Die Sitzer - Reinhard Bernhof - E-Book

Die Sitzer E-Book

Reinhard Bernhof

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Beschreibung

In einem halbverfallenen Leipziger Rondell der 1980er- und frühen 1990er-Jahre entfaltet sich ein absurdes Kammerspiel zwischen Überwachung, Anpassung und widerständiger Kreativität. Der Schriftsteller Bernstein zieht in eine Wohnung gegenüber des skurilen Mathematiklehrers Nißky – einem linientreuen MfS-Zuträger mit Schreibmaschine und Kater. Was folgt, ist ein grotesk-komischer, tiefgründiger Schlagabtausch über Staatsmacht, Freiheit, Katzen und Kinderbücher. Eine Skurrilität voller Dialogwitz und zeitgeschichtlicher Schärfe – poetisch, böse und beängstigend aktuell.

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Seitenzahl: 90

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Reinhard Bernhof

Die Sitzer

Eine authentische Skurillität

ISBN 978-3-68912-536-3 (E-Book)

Das Buch erschien in 2. Auflage 2011 im Plöttner Verlag, Leipzig. Die Entstehung dieses Buches wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

Das Cover wurde mit KI erstellt.

© 2025 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Anmerkung zur Quellentreue dieses Stückes

Zeit:

1978 bis 1994

I

Das Stück handelt vom Untergang eines Weltsystems, das in einem Rondell zwischen zwei Fenstern – lachhaft, grotesk – wie es mitunter zuging, in den Orkus der Geschichte versinkt.

II

B., ein Schriftsteller, der gerade in ein Rondell eingezogen ist, bemerkt am gegenüberliegenden Fenster einen Mann, den gehbehinderten Mathematiklehrer Arthur Nißky. Er war u. a. ausgesucht worden, den vom stellvertretenden Minister befohlenen tschekistischen Befehl gegen B. (B / 18713) für einen „Operativen Vorgang“ auszuführen. Hat B. gerade deswegen die Wohnung vor der Nase von N. bekommen?

III

N. beginnt zu B. ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, um ihn noch umfangreicher und genauer beobachten zu können und über ihn Berichte zu schreiben mit dem Ziel, den „feindlich/negativen“ Mann durch Zersetzungsmaßnahmen „unschädlich“ zu machen. Aber B. durchschaut alsbald diese Absicht, distanziert sich dennoch nicht von N., füttert ihn unentwegt mit tragischen Geschehnissen in der Republik, über Leute, die wegen grober politischer Vergehen verhaftet worden waren und im Suizid endeten, oder solche, die sich als Werkzeuge des „Gegners“, wie es hieß, missbrauchen ließen. Dagegen denkt N. – wenngleich nicht ohne Humor, dennoch gewissenhaft ohne Gewissen – B. poussiere ständig in oppositären Zonen, tarne sich mit clownesker Gebärde und bereite einen Umbruch vor, wenngleich er nur etwas Unmittelbares mit verändern wollte und sich verantwortlich fühlte für die größtmögliche Art von machbarer Demokratie …

IV

1989 war B. beteiligt an den Ereignissen der „Friedlichen Revolution“, auch als das erste Mal in der Welt eine Geheimdienstzentrale in der Nacht vom 4./5. Dez. ‘89 besetzt und versiegelt wurde (das Berliner Ministerium hatte in Leipzig 2041 Mitarbeiter); gleichzeitig ein historisch seltener Vorgang, dass nach einem Systemwechsel die teilweise abgründig/abstrusen Undurchdringlichkeiten des vorherigen Systems gelichtet wurden. Nur bei Verdacht von Menschenrechtsverletzungen unter Aufsicht der Justiz … Sie frei gefördert, die Akten, rekeln sie sich nun unter unseren Augen, beziffert bei den neuen Diensten. Als gutes, als schlechtes Gedächtnis?

R. B., Leipzig im März 2009

Thrasyboulos, 403 vor Christi, athenischer Demokrat. Er sagte nach Beseitigung einer Diktatur: Je größer die Gnade. Desto besser der Neuanfang.

