Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Thomas Ziegler (bürgerlich Rainer Zubeil, 1956–2004) gilt allgemein als eines der größten Talente der deutschsprachigen Science-Fiction. Mit seinen Erzählungen, die ab Ende der Siebzigerjahre in Zeitschriften und Anthologien erschienen, gab er die Initialzündung zur Entwicklung einer neuen deutschen Science-Fiction, die sich durch aktuelle Themen, Lokalkolorit, regionale Schauplätze und politisch-soziale Brisanz auszeichnet. Auch als Chefautor der Perry-Rhodan-Serie, Übersetzer, Kritiker und Herausgeber sowie Krimi- und Fernsehautor hervorgetreten, verhinderte sein früher Tod ein Comeback in der Science-Fiction-Szene. Die vorliegende Sammlung enthält eine sorgfältige Auswahl seiner besten Erzählungen, die seinen Werdegang von frühen vielversprechenden Magazinveröffentlichungen bis hin zu den Höhepunkten seines Schaffens an der Wende in die Neunzigerjahre dokumentiert. Erstmals nachgedruckt findet sich hier unter anderem die Urfassung seines preisgekrönten, von der Kritik hochgelobten Romans Die Stimmen der Nacht, einem der Hauptwerke der deutschsprachigen Fantastik. Alle Texte wurden für die Neuausgabe gründlich überarbeitet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 579
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Thomas Ziegler
Ausgewählte Erzählungen 1978–1990
Herausgegeben von Michael K. Iwoleit
Mit einem Nachwort von Ronald M. Hahn
Cutting Edge 5
Thomas Ziegler
DIE SENSITIVEN JAHRE
Ausgewählte Erzählungen 1978–1990
Herausgegeben von Michael K. Iwoleit
Mit einem Nachwort von Ronald M. Hahn
Cutting Edge 5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juli 2025
Cutting Edge & p.machinery Michael Haitel
Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.
Titelbild: Tom Turtschi
Layout: global:epropaganda
Umschlaggestaltung: Tom Turtschi, Michael K. Iwoleit
Redaktion & Lektorat: Michael K. Iwoleit
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: Cutting Edge @ p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
the-cutting-edge.eu, the-cutting-edge.net
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 463 2
ISBN dieses E-Books; 978 3 95765 685 8
(1978)
I.
Obwohl es dann natürlich Zeit wurde wegzulaufen …
Hörte schon die Schreie aus meinem Mund quellen, aber bei diesen Gelegenheiten ist man immer auf eine nicht erklärbare Weise gespalten:
du stehst da
und
du sagst dir
HAU ENDLICH AB, DU GOTTVERDAMMTER ARMER IRRER!
Aber gleichzeitig bleibst du stehen, weil du trotzdem irgendwo noch ein bisschen Hoffnung hast, dass das Standhalten endlich einmal Erfolg bringt, und die anderen denken auch so, auch wenn einige zittern und blasse Gesichter haben.
Schließlich springt dir das Tränengas in die Augen (wenn du Glück hast) oder ein elektrischer Knüppel trifft Deinen Kiefer, zersplittert die Backenzähne wie brüchiges Porzellan, sodass dir nichts anderes übrig bleibt, als dich deiner Haut zu wehren.
Du nimmst den erstbesten Stein, als die Flut der uniformen Leiber dich umspült, und schlägst mit der scharfen Kante eine tiefe Scharte in die Plastikrundung des Vollvisierhelms, und in dem Lärm, der dich umhüllt, klingt das fremde Stöhnen leise und künstlich.
Es ist alles ziemlich unwirklich, ein schäbiger, auf sensationslüsternen Surrealismus getrimmter Film, das Hinterletzte, sage ich dir, aber du handelst so, weil es nicht mehr anders geht und sie dir auch keine andere Wahl lassen, und genau das ist es natürlich, was sie erreichen wollen.
Auf den gepanzerten Wagen, die mit ihren Nebelwerferaugen und den zarten Maschinengewehrrohren an überdimensionale Ratten erinnern, drehen sich die holografischen Kameras, filmen dich mit dem Stein in der Hand, und später läuft das dann in den Nachrichten, zur besten Sendezeit, ganz vorzügliche Bildqualität und in Farbe, aber das Blut auf Deinen Wangen wird wegretuschiert, weil es sie stört, und damit niemand auf falsche Gedanken kommt. Im Endeffekt landest du natürlich vor Gericht.
Tja, so ist das heutzutage.
Damals auch?
II.
Popularität kommt teuer zu stehen, ob du es glaubst oder nicht.
(Rechts und links von mir gesichtslose Beamte der Nationalen Schließgesellschaft) laufe ich in den Gerichtssaal ein.
Klick! Klick! Klick! Trotz der stürmischen Fortentwicklung der Technik erzeugen Fotoapparate noch immer diese hohlen Geräusche, aber ich sage nichts und halte das dem Selbstverständnis der Bildreporter zugute.
Das größte Foto von mir (aufgenommen, als ich gerade niesen musste und ein böses Gesicht schnitt) erschien bezeichnenderweise in VIDEO-Bild, schwarz umrahmt, ganz so wie die es auch immer mit den Lustmördern machen, sodass auch jeder gleich weiß, wie er mich einzuschätzen hat und keine Missverständnisse aufkommen, und später bemühte man auch noch einen Psychologen, einen von denen, die früher für stereotaktische Operationen geworben haben.
Der Saal ist so voll wie ich letzten Silvester, und das bedeutet, dass noch Leute vor der Tür stehen und heftig klopfend Einlass verlangen. Als ich mich unaufgefordert setze, weil meine Füße schmerzen, zischen die Zuschauer, aber das wundert mich gar nicht, trägt doch jeder von ihnen ein braunes Parteiabzeichen mit dem großen C der Cosmischen Demokraten.
Genau zur rechten Zeit beginnen die Kameras zu surren (die Verhandlung wird über Satellit ins Königreich Bayern und nach Nerstown übertragen – dies als Beispiel für die Ausgewogenheit unserer Medien), und der Vorsitzende wacht aus seinem Aktenstudium auf und betätigt den elektrischen Hammer, der die Ruhe und Ordnung schafft, die der Schwarz-gekleidete zur Urteilsfindung dringend benötigt.
Ja, und dann beginnt der Tanz.
Zuerst meine OPFER –
a) der Dicke (der ohne seine Panzerausrüstung richtig schlank wirkt);
b) der Brutale (obwohl er ohne chemische Keule und Eierhandgranaten nicht mehr sehr bedrohlich erscheint);
c) der Schneidige (dem niemand mehr die berufliche Befriedigung anmerken kann, die ihn lächeln ließ, als sein Knüppel meine Gesichtshaut blau tätowierte).
Aussage.
Bedrohliches Gemurmel von den hinteren Rängen. Der elektrische Hammer bleibt stumm. Kein Platzverweis?
Die Sache ist bereits gelaufen, die Verhandlung nur eine Formsache. Ich sehe es an ihren Augen.
OB ICH NOCH ETWAS ZU SAGEN HABE?
Klar! Ging doch nur um den Stadtpark, und wir standen einfach da, mit den Transparenten in den kalt gefrorenen Händen, den Sprüchen auf den Lippen, und wenn der Regen nicht gewesen wäre … Also ab in Richtung Konsumzentrum (keiner hatte an Regenschirme gedacht), wo alles verkleidet und geschützt ist und keiner nass zu werden braucht. Aber das muss jemand falsch verstanden haben, obwohl alles angemeldet und genehmigt war … Kamen von allen Seiten völlig überraschend: grüne Metallkäfer, vermummte Gestalten ausspuckend, unter deren runden Kopfbedeckungen aus verstärktem Plastik Funkgeräte summten.
UND SIE SCHLUGEN AUF UNS EIN! GRUNDLOS!
Aufregung. Tumulte. Werde angebrüllt, beschimpft, bedroht.
Dann die Beweise, die Filmaufnahmen:
Wir, die mit Steinen werfen, mit leeren Flaschen und Taschentüchern, mit allem, was in der Nähe liegt, weil wir mordsmäßig Angst haben und jeder grell aufschreit, wenn die Knüppel treffen, das Gas zischt, Wasser uns zu Boden schleudert.
UND DIE HANDGRANATE?
Sie kam auf uns zugeflogen, mitten zwischen den ganzen Leuten prallte sie auf, sodass jeder völlig starr stehen blieb und nur noch wartete, und verdammt, ich hob sie einfach auf, ohne nachzudenken, und warf sie zurück. Wer hat schon Lust zu sterben?
Hämisches Lachen, aber leise, damit der Vorsitzende nicht provoziert wird.
Danach – danach zeigt man die Leichen der Getroffenen. Und die Hinterbliebenen marschieren ein, schwarz und blass.
Mir wird richtig komisch, Junge, seltsam schwach, auch Atembeschwerden, aber was hätte ich denn sonst machen sollen? Irgendwo musste das Ding ja explodieren. Warum nicht bei denen, die sich damit auskennen?
Aber natürlich hört niemand zu.
Und die Bäume, die knorrigen Stämme im Stadtpark, die werden natürlich auch abgeholzt. (Trotzdem vernimmt man in dem himmelhohen Bürohaus, das jetzt dort wie ein abstrakter Grabstein aufragt, von Zeit zu Zeit leises Blätterrauschen und, wenn man viel Glück hat, das Rascheln der trockenen Zweige. Jeder sieht dann hinauf zu den Lautsprechern der -AB-Höranlage und denkt: Das ist Kultur.
Du siehst, man muss in diesen Tagen vorsichtig sein,
III.
In einer Zelle, vor allem in einer wie dieser, in einer Zelle gewinnt das Schlagwort von der Lebensqualität neue Bedeutung. (Zumal mich diese Lebensqualität von jetzt an lebenslänglich heimsucht!)
Zuerst bist du
VOLL HASS UND WUT UND VERBITTERUNG,
VERZWEIFELT UND AM ENDE DEINER KRAFT,
GEBROCHEN – ZERSTÖRT – MUTLOS – OHNE HOFFNUNG, aber das geht vorbei. Alles geht vorbei. Bald gewöhnst du dich an alles. Nur nicht an die Einsamkeit (keine Frau, ein Lebenslänglichlang) und die Geräusche von draußen.
Das ist es, was dich zermürbt, dich abstumpfen lässt: Die Freiheit liegt zum Greifen nahe, aber sobald du wirklich zupackst, berührst du Gitter und Stacheldraht und zerschneidest dir die Finger.
Doch das sind nur historische Reminiszenzen, denn der Fortschritt, der unausweichliche, lässt sich auch hier drinnen nicht aufhalten.
