Die Singuläre Frau - Katja Kullmann - E-Book

Die Singuläre Frau E-Book

Katja Kullmann

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Beschreibung

In dem Bestseller "Generation Ally" beschrieb Katja Kullmann, warum es so kompliziert ist, eine Frau zu sein. Zwanzig Jahre später erzählt sie, wie es ist, eine Frau ohne Begleitung zu sein.

Sie ist die Frau, der man nachsagt, dass sie kein Glück in der Liebe hat. Diejenige, die ihr Leben alleine regelt. Die Frau ohne Begleitung. Vom Bürofräulein der Weimarer Republik bis zur angeblich einsamen Akademikerin der Gegenwart – sie ist die wahre Heldin der Moderne: Die Singuläre Frau.
Kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag stellt Katja Kullmann fest, dass auch sie so eine geworden ist: ein Langzeit-Single. Die Erkenntnis ist ein kleiner Schock. Dann eine Befreiung. Und ein Ansporn – nicht nur für die schonungslose Selbsterkundung, sondern auch für eine Spurensuche. Welche literarischen, sozialen und popkulturellen Zeugnisse hat die Frau ohne Begleitung hinterlassen? Und wie könnte ihre Zukunft aussehen? Leidenschaftlich und eigensinnig führt Katja Kullmann uns zu einer radikalen Neubewertung der alleinstehenden Frau.

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Über das Buch

In dem Bestseller »Generation Ally« beschrieb Katja Kullmann, warum es so kompliziert ist, eine Frau zu sein. Zwanzig Jahre später erzählt sie, wie es ist, eine Frau ohne Begleitung zu sein. Sie ist die Frau, der man nachsagt, dass sie kein Glück in der Liebe hat. Diejenige, die ihr Leben alleine regelt. Die Frau ohne Begleitung. Vom Bürofräulein der Weimarer Republik bis zur angeblich einsamen Akademikerin der Gegenwart — sie ist die wahre Heldin der Moderne: die Singuläre Frau.Kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag stellt Katja Kullmann fest, dass auch sie so eine geworden ist: ein Langzeit-Single. Die Erkenntnis ist ein kleiner Schock. Dann eine Befreiung. Und ein Ansporn — nicht nur für die schonungslose Selbsterkundung, sondern auch für eine Spurensuche. Welche literarischen, sozialen und popkulturellen Zeugnisse hat die Frau ohne Begleitung hinterlassen? Und wie könnte ihre Zukunft aussehen? Leidenschaftlich und eigensinnig führt Katja Kullmann uns zu einer radikalen Neubewertung der alleinstehenden Frau.

Katja Kullmann

Die Singuläre Frau

Hanser Berlin

Irmgard

und all den anderen gewidmet

»Oh, vielen Dank«, sagte ich,

»aber ich steige an der nächsten Station aus.«1

Maeve Brennan

FANPOST

In diesem Buch möchte ich von einer Berühmtheit erzählen, die mitten unter uns lebt, manchmal sogar gleich nebenan und in den meisten Fällen von morgens bis abends unauffällig. Sie braucht nicht viel Platz, macht wenig Schmutz und nur selten Lärm. Dennoch fasziniert sie viele. Manche wollen sie retten. Oder bekehren. Etliche lachen oder lästern über sie. Andere bemitleiden sie, und zwar von ganzem Herzen. Wieder andere sind neidisch oder eifersüchtig auf sie und versuchen, sich etwas von ihr abzuschauen. Es gibt welche, die wollen sie wie eine Trophäe erobern, und solche, die sie am liebsten bestrafen würden. Sie ist ein realer Mensch und ein Politikum. Ein Wesen aus Fleisch und Blut und zugleich ein Gerücht. Eine Person, die jede und jeder irgendwie zu kennen glaubt und zu der viele eine Meinung haben. Sie ist die Frau2, von der man annimmt, dass sie kein Glück in der Liebe hat. Die Frau, die ihr Leben alleine regelt. Die Frau ohne Begleitung.

Viele Namen hat man ihr schon gegeben: Junggesellin und Alte Jungfer, Neue Frau und Spätes Mädchen, Mannweib, Monster, Mauerblümchen, Femme libre, Femme fatale, Schwieriger Fall, Hoffnungsloser Fall, Zicke, Schlampe, Scheidungswitwe, Egobraut, Egoistin, Egomanin, Egozentrikerin, Emanze, Eisprinzessin, Armes Hascherl, Scheues Reh, Graue Maus, Katzenlady, Karrierebiest, Trauerkloß und Powerfrau, Nymphomanin und Frigider Freak, Flaschensammlerin, Alleinerziehende, Einpersonenhaushalt, Einsame Akademikerin, Moderne Amazone.

Single-Frau ist heute die gebräuchlichste Bezeichnung für sie. Je nach ihrem Alter wird manchmal auch zu einer etwas seriöser klingenden Vokabel gegriffen: zur Alleinstehenden Frau.

Ich bevorzuge inzwischen einen anderen Namen. Ich spreche lieber von der Singulären Frau. Und ich sage es besser gleich: Ich bin ihr Fan.

ÜBERRUMPELUNG

Einen einzigen Grund gibt es für die Tatsache, dass ich mittlerweile an die hundert Bücher über sie gelesen, seit drei Jahren tagein, tagaus über sie nachgedacht, dabei oft gestaunt, sie bewundert und so manches Mal den Kopf über sie geschüttelt habe: Ich bin selbst so eine. Ich stehe, sitze, liege allein, und das nun schon seit einer ganzen Weile. Langsam, aber sicher bin ich auf diesen Status zugesteuert. Ohne es beabsichtigt zu haben. Ich meine: Es gab keinen Beschluss.

Allerdings auch keine Vorsichtsmaßnahmen, keinerlei Gegenwehr meinerseits. Wenn Leute über ihr Privatleben sprechen, als sei es etwas, das sie managen müssten, gruselt es mich. Ich lebte und liebte ohne Businessplan. Ganz frei, ganz natürlich ließ ich die Dinge sich entfalten, so wie sie sich eben ergaben. Man könnte auch sagen: Das Alleinstehen ist mir unterlaufen. Und als es mir eines Tages endlich auffiel, wusste ich erst nicht, was ich davon halten sollte.

Sieh an, da ist also DAS aus dir geworden: eine, die selten küsst oder Küsse abbekommt; eine, die kaum mal streichelt und nie gekitzelt wird; eine, die fast alle Angelegenheiten ohne jeden Rückhalt erkundet, entscheidet, genießt und erleidet; eine, die es sich inzwischen kaum noch anders vorstellen kann. Voilà: eine alleinstehende Frau in ihren gerade noch besten Jahren.

Ich war Mitte vierzig, als ich es begriff. Und zunächst tat ich mich schwer damit, es zu akzeptieren, mich darin wiederzufinden — es letztlich dann auch zu fühlen. Jedes Mal wenn ich es mir laut vorsagte, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, kam ich mir überrumpelt vor, und die junge Frau in mir zog eines ihrer empörten Gesichter: Hey, wovon redest du da, hör sofort auf mit diesem Mist!

Eigentlich ist bei mir alles ganz normal. Ebendies war anfangs das Irritierendste für mich. Ich bin eine westdeutsch erzogene Bewohnerin der angeschlagenen Mittelschicht, weiß, ausgestattet also mit streichkäseblasser Haut, außerdem mit Körpermaßen innerhalb des Durchschnitts, wenn auch am unteren Ende; es fehlen nur zwei Höhenzentimeter, und ich hätte Flugbegleiterin werden können, bloß anderthalb Körbchengrößen zur Messehostess. Weder neige ich zu politischer Radikalität, noch bin ich religiös. Nie bekam ich irgendwelche psychischen Auffälligkeiten attestiert, und ich nehme keine harten Drogen. Mein Begehren richtet sich auf Männer, an Nullachtfünfzehnsexualität kann ich mich aufrichtig erfreuen, weshalb man mich, wollte man den aktuellen genderpolitischen Jargon benutzen, als heterosexuelle cis Frau bezeichnen würde — als urtypische Ureinwohnerin der legendären Mehrheitsgesellschaft. Sie ist, zumindest auf den ersten Blick, mein privilegiertes Zuhause, in ihr gehe ich auf und fast vollständig unter. Kompakter gesagt: I COULD HAVE IT ALL — wenn ich nur wollte.

