Interzonenzug I & II - Reinhard Bernhof - E-Book

Interzonenzug I & II E-Book

Reinhard Bernhof

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Beschreibung

DER STEINWURF TEILHAUPTMIETE WARTEN AN DER WELTZEITUHR INTERZONENZUG I & II ALS ICH IN SIBIRIEN WAR NOWOSIBIRSKER HAUPTBAHNHOF STROMAUFWÄRTS ÜBERN OB AUF DEUBEL KOMM RAUS TANZEN, TANZEN HERBSTLÄUFER METAMORPHOSE BROKKOLI UND SEIN UNTERTAN AUF DEN TREPPEN EINES TURMS PERSIL BLEIBT PERSIL

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Reinhard Bernhof

Interzonenzug I & II

Erzählungen

ISBN 978-3-68912-540-0 (E-Book)

Das Buch erschien 2003 im projekte Verlag, Halle.

Covergestaltung: Ernst Franta

© 2025 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

I

DER STEINWURF

Ich war bei Heppep gewesen und auf dem Weg nach Hause. Es war schon dunkel, und die Fenster blinkten freundlich wie gelbe Flecke. Am Himmel zeigte sich ein kleiner Stern, dann ein zweiter, ein dritter. Als ich neben der Kirche am Schulgebäude vorbeikam, hörte ich die Glocken, und mir schien, dass sie von fernen und gestorbenen Menschen sangen. Auf einmal sah ich, wie mein Klassenlehrer, Konrektor Rautmann, das Fenster öffnete, für wenige Sekunden im Licht des Kronleuchters hinaussah, und danach das Fenster wieder schloss.

Voller Grauen dachte ich an Konrektor Rautmann, der sich in jeder Schulstunde des Öfteren die Finger mit der Zunge anfeuchtete und sich sein Schläfenhaar glättete, und dann ging er, die Stirn solcherart auf schmal getrimmt, mit den Schultern rudernd, militärischen Schrittes auf und ab im Klassenraum und ließ scharfe Blicke über die Kinder gleiten, die versteinerten. Wie oft hatte er die Hände in die Hüften gestützt und nur von der Seite her eine Frage gestellt, als wäre es verächtlich für ihn, einem Schüler, einer kümmerlichen Masse gegenüberzustehen. Trotzdem ließ sich Heppep, der in der letzten Reihe saß, von seinem Vordermann verdeckt, von Konrektor Rautmanns Strenge nicht davon abhalten, zwischendurch mal in seine Speckschnitte zu beißen. Einmal hatte ihn Rautmann erwischt, Heppep musste nach vorn kommen und sollte den Mund öffnen, er hielt aber fester denn je die Zähne zusammen. Rautmann drückte seinen Daumen so fest in Heppeps Kiefer, dass er dessen Mund langsam wie den eines gefangenen Fisches zum Öffnen brachte. Die ganze Klasse konnte sich nun von Heppeps Verfressenheit, wie es Konrektor Rautmann nannte, überzeugen. Heppep wurde aufgefordert, den Rest schnell hinterzukauen, statt dessen entnahm er seinem Mund einige angekaute Speckstücke und steckte sie mit ausholender Geste in den Mund zurück, so dass die Klasse in schallendes Gelächter ausbrach; dabei bewegte er die Kiefer und die angestrengten Muskeln von der Stirn zum Hals wie ein altes, lautes, zusammenhängendes Maschinenwerk, das zu nichts nütze ist. Als er die letzten Stückchen würgend hinuntergeschluckt hatte, forderte ihn Konrektor Rautmann wütend und kampflustig mit greller, schallender Stimme auf, noch einmal nach vorn zu kommen, um diesmal die Hände auszustrecken, was Heppep nur zögernd tat, so als habe er keine Lust dazu; schließlich hielt er ihm doch die Handflächen hin. Sie waren ganz offen, ohne zu zittern. Dreh sie mal um! sagte Konrektor Rautmann und betrachtete sie. Ich sah Heppeps bis an den Wirbel kahl geschorenen Hinterkopf und seine großen Ohren, die auf einmal wie von der Sonne durchleuchtete Herbstblätter aussahen. In diesem Augenblick schnellte Rautmanns Rohrstock auf und sauste als Blitz nieder, und das Geräusch des Stocks, der auf Heppeps Handknochen niedergekracht war, hob fast allen in der Klasse den Magen hoch. Heppep jedoch schrie nicht auf, gab keinen Laut von sich, krümmte sich vor Schmerz neben dem Katheder, und dann zog über sein bleiches Gesicht mit den weiß gewordenen Lippen eine heftige Röte, die seine Haut mit dunklen Rändern bedeckte. Dagegen nahm Rautmann Heppeps Augen gleichsam erzürnt wahr, als habe er, der Lehrer, versagt, solange er nicht Tränen aus Heppep presste, und sein Gesicht härtete sich und bekam noch schärfere Furchen …

Dieser Rautmann, dachte ich, vor dessen hell erleuchtetem Fenster stehend, dem fast alle Schüler auswichen und der, wie die Leute im Dorf erzählten, ehemaliger SS-Untersturmführer im Wartheland gewesen sein soll.

Rautmann hatte sein Fenster längst wieder geschlossen. Ich stand geschützt im Schatten der Hecke, sah die Facetten des strahlenden Kronleuchters, der die halbe Straße ausleuchtete, und dachte, dass man doch Rautmanns Scheiben einhauen müsse, Heppep zuliebe und um ihn zu rächen; denn wie oft hatte mich Heppep schon von seiner Speckschnitte abbeißen lassen oder extra eine für mich mitgebracht, mit fingerdick geschnittenen Speckstücken.

Mit einem Mal hatte ich einen faustgroßen Stein in der Hand, drehte mich um und horchte. Doch im Dunkeln tauchte ein Mann auf, er wankte von einer Seite zur anderen und kam immer näher, manchmal ging er auch rückwärts, auch stieß er so seltsame Laute aus, manchmal zankte er sich mit jemandem, der nicht vorhanden war. Im nächsten Augenblick sang er etwas, und wenn er zu singen aufhörte, zankte er sich erneut. Schnell verkroch ich mich in der Hecke und erkannte, dass der Angetrunkene Kapitulski war, ein bekannter Suffkopf im Dorf.

Als ich nichts mehr von ihm sah und hörte, schaute ich mich um und lauschte. Nirgends ein Geräusch. Ich schätzte die Höhe des Fensters, ob es der Stein erreichen würde. Es schien mir nicht schwierig. Und ich sah wieder Heppeps Hände, die geschwollenen Stellen auf den Knöcheln, die sich violett und blau verfärbt hatten, wenngleich sich Heppep hinterher nirgends beschwerte, keinen Ton sagte, keinen Mucks. Den ganzen Tag über saß er still und starrte fortwährend auf seine Hände. Sagte ihm jemand irgendetwas in der Pause, schien er ihn gar nicht zu hören, es war, als brütete er über einem Plan, wie er sich rächen könnte, ohne zu wissen wie. Hinterher blickte er plötzlich ganz erschrocken auf. Was ist passiert? Und bei diesem Gedanken an Heppep überkam mich ein nie gekannter Hass, Hass auf Konrektor Rautmann. Und mit diesem Hass presste ich die Hand noch fester um den Stein, so fest, dass meine Handfläche schmerzte. Ich schaute mich noch einmal um, ob sich in der Dunkelheit etwas bewegte, aber aus der Dunkelheit war keine Bewegung zu erkennen, kein Geräusch zu hören. Ich spürte auf einmal mein Herz klopfen. Und als eine Wolke über das Gesicht des Mondes zog und dieses in der Mitte bleiern machte und gefleckt wie Rauch, hörte ich ein ungeheuer lautes, splitterndes Krachen, so dass ich vor Schreck den zweiten Stein, den ich in der Linken hielt, sofort fallen ließ. Ich war wie gelähmt und merkte, wie sich meine Blase leerte und warmer Urin an meinen Beinen entlanglief, wie die Innenflächen der Oberschenkel, wo die kurze Lederhose die Haut wund gescheuert hatte, heftig zu brennen anfingen. Auf einmal nahm ich auf der Straße ein Rattern und Knarren wahr. Dunkel zeichnete sich ein Fuhrwerk gegen den Horizont ab, es kam näher; auch ein Lichtkegel tauchte auf, der Dynamo eines Fahrrades summte. Konrektor Rautmann beugte sich weit aus dem Fenster und schrie: Verfluchtes Schweinezeug! Und: Banditentum! Mit einem Mal hatte ich mich von der Lähmung befreit und sauste im Schatten der Hecke die Straße entlang, überquerte sie und lief in Richtung Wald.

Sternennebel wogte am Himmel, Schattenarme ragten, wie um zuzugreifen, aus dem Dunkeln, als ich über einen Feldweg nach Hause schlich. Immer wieder spitzte ich die Ohren, ob sich im Dorf etwas tat, ob sie schon nach mir suchten, ich hörte aber nur einen Hund anschlagen und aus einem entfernten Stallgebäude Kühe an ihren Ketten zerren. Als ich endlich mit reichlicher Verspätung nach Hause kam, wunderte sich meine Mutter, denn ich zitterte am ganzen Körper. Was ist passiert?

Nichts, nichts, stammelte ich. Nach einer Weile jedoch legte ich ein Geständnis ab: Dem Rautmann habe ich eins verpasst! Als ich die Einzelheiten erzählt hatte, war meine Mutter so erschrocken, dass sich ihr Gesicht rot verfärbte. Aber dann fragte sie sogleich, ob mich jemand gesehen hätte. Herr Meinhard höchstens. Der war aber so mit dem Nachhausefahren beschäftigt. Und außerdem hatte er gerade ein klapperndes Fuhrwerk überholt, dass er Rautmanns Gebrüll bestimmt nicht gehört haben wird.