Zuerst taten sie es etwas schamhaft, und du hast es nur bemerkt, weil das Essen so ungewohnt bitter schmeckte, aber dann wurde ihr Vorgehen legalisiert – und heute läuft das alles reibungslos ab.
Du erhältst eine Injektion (jeden Morgen zu Beginn, dann einmal in der Woche, einmal im Monat und nun einmal im Jahr, was wieder die Humanität des modernen Strafvollzugs bestätigt), und du kannst deine Zelle verlassen
FREI
und sogar in die Stadt gehen
FREI
und Freunde besuchen, und in der Stadt wirst du freundlich und voll Genugtuung angelächelt. Du schaust dir alles an, bis die Sonne sinkt, und du denkst, dass es Zeit wird.
Wenn du willst, darfst du auch arbeiten, um deine Unterbringung und deine Verpflegung und deine Injektionen zu bezahlen, aber niemand zwingt dich dazu, aber das spielt keine Rolle. Denn nachdem sie die Zusammensetzung der Injektion ein wenig geändert haben, willst du arbeiten, FREIwillig.
Du arbeitest gut, rasch, schweigsam, ohne Gedanken an andere Dinge zu verschwenden, sodass du dich sehr schnell beliebt machst und in Krisenzeiten nicht entlassen wirst wie die anderen, die dann und wann und da und dort Zweifel anmelden, aber die merken sehr schnell, wieso du bevorzugt bist.
Darum wundert es dich auch gewiss nicht, dass wir in unserer heutigen Zeit all eure Probleme nur noch mit einem Lächeln kommentieren können.
Wen interessiert denn noch ein Stadtpark?
(1978)
Matuschek beäugte träge den hellen Lichtfleck an der Wand. Es war ein merkwürdiger Fleck: handtellergroß, unförmig und aufgedunsen, mit unzähligen Ecken und Kanten und Einbuchtungen, mit Vorsprüngen, Löchern und fransigen Rändern.
»Was sehen Sie?«, fragte Rescor mit seiner eintönig dahinplätschernden Stimme.
Matuschek blinzelte, schloss die schmerzenden Augen. Wenn doch nur dieser Druck endlich nachließe! »Ein Segelschiff«, sagte er schließlich. Unwillkürlich nickte er. Ja tatsächlich! Jetzt konnte er es genau erkennen! Ein schwerer, ächzend und mit klatschenden Segeln vorwärts schwankender Schoner, umspült von salzbeißenden Brechern und nass und klamm gefroren in der eiskalten Seeluft.
»Erstaunlich!«, bemerkte Rescor interessiert.
Matuschek antwortete nicht. Bleiern und kraftlos saß er in dem gepolsterten Drehsessel. Über Oberschenkel, Taille und Brust spannten sich fingerbreite Kunststoffgurte, und kühle, blechern glitzernde Elektroden klebten an der Stirn. Nur undeutlich vernahm Matuschek das tiefe Brummen des Diagnosters, einem riesigen Metall- und Plastikungetüm, das seine Reaktionen elektronisch genau überwachte.
Der Fleck verschwand, machte einem neuen Platz.
»Was sehen Sie?«, fragte Rescor wieder.
Wie oft?, dachte Matuschek betäubt. Fünfzig- oder hundert- oder tausendmal? Wo war die Zeit geblieben? Und – was hatte man mit ihm vor? Warum diese Untersuchung?
»Was sehen Sie?« Die Geduld des Analytikers schien unerschöpflich.
Der Klecks an der Wand wirkte auf nicht erklärbare Art grazil und heiter, und Matuschek unterdrückte das aufkommende nervöse Kichern in der Kehle, befeuchtete die spröden Lippen, schluckte Speichel auf die rauen Stimmbänder.
»Ein Vogel!«, entschied Matuschek. »Ein Vogel! Geschmeidiges Federkleid, breite, weiße Schwingen, in der Ferne vor der sinkenden Sonnenscheibe. Ein Vogel, der mit den Winden treibt.«
Für eine Weile herrschte Schweigen. Matuschek hörte, wie sein Herz heftig pochte.
»Ich glaube, wir wissen genug«, bemerkte Tribeau ungeduldig. Er blickte sich auffordernd um. »Oder ist sich einer von Ihnen noch nicht schlüssig?«
Persson, Hellmann und Kleijinken schüttelten beflissen die graubehaarten Köpfe, sahen zu Rescor, warteten auf Zustimmung.
Der Chefanalytiker rieb sich mit den Fingerspitzen leicht die Augenbrauen. Eine Geste, die Matuschek schon oft bei ihm beobachtet hatte. Sie wirkte affektiert, gekünstelt sollte nur Rescors allumfassende Gefühllosigkeit verbergen, die die Linien in seinem Gesicht wächsern und puppenhaft erscheinen ließ.
»Der Fluchtgedanke«, fuhr Tribeau eifrig fort, »ist meines Erachtens zur beherrschenden Neurose geworden und beeinflusst bereits das Abwehrsystem des Unterbewusstseins. Geradezu ideal, würde ich sagen! Geradezu ideal!«
Rescor erhob sich, ging zum Diagnoster und legte einige Schalter um.
Klack! machte es in Matuschek. Klack! Klack! Klack! Die Betäubung in seinem Schädel verschwand.
Rescor griff in die ausgebeulte Tasche seiner seidigen, grünen Kunststoffmontur und brachte eine Packung Zigaretten zum Vorschein. »Würden Sie nur sagen, dass der Patient Matuschek geradezu ideal ist, oder sagen Sie es tatsächlich, Tribeau?«, fragte er ironisch.
Tribeau wurde rot. Mit einer seltsamen Klarheit konnte Matuschek den Weg des Blutstroms verfolgen, der die winzigen Äderchen in den Wangen aufpumpte, sodass sie prall und fett das Weiß der Haut bedeckten. Tribeau hustete. »Der Patient ist ideal!« verbesserte er sich im Tonfall einer Entschuldigung.
Rescor nickte, schürzte amüsiert die Lippen. »Das Problem unserer Zeit«, philosophierte er spitz, »ist die zunehmende Verwässerung der wissenschaftlich exakten Ausdrucksweise. Präzision, Doktor Tribeau! Nur mit Präzision ist es möglich, Staat, Gesellschaft und Individuum zu kontrollieren und in der einzig richtigen Weise fortzuentwickeln.« Nachdenklich sog er an seiner Zigarette, blies eine zittrige Wolke gegen die Decke. »Erinnern wir uns doch! Das noch vor zehn Jahren herrschende politische und moralische Chaos beweist doch wohl deutlich die Richtigkeit dieses Gedankenganges!«
»Natürlich, Doktor Rescor!«, beeilte sich Tribeau, zu versichern. »Verzeihen Sie!« Er senkte den Kopf.
Rescor winkte ab. Er wandte sich Matuschek zu. »Die Analyse ist abgeschlossen«, eröffnete er übergangslos dem gefesselt dasitzenden Mann. »In Verbindung mit Ihrem bisherigen kriminellen Werdegang, Ihrem antistaatlichen und antisozialen Verhalten ergibt sich eine klare, zweifelsfreie und endgültige Diagnose.
»Doktor Persson!« Der kleine, zartgliedrige Psychologe mit den grotesk großen Ohrmuscheln erhob sich hastig. »Doktor Persson, Sie beginnen!«
Persson räusperte sich, machte den Ansatz einer unbeholfenen Verbeugung. »Kriminelle Neigungen sind bei dem Patienten Matuschek schon in früher Jugend zu registrieren. Laut Auskunft der Nationalen Datenbank verbüßte er im Alter von neunzehn Jahren eine vierwöchige Haftstrafe für ein Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nach der Umwälzung und der sich daran anschließenden Konsolidierung der Staatenunion verstieß der Patient wiederholt vorsätzlich gegen die bürgerlichen Grundpflichten. Er lehnte sich gegen das Wirtschaftsförderungsgesetz auf, indem er seine Arbeitskollegen dazu verführte, einen illegalen Streik gegen ein Zweigwerk des Chemiekonzerns EUROpharma zu beginnen.
Er protestierte öffentlich gegen das notwendige Städtesanierungsprogramm und behauptete fälschlicherweise, dadurch würde sich die Lebensqualität der Bevölkerung verringern.
Er beschimpfte den Neuen Staat als ausbeuterisch, diktatorisch und – wörtlich – als ›Privateigentum einer Clique habgieriger und korrumpierter Politiker und ihrer Komplizen aus Industrie und Militär‹.
Für diese staatsschädigenden, moralzersetzenden Verleumdungen wurde der Patient von einem Sondergericht der Zentralregion zu einem Jahr Arbeitsdienst verurteilt. Anschließend wies man ihn zu einer sozial-stabilisierenden Behandlung in das Institut für Psychoforschung ein. Nach seiner Entlassung wohnte er mehrere Monate in Brüssel und nahm Kontakt einer Gruppe notorischer Unruhestifter auf, deren Einfluss er mehr und mehr erlag.
Bei einer terroristischen Aktion gegen eine geheime militärische Versuchsanlage der Nationalmiliz wurde er von Sicherheitskräften überwältigt und zwecks einer Persönlichkeitsanalyse hier in unserem Institut inhaftiert.« Persson befeuchtete seine vor Trockenheit runzlig- und rissiggeschrumpfte Lippe. »Die Analyse bewies, dass die kriminellen Energien des Patienten Matuschek auf einen psychischen Defekt zurückzuführen sind. Der Patient Matuschek fällt auf durch ein neurotisches Unabhängigkeitsbedürfnis, das sich im Laufe seines Lebens zu einer paranoischen Flucht vor der Realität entwickelt hat. Die Fürsorge und das Bestreben des Staates, für alle Bürger Sicherheit und Ordnung zu garantieren, negiert der Patient zur allgegenwärtigen Bedrohung seiner Person.
Psychisch flieht der Patient Matuschek vor der Realität in einen monströsen Verfolgungswahn, sozial in die Illegalität krimineller und antistaatlicher Gewaltakte.« Persson lächelte fein. »Eine Heilung erscheint mir in diesem fortgeschrittenen Stadium ausgeschlossen!«
Matuschek schwieg. Eine lethargische Erschöpfung verlangsamte seine Gedanken und hinderte ihn, seiner Empörung Luft zu machen. Die Schlussfolgerungen dieses gnomenhaften Mannes beruhten auf einem bizarren Psychologieverständnis.
