Stimmen der Nacht - Thomas Ziegler - E-Book

Stimmen der Nacht E-Book

Thomas Ziegler

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Beschreibung

Vierzig Jahre nach der Durchsetzung des Morgenthau-Plans ist Deutschland eine rückständige Agrarnation ohne jede Industrie. Die Städte sind verfallen, die Bevölkerung ist verarmt. Aber die Nazis, mächtiger denn je in ihrer südamerikanischen Andenfestung, erheben Anspruch auf die Weltherrschaft und erwarten die Wiederkunft des Führers. Ein Roman von albtraumhafter atmosphärischer Dichte und − auch dreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen − von beklemmender Aktualität. Ausgezeichnet mit dem Kurd-Laßwitz-Preis als bester Roman des Jahres

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Thomas Ziegler

Stimmen der Nacht

Roman

[GOLKONDA]

Impressum

Die vorliegende Neuausgabe folgt der 1993 im Heyne Verlag, München, erschienenen zweiten Ausgabe (Heyne SF 06/5056), in der vermerkt war: »Dieser Roman ist eine gründliche Überarbeitung und erweiterte Fassung des 1984 im Ullstein Verlag, Berlin, erschienenen gleichnamigen Buches (Ullstein Science Fiction Nr. 31078).« Der Text wurde der neuen Rechtschreibung angepasst und behutsamst redigiert.

© 1993 by Rainer Zubeil

© 2014 by Verena Zubeil, vermittelt durch Ronald M. Hahn

© dieser Ausgabe 2014 by Golkonda Verlag GmbH

Texterfassung: Karlheinz Schlögl

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektur: Harun Rafael

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Titelgestaltung: benSwerk [http://benswerk.wordpress.com]

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-43-2 (Print)

ISBN: 978-3-944720-44-9 (E-Book)

Sieh, ich, der Verstorbene, begleite dich

Unter so vielen Himmelsbewohnern, die dich umgeben.

– Ägyptisches Totenbuch

The four boards of the coffin lid

Heard all the dead man did.

– Algernon Charles Swinburne

1

Er hätte damit rechnen müssen. Er hätte wissen müssen, dass die Zeit keine Bedeutung für sie besaß und dass sie noch immer wartete, geduldig wartete, seit vier Jahren schon, seit diesen letzten vier Jahren, in denen sie geredet hatte und geredet, immer nur geredet, in den Nischen und in den Winkeln, hinter den Fußleisten versteckt. Und dann diese Fragen, diese immer wiederkehrenden Fragen, die viel zu spät gestellt wurden und auf die es keine Antworten mehr gab, trotz der Hartnäckigkeit, mit der sie nach Antworten verlangten.

Gulf räusperte sich, und er wünschte, die Antworten zu kennen, oder auch nur eine, nur ein Wort, irgendein Wort, mit dem er sie zum Schweigen bringen konnte, einen Bannspruch vielleicht oder einen binären Code, irgendetwas ... Einen Hammer, dachte er. Das ist es. Ich brauche einen Hammer, einen großen, schweren Schmiedehammer, um ihr den Schädel einzuschlagen. Feuer hat nicht genügt. Ein Hammer muss her. Stahl ist hart und zuverlässig. Es könnte gelingen – wenn ich sie finde.

Aber er wusste, dass er sie nicht finden würde. Die Hubschrauberkanzel war groß und bot mit ihrer Täfelung aus Dioden, Druckknöpfen, Monitoren, LED-Anzeigen und Kippschaltern genug Verstecke für die nur stecknadelkopfgroße Klette. Er warf einen Blick nach draußen, auf die Wolkendecke, die sich trüb und lückenlos wie ein schmutziger Regenschirm über die Ostküste spannte, und es gab für ihn keine Möglichkeit, den Fragen und Klagen der Elektrischen Klette zu entrinnen.

»Du hast mir das Leben zur Hölle gemacht, Jakob«, sagte die Klette. »Gott, es ist wirklich wahr, du wolltest mich tot sehen, und du bist erst zufrieden gewesen, als ich starb und still dalag, blass und weiß, so sterbensbleich im Totenkleid auf rotem Samt im Eichensarg. Ich musste taub und kalt sein, damit du frei sein konntest, frei von mir und deinen Lügen, deinen Ausflüchten und Entschuldigungen ... Du hast mich gehasst, und Hass ist das einzige wahre Gefühl, das dir in deinem Leben geblieben ist. Es lag nicht an mir, Jakob. Du weißt, dass es nicht an mir lag. Es war nicht meine Schuld ...«

Gulf lächelte starr, nicht mit den Augen, nur mit dem Mund. Es war ein videofones Lächeln, eine bloße Muskelbewegung, eine Änderung des Mienenspiels ohne jegliche Tiefe, flach und televisionär wie Fernsehbilder, ein Lächeln aus den Aufnahmestudios von NBC.