Mit dem anderen Geschlecht habe ich mich immer gut verstanden, glaubte ich all die Jahre, glaubt ein Teil von mir noch heute, und meine Selbstverortung im Fach der Liebe war die längste Zeit klar, ich wusste genau, was ich diesbezüglich von mir zu halten hatte.

Erstens: Ich habe Schlag bei Männern.

Zweitens: Ich bin der Beziehungstyp.

Achtzehn Jahre lang war ich durchgängig jemandes Partnerin, feste Freundin, Gefährtin, Beinahe-Ehefrau. Oder umgekehrt: Von meiner ersten Verliebtheit an bis zu meinem fünfunddreißigsten Lebensjahr hatte ich ununterbrochen jemanden an meiner Seite.

Dann ist der Faden gerissen.

Nein. Anders.

Ich selbst habe den Faden aufgeribbelt, bis er so dünn wurde, dass ihm nicht mehr zu trauen war, und eines Tages habe ich ihn dann zerschnitten.

Nie war ich verheiratet, und doch kommt es mir jetzt oft so vor, als führte ich das Leben einer halbwegs glücklich Geschiedenen.

Oder das einer glimpflich davongekommenen Deserteurin.

Einer wacker sich haltenden Veteranin der Liebe.

Eine Frau kann auf unterschiedlichste Art alleinstehen oder Single sein, sie kann es mögen oder schrecklich finden, und der Weg, der sie dahin geführt hat, ist einzigartig, Ergebnis höchstpersönlicher Verwicklungen, Entscheidungen, Schicksalsschläge und Zufälle. Eines wird, meinem Eindruck nach, oft übersehen: In jeder Frau steckt eine Frau ohne Begleitung, ob sie will oder nicht. Jede war es einmal, mindestens vor ihrer ersten Liebe oder später: zwischen ihren Beziehungen. Oder sie ist es gerade jetzt, wer weiß, wie kurz oder lange schon. Oder sie ist es jetzt gerade nicht, stellt es sich heimlich aber immer mal wieder vor. Oder sie wird es künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit einmal sein, und sei es als Witwe. Mittlerweile denke ich: Nur deshalb schauen Frauen Single-Filme so gern, verfolgen sie so neugierig die Trennungsstorys prominenter Paare, studieren sie so aufmerksam die Lebensläufe starker Frauen, die erst im Alleinsein zu sich selbst fanden: weil jede weiß, dass es jederzeit auch sie treffen kann. Vielleicht liebäugelt die eine oder andere längst von sich aus mit dem Absprung aus einer miserablen Zweisamkeit.

Für viele beginnt es voller Unruhe — mit einem schwindlig machenden Aufatmen, einer dröhnenden Wut oder einem alles beschwerenden Schmerz. Manchmal kommt auch alles drei zusammen und lässt sich nur schwer auseinanderhalten. Es hängt davon ab, wie die Frau ins Alleinsein gestolpert, gekrochen oder stolziert ist, freiwillig oder unfreiwillig, beschwingt oder gefasst, triumphierend oder verstört. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen, sagen diejenigen, die sitzengelassen wurden. Mir geht es jetzt besser als zuvor, verkünden die, die selbst den Schlussstrich zogen.

Die eine mag zwei, drei Monate für angemessen und wahrscheinlich halten, bis etwas Neues sich ergibt, vermutlich ist sie noch recht jung. Die andere mag schon etwas gereifter sein und über ein realistischeres Naturell verfügen und geht lieber gleich mal von zwei, drei Jahren aus. Nur die wenigsten dürften schon im Voraus — und ohne nervös zu werden — zwei, drei Jahrzehnte als Übergangszeit ins Auge fassen.

Doch auch solche gibt es: Frauen, deren letzte Verbindung, Romanze, Kuschelei so lange zurückliegt, dass sie sich kaum noch daran erinnern können; dass ihnen die gemeinsamen Ausflüge, Ekstasen und Grundsatzdiskussionen wie unscharfe Szenen aus einem Film vorkommen, dessen Titel sie vergessen haben. Es ist nicht so, dass sie alle tagein, tagaus ein Tränenmeer deswegen weinen. Irgendwann ist auch mal gut.

Die radikalsten aller Solistinnen sind sicher diejenigen, bei denen von einem wie auch immer gearteten Liebesleben überhaupt gar keine Rede sein kann, Frauen, die keinerlei Davor kennen, nur ein Noch-nie. Eine von ihnen ist die wohl meistzitierte Single-Theoretikerin der Welt, die US-amerikanische Psychologin Bella DePaulo. Sie hat sich nach eigenen Angaben nie auch nur auf die flüchtigste Paargeschichte eingelassen. Mit knapp über fünfzig gab sie erhobenen Hauptes bekannt, schon als single at heart zur Welt gekommen zu sein.3

Seltener melden sich die unfreiwillig Noch-nie-Verbandelten zu Wort, diejenigen, für die das Leben à elle seule weder je ein Fest der Selbstliebe war noch ein Akt des angewandten Feminismus, noch eine irgendwie zu überspielende Phase, sondern nichts als eine einzige schmerzvolle Verbannung. Die Frau, die keinen Tag ihres bisherigen Lebens jemanden an ihrer Seite hatte, obwohl sie es sich so sehr wünscht: Zählt sie mit, wie oft sie schon versucht hat, jemanden zu finden? Sie weiß, was man über sie denkt und sagt, über die Unvermittelbare, die Schwierige, die Loserin — »die Hässlichen, die Alten, die Mannweiber, die Frigiden, die schlecht Gefickten, die nicht Fickbaren, die Hysterischen, die Durchgeknallten, [die] vom großen Markt der tollen Frauen Ausgeschlossenen«, wie die französische Schriftstellerin Virginie Despentes gängige Schmähungen der Ungeliebten einmal aufgezählt hat.4

Lebt die Frau auf der Straße, unter einer Brücke, im verwehten Eingang einer U-Bahn-Station, mit einem Schweizer Sennenhund als einziger Begleitung, erfährt sie sicherlich andere Überraschungen und Schwierigkeiten, als wenn ihr Lieblings-Chihuahua sich in der einst noch mit dem Ex angeschafften Eigentumsmaisonette immer wieder ausgiebig in den begehbaren Kleiderschrank erbricht.

Mit Kind in der Fünfzigquadratmeterbude ist es anders als ohne Kind in der Fünfzigquadratmeterbude.

Im Studierendenwohnheim ist es anders als im Altersheim ist es anders als im Frauenhaus ist es anders als in der Asylunterkunft.

Beim netzfeministischen Symposium, beim Powerfrauen-Get-together, beim Female-only-Weekend im Wohlfühl-Retreat ist es garantiert sehr anders als jeden Mittwoch-, Donnerstag-, Freitag-, Samstagabend in Moni’s Pinte, wo die Frührentner, faulen Kerle und Säuferinnen hocken.

Findet sie sich hübsch, kann es ziemlich aufregend für sie sein, bestimmt ist es sehr viel leichter, als wenn sie ihr Spiegelbild kaum erträgt.

Begrüßt man sie mit »Schönen guten Morgen, Frau Professor«, ist es ein völlig anderes Ding, als wenn die Nachbarskinder »Hilfe, da kommt die Irre!« rufen, wenn sie den Müll rausbringt.

Ist sie siebenundfünfzig, hat sie für alles Weitere weniger Zeit, als wenn sie achtundzwanzig ist, dafür hat sie mehr Erfahrung und lässt sich nicht so leicht aus der Fassung bringen.

Die eine hofft, dass es schnellstmöglich vorübergeht, die andere findet nach und nach Gefallen daran — und ihnen allen fühle ich mich inzwischen eng verwandt. Jede Einzelne ist ein Kunstwerk für sich. Und doch macht die Frau ohne Begleitung immer wieder Erfahrungen, die sie mit anderen Solistinnen verbindet. Es fängt am Katzentisch in der Gaststätte an und hört bei Blicken und Bemerkungen, einer bestimmten Art von Fragen, Komplimenten und Beleidigungen, die oft nur schwer zu greifen sind, nicht auf. Sie wird beobachtet — oder glaubt, beobachtet zu werden. Davon sprechen jedenfalls die meisten Zeugnisse, die die Solistin bisher hinterlassen hat, und davon weiß auch ich zu berichten.