Natürlich litt er an Paranoia, aber – war dies nicht logisch einem Land, dessen Bewohner von einer alles sehenden, alles hörenden, alles wissenden Medusa, einem myriadenköpfigen Kontrollapparat bespitzelt wurden? In einem Land, dessen Medien Lügen predigten und die Wahrheit manipulierten, Missstände verschwiegen und jeden Widerstand gegen das diktatorische Regime kriminalisierten? Wo die Gerichte nicht Recht sprachen, sondern Richtlinien für das geistige Verhalten erteilten? Wo Psychologie, Soziologie und Philosophie im Dienste legalisierten Mordes und institutionalisierten Terrors standen? In einem Land, wo viele gehorchen mussten und nichts besaßen, aber wenige befahlen und über alles verfügten?
Ruhe und Ordnung – natürlich empfand er diese beiden Dinge als persönliche Bedrohung! Doch – war dies tatsächlich krankhaft, wenn Ruhe Unterdrückung und Ordnung Entmenschlichung bedeutete? Wenn die Fürsorge des Staates darauf abzielte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind sprachlos und willfährig zu machen?
Wenn man diese Tatsachen miteinbezog – war er dann wirklich krank und kriminell, oder wollte man ihn nur krank und kriminell machen, um eben diese Tatsachen nicht zur Kenntnis zu nehmen?
»Ihre Psychologie«, sagte Matuschek schwerfällig und wunderte sich, während er sprach, über seinen Mut und seine Energie, »Ihre Psychologie ist ein Bastard, der soziale Probleme zu seelischen Störungen bagatellisiert.«
Die Ärzte lächelten, bleckten die Zähne, tauschten vielsagende Blicke. Rescor klatschte in die Hände. »Nun Doktor Tribeau, bitte!«
Tribeaus Nervensystem schien ständig unter Spannung zu stehen, und diese innere, fortwährende Spannung entlud sich in körperlichen Überreaktionen. Während er sprach, überzogen nervöse rosa Flecken seinen Hals, seine Hände, und unaufhörlich zuckten seine Schultern, wackelte der fast kahle Schädel. Tribeau wölbte den Mund, trompetete seinen Vortrag.
»Die soziale Herkunft des Patienten Matuschek wirft ein bezeichnendes Licht auf seine Persönlichkeit. Aufgewachsen unter Dieben, Rauschgiftsüchtigen, Anarchisten, Trinkern ähnlichen antisozialen Elementen, verfiel er immer mehr einer lebensuntüchtigen Subkultur, deren hervorragendste Eigenschaften moralisches Chaos, Arbeitsscheu und politische Fantasterei waren. Nach der Katastrophe vor zehn Jahren und der dadurch bedingten Reorganisierung der Gesellschaft wurde bekanntlich jene Subkultur ausgemerzt. Ihre unbelehrbaren Vertreter unterwarf man einer Umerziehung und verpflichtete sie – wenn nötig, zwangsweise – zur Mitarbeit.
Die geistigen Schäden jedoch, die dem Patienten während seines Lebens in der Subkultur zugefügt wurden, sind sichtlich irreparabel. Beispielsweise zeigten sein Psychodiagramm und sein Verhaltensmuster tief greifende Abweichungen von der staatlichen Norm. Von seinen ungesetzlichen Aktivitäten ganz zu schweigen!
Der Patient Matuschek lehnt das normale, ruhige Leben eines Staatsbürgers ab, weil er soziale Gesundheit, moralische Hygiene und eine geregelte Existenz niemals kennengelernt hat. Er empfindet sogar Furcht davor, flüchtet folglich immer tiefer eine egozentrische Scheinwelt und passt sein Leben ihren unwirklichen, nur für ihn gültigen Normen an.
Ein derartiges Verhalten ist psychopathisch, potenziell gefährdend und ein Hindernis für die Stärkung jener Welt, wie sie die Staatenunion verkörpert.
Wie mein Kollege Doktor Persson sehe ich keine Möglichkeit einer Wiedereingliederung des Patienten Matuschek in die Gesellschaft!«
Tribeaus Ausführungen, dachte Matuschek, waren noch eine Spur skurriler. Für ihn stellte sich Geisteskrankheit als eine Abweichung von bestimmten sozialen Verhaltensweisen dar. Die Frage, ob nicht jene Normen selbst psychotisch oder psychopathisierend waren, weil sie die Bedürfnisse der Menschen unterdrückten, existierte für Tribeau nicht als Gedankenmodell.
Seelisch gesund, als das galten die Konformisten, die Schweigenden, Gehorchenden, Willfährigen, die Handlanger und Unterdrücker, die Jasager und Speichellecker, die Reichen, Mächtigen, Herrschenden, Besitzenden, die Satten.
Matuschek bemerkte verblüfft, dass sich allmählich sein Blickfeld verengte. Wurde er ohnmächtig, bewusstlos gepusht von zig verschiedenen Drogen, von Wahrheitspillen und Energetika, von Tranquilizern und Hypnotika, Barbituraten und Amphetaminen?
Irgendein schläfriger Winkel seines Gehirns spuckte eine vor langer Zeit gehörte Melodie aus, und sie kroch durch seine Ganglien, klimperte hinter seiner schweißtropfenden Stirn.
Trimm dich frei mit Valium!
Tribeaus Stimme war mittlerweile so leise und hohl geworden, dass Matuschek meinte, sie dringe aus dem billigen Lautsprecher eines weit entfernt liegenden Kopfhörers.
»Um ein Fazit zu ziehen«, schmunzelte Rescor, der Chefanalytiker, »leidet der Patient und Untersuchungshäftling Volkmar Matuschek nach unseren Erkenntnissen an einer Fluchtpsychose mit paranoischen Symptomen. Da dieses krankhafte Verhalten vom Patienten Matuschek auf antistaatliche und antisoziale Weise ausagiert wird und eine Heilung dem Analytischen Komitee Drei des Instituts für Psychoforschung aussichtslos erscheint, kann eine Rückkehr des Patienten Matuschek in die Öffentlichkeit nicht befürwortet werden.«
Die schwarzen Ränder rechts und links von Matuscheks Augen flossen honigzäh ineinander, blendeten seinen Blick, badeten die Pupillen in völliger Finsternis. Die Schwäche in seinen Gliedern war frostig, und der bohrende Schmerz in seinem Kopf war heiß und glühend.
Niemals hätte Matuschek vermutet, dass Vergessen so langsam und schmerzhaft sein könne. Und damit, irgendwann, verstummten seine Gedanken.
»Ihr letzter Situationsbericht hat im Präsidialpalast eine gewisse Unruhe hervorgerufen.
Man vermisst eine optimistische, richtungsweisende Grundhaltung. Man fragt sich, ob der immense Etat des Instituts für Psychoforschung wirklich nur dazu ausreicht, Schwarzmalerei und Fatalismus zu verbreiten.
Im Vertrauen: Der Minister für Sicherheit plädiert dafür, das Personal einer Überprüfung zu unterziehen. Sie verstehen?«
»Bisher hielt ich es für meine Aufgabe, die Regierung sachlich zu informieren. Ich wusste nicht, dass man nur positive Daten verlangt, Koordinator.«
»Selbstverständlich legt die Regierung Wert auf Fakten, doch sie erwartet auch Lösungen oder zumindest Lösungsvorschläge, Strategien und Pläne.«
»Lösungen? Vorschläge? Strategien? Wofür? Wie man verhindern kann, dass auch in Zukunft die Zahl der Geisteskranken wie bisher um jährlich dreißig Prozent zunimmt? Wie man acht Millionen Bürger von akuten Psychosen heilen und darüber hinaus mindestens zwanzig Millionen vor seelischen Zusammenbrüchen bewahren kann?«
»Wir verlangen keine Heilung. Wir verlangen nur loyales Verhalten. Uns interessiert nicht, ob jemand gesund oder krank ist. Uns interessiert, ob er funktioniert.«
»Ich verstehe.«
In der Zelle war es still. Soweit Matuschek wusste, war es in jeder Zelle des Geschlossenen Traktes still. Man hörte nichts. Niemals einen Laut. Und selbst das Pochen des Herzens erreichte nicht die Ohren, sondern wurde verschluckt, irgendwo in Schulterhöhe absorbiert, oder am Kinn, der Lippe, der zittrigen Nasenspitze.
Alle vier Stunden öffnete sich über dem niedrigen, quadratischen Tisch, der neben dem Spülstein stand, die weiß gestrichene Kunststoffklappe und rülpste ein Pappschälchen mit Nährbrei vor den allzeit bereit liegenden Hartgummilöffel.
Der Nährbrei schmeckte schlecht, nach Staub und verbrauchter Luft, Tabakdunst und Rotz. Niemand mochte ihn. Auch Matuschek nicht. Aber man musste ihn essen. Bissen für Bissen, einen Löffel grünen Schleims nach dem anderen auf den widerstrebenden Gaumen schmieren. Man musste das Schälchen auskratzen, mit der Zungenspitze den Boden sauberlecken und jeden achtlos verspritzten Breitropfen aufschlürfen.
Zu Beginn hatte sich Matuschek geweigert, und die Pfleger und Sicherheitsbeamten schnallten ihn auf seinem Bett fest, bohrten einen durchsichtigen Schlauch in seine Vene und ließen ihn allein. Matuschek wartete bewegungslos und verängstigt, wartete und dachte und sah den perligen Tropfen zu, die in seinen Arm hineinkullerten. Er begann die Tropfen zu zählen, atmete im Rhythmus ihrer Bewegungen. Er zählte und atmete und grübelte, bis auch seine Gedanken nur kleine Tropfen waren, die eine unsichtbare Kanüle in seine Gehirnwindungen hineinpresste.
Matuschek summte ein Lied. Die Melodie war falsch und holprig, seine Stimme rau und schief, aber das spielte keine Rolle. Matuschek summte, und es tat gut.
We shall overcome …
Die Tür öffnete sich. »Diese Melodie steht auf dem Index«, erläuterte Doktor Rescor. Sein kahles Wachsgesicht lebte nur durch die Bewegungen der Pupillen.
»Das ist mir gleichgültig«, entgegnete Matuschek ruhig.
»Aber Sie wissen, dass jede Ihrer Tätigkeiten und Reaktionen aufgezeichnet wird und als belastendes Material bei der Urteilsverkündung des Regionalgerichtes herangezogen werden kann!«
»Ja, das ist mir bekannt.«
Rescor schüttelte den Kopf. »Sie brauchen nicht zu hoffen, dass man Ihre Krankheit als mildernden Umstand wertet.«
»Ich bin nicht krank!«, widersprach Matuschek.