Natürlich war es nicht deine Schuld, dachte er. Es ist nie deine Schuld gewesen. Und jetzt bist du tatsächlich kalt und taub, liegst starr und bleich im Eichensarg, aber du bist nicht stumm, Elizabeth. Du hast dafür gesorgt, dass du selbst nach deinem Tod noch bei mir bleibst. Abenteuer Live, dachte er bitter. Die Sendung ist abgesetzt, aber die Show geht weiter.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Neben ihm, ein Schatten im Zwielicht der Dioden, fast eins mit dem Lederbezug des Sitzes, steuerte der Pilot den Hubschrauber durch den grauen Abend, und obwohl Gulf ihn jetzt nicht ansah, spürte er die Gegenwart des Mannes so deutlich wie die Gegenwart der Elektrischen Klette. Die Stimme der Klette war fein, ein Wispern, fast unhörbar im Lärm der Rotoren, aber es war unzweifelhaft Elizabeths Stimme.

»Was hätte aus uns werden können! Was lag alles noch vor uns! So viele Tage und so viele Nächte: kalte Winternächte im Knisterlicht des Kaminfeuers, und dazu Musik von Vivaldi und eine gute Zigarette zum handgewärmten Cognac. Und diese heißen Sommertage im hohen Gras, wie jener Sommertag und jenes Gras in Niederkalifornien. Erinnerst du dich, Jakob? Erinnerst du dich? Heller Himmel über grünem Land. Kein Grau wie in New York, kein Stein wie in Manhattan. Nichts als Erde, frische Erde, und die Erde riecht gut im Sommer. Ich weiß noch, wie sie in Kalifornien roch; wild und roh und würzig, die Krumen schwarz und fett. Ich weiß noch, wie du deine Hände in diese schwarze Erde gegraben hast, und ich habe deine Gedanken gesehen. Sie standen dir ins Gesicht geschrieben, diese schrecklichen Gedanken, und ich musste sie lesen, ob ich wollte oder nicht: Wann liegt sie endlich starr und bleich zehn Meter tief im Totenreich ...?«

Der Pilot drehte den Kopf, und für einen Moment verlieh ihm sein Visierhelm ein käferartiges Aussehen, eine maschinelle Nüchternheit, so nüchtern und maschinell wie der Hubschrauber selbst. Mit einem Mal, im Motorengedröhn und im oszillierenden Farbenspiel auf den Monitoren der Bordkontrollen, stellte sich eine merkwürdige Verwandtschaft zwischen dem Piloten und dem Düsenkopter ein.

Vielleicht, dachte Gulf, vielleicht ist er in Wirklichkeit ein Automat, eine Menschenmaschine, wie sie von der IG Robot gebaut werden, ein mit PVC gepolsterter Computer aus den mikroelektronischen Laboratorien von Santiago oder Buenos Aires, mit deutscher Gründlichkeit programmiert, Made in Germany-America, direkt am Fuß der Anden, auf Feuerland gar. Vielleicht verbinden unsichtbare, feine Drähte aus gesponnener Glasfaser seine Zehen und sein Becken mit der elektronischen Innenwelt des Helikopters, und gut versteckt unter dem Braun der Pilotenhaut liegen Plastik, Chrom und Kugellager.

Die Klette sprach wieder.

Gulf und der Pilot hörten ihr schweigend zu.

»Ich weiß, du willst mich vergessen. Ich weiß, dir ist es lieb, wenn die Vergangenheit ruht, aber so ist es nicht mehr, und es wird nie wieder so sein. Die Welt hat einen Quantensprung erlebt, und er wirkt nach und verschiebt die Grenze zwischen mir und dir. Das Sterben, Jakob, ist nicht mehr ein Abschied für immer, nur eine Veränderung in den Beziehungen. Die Sprache verbindet Diesseits und Jenseits, und die Worte sind Brücken in die Finsternis, wo ich jetzt bin, ohne zu sein, wo alle hingehen und niemals ankommen, und vor dem es keine Flucht gibt, weil die Flucht selbst zum Ziel führt. Gegen den Tod gibt es noch kein Mittel, doch das Schweigen ist besiegt. Du hörst mich, und du wirst mich immer hören ...«

Der Pilot sagte nichts, sah Gulf abwartend an. »Meine Frau«, sagte Gulf, obwohl es überflüssig war. »Sie ist tot. Sie ist vor vier Jahren gestorben.«