WIE ICH DIE LIEBE VERLERNTE

Im Vergleich zu den Sitzengelassenen und den Nichtbeachteten darf ich mich wohl zu den Superprivilegierten unter den Solistinnen zählen. Ich kann es leichtnehmen, denn ich bin eine von denen, die, erstens, selbst daran gedreht haben, bewusst oder unbewusst, dass es so kam, und die, zweitens, über genügend Möglichkeiten verfügen, ihr Alleinsein so zu gestalten, dass es ihnen einigermaßen gefällt.

»Ich bin zweiundvierzig, und während alle meine Freunde verheiratet sind oder in Langzeitbeziehungen stecken, habe ich selbst irgendwie vergessen, mich darum zu kümmern.«5

So beiläufig umreißt die britische Journalistin Naomi Harris, 1974 geboren, vier Jahre jünger als ich, ihr schlafwandlerisches Schlingern ins Alleinstehen hinein. Ähnlich lief es bei mir. »Irgendwie vergessen«: Ich wünschte, ich könnte eine überzeugendere, eine politischere Erklärung liefern. Aber die gibt es nicht. Oder gibt es sie doch, und ich bin gerade dabei, sie zu erschließen?

Meine Geschichte, die Liebesgeschichte, von der aus ich mich der Frau ohne Begleitung nähere, geht so: Weder wurde ich je von einem Mann geschlagen noch vergewaltigt, noch beklaut. Ich habe geliebt und wurde geliebt, so gut der andere und ich es eben konnten, und habe niemandem gravierende Vorwürfe zu machen, nichts, was über das Er-sagt-sie-sagt-, das gewöhnliche Wie-konntest-du-mir-das-antun-Niveau hinausgeht. Ich weiß, wie es ist, mit einem Mann zusammenzuwohnen, wie sich ein gemeinsames Klingelschild und zehn gemeinsame Jahre anfühlen — eheähnlich, würde ich sagen —, habe drei ernsthafte, sozusagen wahre Beziehungen erlebt, zwei, drei flüchtigere Geschichten, eine Long-Distance-Sache mit schwer psychotischer Note sowie eine bescheidene Zahl von One- und Two-Night-Stands; wurde betrogen, habe nicht Schluss gemacht deswegen, sondern kratzte, zugegebenermaßen etwas mühsam, Verständnis zusammen — Verständnis für dieses, Verständnis für jenes, was weiß ich, woher ich es immer nahm — und bin selbst nie fremdgegangen, auch wenn ich es einmal in Erwägung zog, nicht aus Erlebnishunger oder Lust, sondern aus niederen Beweggründen, die sich unter dem Schlagwort #Rache bündeln lassen. Zweimal habe ich einen Heiratsantrag bekommen, einmal auf einer Party, gegen halb vier in der Früh, das andere Mal auf Reisen, in einer nordamerikanischen Großstadt, von einem Obdachlosen, an den ich ab und zu noch immer warm denke. Zweimal wurde ich gefragt, ob ich ein Kind machen wolle, zweimal sagte ich: »Jetzt lieber nicht«, wobei ich einmal dachte: Mit dir lieber nicht. Klopfte einer meiner Partner sexistische Sprüche — oft klangen sie gar nicht sonderlich übel, vielmehr witzig, manchmal sogar originell — über eine seiner Ex-Freundinnen oder Kolleginnen, eine TV-Moderatorin, eine Politikerin, eine Kellnerin oder seine Mutter, redete ich mir ein, ich hätte mich verhört. Nun ja: Ich schluckte es meist. So wie immer mal wieder eine teelöffelgroße Portion Sperma, das ja sehr proteinhaltig sein soll. Legte ein Mann eine ausgeprägte Cunnilingushemmung bei diametral hohem Fellatiobedarf an den Tag oder erschütternd eintönige Rektalpräferenzen oder gelegentliche Erektionsschwierigkeiten oder ein anderes eventuell Binge-Porno-induziertes Problem, nahm ich es nie persönlich, machte keine große Sache daraus und versuchte, ihm — und mir — trotzdem ein gutes Gefühl zu geben. Ich stellte frische Blumen in die Zimmer und briet Bratkartoffeln, nie flogen Teller durch die Wohnung. Einmal wurde ich als perfekte Freundin gelobt, etwas später als perfekte Frau, und mit den drei Lieben meines Lebens bin ich bis heute lose befreundet. Unverdächtiger — oder sollte ich sagen: geschmeidiger — als meines kann das Liebesverhalten einer gegenwärtigen heterosexuellen Großstadtfrau kaum sein. Nur ein etwas sperriges Detail ist mir im Nachhinein aufgefallen: Letztlich war immer ich es, die früher oder später gesagt hat: Lass es uns hier beenden.

Eines Tages beschloss ich, am Spielfeldrand der Liebe Platz zu nehmen, um das Geschehen erst einmal aus komfortablem Abstand zu verfolgen. Ich nahm an, dass es ein Leichtes wäre, an Tag Y erfrischt wieder einzusteigen und zu meinen Leuten zu sagen: »Das ist übrigens mein neuer Freund, der Mann, den ich jetzt liebe.«

Doch die Zeit verstrich, wie es typisch für sie ist, ich hatte einiges zu tun, stieß plötzlich auf so viele Dinge, die ich ergründen wollte, erfuhr meine eigene Freundlichkeit und Furchtlosigkeit auf neue Art, entdeckte etwa mein Talent, mit wildfremden Menschen herzerquickende Zufallsgespräche zu führen, in der Bahn, auf einer Parkbank, schloss Freund- und Bekanntschaften in ungeahnten Zusammenhängen, wurde, da niemand sein wachendes Auge auf mich hielt, das, was man vielleicht gelassener, vermutlich offener nennt, konnte einfach sein, nicht jemandes Frau — es war so ermüdend, oft so undankbar —, sondern zur Abwechslung einmal vor allem Mensch, Mensch unter Menschen, und erhielt sehr viel dafür zurück. Fast traute ich meiner eigenen Wahrnehmung nicht, aber womöglich … blühte ich auf?

»Gib Acht, dass du dir die Liebe nicht abgewöhnst, das geht schnell, nicht, dass du’s verlernst!«, sagten ab und an, lachend, ein paar Menschen, die es gut mit mir meinten. Ebenfalls lachend schlug ich ihre Warnungen in den Wind. »Später mal wieder, bestimmt!«, versicherte ich ihnen und mir selbst.

Ich tröstete Freundinnen, die dachten, ihr Herz sei gebrochen, und half anderen, die E-Mails ihres Schwarms zu interpretieren, mitunter eine hermeneutisch höchst anspruchsvolle Übung6. Ich beglückwünschte Paare zu ihrem zweiten oder dritten Kind und stellte mich zur Verfügung, wenn eine oder einer von ihnen endlich mal wieder alleine ausgehen wollte: »Du weißt doch bestimmt, wo am Samstag was los ist!« Das Treiben auf dem Platz ging ungebrochen weiter, und in vielem erkannte ich mich und meine früheren Partner wieder. Ja, ich sah mich selbst, wie ich gerannt und gesprungen war, im Namen der Liebe, wie ich gekeucht, geschwitzt, gejubelt und bei Fouls vor Empörung aufgeheult hatte, wie ich den Schiedsrichter suchte, um mich zu beschweren — wo war er denn, verdammt? —, wie ich meinem Mitspieler jauchzend vor Freude in die Arme stürzte, ihm Pässe zuspielte und versuchte, seine zu verwandeln, und wie ich mich nach jeder Partie rücklings auf den Rasen fallen ließ, mal tränenüberströmt und völlig fertig, mal berauscht von Endorphinen, erleichtert, dass ich es hinter mir hatte.

Schleichend geschah etwas Merkwürdiges: Je länger ich auf der Bank saß, desto unattraktiver erschien mir, was ich vom Spielfeld mitbekam. Von der Seitenlinie aus betrachtet, wirkte das Spektakel ungeheuer ritualisiert und dabei oft lächerlich, bizarrer noch, als es in allen schlauen Büchern stand. Beinahe tat es weh, es mitanzusehen, kaum konnte ich es fassen: wie viele angespannte Tage und schlaflose Nächte ich deswegen verbracht, wie sehr ich mich dieser Sache einmal verschrieben und wie merkwürdig auch ich mich dabei verhalten hatte — dass tatsächlich ich das gewesen war.

»Bis zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag war ich genauso oft flachgelegt worden wie meine Freundinnen, und ich war auch zweimal verheiratet und zweimal geschieden, und all das hat eine Frau veranstaltet, die ich nicht kannte (ich), mit einem Mann, den ich nicht kannte (die Bräutigamfigur auf dem Hochzeitskuchen).«

Vivian Gornick, die New Yorker Essayistin, Feministin und Langzeitsolistin, hat eine solche Entfremdung von ihrer amourösen Vergangenheit ebenfalls schon erlebt. »The Odd Woman and the City«7 — »Die seltsame Frau und die Stadt« — heißt der Essay, dem das obige Zitat entnommen ist, Gornick veröffentlichte ihn 2015, kurz vor ihrem achtzigsten Geburtstag, als sie schon seit fünfundvierzig Jahren ohne Begleitung unterwegs war. Im gleichen Alter, in dem Gornick es einst tat, mit Mitte, Ende dreißig, just in dem Alter, in dem die sagenumwobene biologische Uhr einer jeden Frau angeblich besonders laut tickt, begann also auch ich, es mir auf der Zuschauerinnenbank gemütlich zu machen, und im Rückblick würde ich sagen, es dauerte kein Jahr, bis mir aufging, was bis heute seine Gültigkeit hat: Erst seit ich nicht mehr Teil eines Paares bin, gab es kaum noch einen Tag, an dem ich mich alleingelassen fühlte.

Gelegentlich begegnete mir ein Mann, der mir auf die eine oder andere Art gefiel. Aber ich engagierte mich nicht sonderlich. Es genügte mir, ab und an ein wenig herumzuplänkeln. Sobald die andere Seite sich stärker zu begeistern schien, achtete etwas in mir darauf, die Angelegenheit in die lauwarme Zone zurückzuführen. Ich habe wenig Zeit, lautet die Formel, mit der ich mich entzog und bis heute entziehe, und sie war beziehungsweise ist nie direkt eine Lüge. Ich hätte Zeit, immer gehabt. Wenn ich mir aber vorstellte oder vorstelle, X oder Z öfter zu treffen als alle sechs, acht Wochen einmal, wurde und wird mir eng ums Herz. Ich pflege so meine Wege, Leidenschaften und Routinen, bin eine Freundin und Bekannte von so vielen und genieße auch meine liebe Abgeschiedenheit so sehr, immer mal wieder für ein paar abgeschaltete Tage am Stück. Temporäre Unerreichbarkeit ist der Luxus, in dem ich schwelge, wann immer ich ihn mir leisten kann.

»Ich ließ mich gelegentlich lieben, aber mit dem Gefühl, fehl am Platz zu sein, so dass sich kein rechter Genuss einstellen wollte, verliebte mich ab und zu in ein Erscheinungsbild und entliebte mich wieder, sobald ich die Wahrheit hinter dem Bild entdeckte — immer recht schnell, leider! Festzuhalten ist, dass ich traurig war, und emsig«,

notierte die französische Journalistin und Politikerin Françoise Giroud im Sommer 1960.8 Sie war vierundvierzig, einmal auf eigenen Wunsch geschieden, danach einmal schwer verletzt, von einer großen und großartig zerbrochenen Liebe, und verbrachte hadernde Wochen »allein unter der Mittelmeersonne, in einem verheerenden Zustand«, mit einer Reiseschreibmaschine als einzigem Gegenüber.

Emsig war auch ich. Traurig nicht so sehr. Verheerend kam mir mein Zustand keinesfalls vor. Es war viel schlichter, sanfter: Ich verliebte mich nicht mehr.

War ich doch einmal kurz davor — es geschah zweieinhalb Mal in den vergangenen sechs, sieben Jahren —, stellte sich früher oder später heraus, dass es bereits eine Frau im Hintergrund gab; die Mutter eines gemeinsamen Kindes, von der derjenige lang schon getrennt war, nur des Kindes wegen wohnte man noch zusammen, und da die Kindsmutter ziemlich sensibel war, wäre ein Hausbesuch ungünstig gewesen; eine Ehefrau, die sich beruflich länger im Ausland aufhielt; eine hin und her mäandernde Long-distance-on-off-Amour-fou, die ab und an in die Stadt kam, dann natürlich mit älteren Rechten, aber hey, sie fuhr ja auch wieder weg! All die Frauen im Hintergrund, da bin ich mir sicher, wussten nichts von den Blinzeleien, die die Männer an ihrer Seite ab und an mit einer wie mir veranstalteten, einer, die sie fälschlicherweise für besonders dankbar und / ​oder easy going hielten, weil sie es bestimmt mal wieder brauchte. Zu meiner eigenen Verblüffung brauchte ich es aber nicht. Nicht so dringend jedenfalls, wie es mir früher vorgekommen sein mag.

So vergaß ich heimlich, still und leise, warum das angeblich Wichtigste im Leben das Wichtigste im Leben war. Vielleicht konnte man es tatsächlich verlernen. Oder es war einfach so: Mein Leben hatte sich zu einer anderen Sportart entwickelt. Ich beherrschte sie und amüsierte mich damit, ohne viel darüber nachzudenken, ich fühlte mich wohl.

Bis ich erschrak, vor nichts und niemandem als mir selbst.

Ich denke, mein Erschrecken — ich werde später noch davon erzählen — lag darin begründet, dass ich nicht von selbst auf meine Lage gekommen war. Mit der Zeit häuften sich die Gelegenheiten, bei denen andere mich auf mein sich verfestigendes Alleinsein ansprachen. Die unverlangten Aufmunterungen nahmen zu: »Lass den Kopf nicht hängen, wird schon noch!«

Es ist merkwürdig, mit Mitleid überschüttet zu werden, wenn es doch gar nicht nötig ist. Anfangs fand ich es albern. Dann begann es zu nerven. Nach einer Weile machte es mich aggressiv. Vorübergehend spielte ich zur Gegenwehr ein wenig Theater. Erkundigte sich wieder einmal jemand sorgenvoll nach meinem Beziehungsstatus, seufzte ich lieblich, drehte meine Augen zur Decke und behauptete: »Ach, es ist kompliziert …« Ein billiger Trick. Er funktionierte jedes Mal. Sofort ließen die romantischen Hysterikerinnen und Hysteriker von mir ab. Aus der Formulierung »Es ist kompliziert« schlossen sie wahrscheinlich Folgendes: O weh, es läuft wohl nicht gerade glänzend zwischen ihr und ihrem Typ, na ja, wer kennt das nicht, Hauptsache, sie hat mal wieder jemanden!

Mit der Zeit wurde es mühsam. Und immer unglaubwürdiger, auch für mich selbst. Das Nagen, Bohren, Stochern zeigte Wirkung, mein sorgsam kuratiertes Selbstbild bekam Risse. Von einer lockeren Übergangszeit konnte bei mir tatsächlich keine Rede mehr sein. Hielt ich die Strippen überhaupt noch in meinen Händen? Oder war der berühmte Zug für mich bereits abgefahren, und alle anderen wussten es, nur ich lungerte ahnungslos noch am Bahnsteig herum und tat wie ein angeberischer Teenager so, als ob ich sowieso etwas viel Besseres vorhätte?

Vielleicht war es in Wahrheit mein Alter, das mich ab einem gewissen Punkt entsetzte, die Idee der Endgültigkeit-an-sich und der siedend heiße Gedanke: Hatte ich etwas übersehen, verschlafen oder fahrlässig zerstört, etwas, das ich in den silbergrauen Jahren doch noch brauchen könnte? Hatte ich meine Optionen voll ausgeschöpft, wie ein funktionstüchtiger Gegenwartsmensch es gefälligst tut, zack, zack?

Ein Versagerinnengefühl flackerte in mir auf.

Womöglich war ich nicht unabhängig, sondern übrig geblieben und wollte es bloß nicht wahrhaben, aus Eitelkeit und Stolz.

Weitere unangenehme Regungen machten sich bemerkbar:

Enttäuschung.

Traurigkeit (ab und an natürlich doch ein wenig, es wäre kindisch, es zu leugnen).

Neid.

Scham.

Trotz.

Bis mir, nach und nach, alles eingeleuchtet hat.

Und schließlich: doch wieder zu gefallen begann.