»Ein Irrtum!«
»Ich bin gesund!«
»Eine Lüge!«
»Sie, Doktor Rescor, Sie sind krank!«
»Eine Verleumdung!« Rescor stemmte die Arme in die Hüften und starrte Matuschek kalt und ohne sichtbare Empörung an. »Was versprechen Sie sich davon?«
»Nichts«, murmelte Matuschek. »Nein, nichts.«
»Warum behaupten Sie es dann?«
»Weil es so ist!«
»Eine Wahnvorstellung!«
Matuschek schwieg.
Rescor ließ sich ächzend auf den lehnenlosen Stuhl vor dem Esstisch nieder, beobachtete Matuschek. »Wie viele Jahre Arbeitslager erwarten Sie?«
»Ich habe keine Erwartungen.« Matuschek suchte mit Augen die kahle Wand ab. Kein Lichtfleck?, wunderte er sich. Keine Fragen?
»Hoffnungen? Wünsche?«
»Nein.«
»Angst?«
Matuschek presste die Lippen aufeinander. Rescor entzündete befriedigt eine Zigarette. Wie ein Vulkankrater kurz vor der Eruption dampfte sein Mund blauschwarz Rauchschwaden aus. »Selbstverständlich haben Sie Angst Matuschek. Sie müssen Angst haben! Sie kennen die Arbeitslager, die Verhältnisse, die dort herrschen, die Gewalt, den Schmerz, die Verzweiflung. Zwanzig Jahre sind die Höchststrafe, Matuschek. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Niemand überlebt sie.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Matuschek zornig. »Bereitet es Ihnen Freude, andere Menschen zu quälen?«
Rescor klopfte die Asche auf den Boden, verrieb sie mit den Sohlen seiner flachen Schuhe, bis nur noch ein verschwommener, grauer Schleier das kalkige Weiß des Kunststoffbelages beschmutzte.
»Nein, ich erfülle nur meine Pflicht! Nur meine Pflicht, Matuschek!«
»Was wollen Sie dann? Reden Sie schon! Oder lassen Sie mich allein!«
»Wir planen ein Experiment!«, sagte Rescor.
»Ein Experiment?«
»Ein Experiment. Vielleicht hilft es uns bei der Lösung eines gefährlichen Problems.«
»Was gehen mich Ihre Probleme an?«
»In den letzten Jahren«, fuhr Rescor unbeirrt fort, »haben sich unter der Bevölkerung der sechs Unionstaaten neurotische und psychotische Symptome seuchenartig verbreitet. Nervenzusammenbrüche, Verbrechen und unkontrollierte Ausbrüche von Gewalt beschäftigen Polizei und Ärzteschaft in einem Maße, dass der normale Ordnungs- und Gesundheitsdienst zusammenzubrechen droht.
Offenbar macht sich der Schock der schon ein Jahrzehnt zurückliegenden Reaktorkatastrophe erst jetzt richtig bemerkbar. Während der Zeit der Entbehrungen, der Millionen Toten und Siechen und des Zusammenbruchs der Alten Ordnung verdrängten die Menschen noch das Grauen, den seelischen Schmerz, aber nun, wo alles vorbei ist und Ruhe und Ordnung eingekehrt sind, nun beginnen sie, den unterdrückten Schrecken zu fühlen.«
Matuschek lachte humorlos. »Glauben Sie eigentlich, was Sie da sagen, Doktor Rescor?«
Der Chefanalytiker runzelte indigniert die Stirn. »Sie meinen?«
»Finden Sie nicht auch die Möglichkeit wahrscheinlicher, dass diese Welle neurotischer Erscheinungen nur die Reaktion der menschlichen Psyche auf eine unerträgliche, existenzbedrohende Situation darstellt? Dass nicht der Reaktorunfall, sondern die beklemmende politische Realität Ursache der krankhaften seelischen Veränderung ist?«
Rescor lächelte überlegen. »Verzeihen Sie, dass ich das Gespräch wieder in seine ursprüngliche Bahn lenke, aber absurden Unterstellungen bringen uns nur vom Thema ab!«
Er will es nicht hören!, dachte Matuschek. Nicht hören, sehen, nicht denken und nicht glauben! »Sie sind eine Maschine, Rescor«, stellte Matuschek nüchtern fest. »Sie reagieren nur auf Knopfdruck. Sie sagen nur das, was man Ihnen einprogrammiert. Ihr Kopf ist leer wie ein gelöschter Datenspeicher.«
»Sie sind krank, Matuschek«, erwiderte Rescor. Er hielt den abgebrannten Zigarettenstummel unter den Wasserkran, wartete ohne Eile, bis ihn der dünne, trübe Strahl durchnässt hatte. Er drehte sich um, erklärte: »Das Institut für Psychoforschung wurde von der Unionsregierung beauftragt, ein Mittel gegen die lawinenartig anwachsenden Krankheitsfälle zu finden.
Das brachte Schwierigkeiten mit sich.
Unsere Neue Psychiatrie steckt noch in den Kinderschuhen, seelisches Fehlverhalten wurde bislang durch die Verabreichung von Psychopharmaka gedämpft. Solange die Zahl der Erkrankten niedrig war, halfen sie ausgezeichnet und erbrachten akzeptable Ergebnisse. Aber seit kurzen haben wir Millionen Patienten, die nur unter dem Einfluss von Drogen funktionieren und arbeiten können. Ein rapider Abfall der Produktionsziffern, ein kaum finanzierbarer Anstieg der Ausgaben für die medizinische Versorgung und eine Beeinträchtigung des Wirtschaftswachstums infolge von Millionen ausgefallener Arbeitsstunden sind die Resultate.«
»Mit anderen Worten«, ergänzte Matuschek gelassen, »Sie sind hilflos.«
»Nicht ganz, Matuschek!«, verbesserte Rescor. »Denn wir waren nicht untätig, und die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, haben weitreichende Forschungsprojekte ermöglicht. Und eines dieser Projekte erscheint Erfolg versprechend.«
»Warum dann ein Experiment?«
»Sehen Sie, Matuschek, Wahnsinn ist ein dialektischer Prozess.
Extreme Stresssituationen oder Schocks belasten das Bewusstsein, wirken auf das Unterbewusste und rufen dort verdrängte Ängste wach. Es entsteht ein enormer psychischer Druck, der auf das gesamte Körpersystem zurückschlägt und – je nach den spezifischen Inhalten der seelischen Belastung – bestimmte hormonelle Prozesse einleitet. Der Hormonhaushalt des Körpers verändert sich, was wiederum die Tätigkeit des Gehirns in Mitleidenschaft zieht.
Kurz, Wahnsinn entsteht, wenn äußere Reize verdrängte Ängste hervorrufen, deren psychischer Druck den Hormonhaushalt derart verändert, dass das Gehirn nicht mehr normal funktionieren kann.«
»Verändern Sie die krankmachende Umwelt, dann heilen Sie auch die Kranken!«, forderte Matuschek.
»Der Schlüssel zur Lösung des Problems«, führte Rescor kühl aus, »liegt also in der Kontrolle des hormonellen Gleichgewichts. Verhindern wir beispielsweise eine Über- oder Unterproduktion von Serotonin oder Noradrenalin, verhindern wir auch seelisches Fehlverhalten!«
Natürlich!, dachte Matuschek deprimiert. Sie beseitigen nur die Symptome, nicht die Ursachen. Sie verdrängen, dass sozialer und politischer Wahnsinn zwangsläufig auch zu individuellem psychischen Wahnsinn führen muss.
»Um jedoch die Hormonproduktion zu kontrollieren, benötigen wir Daten darüber, welche Konzentration hormoneller Stoffe zu welcher Psychose führt. Beweist sich unsere Vermutung, dass Schizophrenie durch zu viel Aminooxydate im Gehirngewebe verursacht wird – entstanden durch ein psychotisches Unterbewusstsein –, dann brauchen wir nur Lithiumkarbonat zu injizieren, der Aminooxydatspiegel sinkt, und die Schizophrenie verschwindet.
Und genau so könnten wir dann auch sämtliche anderen seelischen Erkrankungen heilen!«
Oder, durchfuhr Matuschek eine beängstigende Vision, oder ihr könntet den Menschen steuern und seine Gefühle und Triebe kontrollieren, ihn demütig und gehorsam machen, sodass er glücklich für euch arbeitet und zufrieden zwischen ineinander zu schraubenden Fertigteilen am Fließband endet.
»Wir haben Massentests vorgenommen«, berichtete Rescor. »Zehntausende von Patienten analysiert, vermessen, umgekrempelt. Aber die Ergebnisse waren zu dürftig, um exakte Rückschlüsse zu erlauben.
Zufällig stießen wir dann auf das Ruthland-Prinzip. Glücksfall, ein Überrest einer anderen Versuchsreihe, zuerst unbeachtet, nicht ernst genommen, schließlich neu entdeckt und fortentwickelt.
Das Ruthland-Prinzip besagt, dass künstlich dem Bewusstsein aufgepfropfte Psychosen vorübergehend die gleichen hormonellen Veränderungen erzeugen können wie Bewusstseinstrübungen, die auf natürliche Weise durch ein Versagen der unterbewussten Abwehrmechanismen entstehen.
Wir griffen den Gedanken auf, bauten eine Apparatur, verbanden sie mit einem Computer, einem hochempfindlichen Gerät.
Diese Apparatur ist in der Lage, gezielt alle bisher bekannten Geisteskrankheiten zu simulieren. Wir lassen das Unterbewusste unangetastet, bemächtigen uns nur der bewusst gefühlten Ängste. Erkennen Sie die Bedeutung, Matuschek?
Wir schließen Sie an diese Maschine an, drücken auf Knöpfe, und plötzlich explodiert Ihr Gehirn! Selbst die geringsten, den Fesseln des Abwehrmechanismus entflohenen psychotischen Gedankenspritzer schwellen zu Ozeanen an. Angst wird zur Überangst, bestimmt Ihr Denken und das Bild Ihrer Umwelt, wie Sie es sehen!