»Dieser Unfall.« Der Pilot nickte bedächtig. »In Ihrer Jubiläumsshow, der hundertsten Sendung. Ich habe sie gesehen. Ich war dabei. Ich habe vor dem Bildschirm gesessen und das Feuer gesehen, das Feuer und den Rauch, und ich konnte das Benzin riechen, ich konnte es wahrhaftig riechen. Es war schrecklich, Mr. Gulf. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«

»Es geschah nach dem Höhepunkt, nach diesen brillanten Farbaufnahmen vom Sturz der Atmosphäresurfer«, sagte Gulf gedankenverloren. »Die erste Liveübertragung aus dem Weltraum, von einem dieser Nachrichtensatelliten der ODESSA. Die ganze Nation verfolgte Champion Weinbergs waghalsigen Surfritt auf der Lufthülle der Erde. Erinnern Sie sich? An das Schwarz des Alls und das Blau, das strahlende Weiß der Welt? Und an Heinrich Weinberg, diesen Latinodeutschen, auf seinem Keramiksurfbrett, an das Glühen des Hitzeschilds, das fast geschmolzen wäre? Weinberg hatte Glück; die Reibungshitze hat ihn nicht zu Asche verbrannt. Aber Elizabeth ...«

Gulf schloss die Augen, nur um sie rasch wieder zu öffnen, denn da waren diese Bilder wieder, die Televisionen von brennendem Stoff und verkohlter Haut, der Gestank von gegrilltem Menschenfleisch, der beißende Benzingeruch und die Schreie, diese entsetzten Schreie, die nicht vom Applaustonband stammten, sondern von den Technikern und Kameraleuten im Studio.

»Vier Jahre ist es jetzt her«, sagte Gulf. »Elizabeth ist seit vier Jahren tot, aber sie spricht noch immer. Diese Kletten ... Sie sehen fast wie Fliegen aus. Sie verfolgen mich, und wenn sie mich finden, sprechen sie mit Elizabeths Stimme. Ich habe schon Dutzende von ihnen zerstört, aber es tauchen immer neue auf. Sie sind eine Plage, eine wahre Plage, und niemand kann etwas dagegen tun.«

Er sah wieder nach draußen in den blauschwarzen Himmel, über den langsam ein Lichtpunkt wanderte: einer der Industriesatelliten des Andenpakts, deren Fertigbauteile vom Wernher-von-Braun-Raketenbahnhof in Guayana in die Umlaufbahn geschossen wurden. Ein Stahlnetz, das sich über die Erde stülpte. Eine weitere Erfindung dieser unmenschlich schlauen und tüchtigen Latinodeutschen, dachte er. Ein weiteres Produkt jenes Heeres aus Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Facharbeitern, die nach dem Krieg, im Großen Exodus, das besiegte Reich verlassen hatten, auf der Flucht vor Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit, um in Südamerika das Reich neu aufzubauen. Um unermüdlich zu arbeiten, tagein, tagaus trotz tropischer Sonne und schwüler Luft zu schuften, fern der Heimat, fern aller Erinnerungen an tausend Jahre falscher Pracht und Massenmord. Deutsche Weihnacht bei vierzig Grad im Schatten, der Duft von Lebkuchen, Christstollen und Lübecker Marzipan über Bogota und Sao Paulo, Goethes Faust im Takt der Samba-Rhythmen und Deutschland, Deutschland über alles an den trägen Lehmfluten des Amazonas. Ein ganzer Ozean und ein halbes Jahrhundert lagen zwischen ihnen und dem Reich, und dennoch hatte jeder ein Stückchen Heimat in die Neue Welt hinübergerettet: eine Handvoll Auschwitz und Majdanek, einen Hauch Kraft durch Freude und einige vergilbte Seiten aus Mein Kampf ...