Personen

Erstes Kind (6 Jahre alt)

Arthur Nißky, Mathematiklehrer (Erzähler. Übermäßiger Kopf aus Pappmaschee, der von Nißky)

Hilde, seine Frau, Schulsekretärin

Bernstein (Berni), Autor (Gefährt. Übermäßiger Kopf aus Pappmaschee, der von Berni, nach einem Motiv von David N. Holzmann)

Leonore (Bernis Frau, stellvertretende Klubhausleiterin)

Thom (Bernsteins Sohn, 8 Jahre alt)

Wolk (Kollege von Bernstein)

Mutter (von Berni)

Zwei MfS-Administratoren (mit Masken)

Staffage: zwei Volkspolizisten

Frau Nürdel (Libelle, Nachbarin vom Nebenhaus)

Anwohner, zwei Besucher vom Stadtbezirk, Ärztin, Sanitäter, Männer von der Bestattungsfirma

Zeit: 1978-1994

1

Älterer Mann, etwa 55 Jahre alt, abgedunkelte Brille, Anzug mit Schlips, an der Hand jeweils eine Krücke, steht wie erstarrt auf der Straße. Sie führt in einer Art Ellipse um das Rondell; dazwischen der kleine Park – en miniatur – von Linden bestanden; in der Mitte zwei Bögen, um die Rosen ranken. Die eine Häuserreihe, die andere gegenüber. Der Mann löst sich langsam aus der Erstarrung, tastet sich vor, beugt sich zur Katze, die auf der Bordsteinkante sitzt. Streichelt sie. Ein Kind kommt vorbei, beugt sich ebenfalls zur Katze.

KIND: Kessy, Kessy, Kessy … Zum Mann sprechend: Die gehört Bernsteins. Darf immer frei herumlaufen … Nimmt Kessy auf den Arm. Ich bringe sie zu Bernsteins.

Lauf übern Rasen. Der Mann schaut dem Kind nach.

Das Licht wird dunkel und wieder hell.

(Die Szenen können auch innerhalb verwoben, ohne Dunkelpausen gespielt werden.)

2

Der Mann in seiner Wohnung, die Krücken angelehnt, zieht die Gardine zur Seite, öffnet das Fenster. Sein dicker Kater platziert sich auf dem Außensims, wird gekrault. Der Mann stützt sich mit beiden Händen ab und blickt auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo das Kind gerade mit Bernsteins Sohn Thom spricht.

MANN: Brauchst nicht eifersüchtig zu sein, Bartholomäus. Bist mir doch der Beste … Setzt sich zurück an den Schreibtisch. Ein Stoß Hefte vor ihm. Blättert. Korrigiert. Schüttelt den Kopf … Hilde, seine Frau, betritt das Zimmer.

HILDE: Arthur, komm essen! Arthur geht langsam ohne Krücken in die Küche.

ARTHUR, während er isst: Stell dir vor, ich sorge mich, ob Uwe die zehnte Klasse erreicht, aber seine Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt.

HILDE: Das hört man jetzt des Öfteren.

ARTHUR, gedehnt sprechend: Die schön-er-r-r-ren Autos! – Aus dem Jenseits!

HILDE: Das lockt. – Können nicht mithalten.

ARTHUR: Autos sind nicht die Welt. Verpesten alles. Auch die Intershops machen die Leute, dabei wieder das R rollend, ver-r-r-r- r-rückt.

HILDE: Kaufen doch auch manchmal dort … Hätte ich nicht meinen Bruder …, hätten wir keine Forum-Schecks …