Matuschek, die Konsequenzen, die Konsequenzen! Jeder Mensch trägt einen brodelnden Kessel mit sich herum, in dem alle potenziellen Deformationen der Seele warten und kochen und warten. Wir öffnen den Deckel nicht, aber wir bemächtigen uns des Ventils, zapfen Dampf ab, reichern ihn an, und Ihre Hormone tanzen und kreisen, zeigen uns, was wir unternehmen müssen, um Paranoia, Katatonie, Phobien und alle Psychosen durch hormonelle Verringerung oder Vermehrung zu heilen!«
Matuschek fröstelte, musterte Rectors ausdrucksloses Gesicht. »Ich werde mich weigern!«, flüsterte Matuschek. »Ich werde mich wehren, werde kämpfen …«
Rescor schmunzelte, blähte die Nasenflügel, strich über seine dünnen Augenbrauen. »Sie sind machtlos, Matuschek«, erinnerte er ihn freundlich. »Sie sind in unserer Hand. Sie müssen gehorchen.«
Noch viele Stunden später – als er schon längst nicht mehr den Hals des Chefanalytikers mit beiden Händen wie ein Stück feuchten Tuches auswrang – gellte Rescors Geschrei in Matuscheks Kopf. Die Gummiknüppelschläge der eilig hinzu gestürzten Sicherheitsbeamten bemerkte er nicht einmal.
»Haben Sie Fortschritte gemacht?«
»Ich denke, wir sind auf dem besten Weg, Koordinator. Sie haben die Drucksache Nummer Sieben gelesen?«
»Das Ruthland-Prinzip?«
»Ja. Im Institut stehen wir kurz vor der experimentellen Anwendung!«
»Und Ihre Prognose?«
»Nach den Hochrechnungen der Nationalen Datenbank dreiundsechzig Prozent.«
»Das ist ein wenig dürftig!«
»Es handelt sich um ein vielschichtiges Problem.«
»Trotzdem! Die Schwierigkeiten nehmen tagtäglich zu! Wenn nicht bald etwas geschieht, machen sich die Unzufriedenheit und die Angst der Bevölkerung gewaltsam Luft! Das darf nicht geschehen! Noch ist die Regierung zu wenig gefestigt!«
»Aber wir benötigen Zeit …«
»Die haben Sie. Im Rahmen des Erträglichen natürlich! Das Soziologische Institut hat bereits eine Breitenkampagne vorbereitet, um von den Problemen abzulenken.«
»Welcher Art, Koordinator?«
»Die Raumfahrt! Wir machen die Raumfahrt wieder populär!«
»Ah, unendliche Weiten, Heldentum, die wartenden Sterne …«
Matuschek saß in einem bienenemsig surrenden Rollstuhl, geschnürte Hände, geschnürte Brust, und wurde von Sicherheitsbeamten durch die Korridore geschoben.
»Wohin?«, fragte Matuschek.
Keine Antwort.
Matuschek bewegte sich, rüttelte gegen die Armlehnen. Warnend zuckte der bläuliche Entladungsblitz einer Elektropeitsche an seinem Kinn vorbei. Die Luft roch nach frischgefrästen Metallspänen. Matuschek saß still.
Die schwarzgestrichene Aufzugkabine wirkte wie ein Plastiksarg. »Nach unten?«, fragte Matuschek.
Ja, nach unten. Matuschek schloss die Augen, döste die Unruhe hinweg. Der Lift stoppte, stieß ihn und seinen Rollstuhl in einen der breiten Zentralkorridore, vorbei an gläsernen Türen, runden Tunneleingängen und gelbgrünen Pflanzenkästen, deren Gewächse sich hungrig den grellen Leuchtplatten entgegen reckten.
Im Labor herrschte mildes Licht.
Rescor rauchte wieder, grinste nikotingelb. »Die Wissenschaft benötigt viele Diener«, murmelte er zusammenhanglos. Die Würgemale an seinem Kehlkopf schillerten rötlich.
Tribeau befestigte einen drahtdünnen Metallreifen an Matuscheks Stirn, spickte ihn mit Elektroden und Sonden, verstellte am Diagnoster einige Schieberegler, legte Schalter um.
Klack! Klack! Klack!
Es klickt wieder in mir, dachte Matuschek furchtsam. Und obwohl der blitzende Kranz an seiner Stirn bald warm und schmiegsam war, zitterten Matuscheks Lippen.
»Alle Systeme positiv!«, verkündete Tribeau erfreut.
»Ich habe Kopfschmerzen!«, sagte Matuschek heiser. »Himmel, mir zerspringt der Schädel!«
»Kein Grund zur Besorgnis«, beruhigte Rescor souverän. »Eine völlig ungefährliche, normale Nebenerscheinung!« Er drehte den Kopf, gab Tribeau ein Zeichen. »Wir beginnen!«
Matuschek spannte die Muskeln an, wartete – worauf? In den Gesichtern der Analytiker glänzte atemlose Spannung.
Rescor, Tribeau, das Labor, der Diagnoster, sie zerflossen.
Klick!
Matuschek überprüfte wiederholt die Berechnung des Bordcomputers. Konnte es tatsächlich möglich sein? Ein Fehler? Jetzt? Hier draußen? In dieser entscheidenden Phase?
Es war nur eine winzige Abweichung, nicht einmal ein tausendstel Grad, aber bei den Entfernungen …
Wie war das nur möglich? Ein Versehen? Menschliches Versagen? Oder … oder wenn jemand die Koordinaten von Epsilon Eridani gefälscht hatte …?
In seinen Achselhöhlen fühlte Matuschek feuchtwarmen Schweiß kochen.
Aber wer? Eine derartige Manipulation des Flugprogramms konnte man nur an Bord vornehmen.
Wer?
Rescor? Unwahrscheinlich. Der Mediziner verstand nicht genug von elektronischen Systemen.
Blieb also nur – Tribeau! Der Techno! Matuschek ballte seine Hände zu Fäusten. Er hätte gleich darauf kommen müssen!
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen.
Jene seltsamen, lauernden Blicke … Seine Nervosität … Seine schleichenden Schritte, die Schweigsamkeit, das schabende Husten … Der scharfe, schneidende, höhnische, hinterhältige Ton seiner Stimme … Die hämischen Gesten … Die meuchelnde Nase … und harte Augen, keine Gefühle außer Hass.
Matuschek verspürte eine panische Furcht, eine Hilflosigkeit, als sei er ein ängstlich strampelndes Insekt in dem unsichtbaren Netz einer metamorphierten Spinne.
Aber – was bezweckte der Techno damit? Was hatte er vor? Warum versuchte er zu verhindern, dass die Expedition Eps~Eridani erreichte? Nur ein Irrsinniger konnte beabsichtigen, das Forschungsschiff ziellos in den interstellaren Raum treiben zu lassen, ohne Treibstoffvorräte, ohne die Chance zur Rückkehr, verloren und verschollen für alle Zeiten … Nur ein Irrsinniger …
Die Erkenntnis ließ ihn aufstöhnen. Matuschek sah, dass seine Finger zitterten. Was tun?, hasteten seine Gedanken. Wie reagieren? Das Herz in seiner Brust schien eisumpanzert.
Rescor! Rescor musste ihm helfen! Er musste helfen, Tribeau zu überlisten. Er musste ihm eine Spritze geben, ihn zum Reden zwingen … Rescor! Wo war Rescor?
Matuschek schaltete die Rundrufanlage ein, bemühte sich, seiner Stimme einen gelangweilten Klang zu geben, murmelte Rescors Namen in das Mikrofon.
Keine Bestätigung.
Was war geschehen? Was war nur geschehen?
Mein Gott! Das durfte nicht sein! Hatte etwa Tribeau Rescor beseitigt? Ahnte der Saboteur etwas von seiner, Matuscheks Entdeckung? Wenn ja, dann …
Angst wuchs. Panik. Steinschwere, gelähmte Glieder, verspannte Muskeln, rauschendes Blut.
Matuschek zuckte zusammen.
Durch das geöffnete Schott schlich Tribeau gebeugt, den Rücken kichernd geknickt, in die Kommandozentrale. In der rechten Hand hielt er einen kleinen Laser.
Matuschek schluckte. »Was soll das? Was hat das zu bedeuten?«, fragte er unsicher.
Tribeau lächelte. Er lächelte nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, den Wangen. Tribeau lächelte Angst aus. Der Laser zielte auf Matuscheks Brust.
»Rescor!«, kreischte Matuschek, warf sich in den Schutz des Steuerpultes. »Rescor! Helfen Sie mir! Um Gottes willen, helfen Sie mir!«
Hinter Tribeau erschien ein dünner Schatten. Rescor! Endlich! Er hatte seinen Hilferuf gehört. Rescor war da. Alles würde sich zum Guten wenden. Der alte, tapfere Rescor!
Rescor tippte Tribeau auf die Schulter. Seine Stimme schmerzte, klang blechern, schneidend. »Sollen wir ihn sofort erschießen oder« – er entblößte sein spitzes Gebiss, grinste obszön – »oder sollen wir uns vorher mit ihm vergnügen?« Das Skalpell glänzte wie brennendes Magnesium. »Du weißt, ich liebe es, wenn sie schreien, wimmern …«
Klick!
»Organischer Befund – innerhalb der Belastungsgrenze. Kreislauf etwas flatternd, stabilisiert sich aber rasch. Blutdruck hoch.« Tribeau beugte sich ein wenig über den Diagnoster. »Die Restabilisierung des Hormonhaushaltes erfolgte sofort nach Beendigung der elektronischen Reizung … Die Auswertung läuft noch, aber die Daten sind – soweit man im Moment erkennen kann – klar und deutlich.« Er sah zu Rescor hinüber. »Der Computer rechnet das gerade durch. Sollen wir weitermachen, oder …«
Der Chefanalytiker schnippte ungeduldig mit den Fingern.
»Worauf warten Sie noch?«
Tribeau senkte die Hand.
Klick!
Matuschek lauschte auf die Geräusche seines Körpers, das schlurfende Atmen, das Pulsieren des Blutes, das Tickern des Herzens. Vorsichtig stemmte er seine Handflächen gegen die direkt über seinem Gesicht befindlichen Holzplanken, drückte mit aller Kraft, stöhnte, ächzte, trank den Schweiß seiner Haut.
Vergeblich. Fest, unverrückbar fest, genietet, genagelt, versiegelt, und zwanzig Meilen Beton darüber aufgeschüttet.
Matuschek konnte sich nicht bewegen. Die Enge schnürte ihm die Kehle zu, stach in seinem Kopf. Luft! Atmen! Er brauchte Luft! Die Enge presste seine Gedanken zu Brei.
Matuschek fühlte den Druck auf seinem Körper wachsen, fühlte all die Millionen Tonnen Gewicht seine Brust zerdrücken, zerstampfen.
Er konnte es nicht mehr ertragen! Dieser Schmerz, diese Qual …
Matuschek wollte schreien, um Hilfe rufen, aber irgendetwas plättete seine Kehle, zerrieb seine Stimmbänder, quetschte ihn staubfein, machte ihn wortlos, wehrlos.
Klick!