»Man kann die Kletten radikal beseitigen«, sagte der Pilot in das Schweigen hinein. »Ich kenne mich aus. Ich weiß, wovon ich spreche. Wir hatten Ende der Siebziger mit ihnen zu tun, im Kalten Krieg. Das Nazi-Pack hatte die Kletten über Mexico in die Staaten eingeschleust. Subversion, Propaganda, Sie wissen schon. Man kann die Kletten mit einem elektromagnetischen Impulsschock lahmlegen. Energiereiche Mikrowellenströme löschen ihre Datenspeicher. Wir haben Klettenfallen gebaut und entlang der Grenze aufgestellt. Ein Tongenerator hat die Kletten angelockt, Starkstrom sie verbrannt. Es gibt viele Möglichkeiten.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Gulf, und fast hätte er über die Naivität des Piloten gelacht, der ihn über die Kletten aufklären wollte, ausgerechnet ihn, Jakob Gulf, den einzigen wirklichen Klettenexperten der Welt. »Ich weiß, wie man die Kletten beseitigt. Ich habe mich lange Zeit mit ihnen beschäftigt, sie studiert, zerlegt und analysiert. Wunderwerke der Mikrotechnik. Sie dringen überall ein, unsichtbar, unauffindbar, sehen alles, hören alles. Diese Kletten sind eine typische Nazi-Erfindung. In Technik kristallisierte Paranoia. Ganz Südamerika ist mit Paranoia infiziert. Man riecht sie schon, wenn man aus dem Flugzeug steigt, in Rio oder Caracas, und man sieht sie in den Augen der Menschen. Blaue Augen, in denen Wahn glitzert.« Diese Augen, erinnerte sich Gulf, und blondes Haar über den schwarzen Uniformen der schwerbewaffneten ODESSA-Männer, die die Straßen zu den Vierteln bewachten, die nur von den Reichsdeutschen betreten werden durften, nicht von den Latinos, für die die favelas gerade gut genug waren, die Gettos aus Wellblech und Abfall in den Außenbezirken der Städte, wo des Nachts die ODESSA auf Menschenjagd ging. »Ich habe die Klettenfabrik in Buenos Aires besucht«, fuhr er heiser fort. »In Germania habe ich mit dem Erfinder der Kletten gesprochen, Adolf Wachsmann, der Wernher von Braun bei der Weiterentwicklung der V-2 zur dreistufigen Thor-Rakete geholfen hat. Nach von Brauns Tod wurde er zum Raumfahrtdirektor des Andenpakts ernannt ... Ich habe mich einen ganzen Tag mit Wachsmann unterhalten, und er hat mir das Adolf-Hitler-Denkmal in Germania gezeigt, das neue Denkmal, das von den Reichsdeutschen Traditionsvereinen gestiftet wurde. Ganze Schwärme dieser Kletten summen dort um die fünfzig Meter hohe Bronzestatue, und wenn man näher tritt, dann deklamieren sie ganze Abschnitte aus Mein Kampf.«

Der Pilot lächelte grimmig. Unter dem Helmvisier war sein Mund ein dunkler Spalt. »Wir haben das Denkmal damals gesprengt«, sagte er. »Das alte Denkmal. Wir haben es in Stücke gesprengt, während des Kalten Krieges, und die Israelis haben fast gleichzeitig Eichmann erschossen, mitten auf dem Admiral-Dönitz-Platz in Bogota.«

»Aber da ist noch etwas, das ich bisher nicht erwähnt habe. Diese Kletten ...«

»Ja?«, sagte der Pilot.

»Nicht nur Elizabeths Stimme lebt in den Kletten weiter. Die Kletten sehen aus wie Fliegen, aber sie haben ein Gesicht. Es ist klein, sehr klein. Man braucht eine Lupe, um es zu erkennen, aber es ist Elizabeths Gesicht. Schmal und weiß, fast durchsichtig. Die Augen sind geschlossen, doch durch die Lider kann man die Farbe ihrer Pupillen erahnen. Rotbraun. Wie Ahornblätter im Herbst ... Es war nicht ihr Tod, der mich so entsetzt hat«, sagte Gulf leise. »Nicht die Umstände und die furchtbare Art ihres Todes; es war die Tatsache, dass sie starb, ohne zu sterben. Elizabeth hat die Elektrischen Kletten programmiert und ausgesetzt, um selbst im Tod noch bei mir zu sein. Dieser Lebenswille, der sich auf keinem Friedhof begraben lässt ... er hat mir Angst gemacht. Ich habe mich gefragt: Wie kann man an die Zukunft denken, wenn man sich zum Tod entschlossen hat?«

Er sah wieder nach draußen. Die graue Wolkendecke unter ihnen war aufgerissen, und durch den Wasserdampfnebel erhaschte er einen Blick auf den fernen Erdboden, die zersiedelte Ostküste, die Metastasen der großen Städte, und am Horizont der schmutzige Strich des Atlantiks.

Der New Yorker Henry-Morgenthau-Flughafen war nicht mehr weit.