ARTHUR, gereizt: Haben doch alles … Zwar umständlich, manches zu kriegen, aber hier wird jeder gebraucht. – Hat der Staat Sorge, haben wir Sorge. – Steht auf, schnäuzt sich, geht zurück in sein Zimmer, an den Schreibtisch. Sucht Bartholomäus. Beugt sich herunter. Kniet auf dem Boden. Hast dich versteckt?! – Komm vor, du Schlingel! Sucht vor der Couch, legt sich auf den Boden. Greift nach einer Krücke, die fällt um. Greift erneut. Kann sie festhalten. Fuhrwerkt mit ihr unterm Sofa, hinterm Kachelofen herum … Steht auf, sieht Bartholomäus. Der hat sich längst wieder vor dem Fenster positioniert. Verdammter Kerl! Willst mich wohl zum Narren halten … Nimmt wieder am Schreibtisch Platz. Korrigiert. Blättert. Hört unversehens ein sehnsüchtiges Mauzen. Er steht auf, blickt nach draußen. Kessy sitzt erneut auf der Bordsteinkante. Zu Bartholomäus gewandt: Sie mautzt nach dir! Bist doch kastriert. Das Telefon klingelt. Er nimmt den Hörer ab: Ja, Nißky! – Für morgen? – Zwei Nachhilfe. – Ja, gern … Bleib ich nachmittags in der Schule. – Macht nichts. Geht in Ordnung, Frau Henning! – Ja, werd ich ausrichten … Danke. Legt die Hefte zur Seite, streift den grauen Plasteschutz von der CONTINENTAL, legt auf ein weißes Blatt Papier ein blaues BAROCK-Pauspapier, darauf ebenfalls ein Stück angegilbtes Durchschlagpapier. Zieht es in die Walze. Bartholomäus hüpft hinzu, platziert sich neben der CONTINENTAL. Nißky krault ihn, tippt. Das Tippgeräusch wird lauter. Erschallt im Raum. – Blickt nach draußen, sieht eine aufgedonnerte Frau mit einem Dunkelhäutigen aus einem gegenüberliegenden Hauseingang kommen … Schaut ihnen nach … Tippt, sich diktierend: Wurde wieder vom Kubaner besucht, der heute bei ihr nächtigte. Die Mosambikaner sind dunkelhäutiger als die Kubaner. Hat einen großen Männerverschleiß. Hilde steht neben ihm. Die Nürdel macht wieder auf krank … Sie kichern. – Geknattere eines Zweitakters. Ihre Köpfe bewegen sich am Fenster mit der Fahrtrichtung des Autos. Es bleibt stehen. Ein Mann steigt aus.

HILDE: Der neue Mieter drüben … Seit Kurzem hier. – Der Sohn wurde in unserer Schule angemeldet.

Das Licht wird dunkel und wieder hell wird.

3

Die neue Wohnung. Schreibtisch seitlich am Fenster. Berni auf seiner „Erika“ tippend, spricht vor sich hin.

BERNI: Für manch einen tat sich das Land auf … Es schloss sich sofort wieder hinter ihm wie ein Muskel, der etwas abgestoßen hat …

LEONORE, an ihn herantretend, greift ihn zärtlich an die Schulter, sieht für Sekunden auf‘s Papier. Wird langsam Mode, die Sache mit den Anträgen …

BERNI: Schau mal rüber. Der Mann da sitzt unentwegt am Schreibtisch. Auf dem Sims seine Katze. Guckt oft nach draußen. Trägt Schlips. Wer trägt zu Hause Schlips? – Bürgerliches Relikt. – Hat er genügend Luft geschnappt, sitzt er wieder. Noch länger als ich … Morgens ist seine Gardine zugezogen. Ab Mittag ist er ständig gegenwärtig. Bestimmt n Lehrer! – Volkskorrespondent!

Der Mann gähnt, streckt seine Arme, setzt sich zurück.

LEONORE hakt nach. Volkskorrespondent? Berichterstatter für eine Zeitung? Die gabs in den Sechzigern, Fünfzigern.

BERNI: Berichterstatter? - Lacht. - Journalist? - Seine Ausdauer macht mich nervös, auch eifersüchtig. Geb ich zu. Hat er keine Bedürfnisse? Sieht nur selten in die Röhre. – Kann mich auch sitzen sehen, besonders bei Dunkelheit.

LEONORE: Quatsch. Lass ihn doch gucken.

BERNI: Teste das mal. Du sitzt dann am Schreibtisch. – Nach der Tagesschau …

Das Licht wird dunkel. Diffuser Schein der Gaslaterne.

4

Berni verlässt das Haus, geht auf die andere Seite. Sieht zu seinem Fenster.

BERNI: Selbst Leonores Haar zu erkennen …, die syrische Lampe …, die Bilder … Leonore steht auf …, ihr Schatten an der Wand … Geht zurück …

LEONORE an der Korridortür, Berni erwartend: Na?