»Diese Simulation müssten wir eventuell wiederholen«, sagte Rescor nachdenklich. »Die Werte sind ein wenig verschwommen.«
»Es ist ziemlich ungefährlich …« Tribeau überflog konzentriert die eng bedruckte Computerfolie, die in den Auswurfschlitz des Terminals gerutscht war. »Matuscheks Ego-Welt greift allmählich Besitz von seinem Körper. Erstaunlich, diese Sensibilität! Wenn wir die Energiezufuhr erhöhen, müssen wir einen psychosomatischen Rückschlag befürchten. Und ob das der Abwehrmechanismus des Unterbewusstseins übersteht …? Schauen Sie sich seine Haut an! Dort, die blassen Druckstellen! Sie verschwinden allmählich, aber eben haben sie fast die ganze Brust bedeckt!«
Rescor begab sich zu Tribeau, studierte die Skalen, die Diagramme. »Warten Sie einen Moment«, befahl er Tribeau. »Ich werde mit dem Sektionsanalytiker sprechen!«
Matuschek atmete hart und schnell. Zäh und träge krochen seine Gedanken.
Irgendetwas ging hier vor! Wo waren seine Erinnerungen?
Verblasst, ausgebleicht, übertüncht …
»Der Minister für Volksaufklärung ließ heute Morgen nach Ihren Ergebnissen fragen.«
»Alle Ministerien werden von uns fortlaufend über den neuesten Stand der Forschungen informiert!«
»Es war kein Vorwurf.«
»Ich habe Ihre Bemerkung auch nicht als solchen aufgefasst, Koordinator.«
»Der Minister für Volksaufklärung hegt die Vermutung, dass das Projekt P ein Fehlschlag ist. Er erwartet, dass das Institut sich mehr auf die erfolgversprechenderen Untersuchungen der Ptyramon-Derivate konzentriert.
Eine rasche, wirksame, lenkbare Kontrolle der Bevölkerung durch bewusstseinsdirigierende Psychopharmaka erscheint auch dem Präsidialpalast vordringlicher.«
»Wir arbeiten mehrgleisig, Koordinator. Unsere Erkenntnisse über Ptyramon reichen noch nicht aus, um sie in einem Großversuch einzusetzen. Und was das Projekt P betrifft, so kann wohl niemand verlangen, nach einer derart kurzen Anlaufzeit exakte Resultate zu erhalten!«
»Ich verstehe. Ich warte.«
Klick!
Matuschek stand am Rande der Schlucht, starrte nach unten, auf die schroffen Felsnadeln, die narbigen Kamine, die Vorsprünge und die mager bewachsenen Terrassen, auf den in der Ferne des Tales stumm dahinwirbelnden Wildbach.
Ein dämmriger Abend, kalt wie Matuscheks Gedanken. Ein fauchender Winterwind, frostig wie Matuscheks Gefühle. Das hohle Weinen einer Bö, hoffnungslos wie Matuscheks Hoffnungen. Es muss also so sein!, dachte Matuschek. Wenn nicht die Sterne fallen und der Boden einstürzt, dann muss der Mensch fallen und zu Boden stürzen. Das ist Wahrheit, das ist Schicksal.
Eine Träne tropfte aus seinem rechten Auge, gefror zu einem starren Kügelchen.
Die Felsen nickten Matuschek zu.
Ich lasse alles zurück!, sagte sich Matuschek. Ich lasse alles hinter mir! Die Trauer, den Schmerz, die Furcht, die Qual. Ein Schritt, ein tiefer Fall.
Von dem Gipfel eines nahen Bergriesens glotzte stumm der Mond auf Matuschek herab.
Der einzige Ausweg!, überlegte Matuschek. Die einzige Möglichkeit, dem Versagen und den Sorgen, der allesfressenden Verzweiflung zu entkommen. Ein kurzes Rauschen in der Luft und vorbei und vorbei. Matuschek hob den Fuß.
Klick!
»Im letzten Moment!«, seufzte Tribeau sorgenvoll. »Und das bei fünfzigprozentiger Energiedrosselung! Wenn dieser verdammte Computer …«
»Beherrschen Sie sich, Tribeau!«, verlangte Rescor ausdrucklos. »Es hat nichts mit dem Computer zu tun. Er funktioniert einwandfrei. Ich vermute eher, mit Matuschek stimmt etwas nicht!«
Matuschek?, dachte Matuschek. Ist er nicht …? Tot? Tot? Wie komme ich auf tot? Ich bin Matuschek. Matuschek lebt! Warum denke ich, er/ich sei tot? Warum?
»Sollen wir abbrechen?« Tribeau schien überrascht. »Der Diagnoster kann keine Abweichungen feststellen!«
»Nein, selbstverständlich brechen wir nicht ab! Der Sektionsanalytiker hat uns freie Hand gegeben. Vorrang hat das Projekt, insbesondere bei politischen Verbrechern. Sie kennen das ja!«
»Aber trotzdem … Matuschek ist ein gutes Testmaterial. Wir wollen ihn nicht leichtsinnig gefährden!«
»Was ergibt die Hormonspiegelung?«
Tribeau drückte einige Knöpfe, verschob einige Schiebereg1er. »Die Regenerierung ist dieses Mal langsamer erfolgt als bei den ersten beiden Versuchen«, erklärte er nervös. »Aber das war zu erwarten.
Die Belastung liegt nach wie vor innerhalb der Toleranzgrenze. Und bis auf starke Erregungszustände im vegetativen Nervensystem funktioniert der Organismus normal.«
Rescor machte eine auffordernde Geste.
Klick!
»Du bist enttarnt, Matuschek!«, sagte der mittlere Schatten.
Matuschek zitterte, wich zurück, Hände und Stirn kalt vor Entsetzen.
»Leugnen nützt dir nicht, Matuschek!«, bemerkte der rechte Schatten.
»Leugnen verschlimmert deine Lage, Matuschek!«, schloss sich die linke nachtdunkle Gestalt genüsslich an.
»Du bist enttarnt, Matuschek!«, wiederholte der mittlere Schatten.
Die Wand in Matuscheks Rücken war dornig und abweisend, zerkratzte seine Haut und biss wie mit Feuer in seine Nervenenden.
»Ich bin unschuldig!«, stammelte Matuschek. Die Feuchtigkeit in seiner Mundhöhle verdunstete.
Langsam, überlegen traten die Schatten näher.
Keine Gesichter!, bebte Matuschek. Mein Gott, wo sind ihre Gesichter?
»Unschuldig?«, höhnte der Mittlere.
»Un-schuldig?«, äffte der Linke Matuscheks Worte nach.
»Sieh dich an, Matuschek!« gellte der rechte Schatten.
»Sieh an dir hinunter, Matuschek!«
Matuschek klappte seinen Kopf nach vorn. Matuschek erstarrte.
Nackt!
Nackte, unbekleidete, fischbleiche Haut. Und auch dort – Mutter, auch dort war er nackt!
Matuschek sank zusammen. Hunderttausend Finger deuteten auf ihn, hunderttausend Münder grinsten, lachten, lachten ihn aus.
»Unschuldig?«, geiferte der riesige, wackelnde Schatten über ihm. »Unschuldigunschuldigundschuldigundschuldig. Und schuldig!«
Matuschek schluchzte vor Angst und Scham, verbarg vor den schielenden, wispernden Augen.
»Es ist doch nicht schlimm!«, schrie er. »Es ist doch ein Teil mir! Dann kann es doch nicht schlimm sein! Verstehst du denn nicht?«
Matuschek krümmte sich, tastete an seiner Nacktheit lang, tastete tiefer.
»Fass es nicht an!«, brüllte der Schatten. »Es ist Sünde! Schmutz und Dreck!«
Matuscheks kleine, kraftlose Hand schabte an seiner Bauchdecke, schabte …
»Fass es nicht an!«, kreischte der Schatten, pulsierend vor Hass.
Matuschek ergriff …
Allgegenwärtige, brodelnd auf ihn eindringende Wut erstickte seine Stimme, und die mageren, rot lackierten Klauen des Schattens legten sich um Matuscheks Kehle, gruben sich rasierklingenscharf in das Fleisch.
Klick!
»Sind Sie verrückt geworden, Tribeau?«, rief Rescor zornig. »Was soll dieser Unsinn? Wollen Sie meine Arbeit sabotieren?«
Tribeau stand fassungslos vor dem hektisch summenden und blinkenden Diagnoster. »Es … Ich …«, stammelte er.
Mit einem groben Fluch stieß ihn Rescor beiseite und hantierte an der Steuerung.
Matuschek bemerkte erstaunt, dass aus unzähligen kleinen Wunden an seinem Hals eine warme, klebrige Flüssigkeit tropfte und seine Kleidung dunkelrot verfärbte. Was war geschehen? Was hatte man mit ihm gemacht?
Aus dem Diagnoster schob sich ein biegsamer Tentakelarm und reinigte mit dem wattierten Ende behutsam die fingertiefen Schnitte, sprühte einen Wundverband auf. Dann bohrt sich eine Spritze in seine Vene. Sofort wurde Matuschek ruhig und schläfrig.
Tribeau griff sich an die Stirn. »Unglaublich!«, entfuhr es ihm.
Rescor schnaubte. »Ersparen Sie mir Ihre Kommentare!«, schnauzte er mürrisch. »Wer hat Ihnen erlaubt, das Programm zu ändern und die unterbewussten Körpertabus zu reizen? Nacktheit, oder?« Der Chefanalytiker las den Computerbericht auf dem Monitor. »Auch das noch! Eine sexuelle Neurose! Wollten Sie die Testperson umbringen? Sie wissen doch genau, dass der Energieausstoß der Anlage nur deshalb so hoch ist, weil psychotische Bewusstseinstrübungen simuliert werden! Eine derart intensive Reizung tatsächlich vorhandener Neurosen führt automatisch zu einem Rückschlag auf das Körpersystem!
Da! Sehen Sie sich Matuschek an! Seine übermächtig werdenden Schuldgefühle hätten ihn fast umgebracht! Wir können von Glück reden, dass es uns rechtzeitig gelungen ist, die Energiezufuhr zu stoppen!«
»Aber mir ist das unbegreiflich!«, rechtfertigte sich Tribeau hilflos. »Die Einstellung der Instrumente zeigt einwandfrei, dass der Computer dem Patienten eine Aerophobie vorgaukeln sollte. Furcht vor weiten Räumen! Und nicht diesen Nacktheitskomplex!«
Rescor hörte nicht einmal zu. »Machen Sie sich nicht noch lächerlich!« fauchte er. »Das ist unmöglich! Schließlich war ich an der Entwicklung des Geräts selbst beteiligt!« Er machte eine dozierende Gebärde. »Der Computer überschüttet das Bewusstsein mit bestimmten Reizen und Impulsen, die je nach Wahl eine bestimmte Psychose hervorrufen. Wenn Sie Schizophrenie simulieren, dann wird die Testperson schizophren und nicht manisch-depressiv. Allein aus diesem Grund – allein weil wir Psychosen simulieren, das Unterbewusstsein aber unangetastet lassen – können wir mit einer so hohen Energieleistung arbeiten!