»Warum unternehmen Sie nichts gegen die Kletten?«, fragte der Pilot. »Es ist grausam, was man Ihnen angetan hat. Niemand kann so was lange ertragen, ohne den Verstand zu verlieren.«

»Es ist sinnlos«, erklärte Gulf. »Die Zerstörung der Elektrischen Kletten wäre nur ein symbolischer Akt ohne greifbaren Nutzen. Wenn die Kletten schweigen, tritt keine Stille ein. Das Problem ist nicht so einfach zu lösen. Kennen Sie Elébé Lisembé?«

Der Pilot schüttelte bedächtig den Kopf. Seine Finger – lang und schmal, in Lederhandschuhen, die wie Speckschwarten glänzten – huschten wie Spinnenbeine über Knöpfe und Kippschalter. Das Gedröhn der Rotoren wurde lauter. Die Maschine neigte sich und verlor an Höhe, um sich in die Flugschneise einzufädeln und Kurs auf den Morgenthau Airport zu nehmen.

»Lisembé ist ein Dichter«, sagte Gulf. »Ein großer afrikanischer Dichter. Und mehr noch: Ich glaube, er ist ein Prophet. Wenn die Klette zu mir spricht, denke ich oft an eines seiner Gedichte.

Die Toten haben uns nie verlassen.

Sie sind unter uns.

Die Toten sind überall:

Sie sind im Dunkel, das sich erhellt.

Die Toten sind nicht unter der Erde:

Sie sind im Baum, der rauscht.

Sie sind im Holz, das ächzt.

Sie sind im fließenden Wasser.

Sie sind in der Hütte.

Sie sind in der Menge.

Die Toten sind nicht tot ...

Lisembé hatte recht«, sagte Gulf. »Die Toten sind nicht tot. Und die Kletten ... Es sind nicht die Kletten selbst, die zu mir sprechen, nicht wirklich, verstehen Sie? Die Kletten waren früher nur Automaten, Spionagemaschinen, von Elizabeth auf mich angesetzt, eine verdammte Nazi-Erfindung aus Deutsch-Amerika, ein Spielzeug für die hoffnungslosen Paranoiker in Montevideo und Buenos Aires. Aber später« – Gulf beugte sich nach vorn und gestikulierte, untermalte seine hervorgestoßenen Worte mit nervösen Bewegungen – »aber später, nach Elizabeths Tod, geschah etwas, etwas Schreckliches und Unvorstellbares, und seitdem tragen die Kletten ihr Gesicht und sprechen mit ihrer Stimme. Sie ist tot und doch nicht tot. Wenn die Kletten sprechen, dann ist es keine Tonbandaufnahme, sondern Elizabeth, die spricht, und zwar jetzt, in diesem Moment.«

Er hörte Geflüster, und im ersten Moment glaubte er, dass die Klette wieder ihren vorwurfsvollen Monolog aufgenommen hätte, aber es war nur die Stimme eines Fluglotsen vom Morgenthau Airport, die aus dem Kopfhörer des Piloten drang. Die Klette hockte still in ihrem Versteck, klein und unscheinbar wie eine Fliege, und sie kannte keine Eile, weil Zeit für Elizabeth unwichtig geworden war. Der Pilot beantwortete die Funkanfrage des Tower mit einigen knappen Sätzen, und Gulf sah im Halbschatten des Cockpits plötzlich wieder Elizabeth vor sich. Er sah sie in ihrem golddurchwirkten Kleid, mit gelocktem Haar und schmalem, blassem Gesicht, viel zu blass für das helle Rot ihrer geschminkten Lippen und das Rotbraun ihrer Augen, mit silbernen, hochhackigen Schuhen, die sie größer erscheinen ließen, als sie in Wirklichkeit war. Sie lächelte, während sie die Rampe hinunterging und die Bühne betrat. Zum Finale Tonbandapplaus, Laserlicht, farbige Spots und holografisches Sterngefunkel. Und Musik, natürlich Musik, Starclub von Paul McCartney, die Erkennungsmelodie von Abenteuer Live. Konfetti und Licht, Gefunkel, Glimmer und Geflimmer ... Finale für Abenteuer Live, die Show, die das Leben war, und die große Ziehung für die Millionen Zuschauer, die Showlotterie, bei der dem glücklichen Gewinner als erster Preis ein Abenteuer nach Wahl winkte. Elizabeth ging zur großen gläsernen Walze mit den unzähligen Postkarten, und Gulf sah ihr Lächeln, ihr rätselhaftes dunkles Lächeln, als sie eine der Postkarten zog und den Namen des Gewinners vorlas. »Hier ist es«, sagte Elizabeth, »dein Abenteuer, Jakob Gulf.« In ihrer Hand das Feuerzeug, in ihrer Hand die Flamme, und er roch plötzlich das Benzin, mit dem ihr Kleid getränkt war, und die Flamme sprang über, und sie brannte lichterloh. Feuer, wo Elizabeth stand, Benzingeruch, Fleischgeruch, und dazu die Fanfaren und der Tonbandapplaus, Abenteuer Live, präsentiert von Jakob Gulf, das Ende der großen Jubiläumsshow, das Ende ...

Gulf keuchte.

»Wir landen in wenigen Minuten«, sagte der Pilot. »Es ist alles organisiert. Das Flugzeug ist startbereit. Mr. Splitz ist schon an Bord. Sie können in einer Stunde abfliegen ...« Er zögerte einen Moment. »Glauben Sie, dass Sie es schaffen werden?«, fragte er dann. »Dass Ihnen die Flucht gelingt?«

Gulf schüttelte den Kopf. Er dachte an Splitz, der im Flugzeug auf ihn wartete, an den Präsidenten, der so viel Hoffnung in ihn setzte, und an den General, der seine Hilfe brauchte, drüben in Europa, in diesem absurden Gespensterreich mit seinen Trümmerstädten, längst von Gras und Wildkraut überwuchert, seinen Dörfern und Einödhöfen, verteilt über das ganze Land.

»Flucht?«, wiederholte Gulf. »Es gibt keine Flucht. Nicht vor Elizabeth. Seit vier Jahren ist sie tot und vermodert, aber ihre Seele klammert sich noch immer an die Kletten. Der Quantensprung. Sie haben gehört, was sie gesagt hat. Es hat einen Quantensprung gegeben, und seitdem ist alles anders geworden. Nichts ist mehr so, wie es früher war, und ich bin nicht der Einzige, der es zu spüren bekommt.« Er atmete tief durch. »Verstehen Sie? Ich bin nicht der Einzige. Es gibt andere Elizabeths; sie sind wie sie, aber sie tragen andere Namen und starben an anderen Orten, um dann doch weiterzuleben und zu reden, immer nur zu reden, statt tot und still zu sein. Vielleicht gibt es eine Verbindung. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zur Verständigung, einen Weg, um sie zum Schweigen zu bringen ...«

Gulf verstummte.

Durch das tiefe Brummen der Rotoren drang die Stimme der Klette an sein Ohr.

»Ich liebe dich, Jakob«, sagte Elizabeth. »Ich liebe dich, und ich werde dich immer lieben, ich werde bei dir bleiben und dir meine Liebe zeigen. Du hörst mich und du hasst mich und du wirst mich nicht mehr los. Selbst der Tod ist keine Flucht, denn wenn du stirbst, dann kommst du zu mir, dann bist du hier, wo nichts ist und nie etwas war, wo ich bin, ohne zu sein, wo niemand wohnt und alle heimkehren. Ich werde bei dir sein, wie ich immer hätte bei dir sein sollen, in den wenigen Jahren, diesen kurzen Jahren ... Weißt du noch, Jakob, weißt du noch von diesem Frühling, diesem ersten Frühling, diesem einzigen Frühling, der uns gehörte, nur uns allein, am leeren Strand im frischen Wind? Der Wind sprach mit dir, und du hast genickt, und ich kannte seine Worte: Wann ist sie endlich stumm und tot und wächsern bleich im Abendrot ...?«

Gulf sah aus dem Fenster.

Unter ihnen tauchten die ersten Positionslichter des Henry-Morgenthau-Flughafens auf. Der Abend verdämmerte, die Nacht begann. Gulf fragte sich, was der nächste Tag bringen würde, sein erster Tag im alten Reich, im Land der Bauern und Viehzüchter.

2

Der Schlaf hatte ihn nicht erfrischt; im Gegenteil, er hatte ihn müder gemacht, lebensmüde, sterbenskrank, und als die Spinnweben seiner Träume zerrissen, da verstand er plötzlich, was geschah, mit ihm geschah. Das ist es, dachte er von grausiger Angst erfüllt, das ist das Sterben, das ist der Tod, aber kein Tod, wie wir ihn kennen. Kein kalter Schrecken, kein Totengeläut, kein Pfaffe, der uns von der Kirchenkanzel Trost zuspricht. Kein Tod wie der Tod im herbstlichen Frostlicht, im Wind, der über Grabsteine und Gräber pfeift und die schwarze Witwentracht bauscht, das fadenscheinige, abgewetzte Schwarz ungezählter Generationen. Kein Tod mit festlichem Leichenschmaus, schamlos erfundenen Ruhmesworten auf faulendes Fleisch und verrottende Knochen, Heucheleien bei Schweinebraten und Bier, Pflaumenkompott und Kirschtorte ... Nichts hat der wahre Tod damit zu tun, rein gar nichts.

Das wahre Sterben, erkannte Gulf, das wirkliche Sterben ist ein schleichender Prozess. Der Tod ist nur der Abschluss eines Geschehens, das schon lange zuvor begonnen hat. Die Kirche irrt. Die Seele ist nicht unsterblich. Sie ist das schwächste Glied des Lebens, und wenn das Sterben beginnt, dann dämmert sie zuerst dahin, unbemerkt und heimlich, dann löst sie sich auf, Stück für Stück, erfriert, erstarrt in zeitloser Leere, bis die Leere alles ist, was noch bleibt. Erst dann legt sich das Fleisch zum letzten Schlaf in dunkle Erde. Der Abschied am Grab kommt viel zu spät; die Tür ist längst geschlossen, die Lichter sind gelöscht, der letzte Gruß verhallt ungehört im Nichts.

Mein Gott, dachte er, jetzt weiß ich, was dir zugestoßen ist, Elizabeth. Das Feuer ... es hat dich nicht umgebracht, nicht wirklich, es hat nur deinen Körper verzehrt, unbewohntes Fleisch, von der Seele längst verlassen, dahinvegetierend an einem Ort, wo es schon längst nicht mehr hingehörte. Aber was bist du dann, wenn du Seele und Körper gleichermaßen verloren hast? Welcher Teil von dir weigert sich, den Tod zu akzeptieren? Und wo bist du, Elizabeth? Wo bist du jetzt? Im Jenseits, das es nicht gibt? Im Hier und Jetzt, vor dem du geflohen bist, ohne dein Ziel zu erreichen?

»Noch eine Stunde«, sagte Splitz in Gulfs Gedanken hinein. »Dann landen wir.«

Gulf tastete nach dem Knopf an der Armlehne und stellte die Rückenlehne senkrecht. Er öffnete die Augen und sah direkt in Splitz’ Gesicht.

Splitz war feist, und er schnaufte, wenn er sich bewegte. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, über den speckigen Wülsten der Augenhöhlen. »Noch eine Stunde«, wiederholte er schnaufend und schwitzend. »Wieder im Krautland! Und ich dachte, ich könnte dieses Gespensterreich vergessen. Diese tausendjährigen Ruinen, zwischen denen alte Weiber nach Pilzen und verbotenen Kräutern suchen. Diese Ruinen – sie sind das eigentliche Problem. Zumindest Berlin hätte man wieder aufbauen müssen. Trotz der Bombe vom Februar ’45, die Hitler samt Führerbunker, Reichskanzlei und Regierungsviertel verbrannt hat. Kein Grund, Berlin auf ewig in Trümmern liegen zu lassen. Das war der Hauptfehler, glauben Sie mir. Alles hätten uns die Deutschen verziehen, den verlorenen Krieg, die Auflösung des Reiches, die Gebietsverluste, all die vielen Fabriken und Kraftwerke und Kohlengruben, die man gesprengt, abgerissen und unter Wasser gesetzt hat, die Maschinen, die nach Frankreich und Polen, England und Israel geschafft worden sind, sogar die Hungersnöte und den erzwungenen Exodus nach Südamerika hätten uns die Deutschen verziehen, aber nicht diese Sache mit Berlin. Berlin war mehr als nur eine Stadt. Berlin war Deutschland, und mehr noch: eine Vision, ein Jahrhunderte alter Traum, und jetzt überwuchert Efeu die unbewohnten, verfallenen Gemäuer.«

Gulf strich über sein zerzaustes, angegrautes Haar. Das Flugzeug schwankte, stampfte schwer durch eine Turbulenz und fing sich wieder. Draußen zuckte ein greller Blitz durch die aufgewühlten Wolken.

»Und Berlin«, sagte Splitz, »war nur eine von ihren vielen Städten.«

Er roch nach Rasierwasser und Wodka und dem Aroma seiner türkischen Zigaretten, einem herbsüßen Duft, der Gulf an Elizabeth erinnerte, an die herbe Süße ihres Haares im Halbdunkel des Schlafzimmers, an bewölkte Abende in New York, an ziellose Gespräche mit trunkenem Kopf und der kalten Betäubung des Kokains in der Nase. Splitz nippte an seinem Wodka-Lemon und sah mürrisch nach vorn, zu den schweigsamen Army-Offizieren und den CIA-Agenten, die mit griffbereiten Kassettenrecordern darauf warteten, dass Elizabeth wieder sprach.