Meine Vermutung ist, dass viele Frauen sich immer mal wieder mit ähnlichen Überlegungen herumschlagen. Eine Zeit lang schlich ich wie ein angeschossenes Reh durch die Gegend. Sehr klein, sehr wackelig, sehr verletzlich erschien mir auf einmal meine Einzelexistenz. Ich wünschte mir einen trostspendenden Spiegel. Eine Kollegin, eine Alliierte. Ein weibliches Idol, an dem ich mich wieder aufrichten konnte. In dieser Stimmung begann ich, der Frau ohne Begleitung hinterherzuspionieren. Alle schienen mich vor ihr zu warnen. Aber wer war sie denn eigentlich? Die Unheimliche. Die große Unbekannte. Ein Phantom. Wahrscheinlich war sie ganz einfach: ich.

WIE ICH ZU DENKEN BEGANN

Anfangs ohne jegliches Konzept, getrieben von schierer Selbstunsicherheit, begab ich mich auf die Suche nach Filmen, Musik, Kunst, Büchern, die von der Solistin erzählten, und stieß zunächst auf ein Schottergebirge allerbeschickertster Prosecco- und Vibrator-Prosa. Es war schlimmer, als ich befürchtet hatte. Wie eine Zeitreise in die 1990er Jahre. »Liebe dich jetzt … und die Männer stehen Schlange«, versprach eines von siebzigtausend Werken, die ein weltberühmter Onlinehändler zum Thema auf Lager hatte. »95% meiner Socken sind Single — Und? Heulen sie deswegen?«, hieß eine andere Schrift auf der Einkaufsempfehlungsliste. Ein aufblasbarer Ehemann aus ökoschweinischem PVC-Plastik war für unter zehn Euro zu haben. »Sei frech & wild & wunderbar!«9, stand auf einer Geschenkbox für mehr Glück, die 50 Gute-Laune-Kärtchen für die Single-Frau enthielt und zum Sofortbestellpreis von sechs Euro neunundneunzig frei Haus geliefert wurde. Gehörte ich wirklich zur Zielgruppe? Richtete sich dieses Blödsinnswarenangebot allen Ernstes an mich, einen erwachsenen Menschen? In pastelligen Kleinkinderfarben, fifty shades of Blassrosa, wurde die Solistin angesprochen, als ob sie das dümmste Huhn der Welt wäre. Es war widerlich. Kränkend. Ehrabschneidend.

Die Lebensrealität einer an die Fünfzigjährigen, halbwegs gebildeten, modisch nur mäßig und kosmetisch so gut wie gar nicht interessierten, leider nicht gerade wohlhabenden, dafür extrem low-budget-erfahrenen, grundsätzlich reisefreudigen, musikaffinen, sich nicht fortgepflanzt habenden, ansonsten aber sehr menschenfreundlichen, kulinarisch minderbegabten, von Flirts einstweilen abgeturnten, höchst selten kopulierenden Frau: Offensichtlich waren die Algorithmen auf einen solchen Fall nicht vorbereitet.

So musste ich meine Recherche im Segment Special Interest fortführen. Auf abgelegenen Webseiten, in versteckten Blogs, Sozialwissenschaftsforen und gut sortierten Antiquariaten forschte ich weiter. Bald grub ich mich rückwärts durch die Zeit, tief in die Vergangenheit hinein, und je besser ich die Frau ohne Begleitung dabei kennenlernte, desto klarer wurde mir, dass ich mich mit meinem Alleinsein in bester Gesellschaft befand. Denn die Frau ohne Begleitung ist ein beeindruckendes Wesen. Ja, ich halte sie inzwischen für die eigentliche, die wahre Heldin der Moderne — eine entscheidende Pionierin des 20. und vielversprechende Protagonistin des 21. Jahrhunderts.

Erst kamen die Fabriken und das elektrische Licht, der Krieg, die Demokratie und die Wahlrechtsreform, der Faschismus, der Holocaust und der nächste Krieg, dann wieder die Demokratie, auf der einen Seite der Mauer das angebliche Wirtschaftswunder, auf der anderen der real existierende Sozialismus, das Fernsehen, die Pille und die Popkultur, Emma und die Wende, das Internet, »Sex and the City« und der Neoliberalismus, Hartz IV und die Pandemie — und die Frau ohne Begleitung war beziehungsweise ist zur Stelle. Als Trümmerfrau räumte sie den Schutt zur Seite; als Alleinerziehende päppelte und päppelt sie neue Bürgerinnen und Bürger groß; als Ehrenamtliche schwitzt sie für die eine oder andere Verbesserung der Welt; als ultraflexible Leistungsträgerin bringt sie ihre soften Talente ins Bruttosozialprodukt ein; als knapsende Mindestrentnerin macht sie kaum Mucken. Alle Veränderungen in der Arbeitswelt und in den Familien, allen Gender-Trouble10 hat sie auf ihren schmalen Schultern mitgetragen, nicht selten überlastet, ausgebeutet und erschöpft, oft aber auch neugierig und lustvoll. So manches Mal ist ihr Bewusstsein den Verhältnissen vorweggeeilt, dann ist sie vor allen anderen losgeprescht, als mutige oder unfreiwillige Avantgarde11. Kläglichste Missstände hat sie ausgebadet, an allen möglichen Verkrustungen hat sie geknispelt und gekratzt. Und immer wieder wurde sie dafür als Störenfriedin kritisiert, als Mangelwesen fernanalysiert oder als Problemfall bedauert. Noch immer sehen viele in ihr nichts als ein tragisches Überbleibsel eines gesellschaftlichen Wandels — den die Frau ohne Begleitung doch selbst maßgeblich losgetreten, innig ersehnt oder durch ihr bloßes Dasein beschleunigt hat.

Sie war jedenfalls die Erste, die das ungleiche Spiel zwischen den Geschlechtern für alle sichtbar in Frage stellte, schon mit der Art, wie sie lebte: eben allein, ohne einen Gatten, der lange Zeit — hierzulande noch bis weit in die 1970er Jahre hinein — qua Gesetz befugt war, über ihr Leben (und das ihrer Kinder) zu bestimmen. Vor über zwei Jahrhunderten begann sie, für ihre Bildung, ihre wirtschaftliche Autonomie und ihr Wahlrecht zu kämpfen, und sie tat es für alle Frauen, auch die vermählten. »Unverheiratete Frauen bildeten das eigentliche Rückgrat der ersten Frauenbewegung«, wie die australische Politologin Sheila Jeffreys es formuliert.12

Auch heute bildet die Frau ohne Begleitung wieder eine Avantgarde. Achtzehn Millionen Alleinstehende zählte das Statistische Bundesamt im Jahr 2020.13 Neuneinhalb Millionen davon waren Frauen, eine davon war ich — ein Massentierchen. Insgesamt hat sich die Zahl der Einpersonenhaushalte seit dem Nachwendejahr 1991 fast verdoppelt, nicht nur in den großen Städten, sondern, in etwas flacherer Kurve, auch auf dem Land. Zweiundvierzig Prozent aller deutschen Privathaushalte bestehen inzwischen aus lediglich einem Menschen, und nach Einschätzung des Bundesinstituts für Raumforschung wird dieser Anteil in den kommenden Jahrzehnten noch kräftig steigen.14

So gesehen, lebt die Frau ohne Begleitung schon heute in der Zukunft. Ob von ihr selbst so gewünscht oder gezwungenermaßen: Erneut ist sie vielen anderen einen Schritt voraus. Wie sie es im Grunde immer schon war. Um die vorletzte Jahrhundertwende als Junggesellin; in den 1920er und 1930er Jahren als Neue Frau; in der Nachkriegszeit als Ledige; seit den Swinging Sixties als Single. So wie die gesellschaftlichen Bedingungen sich nach und nach wandelten, so verschob sich die Stellung der Solistin im Gesamtgefüge, und so änderten sich auch die Bezeichnungen, die man ihr gab.

Es war höchste Zeit für ein Update, überlegte ich.

Das Single-Wort war schon in Gebrauch, als der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West sich gerade erst herabsenkte, bevor die Beatles ihren ersten Hit landeten, bevor das Farbfernsehen in die Wohnzimmer kam und bevor Frauen freien Zugang zur Pille als Verhütungsmittel hatten. Es stammte aus einer lang schon versunkenen Welt. Eine Menge, fast alles, hatte sich seither verändert, insbesondere für Frauen. Das 21. Jahrhundert gibt nun einen radikal anderen Rahmen fürs weibliche Alleinleben vor. Schon deshalb hatte die Solistin der Gegenwart eine eigene Vokabel verdient — das weibliche Alleinstehen, -sitzen und -liegen, das längst seine eigenen Traditionen hat und sich doch ständig fortentwickelt und dessen große Blütezeit womöglich gerade erst beginnt.

Den Vorgängerinnen kann nicht genug gedankt werden. Hätten sie in ihrer jeweiligen Zeit nicht so offen und vielstimmig vom weiblichen Leben ohne Begleitung erzählt, in ihren Romanen, Essays, Artikeln und Liedern, hätten viele Frauen, die nach ihnen kamen, jenes Leben vielleicht gar nicht erst gewagt. Hiermit werfe ich auch meine kleine Story in den großen Pool, wer weiß, wofür sie einmal gut sein mag. Sie ist nicht sonderlich spektakulär, aber vielleicht muss sie das auch gar nicht sein. Genau darum geht es ja: Das Leben ohne Begleitung ist nicht besser, aber auch nicht schlechter als das gebundene. Es ist ein komplettes Leben. Eines von vielen möglichen Frauenleben. Einfach: ein Leben.

Die AGB, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen für dieses Buch, copye und paste ich von Virgina Woolf. Frau Woolf, die dafür bekannt ist, dass sie jeder Frau ein Zimmer für sich allein empfahl, schrieb vor knapp einhundert Jahren:

»›Ich‹ ist nur eine bequeme Bezeichnung für jemanden, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Lügen werden mir über die Lippen kommen, aber vielleicht mischt sich auch die eine oder andere Wahrheit darunter; es ist an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob es sich lohnt, irgendein Stück davon aufzubewahren. Falls nicht, werfen Sie das Ganze einfach in den Papierkorb und vergessen Sie es.«15

ENDLICH ANGEKOMMEN

Vielleicht beginnt die Geschichte, die ich erzählen will, an der Guillotine, mit der Hinrichtung einer zornigen Single Mom, vor Hunderten von Schaulustigen, mitten in Paris.

Vielleicht startet sie in den Studierzimmern ehrgeiziger höherer Töchter an der Ostküste der USA.

Vielleicht nimmt sie in der europäischen Fischerei- und Textilindustrie ihren Lauf, in den überbelegten, schlecht belüfteten, kaum beheizten Unterkünften hart arbeitender Fabrikfrauen.

Vielleicht beginnt sie damit, dass ich als Grundschulkind lieber Cordhosen trug als Rüschenkleider, weil ich zu oft die »Rappelkiste«16 im TV geschaut hatte, eine optimistische Siebzigerjahresendung, in der Mädchen und Jungs gemeinsam im Matsch spielten, fast alle trugen sie androgyne Topfschnittfrisuren, von Weitem konnte man sie kaum unterscheiden, und sie kamen bestens miteinander klar.

Oder damit, dass junge Männer mich, als ich achtzehn, neunzehn war, wohl vor allem deshalb als Girlfriend in Betracht zogen, weil ich keine Tussi war, wie sie es ausdrückten, damals, bei uns in Hessen, abschätzig gegenüber anderen jungen Frauen, voll des Lobes für mich, mit der sie über Musik reden konnten wie mit einem Mann. Ich war keine, die an ihnen hing wie eine Klette, so sprachen sie, sondern eine, die garantiert keine roten Rosen, keinen Liebesbrief, keinerlei Extras zum Valentinstag erwartete. Wie ihnen das gefiel. Und wie es mir gefiel, dass es ihnen so gefiel.

Oder die Geschichte beginnt damit, dass meine Mutter, eine Vollzeithausfrau mit starkem Willen und bescheidener Bildung, mir stets deutlich zu verstehen gab, wie stolz sie auf jede einzelne Eins in meinen Schul- und Unizeugnissen war. Und damit, dass sie, die mit neunzehn zum ersten Mal schwanger geworden war, mich noch vor meinem sechzehnten Geburtstag, bevor ich mit irgendeinem Jungen auch nur Händchen gehalten hatte, zu ihrem Frauenarzt mitnahm und durchsetzte, dass er mir die Pille verschrieb, damit ich ganz bestimmt keine frühe Mutter würde und erst auf eigenen Beinen stünde, bevor ich mich um einen Mann und alles Folgende zu kümmern hätte, und damit, dass sie mir Bücher zum Geburtstag schenkte, von denen sie auf den Literaturseiten der Brigitte gelesen hatte, lauter Erzählungen von unabhängigen Frauen: »Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem« von Maryse Condé; »Breaking Glass. Die unheimliche Karriere einer Rockband« von Susan Hill; »Memoiren einer Intellektuellen« von Mary McCarthy.

Oder damit, dass, als ich Mitte dreißig war, einer meiner vielen männlichen Freunde zu mir sagte: »Du wirst dich entscheiden müssen. Wenn du jetzt noch ein Buch schreibst, oder sogar zwei, wird’s eng. Das vertragen nicht viele Männer, wenn eine Frau sie in solchen Dingen überflügelt, glaub’s mir, ich bin selber einer. Sie werden dich weiterhin ficken wollen, darauf kannst du wetten, aber heiraten werden sie was anderes.«

Vielleicht beginnt die Geschichte, die ich erzählen will, damit, dass ich mit den Schultern zuckte und »So what?« zu dem Freund sagte und mit einer lässigen, schlanken Handbewegung zwei Gin Tonic nachbestellte, praktisch wie im Film, und mir von außen, oben dabei zusah, »Geht auf mich!«.

An irgendeinem Punkt muss ich anfangen. Ich entscheide mich für die gerade erst vergangene Gegenwart.

»KARRIEREFRAU« WÄRE ZU VIEL GESAGT

Der Tag, an dem ich die alleinstehende Frau in mir erkannte, war ein nasskalter Freitag ohne sonstige Reize. Einer Bürokollegin habe ich die Einsicht zu verdanken. Sie ist achtzehn Jahre jünger als ich, stand kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes und hatte, da sie monatelang in die Elternzeit verschwinden würde, einen spontanen Abschiedslunch zu zweit vorgeschlagen. Jenes Mittagessen brachte die Dinge ins Rutschen, vielmehr: meinen Geist in Bewegung.

Äußerst ungern verbringe ich meine Mittagspause in Gesellschaft, und vielleicht sollte ich zunächst erklären, warum das so ist, wie und womit ich mein Geld verdiene. Als leitende Angestellte bin ich in einem Betrieb mit zweihundertvierzig Beschäftigten tätig, in einer Firma, die Nachrichtenim- und -export betreibt und dabei weltverbesserische Absichten verfolgt, weshalb das Duzen Pflicht und die Gehälter exorbitant niedrig sind. Meine Jobbeschreibung besagt, dass ich die publizistische Produktion am Laufen zu halten habe, und zwar auf die teamorientierte Art. Daher verbringe ich täglich neun bis zehn Stunden damit, Projektgruppen und Meetings einzuberufen, daher reden zwischen acht und achtzehn Uhr Menschen hektisch auf mich ein, und ich rede hektisch zurück und versuche, motivierende Zuversicht zu streuen. Ginge es nach mir, würde ich ohne Mätzchen einfach durchregieren. Aber so macht man es heute nun mal nicht mehr. Eine weiblichere Arbeitswelt haben wir jetzt, heißt es, auf die Menschlichkeit komme es an. In der Quintessenz bedeutet dies, dass ich mir keinen einzigen Tag mit schlechter Laune leisten kann.

»Arbeit ist grundsätzlich Frauenarbeit geworden, selbst die der Männer. […] Besonders junge weibliche Singles sind extrem wichtig für das Wachstum. […] Frauen werden dazu angehalten, sich selbst als Menschen mit guten Kommunikationsfähigkeiten zu sehen, ›wie geschaffen‹ für die Arbeit in Agenturen und Callcentern«,

schreibt die britische Philosophin Nina Power in ihrem Essay »Die eindimensionale Frau«17, und ich erkenne meinen Job beziehungsweise mich in meinem Job darin wieder. Für typisch weibliche Qualitäten werde ich bezahlt, diplomatisches Geschick, psychologisches Einfühlungsvermögen, unerschütterliche Umsicht. Tough soll eine weibliche Führungskraft sein, aber nicht biestig. Bestens informiert, aber um Himmels willen nicht besserwisserisch. Gern engagiert, aber bitte keine Furie. Das verbindende Glied, das inspirierend wirkt, stets ein offenes Ohr hat und seine Eigeninteressen zurückzustellen weiß — die perfekte Mutter. Zum Ausgleich für den Performancedruck gönne ich mir diesen einen Luxus: eine halbe Stunde zwischen zwölf und zwei, während der ich nichts von alldem hören will, während der man mir besser aus dem Weg geht. Ich bin die, die alleine isst.