Wenn wir aber den Abwehrmechanismus des Unterbewusstseins zerstören und die dort tatsächlich vorhandenen, bislang eingesperrten Psychosen anregen, dann benötigen wir einen Bruchteil dieser Energie. Andernfalls« – Rescor verschränkte die Arme – »andernfalls wird das Unterbewusstsein überladen, übernimmt die Kontrolle, und eine Panikwelle überflutet den Organismus und sorgt schlussendlich für dessen Selbstzerstörung.«
Tribeau duckte sich. »Ich finde keine Erklärung«, gab zögernd zu.
Der Chefanalytiker blickte zu Matuschek. »Wie fühlen Sie sich?«
Matuschek lauschte dem Klang der Stimme nach. Fühlen?, fragte er sich. Fühlte er sich denn? »Ich fühle nicht«, stellte gleichmütig fest. »Nein, ich fühle nicht.«
»Der Diagnoster …«, begann Tribeau, aber Rescor winkte unwirsch ab. »Machen wir Schluss für heute!« entschied er. »Das Beruhigungsmittel verfälscht ohnehin alle Messungen.
»Die Lage spitzt sich zu.«
»Unsere Bemühungen …«
»Ihre Bemühungen finden die ihnen zustehende Beachtung. Aber man ist ungehalten über die aufgetretene Verzögerung.«
»Es ist der erste Versuch. Schwierigkeiten sind nur natürlich.«
»Ich widerspreche. Schwierigkeiten sind vermeidbar. Vielleicht haben Sie die falsche Testperson?«
»Nicht sehr wahrscheinlich. Die psychologischen Untersuchungen …«
»… sind mir bekannt. Deshalb vermute ich auch, dass das Experiment von den falschen Voraussetzungen ausging.«
»Sie meinen?«
»Ich meine, die Maschine taugt nicht für den geplanten Zweck. Der Versuch, Geisteskrankheit zu simulieren, um dadurch etwas über krankheitsauslösende Hormonveränderungen zu erfahren, ist fehlgeschlagen. Nach den Berichten zu urteilen, wurden nur latent vorhandene Symptome verstärkt.«
»Aber ein Massentest …«
»Für einen Massentest besteht keine Notwendigkeit mehr. Das Projekt P wird ab sofort eingestellt.«
»Aber …«
»Kein Aber! Wir ändern unsere Strategie. Die Prognosen über den Einsatz des Ptyramon-Derivats Gamma beweisen schlüssig, dass dieses Psychopharmaka ausreicht, um unsere Probleme zu beseitigen.
Ich habe bereits Anweisung gegeben, in der Unterregion Ruhr das Trinkwasser mit Ptyramon-G retard zu präparieren. Wenn die Berechnungen stimmen, dann müssten bereits in ein bis zwei Wochen die seelischen Krankheiten rapide zurückgehen.
Nebenbei dürften damit auch Kritik, Unzufriedenheit und passiver Widerstand der Bevölkerung abnehmen. Sie begreifen? Wir kontrollieren Gefühle …«
»… wir kontrollieren Gedanken.«
Matuschek erwachte, blickte in Rescors Gesicht. Das Licht in der Zelle war trübgelb. »Wie lange habe ich geschlafen?«, krächzte er.
Rescor sah auf seine Uhr. »Nur vier Stunden. Verwunderlich bei der Dosis Barbiturate, die der Diagnoster Ihnen injiziert hat!«
Matuschek erschrak vor seiner diffusen Erinnerung. »Sie wollen mich abholen und …«
»Nein«, schüttelte der Chefanalytiker den Kopf, seufzte entsagungsvoll. »Die Versuche wurden eingestellt. Die Institutsführung und übergeordnete Behörden waren der Meinung, dass wir den falschen Weg beschritten haben. Die Resultate wichen zu stark von den Erwartungen ab.«
Matuschek richtete sich auf, hielt mit beiden Händen den betäubten Schädel. »Und nun?«
Rescor runzelte die Stirn. »Nichts. Das Institut benötigt Sie nicht mehr. Sie werden morgen in die Justizvollzugsanstalt Lyon überführt. Wann Ihre Verhandlung und Aburteilung erfolgt, ist mir nicht bekannt.«
»Mein Kopf«, flüsterte Matuschek. »Mit meinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung! Mit meinem Kopf ist irgendetwas geschehen! Was haben Sie mit mir gemacht? Was haben Sie getan?«
Rescor erhob sich. »Nebenwirkungen«, winkte er ab. »Die vergehen.«
Matuschek schloss und öffnete die Augen. »Mit meinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung«, wiederholte er matt. »Wenn ich mich nur erinnern könnte! Meine Gedanken wirbeln und summen. Ich kann sie nicht einfangen. Es ist so schwer …
Rescor! Sie müssen mir helfen! Sie müssen mich untersuchen! Mein Gehirn – etwas stimmt damit nicht! Ich fühle es! Rescor, ich fühle es!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Matuschek«, beruhigte Rescor ihn geistesabwesend. »Psychopharmaka können vorübergehend das Denkvermögen beeinträchtigen. Das weiß doch jedes Kind! Es ist das Beruhigungsmittel, nichts weiter! Legen sich hin und schlafen Sie. Ihnen steht eine schwere Zeit bevor« Er lächelte ohne eine Spur von Freundlichkeit.
»Rescor!«, schrie Matuschek. »Was geschieht? Was ist? Was …«
Klick!
Der Pfad war schmal und mit glitzerndem Reif bedeckt. Er vibrierte unter Matuscheks Schritten, und seine Füße rutschten immer wieder ab, traten ins Leere. Nebel stieg auf. Der Himmel war sternenlos.
Matuschek hastete den Pfad entlang, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu bewahren. Er hastete und rutschte über die eisigen Steine, unablässig nach hinten äugend und die klammen Hände anhauchend.
Matuschek stockte, blinzelte durch die Nebelschwaden, durch die Angst in seinem Kopf. Der dünne Felsgrat endete, ragte zerbrochen und elend hinaus in die Finsternis.
Hinter sich hörte Matuschek die Geräusche der sich schnell nähernden Verfolger.
Matuschek!, pfiff es.
Der Nebel wurde dichter. Feucht legte er sich auf Matuscheks furchtbrennende Haut.
Matuschek taumelte, sah entsetzt zu Boden. Der Fels löste sich zögernd auf, rieselte raschelnd wie ein sandiger Wasserfall in den Abgrund.
Matuschek!,flüsterte es.
Dann – mit einem Mal – verschwand der Nebel. Matuschek wimmerte. Kichernd krochen die Schlangenleiber heran. Dornenzähne geiferten, sprangen ihm ins Gesicht, bohrten sich in seine Waden.
Klick!
»Rescor!«, schrie Matuschek. »Was machen Sie mit mir?« Um ihn her drehte sich alles, verschwamm.
Ungläubig starrte Rescor auf die fingertiefe Bisswunde in Matuscheks Bein. Das herausquellende Blut bildete bereits eine dickflüssige Pfütze auf dem Boden. Mit einem Satz sprang der Chefanalytiker zur Tür, drückte den Alarmknopf. Aufgeregt wimmerten durchdringende Heultöne.
»Ein Rückfall!«, sagte Rescor fassungslos.
»Wie kann …«
Klick!
Matuschek kroch tiefer zurück in die schmale Ecke zwischen dem Schreibtisch und dem Bücherschrank, presste das feuchte, schwarzverfärbte Taschentuch vor den Mund, hustete und spuckte, die aufgerissenen Augen auf die knackend vorwärts schleichenden Flammen gerichtet.
Die Hitze raubte ihm fast den Atem, versengte die Brauen, die Haare, röstete die Haut schmerzrot, vergloste seine Kleidung, rußte den Verstand.
Matuschek stöhnte.
Die Flammen fauchten triumphierend. Polternd stürzte ein Teil der Decke herab, prallte funkenstiebend auf die brennenden Teppiche, erbrach pechschwarzen, hustenreizenden Qualm.
Noch etwas zögernd bog die Flammenwand um die zerschmolzenen Plastiksessel, stoppte, orientierte sich, entdeckte Matuschek und schleuderte dünne, gelbe Glutzungen gegen seine Brust.
Matuschek kreischte, hieb auf die flackernde Jacke.
Klick!
Matuschek brach zusammen. Von seinem Kopf lösten sich die verschmorten Haare, pappten fest an dem wunden Gewebe seiner Gesichtshaut.
Rescor würgte. Er war grau geworden. »Sanitäter!«, rief er hilflos durch die geöffnete Tür, übertönte die Alarmsirene. »Wo bleiben die gottverdammten Sani …«
Klick!
»Wir kriegen dich, Matuschek!«, drohte das Brotmesser. Es löste sich aus der Besteckschublade des Küchenschranks und taumelte mit kreisenden Bewegungen auf Matuschek zu. Im müden Tageslicht wirkte die Schneide wie rostiges Blech.
»Wir töten dich, Matuschek!«, hechelte die Fleischgabel, hüpfte über den Spülstein, hüpfte knapp an seinem Hals vorbei.
»Wir erschlagen dich, Matuschek!«, höhnte der Fleischklopfer, hämmerte hasserfüllt auf den Kühlschrank, machte einen gewaltigen Sprung, schlug Matuscheks Schienbein wund.
Ritsch!, machte die Schere, klapperte mit ihren Klingen, klapperte und trennte mit einem blitzschnellen Schnitt Matuscheks rechtes Ohr ab.
Ratsch!, machte das Brotmesser, rasierte Matuscheks Kinn, teilte die Haut in Konfettistreifen.
Klick!
Rescor erbrach sich, spie einen seifigen Strahl halbverdauter Nahrung über das zerwühlte Bett, vor dem Matuschek sich wand und krümmte und schreiend die Hand gegen den Ohrstumpf presste.
»Tribeau!«, ächzte Rescor, ergriff den Arm des herbeigeeilten, verwirrt dreinblickenden Analytikers. »Eine Spritze! Eine Beruhigungsspritze! Schnell! Er stirbt! Psychosomatischer Rückschlag … Eine Beruhi…«
Klick!
Keuchend rannte Matuschek über die schwarze, rauchende, endlose Ebene, die Lunge verätzt von den Säuredämpfen, die ihm aus den Kratern entgegenschlugen, rannte und rannte mit gefühllosen Beinen und ohnmächtiger Furcht im zuckenden Herzen, und hinter sich hörte er das Trampeln und Röhren der Verfolger, fühlte das Schnappen ihrer Gelenke und roch die Ausdünstungen ihrer Leiber.
Und obwohl Matuschek mit letzter Kraft, unbarmherzig, paniktrunken, seinen zerschundenen, ausgemergelten Körper vorwärtstrieb, nicht auf seine zerschnittenen Füße und blutig gegeißelten Beine achtete, sondern lief und floh, wie er noch niemals in seinem armseligen, kurzen Leben gelaufen und geflohen war,
wann kommen die Sanitäter
und obwohl
er fluchte und vor Zorn Verwünschungen ausstieß, wütend und hassbebend Drohungen schrie und lief und rannte und floh, Kilometer um Kilometer jener schwarzen, lebensleeren Ebene hinter sich ließ,
die doppelte Dosis schauen Sie ihn sich doch an Sie Idiot und machen Sie schneller
und obwohl
er sich fragte, warum man ihn denn töten wollte und was er denn getan hatte, dass man ihn so unerbittlich verfolgte, und was denn sein Leben für einen Sinn hatte, wenn er hier zwischen den Kratern und den brodelnden Säuretümpeln endete
wir müssen ihn festhalten und dann die Spritze
und obwohl
in diesem Augenblick oben am fahlgrünen Himmel die nadeldünne, silberblinkende Spritzen Spitze des rettenden Raumschiffs die schartigen Wolkenbänke durchstieß,
er stirbt
obwohl ihm das alles in dieser einen, einzigen Sekunde bewusst wurde, wusste er doch mit völliger, Tränen treibender Gewissheit, dass er endgültig und für immer verloren hatte.
Taumelnd fiel er in den trockenen Staub.
(1980)
Und das ist dann genau jener Moment, wenn Jobs Vater immer sagt: »Nun ist es aber genug!« Und dabei haut er mit der rechten Faust auf den nicht abgeräumten Abendtisch, und Job möchte kaum glauben, dass diese Hand sonst nur bis 15:00 Uhr Schreibstifte umklammert oder Zahlen in Computer tippt. Aber jetzt wackeln die Tassen, und selbst ein schmutziger Teller springt schwerfällig in die Höhe, aber zum Glück ist alles, was noch auf dem Tisch steht, aus Plastik und klirrt nicht und wird wohl auch nicht zerbrechen.
»Genug«, wiederholt Jobs Vater, und Job verdreht die Augen, denn es ist immer das gleiche, was der Alte sagt, wenn er nicht gerade vor dem Video hockt oder zu dem Büroturm unten in der City schlurft. Und dort Computerfolien und Akten schleppt. Und natürlich mit Schreibstiften kritzelt. Aber hier haut er auf den Tisch, und was er sagt, klingt immer gleich in Jobs Ohren, sodass er sich allmählich fragt, wie oft er sich das eigentlich noch anhören muss.
»Du bist nicht einmal siebzehn«, brüllt Jobs Vater, der genau weiß, wie oft sich Job das noch anhören muss, »und bis du volljährig wirst, hast du zu tun, was ich dir sage.« Und bei dem ich tippt er sich mit dem linken Daumen gegen die Brust und lässt damit keinen Zweifel, wer in diesem Haus etwas zu sagen hat. »Du gehst nicht zu diesem … diesem Perres, oder wie der heißt, und schon gar nicht um kurz vor acht, mitten in der Nacht. Das fehlte noch, dass du herumstromerst und wer weiß was anstellst. Genug, und nun verschwinde in dein Zimmer, und ich will nichts mehr davon hören.«
Job und Jobs Vater starren sich an, und Job denkt bei sich: Das ist ja eine schöne Schweinerei! Und: Was werden Perez und die anderen denken? Und: Wenn ich jetzt nicht nachgebe, dann ist der sogar imstande und haut mir eine runter, und dann ist es aus zwischen mir und dem da. Job denkt eine ganze Menge in diesem Augenblick, aber natürlich spielt dies nicht die geringste Rolle. Nicht, weil Jobs Vater noch einen ganzen Kopf größer und zwei oder drei Dutzend Pfund schwerer ist als Job, sondern er ist eben sein Vater, und Job ist sechzehn, und so fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie das alles enden könnte. Allerdings, wenn Job ehrlich zu sich ist, dann hat er nicht Angst vor dem Schlag und dem Schmerz und dem Zerwürfnis, sondern vor etwas sehr tief Liegendem und Wichtigem, mit dem man wirklich nicht spaßen sollte, auch wenn es so aussieht, als hätte das Ganze doch keinen Zweck mehr.
Also macht Job auf dem Absatz kehrt und ballt nur die Fäuste, aber so, dass es sein Vater sehen kann, und als er vor der Tür zu seinem Zimmer steht, da dreht er sich noch einmal um und schaut zurück, obwohl er weiß, was jetzt kommt, weil es jeden Abend so geht und das schon länger, als Job zurückdenken kann. Jobs Vater ist bereits wieder zurück im Wohnzimmer, flegelt sich auf seinen Lieblingssessel, auf dem sonst keiner sitzen darf, und schaltet das Video ein und legt sich dann den goldenen Ring des Sensivers um die Stirn und ist im nächsten Augenblick schon mit den Gedanken und Gefühlen unten in Kandahar, wo der blondlockige Held vom CIA die braunhäutige, samtäugige und auch sonst nicht hässliche Partisanin in die Arme schließt und ihr den Verbrüderungskuss auf die leicht geöffneten Lippen haucht. Jobs Vater ist nun wirklich in Kandahar und blond und vom CIA und mit verdammt viel Erfolg bei den Frauen und denkt gewiss nicht mehr an Job und die drei Zimmer im Cronenberger Wohnturm und daran, dass Jobs Mutter jetzt ihre Nachtschicht im nahen Werk der Vereinigten Biochemischen AG antritt und erst wieder nach Hause kommt, wenn Jobs Vater zum Verwaltungshaus aufbricht. Aber die hohe Miete drückt, und schließlich muss dann und wann ja auch ein Urlaub und so drin sein.
Job schmettert hinter sich die Tür ins Schloss.
Und selbst wenn Jobs Mutter da ist, macht das auch keinen großen Unterschied, denn sie sitzt schon lange und zu oft mit einem vollen und immer wieder nachgefüllten Cocktailglas am Telefon und redet mit Gerda und Angelika und Susi und Anja und eigentlich recht wenig mit Job, sodass er schon gar nicht mehr weiß, was er zu ihr sagen soll, wenn sie sich doch einmal an ihn erinnert und fragt, wie es so ist und was die Lehre macht und überhaupt.
Perez wird ihn für einen Arschkriecher und Schleimer halten, wenn er nicht kommt, denkt Job und starrt die Tür an und dann sein Zimmer und schließlich durchs Fenster. Draußen ist es bereits dunkel, und es ist November, und das Thermometer steht auf einundzwanzig Grad über null. Job weiß, dass es früher auch hier Schnee und Eis im November oder Dezember gegeben hat, aber nicht mehr zu seiner Zeit, weil schon vor seiner Geburt in Deutschland warmes, dumpfes Klima herrschte und ständig Dunst über den Städten hing, und natürlich haben diese Dunstglocken etwas mit den einundzwanzig Grad Celsius zu tun. Während Job hinaussieht, überfliegt ein Supersonic die Stadt und kreist träge über dem Bergischen Land, weil der Düsseldorfer Flughafen wieder einmal verstopft ist und die Lage auf den anderen Flughäfen der Republik auch nicht besser aussieht. Zum Glück macht der Supersonic nur wenig Lärm, brummt träge im Hintergrund, und außerdem hat jedes Fenster im Wohnturm Doppelglasscheiben, schon wegen der Ätznebel, die dann und wann von der Biochemfabrik herüberwehen.
Aber im Grunde ist das jetzt unwichtig.
Job muss zu Perez, selbst wenn der Alte rotiert. Job bückt sich und holt unter dem Bett das Programmblatt für diesen Tag hervor, das er sich heimlich vom Video hat ausdrucken lassen. Es ist Mittwoch, und das ist der Tag, an dem sich die neuen privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht lumpen lassen und Thriller und Shows und Familienfilme und Tiersendungen und Quizze bringen und das alles schön lange, rund um die Uhr, damit Leute wie Jobs Mutter auch noch etwas vom Programm haben, wenn sie von der Schicht heimkehren. Jobs Vater hat RTL 1 eingeschaltet, einen der beiden Luxemburger Kanäle, die mit der Parabolantenne auf dem Dach des Wohnturms empfangen werden können, während der Sendetrichter des dritten Kanals von dem hoch oben im Orbit stehenden TV-Satelliten auf Norddeutschland gerichtet ist.
Job schaut sich das Programm an und denkt an den Geschmack seines Vaters und weiß jetzt, dass er nach der Blume von Kabul auf SpringTV umschalten und sich Rio Bravo in einer überarbeiteten Sensi-Fassung anschauen wird, bis es schließlich elf ist und die meisten Sender mit leicht oder überhaupt nicht bekleideten Mädchen zu locken beginnen, immer wieder unterbrochen von Fußpflegereklame und Zigarettenwerbung. Also wird Jobs Vater kaum vor eins den Sensiver vom Kopf nehmen, um mit der Aussicht auf einen weiteren Arbeitstag im Büro in den Cronenberger Wohnturm zurückzukehren.
Job wirft die Jacke über, öffnet leise die Tür. Tatsächlich. Jobs Vater hat sich nicht gerührt. Das Video läuft, und auch der Bildschirm ist erhellt, obwohl der Sensiver-Ring das doch überflüssig macht, und gerade ist der blonde muskulöse Agentenheld irgendwo im wüsten afghanischen Bergland und hantiert an einem Raketenwerfer, während die Partisanin hinter ihm steht und schön ist und die gepanzerten Fahrzeuge mit den roten Kennzeichen unten im Tal wie Fliegendreck aussehen. Die Samthäutige sagt etwas und schenkt dem Blonden einen glutvollen Blick, der Jobs Vater selbstzufrieden lächeln lässt, und Job hastet durch den Flur und öffnet die Wohnungstür und steht draußen im Treppenhaus.