BERNI: Klar zu erkennen alles. Perfekt. – Ziehn mal die Übergardine vor.

LEONORE: Bist wohl verrückt. Die schönen Linden. Sie zu sehen, zu spüren …

BERNI, zornige Stimme: Kann den Mann nicht ausstehen. Selbst nach den Nachrichten hockt er wieder oder guckt aus dem Fenster. – Muss bald zum Psychiater, wenn das so weiter geht … Da hat man Wohnung. Unversehens so ‘n Mann gegenüber …

LEONORE: Reg dich ab. Nachbarn hat jeder. – Ein Gegenüber. Stell dir vor, du blickst aus einem Villenfenster nur in den Wald …, ins Dunkel der Nacht. – Sehnst dich danach? Sehen sich lange an. Berni knipst die Schreibtischlampe aus. Beide lauschen am angelehnten Fenster. Fern die Gesänge der Roten Armee des unmittelbar in der Nähe liegenden Kasernenkomplexes: Stenka Rasin, Kalinka … Die singen wieder. – Sieh mal, wie der Mond heute scheint. – Nein, nicht zuziehen … Die schönen Gläser auf der Fensterbank, die Erbstücke von meiner Oma, willst du sie in Bedrängnis bringen, besonders die Jugendstilvase. Lautstark. Echtes Böhmer Glas. Milchig grün! Wenn die runterfällt, lass ich mich scheiden. Das sag ich dir. Knipst das Licht wieder an. Nimmt die Vase, fühlt unter ihr die Narbe. Handgeblasen!

BERNI: Weiß ich doch. Wie oft hast du schon die Narbe befühlt. – Bisexueller Akt für dich! Krieg immer gleich einen hoch, wenn du das mit ihr machst …

LEONORE: Ach du … Stellt das Erbstück ab. Sei froh, dass wir endlich eine Wohnung haben, wo kein Lärm ist. Vierzehn Jahre „Teilhauptmiete“ haben gereicht … Fasst Berni an die Schulter. Halt mal inne … Hör mal … Sie lauschen … Das Lied vom Baikal! – Wie oft singen sie in der Woche? – „Herrlicher Baikal, du heiliges Meer …“ Das Lied wird lauter, durchströmt den Raum.

BERNI: Da bekommt man ja Gänsehaut.

Das Licht wird dunkel und wieder hell.

5

BERNI mit dem Freund im Arbeitszimmer. War doch ne tolle Fahrt mit Jean Paul. Dass er mit seinen goldenen Klavierhänden so geschickt mit ‘nem Spreewaldkahn umgehen kann. Wie er uns durch die Kanäle stakte …

WOLK, lachend: Das Boot nach uns kenterte. Fischten die Leute aus dem Wasser. Ich dachte, mir träumt … Waren pudelnass hinterher.

BERNI: Warten heut noch auf ne Rettungsmedaille.

WOLK: Und dieses verwunschene Gasthaus. – Deutsche Eiche? Oder Linde?

BERNI: So n Baum ungefähr …

WOLK: Wie im Mittelpunkt eines Labyrinths, ohne Ausweg, hat er unsere Gedanken zu einer Versammlung gebracht. – Ob er dicht ist?

BERNI: ‘n sorbischer Komponist? – Mit seiner Reputation? Klingeln. – Bestimmt ‘n Schulkamerad von Thom. Geht an die Korridortür. Öffnet. Ein älterer Herr steht vor ihm, strahlt.

HERR: Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe. Sie sind doch Herr Bernstein?

BERNSTEIN: Glaub schon.

HERR, etwas verlegen: Ich möchte Sie mal einen Moment sprechen.

BERNSTEIN: Sofort? – Wollen wir uns verabreden?

HERR: Nein, nein. Will nur etwas abgeben.

BERNSTEIN: Abgeben? – Na, da kommen Sie doch mal einen Augenblick rein. Hab grad Besuch. Der Mann tritt ein, nervös um sich blickend.

MANN: Will keinesfalls stören. – Nißky, mein Name!

Die Tür zum Arbeitszimmer steht offen. Wolk sieht zum Besucher.

BERNI, auf Wolk weisend: