ständig durch den Kopf spukte. Immer waren es Frauen, deretwegen man sich das Hirn zermarterte. Mittlerweile ging es seinem Bruder nicht anders. Kurt verstand sich mit seiner Tochter großartig, doch mit seiner Ehefrau gab es immer öfter Spannungen. Sabina war eine Perfektionistin, unerbittlich auf Ordnung und Harmonie bedacht. Schon die kleinste Normabweichung brachte sie aus dem Konzept. Ihrer Meinung nach war Tatjana in einem schwierigen Alter, aber in Wahrheit war Sabina zu verklemmt, um auch nur ansatzweise über Beziehungsprobleme zu reden. Hogart hatte längst aufgegeben zu hinterfragen, was Kurt an Sabina fand. Er selbst verstand sich nicht gerade prächtig mit ihr – dafür sah er sie zu selten. Schließlich war sie nie dabei, wenn er sich mit Kurt und Tatjana an einem Freitagabend Schwarz-Weiß-Klassiker auf Arte ansah, sich in Tatjanas Zimmer die Demobänder ihrer Band anhörte oder um zehn Euro wettete, wer mehr Hamburger bei McDonald’s verdrücken konnte.

Manchmal besuchte Tatjana ihn nach der Schule in seinem Büro im dritten Stock eines Altbaus, direkt unter seiner Wohnung, um in seinen Akten zu stöbern oder ihn über seine abgeschlossenen Fälle auszuquetschen. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr stand fest, dass sie nicht Lehrerin wie ihre Mutter, sondern Versicherungsdetektivin werden wollte – obwohl er ihr den Spleen nachhaltig auszureden versuchte. Sein Job war bei Weitem nicht so spannend und interessant, wie seine Nichte sich das vorstellte. Vielleicht musste er seine Fälle einfach nur langweiliger darstellen.

Hogart drückte die Zigarette auf dem Balkongeländer aus. Die Arbeit rief. Solange die Dienstmädchen in den Zimmern noch die Betten richteten, wollte er seine Befragung fortführen. Frisch geduscht, in bequemen Jeans, Poloshirt und Sakko verließ er das Zimmer.

Dem Barkeeper des Hotels war Schelling zweimal aufgefallen. Sie hatte noch weit nach Mitternacht allein an der Theke gesessen, gedankenverloren dem Geklimper des Pianisten gelauscht und sich einige trockene Martinis mit Oliven bestellt. Die Bedienung im Restaurant konnte sich ebenfalls an die Wienerin mit der roten Damenkrawatte erinnern. Eine derart imposante Frau vergaß man nicht so rasch. Schelling hatte stets gegen zehn gefrühstückt, ein paarmal im Hotel zu Abend gegessen und meistens einen Martini dazu getrunken. Sie war immer allein gewesen, hatte nie telefoniert, keine Nachrichten am Empfangstisch erhalten und war – außer von Taxis – kein einziges Mal vor dem Hotel abgeholt worden. Bei der Zimmerabrechnung waren lediglich eine Stunde Pay-TV von zwei bis drei Uhr morgens angefallen, eine Packung Erdnüsse aus der Minibar, aber keine Telefonate vom Zimmer aus. Nachdem Schelling ausgecheckt hatte, war sie von niemandem mehr gesehen worden.

Bis zum Mittagessen waren Hogarts erste fünftausend Kronen weg. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte Schelling glatt für eine unauffällige Touristin gehalten, die an Schlafstörungen litt. Der einzige Anhaltspunkt, der ihm jetzt noch blieb, war die Tatsache, dass sie keinen Führerschein besaß, wodurch sie auf den Taxidienst angewiesen war. Für weitere tausend Kronen half ihm Tereza beim Übersetzen, als er mit den Taxiunternehmen der Stadt telefonierte. Zwar lebten in Prag seit jeher zwei Sprachen nebeneinander – Tschechisch und Deutsch –, aber nur wenige Einheimische beherrschten die Fremdsprache. Am Nachmittag besaß er die Taxiliste, auch wenn sie Kommerzialrat Rast eine schöne Stange Geld gekostet hatte.

Bei einem frühen Abendessen im böhmischen Spezialitätenrestaurant Zur Spinne gegenüber dem Hotel blätterte er durch die Seiten des Computerausdrucks. Um diese Zeit war die Gaststube noch ziemlich leer, weshalb er im Kerzenschein einer einsamen Nische seine Unterlagen unbeobachtet ausbreiten konnte.

Er ging die Taxiliste durch: zwölf Fahrten! Besonders umtriebig war die Frau nicht gewesen. Da Schelling niemals beim Telefonieren gesehen worden war, musste sie die Taxis jeweils vom Zimmer aus mit ihrem Handy gerufen haben. Zwölfmal war sie vor dem Hotel abgeholt worden. Elf Bezahlungen in bar, eine einzige mit Kreditkarte. Hogart suchte die Fahrtziele auf dem Stadtplan. Viermal zur Nationalgalerie, zweimal in die Villengegend vor der Prager Burg, je einmal zur Einsatzzentrale der Feuerwehr, zur Kripo, zu einem chemischen Labor und zur österreichischen Botschaft, vermutlich um an Auskünfte heranzukommen, wer für welchen bürokratischen Papierkram zuständig war. Am Tag ihrer Abreise, etwa um die gleiche Zeit, als sie ihre Nachricht auf das Tonband im Büro von Medeen & Lloyd gesprochen hatte, war sie mit dem Taxi zu einer Fahrt Richtung Flughafen abgeholt worden. Nicht zum Flughafen, sondern nur in die Richtung. Etwa neun Kilometer vom Stadtzentrum entfernt endete die Taxifahrt in der Pivonkastraße.

Hogart fand den Ort gerade noch auf dem Rand seines Stadtplans. So weit draußen gab es nichts als Acker und Feldwege, und dennoch musste Schelling in dieser Gegend etwas gesucht haben. Und dabei war sie verschwunden. Noch eine zweite Sache gab Hogart zu denken: jene Fahrt, die Schelling mit ihrer Kreditkarte beglichen hatte. Sie führte in ein schmales Gässlein südlich des Josefsviertels, zwischen dem Moldauufer und der Altstadt, nicht weit vom Hotel entfernt: die Bernardigasse. Warum hatte Schelling ausgerechnet diese Fahrt mit der Karte bezahlt? Bestimmt nicht deshalb, weil ihr das Bargeld ausgegangen war. Immerhin hatte sie am Abend darauf ihre Taxifahrt Richtung Flughafen mit Scheinen beglichen. Vielleicht wollte sie diese Fahrt dokumentieren, sozusagen für die Nachwelt belegen. Möglicherweise war es ihre Methode, Nachrichten im Batteriefach einer Fernbedienung zu hinterlegen.

Jedenfalls hatte er nun zwei Orte gefunden, an denen es Sinn ergab, weiterzuforschen: die Pivonkastraße außerhalb der Stadt und die Bernardigasse beim Josefsviertel.

Um diese Jahreszeit wurde es am Abend rasch kühl. Zudem zog von der Moldau eine feuchte Brise herauf. Die Hände in den Manteltaschen, ging Hogart von seinem Hotel durch die Altstadt zur Bernardigasse. Er kam an Marionettentheatern und unterschiedlichen Kleinbühnen vorbei, die in dem Künstlerviertel dicht nebeneinander lagen. Das Cabinet Bizarre bot Goethes Faust als Schattenspiel mit Neonlicht und visuellen Effekten an. Weitere Plakate und Aushangfotos warben für die Laterna Magica oder eine Vorführung des mystischen Circo Magico. Im Black Light Theatre liefen Puppenspiele mit optischen Täuschungen. Auf dem engen Podium, das den Schauspielern zur Verfügung stand, konnte man sich nur mit Illusionen behelfen, um das Publikum zu verzaubern – und die Prager Künstler waren Meister darin.

Die engen Seitengassen mit den zahlreichen Theaterbühnen und winzigen Kinosälen waren ihm noch von seinem letzten Pragbesuch lebhaft in Erinnerung. Damals hatte er häufig die tschechischen Programmkinos besucht, um die einzigartige Atmosphäre der knarrenden Klappstühle, schwarzen Samtvorhänge und flimmernden Projektoren zu erleben. Möglicherweise rührte daher seine Vorliebe für alte Schwarz-Weiß-Klassiker her, die nicht auf DVD, sondern nur auf originalen Filmrollen voll zur Geltung kamen. Das Bild musste flimmern, der Ton knistern – dann war es authentisch, denn genauso wie der Film selbst erzählte auch das Filmmaterial eine Geschichte.