»Diese vielen Städte«, sagte Splitz. »Und jetzt wächst Gras und Unkraut auf den Straßen und Plätzen, und in den leeren Häusern nisten Eulen und Fledermäuse und Ratten. Vor allem Ratten. Diese Städte sind unheimliche Orte, lassen Sie sich das gesagt sein, Jakob. Eine Schande. Man hätte sie wenigstens planieren können. Radikal einebnen. Aber so sind sie unheimlich. Gespenstisch. Es war nicht recht, was Morgenthau getan hat. Wer noch nicht dort gewesen ist, kann sich nicht vorstellen, was diese Ruinenstädte aus einem Menschen machen. Besonders im Herbst, wenn das Grün verwelkt und das Laub von den Bäumen fällt und alles grau wird wie der Stein.«

»Haben Sie damals auch Köln besucht?«, fragte Gulf, und er versuchte sich Splitz in Uniform vorzustellen, aber statt dessen blitzten Szenen aus einem alten Propagandafilm in ihm auf: verschlagen grinsende Gestapo-Offiziere, preußische Generäle beim Hitlergruß und blutbefleckte SS-Männer in schwarzem Wams beim Meuchelmord.

»München, ja, Frankfurt, Heidelberg, Weimar, Berlin ...«, sagte Splitz. »Und Dresden. Ich erinnere mich vor allem an die Ratten und an die Katzen und an die wilden Hunde in den Ruinen. Und an die Hofkirche erinnere ich mich, an das große Loch im Dach des Kirchenschiffes und an den geborstenen Stumpf des Turmes. Dresden hätte etwas Besseres verdient gehabt. Es ist eine Schande.«

»Wir müssen nach Köln«, sagte Gulf.

»Ich weiß.« Splitz nickte.

Er leerte sein Glas in einem Zug, schnaufend, schwitzend, mit düsterem Gesicht. Er war betrunken und bedrückt, und Gulf wusste, warum. Nicht wegen der toten Städte im Herzen Europas, der zerstörten Kulturdenkmäler und der von Wind und Wetter zernagten Gebäude, in denen niemand mehr wohnte, der menschenleeren Straßen, auf denen jetzt Vergissmeinnicht, Hahnenfuß und Löwenzahn wuchsen ... Elizabeth war für Splitz’ düstere Stimmung verantwortlich, Elizabeth, die niemand verschonte und niemanden gleichgültig ließ.

Sie hat nicht gesprochen, erkannte Gulf erleichtert. Und vielleicht wird sie weiter schweigen, für immer ... Er schöpfte neue Hoffnung, obwohl er wusste, dass diese Hoffnung trügerisch war und dass die einzige Hoffnung, wenn überhaupt, im alten Reich auf ihn wartete, in den Ruinen von Köln.

Splitz schien seine Gedanken zu erraten. »Nein, sie hat noch nicht wieder gesprochen«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Ich frage mich, warum sie schweigt. Vier Jahre lang hat sie ununterbrochen geredet, und ausgerechnet jetzt schweigt sie. Ausgerechnet jetzt, vor unserer Ankunft im Reich.«

Das Reich, dachte Gulf. Es existiert nicht mehr. Aber wir reden jetzt davon, als wäre es niemals untergegangen.

»In Deutsch-Amerika«, sagte er laut, »spricht man oft vom Reich. Die Exil-Nazis haben Deutschland nie aufgegeben. Damals in Brasilien hat mich Wachsmann in die deutschen Lokale geführt, jene, in denen Politik gemacht wird wie früher im Hofbräuhaus. Er hat mir alle gezeigt, weil er mir beweisen wollte, dass das Reich noch nicht tot ist. Ich bin im Rasthaus zum Spessart in Rio gewesen, in der Reichskanzlei in Germania und dem Lieb Vaterland in Santos. Die Latinodeutschen sitzen dort bei Eisbein mit Sauerkraut, bei vierzig Grad im Schatten, und erzählen von der großen Zeit im Reich. Alte weißhaarige SS-Männer, an deren Händen noch das Blut von Treblinka und Bergen-Belsen klebt, stemmen Maßkrüge mit bayerischem Bier, gebraut in Caracas, und Tränen treten ihnen in die Augen, wenn sie vom Schwarzwald und von der Eifel schwatzen, vom Kyffhäuser und von den blauen Fluten des Rheins, von den Weinbergen und den Burgen, die so zerfallen sind wie ihre Städte. Der Führer, sagen sie, der Führer hatte recht. Der Jud, der wollte uns tatsächlich vernichten, und er hat es fast geschafft. Fast. Zum Teufel mit Morgenthau, wir kehren heim, sagen sie. Wir bauen Berlin wieder auf, und wir hissen die Fahne über dem Reichstagsgebäude, die Fahne mit dem Hakenkreuz. Und wäre der Jud nicht gewesen ...«

Gulf hustete. Splitz’ Zigarettenrauch kratzte ihm in der Kehle.