Da es aber nun mal der letzte Bürotag der Kollegin war, gab ich ihrer Bitte um eine gemeinsame Pause nach. Ihre Anhänglichkeit rührte mich, und auch sonst fand ich sie nicht uninteressant.

Die Kollegin zählte zu den besonders Eifrigen in der Belegschaft, war gewissermaßen ein High Potential im Betrieb, eine der auf zornige Art schlauen jungen Frauen, die funkelnde kleine Metallstecker in ihren Nasenflügeln tragen und große Margarete-Stokowski-Verehrung in ihren Herzen. Sie ließen sich nicht die Hälfte dessen gefallen, was ich als weibliches Jungtalent noch hingenommen hatte. In ihren Artikeln erklärten sie messerscharf, wie Sexismus und Rassismus zusammenhingen, warum sie Vulva für ein besseres Wort als Vagina hielten, welche Fallen die Care Work mit sich brachte, die Arbeit, die man erst bemerkt, wenn sie nicht erledigt ist18, und wiesen unermüdlich auf das Pay Gap hin, das schier unausrottbare Einkommensgefälle zwischen weiblichen und männlichen Erwerbstätigen. Sie operierten nicht mehr mit dem Binnen-I, sondern mit Unter_strichen, Stern*chen und Doppel:punkten, um auch trans Personen und solche, die weder Frau noch Mann waren oder sein wollten, in ihren gerechten Zorn zu inkludieren, und bluteten für Selbstversuchsreportagen Menstruationstassen in Menstruationszelten voll (»Du meine Güte, bitte nicht zurück zum Mondphasen-Feminismus!«, entfuhr es mir einmal in einer Sitzung). In ihren Kolumnen diskutierten sie über body politics, body shaming, body positivity, verwarfen vieles, kaum dass sie einen neuen #Hashtag in die Welt gesetzt hatten, wieder und bezeichneten sogenannte Beziehungstaten nicht mehr als Beziehungstaten, sondern als das, was sie de facto meist waren: Femizide, Frauenmorde. Nicht alles leuchtete mir ein, manches erschien mir albern oder sogar kontraproduktiv, aber prinzipiell ging es in die richtige Richtung, fand ich.

Staffelübergabe war ein Wort, das mir immer mal wieder in den Sinn kam, wenn ich beobachtete, wie sicher sie sich in einer Realität bewegten, die ich mir in ihrem Alter oft gewünscht hatte. Frauen meiner Jahrgänge hatten Dekaden zuvor das erste große Medienpraktikantinnenheer gestellt und einige Energie aufwenden müssen, um das damals noch weitgehend ungehemmte Gegockel und Gegrabsche ihrer fast ausnahmslos männlichen Chefs auszublenden, abzuwehren — es strategisch wegzulächeln, wie es im Managementjargon der 1990er und 2000er Jahre hieß19. Ungerechtigkeiten und Unverschämtheiten ließen sie, ließ ich, mit einer so merkwürdigen Tapferkeit über sich ergehen, dass es im Grunde kaum (noch) zu glauben war. Im Hintergrund kreischten die Nadeldrucker, piepsten die Modems, meldeten die Faxgeräte Papierstau, im sechsten Stock spielte ein königlich bezahlter Jochen, Frank, Hans-Günther oder Michael Taschenbillard an seinem Fünfquadratmeterschreibtisch, stauchte seine Assistentin zusammen oder pimpte seine Spesenabrechnung, während in den so günstig eingekauften und so hübsch anzusehenden jungweiblichen Vorzeigekräften eine Vision gärte, ein höheres Ziel, jedenfalls war es bei mir so gewesen: Wartet nur, ihr Macker, bald wird es euch an die Button-down-Krägen gehen, ihr werdet alt, und wir werden mehr, und je mehr wir werden, desto weniger werden wir eure Sauereien dulden, früher oder später werdet ihr abgemeldet sein.

Noch immer waren die Chefs in der Mehrheit — mittlerweile handelte es sich um Exemplare meines Alters, Jungs, mit denen ich Zungenküsse in Landschulheimen hätte tauschen, Männer, die marriage material für mich hätten sein können, hätte ich dereinst zugeschlagen —, und noch immer benahmen sich einige von ihnen mitunter wie Paviane auf Crystal Meth. Aber jetzt kamen sie nicht mehr ganz so schadlos damit durch20 wie ihre Vorgänger. Die nachgewachsene weibliche Angestelltengeneration wehrte sich stärker als alle vorherigen. Manchmal dachte ich: Diese jungen Dinger mit ihren rund um die Uhr eingeschalteten Twitter-Konten sind die Töchter, die ich nie gebar.

Einmal hatte das High Potential mich ganz direkt gefragt, ob ich früher auch ein paar #MeToo-Erfahrungen gemacht hätte.

»Nichts allzu Wildes«, hatte ich gemurmelt und mich nach draußen verzogen, in die Aschenbecherecke im Hof, um das früher in ihrer Frage schnell wegzurauchen. Sie ging also davon aus, dass eine Frau in meinem Alter für sexuelle Belästigung nicht mehr in Frage kam. War das nicht diskriminierend? Nannte man eine solche Denkweise jetzt nicht Ageismus? Binnen zwei, drei Lungenzügen sah ich allerdings ein: Sie hatte recht. Mit der Zeit hatte es mir gegenüber tatsächlich nachgelassen, und ich konnte mich nicht darüber empören, im Gegenteil, das war einer der entscheidenden Vorteile des Älterwerdens als Frau: endlich ein Berufsalltag, ohne »drei alte Säcke anlächeln zu müssen, damit sie […] dir eine Aufgabe anvertrauen«, wie Virginie Despentes die übliche Berufsanfängerinnenerfahrung im ausgehenden 20. Jahrhundert einmal beschrieb21.

Wie ich qualmend so da stand, allein neben den Recyclingcontainern, eine alte Häsin im Geschäft, versuchte ich, mich in das Jungtalent zurückzuversetzen, das ich einmal gewesen war, und fand mich in folgender Szene wieder: Ich bin siebenundzwanzig und sitze im ersten Großraumbüro meines Lebens, als News-Nachwuchs in einer global agierenden Agentur. Es ist meine erste Nachtschicht, drei Uhr früh. Neben mir sitzt der Ressortleiter, zwanzig, dreißig Jahre älter als ich, um mich anzulernen. Das Großraumbüro liegt im Dunkeln, nur der Tisch mit dem alten Mann und mir ist beleuchtet, von zwei winzigen Strahlern und dem Elektroblau der Bildschirme. Er legt seine Hand nicht auf meine. Er drückt sein Knie nicht gegen meinen Schenkel. Er prahlt mit seinen früheren Heldentaten, schwärmt, wie er einst nur mit einem Kugelschreiber bewaffnet an lebensgefährlichen Krisengebietsstraßen stand, und lobt mich, ich hätte den richtigen Riecher, ein großes Potenzial — ganz anders als die frigide Fregatte. Arglos wie ein Gänseblümchen frage ich, was oder wen er meint mit der frigiden Fregatte. Und er erklärt, dass er an W Punkt denke, die Kollegin in seinem Alter; die ledige, kinderlose Vizeressortleiterin; die einzige Frau auf einer solchen Position im ganzen Haus; diejenige, die vor lauter Ehrgeiz die schönsten Dinge im Leben verpasst habe, weshalb sie in jeder Konferenz verbissen versuche, sich mit ihren verzweifelten Vorschlägen wichtigzutun, was mit jedem neuen Anlauf nur noch deutlicher zeige, wie frustriert sie sei. »Kein Wunder, dass so eine keinen abbekommt, kein Wunder, dass so eine schnell verwelkt«, sagt der alte Mann und zwinkert mir zu, und es klingt wie ein exklusives Verschwörungsangebot und eine scharfe Warnung zugleich.

Ready?, fragte die hochschwangere Begabung kurz vor zwölf im hausinternen Chatprogramm, und eine Viertelstunde später saßen wir dann zu Tisch, sie vor einem Teller sicherlich sehr folsäurehaltigen Linsengemüses, ich vor einem überbackenen Schweineschnitzel. Angeregt plauderten wir über Donald Trump, als sie sich, für mich völlig überraschend, ohne jeden Zusammenhang, erkundigte, wie lange ich denn schon Single sei.

Die zutrauliche Selbstverständlichkeit in ihrer Frage verblüffte mich. Wie sie darauf komme, fragte ich zurück.

»Keine Ahnung, ich habe es mir einfach so gedacht«, sagte sie und strahlte mich an. Dann benutzte sie ein peinliches Wort: »Ich finde es supercool, wenn eine Frau ihr Ding alleine durchzieht.«

»Es gibt nichts Uncooleres als das Wort cool«, belehrte ich sie.

»Uncool ist das neue Cool«, gab sie zurück, stahlhart wie ein Cyborg.

Himmel, sind diese jungen Frauen goldig und auf Zack zugleich, kein Wunder, dass manche es da mit der Angst zu tun bekommen, dachte ich.

Doch dieser Gedanke war nur ein billiges Selbstablenkungsmanöver, denn ihre Frage überforderte mich, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dass jemand ihren Leib befruchtet hatte, war nicht zu übersehen, aber ich hatte keine Ahnung, ob sie ihn ihren Freund nannte, einen Ausrutscher oder ihren Verlobten. Umgekehrt hatte ich im Betrieb nie ausgeplaudert, wie es privat um mich stand. Sah man mir etwa an, dass ich allein war? Wenn ja, woran? Lag es am fehlenden Ring? Nicht alle Eheleute tragen ihn. Obwohl: in der Generation Z vermutlich schon. Ich hätte eine Fernbeziehung führen können, mit einem umstrittenen Handballtrainer, weshalb es geheim bleiben musste, mit einem Lebensabschnittsgefährten aus einer süddeutschen Seenlandschaft, schon seit zwölf Jahren — ohne Schmuck. Hatte sie in meinen öffentlichen Onlineprofilen spioniert? Kaum jemand trug dort einen Beziehungsstatus ein, nicht mal die amtlich Getrauten. Oder hatte jemand meine Personalakte geleakt, und sie hatte den Eintrag ledig entdeckt, eine Lebenslaufinformation, die man längst nicht mehr angeben muss22, aus purer Gewohnheit schreibe ich es immer noch dazu. Wie aus dem Nichts erinnerte ich mich an eine Begegnung mit einer Musikerin, die als Female Artist from Hell für ihre Synthesizerkunst warb und mir Jahre zuvor, als sie und ich noch in unseren Dreißigern waren, in einem Club zugeraunt hatte, wie wenig sie von einer anderen, älteren Musikerin hielt, die gerade ihr Solo-Set zu Ende gespielt hatte. Sie könne es einer Frau nämlich ansehen, wenn diese länger keinen Sex mehr gehabt habe: »Es erklärt so vieles.«

Unwohl war mir vor allem, weil ich eine tiefe Abneigung gegen das Wort Single hegte, einen regelrechten Snobismus sogar. Spontan verband ich nichts als turbokommerzielle Idiotien damit, rohe Verzweiflung, lauwarmen Afterwork-Prosecco. Mädels-Touren zu Designer-Outlet-Centern. Freche Frisuren für Ü30, Ü40, Ü50, Ü60. Schrilles Flirt-Coach-Geplapper. The Dickonomics of Tinder23. Speeddating-Turniere, bei denen es Romantikwochenenden in Wellnesshotels zu gewinnen gab. Whirlpools voller Batida de Coco24. Alles kann, nichts muss — alle elf Minuten verliebt sich ein Single — ich schneeschippe jetzt25. Wie konnte jemand auf die Idee kommen — wie konnte sie es wagen —, mich mit alldem in Verbindung zu bringen?

Zudem, und das war das Entscheidende, hatte ich bis dahin noch keinen Gedanken auf die Frage verschwendet, wie lange ich Single war.

Was bedeutete das Wort überhaupt?

Meinte es, dass es niemanden gab, mit dem man zusammenwohnte? Oder nur niemanden, mit dem man regelmäßig Geschlechtsverkehr betrieb? Zählten Eine-Nacht-Begegnungen oder Urlaubsaffären, zählte das Herzklopfen, das ein bestimmter Busfahrer bei einem auslöste, weshalb man rund um die Uhr an ihn dachte und also keineswegs frei im Herzen war, dazu oder nicht? War das Singlesein eine temporäre Zustandsbeschreibung oder ein Lebensentwurf?

Gar so etwas wie eine, Obacht!, Identität?

War man Single ab dem ersten Tag nach dem Ende einer Beziehung oder erst, wenn man etwaigen Liebeskummer überwunden hatte und sich aktiv auf die Suche nach jemand Neuem begab?

Und was, wenn man nicht suchte, sondern bloß lebte?

»Seit anderthalb Jahren, ungefähr«, antwortete ich schließlich und versuchte, es so belanglos wie möglich klingen zu lassen. Wobei in Wahrheit längst schon wieder zwei dreiviertel Jahre seit meiner letzten Tändelei vergangen waren, praktisch drei.

»Das ist aber nicht lang, das geht ja noch«, sagte die Kollegin, und wir wechselten das Thema, und eine halbe Stunde später sagten wir uns dann Lebwohl. Eine Hausgeburt hatte sie sich vorgenommen.

WOHNZIMMERDISCO

Später, in meiner Wohnung, als ich die Feierabendeinkäufe im Kühlschrank verstaute, die Spülmaschine ausräumte, das Altpapier bündelte und die Wäsche des Vorabends vom Trockenständer nahm, während ich all die Aufgaben erledigte, für die ich eine süße kleine Ehefrau recht gut hätte gebrauchen können, eine nette Zuverdienerin, die sich in einer Nebentätigkeit von, sagen wir, zwanzig Wochenstunden ein wenig selbst verwirklicht, mit einem Jöbchen in einer Galerie, mit stundenweisem Modeschmuckverkauf in der Boutique einer ihrer Freundinnen, mit leichten Buchhaltungstätigkeiten im Homeoffice, und die ansonsten zusieht, dass die Betten frisch bezogen sind und etwas Warmes auf dem Tisch steht, sobald ich mein Aktenköfferchen im Flur fallen lasse, während ich also wieder einmal in den bequemsten aller Tagträume abzugleiten drohte, den Traum, ein Mann alter Schule zu sein, ging mir das Gespräch mit der Kollegin unablässig durch den Kopf. Ich überlegte, ob ich nicht doch eine Single-in war — wie sollte man es sonst nennen? — und weshalb mich dieses Wort so pikierte. Vor allem eines saß mir quer: Woher rührte dieses bange Stottern? Warum hatte ich die Dauer meines Singleseins absichtlich verkleinert? Ich ärgerte mich, über die Neugier der Kollegin, aber noch mehr über mich selbst.

Es gibt nichts Traurigeres als eine Frau, die allein zu Hause trinkt, hatte ich ein paar Tage zuvor jemanden im Radio sagen hören. Ich öffnete eine Flasche Supermarkt-Syrah, schenkte mir ein Glas ein, dimmte das Licht, ließ die Jalousien herunter und strich über die Schallplattencover in meinem Regal, die kleine Sammlung, die ich über all die Jahre zusammengetragen hatte. So viele Lieblingslieder — gewissermaßen also: so viel Liebe. Aus all den Scheiben suchte ich die Musik heraus, die von Frauen gemacht war, und zwar von solchen, die nicht nur vom Alleinsein singen oder sangen, sondern auch persönlich über längere Strecken ohne feste Begleitung durch ihr Leben gingen beziehungsweise gegangen waren. Unter diesem Aspekt hatte ich meine Sammlung noch nie betrachtet und war erstaunt, dass es für ein Spontanprogramm von um die zwei Stunden reichte.

Nina Simone: Always alone at home or in a crowd / ​A single woman out on a private cloud

Björk: You’ll meet an army of me / ​Self sufficiency please

Liz Phair: I want a boyfriend / ​I want all that stupid old shit like letters and sodas / ​I’m gonna spend another year alone / ​It’s fuck and run

Christiane Rösinger: Liebe wird oft überbewertet / ​Liebe ist nur ein Teilaspekt des Lebens / ​Und die anderen Teile sind auch nicht schlecht

Ella Fitzgerald: I’m alone when I lower my lamp / ​That’s why the lady is a tramp

Kylie Minogue: I don’t need anyone / ​Except for someone that I don’t know 

Kylie Minogue — war es zu fassen? Beruf: Traumfrau mit Gesang. Nebentätigkeit: Unterwäschemodel. Sexy, aber lieb