Noch lange lag ich an diesem Abend hellwach im Bett, bis mich endlich ein leichter Schlaf wie ein Schleier überkam, und durch diesen Schleier vernahm ich Schritte auf der Treppe: Ich sah Rautmanns Gesicht näher und näher kommen – und in dessen Augen tödliches Blei gerinnen. Doch die Schritte gingen in die falsche Richtung: von oben nach unten. Ein Glück, dachte ich, zog mir die Decke über den Kopf und versuchte abermals einzuschlafen. Ein gleichbleibender Schlaf wollte sich dagegen nicht einstellen, so dass ich ständig aufwachte, mich fortwährend vor Konrektor Rautmanns hell erleuchtetem Fenster sah und noch immer das ungeheuer laute, splitternde Krachen der Fensterscheibe hörte. Zwischendurch überfluteten mich Freude und Genugtuung wie ein warmes Feuer, dann aber waren sie ebenso schnell verloschen und der Angst gewichen.

Am nächsten Tag sprachen fast alle Schüler, fast alle Leute im Dorf voller Schadenfreude von Konrektor Rautmanns eingeschlagenem Fenster. Manche hatten sofort Kapitulski in Verdacht, der gestern Abend, kurz bevor es passierte, das Gasthaus verlassen hatte und betrunken an der Schule vorbeigetorkelt sein musste.

Ich saß ganz ruhig in der Schulbank und sah die meiste Zeit, ohne einen Blick zu riskieren, nach unten; denn es schien mir, dass der Klassenraum voll von Rautmanns Augen war, die mich, würde ich sie ansehen, sofort wie Kugeln träfen. Nur einmal drehte ich mich nach Heppep um. Der saß fast verdeckt und zeigte nur sein großes rosafarbenes Ohr. Wenn der wüsste, dachte ich. Mir war, als würde ich durch diesen Steinwurf ein neues Leben beginnen. Sobald ich jedoch stärker darüber nachdachte, warum Freude und Genugtuung in mir so groß waren, nahmen sie sofort wieder ab. Ich wusste, dass ich meine Tat für immer in mir verstecken musste, und dass ich die Freude, außer mit meiner Mutter, mit keinem anderen Menschen auf der Welt teilen konnte. Auch nicht mit Heppep.

II

TEILHAUPTMIETE

Karen war erst vor wenigen Monaten ins Neubauviertel gezogen. Über zehn Jahre hatte sie zusammen mit ihrem Mann auf eine Wohnung gewartet. Sie lebten vorher in Teilhauptmiete: zwei kleine Zimmer, neun und vierzehn Quadratmeter. Küche, Bad und Toilette benutzten sie zusammen mit einer sich sehr vornehm gebenden alten Dame, Fräulein Bethge, der sich Karen im gelegentlichen Rededuell in der Küche stets unterlegen fühlte. In den ersten Monaten, als Karen noch unverheiratet war und ihr Mann aus dem Westen jeweils zur Frühjahrs- und Herbstmesse kam und bei ihr nächtigte, klopfte Fräulein Bethge jedes Mal wie eine Wirtin gegen zweiundzwanzig Uhr an die Tür und bat um Ruhe, wenngleich nur leise Musik, kaum hörbar, durch die Ritzen sickerte. Karen ließ sich nicht beeindrucken, bis schließlich ihr Mann zu ihr zog. Fräulein Bethge zeigte sich aufgeregt, verstört, drohte Maßnahmen an, wollte dem „Abschnittsbevollmächtigten“ der Volkspolizei Bescheid geben, verlangte die Zuzugsgenehmigung des Mannes, da doch die Stadt für Neuzugänge, wie es hieß, gesperrt sei; auch wenn er bereits seit längerem hier seiner Arbeit nachging. Kurzum, Fräulein Bethge mischte sich ein, wo immer sie konnte, bestand sogar auf einen extra Stromzähler für die jungen Leute und äußerte sich bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit abfällig über alle, die Kinder in die Welt setzten – angesichts der Atombombe. Wer verstand nicht diesen Wink mit dem Zaunpfahl …

Das schmale und kleinere der beiden Zimmer wurde von Karen und ihrem Mann als Schlafzimmer genutzt – durch Ausklappen einer Doppelbettcouch – und es lag neben dem Schlafzimmer von Fräulein Bethge, das wie das eines Ehepaares von früher eingerichtet war: mit Doppelbett, Nachtschränkchen links und rechts, Toilettenspiegel, auf dem ein lilafarbener Parfümflakon stand, als wartete sie noch immer auf einen Gatten. Vom Schlafzimmer aus gelangte sie durch eine jugendstilverzierte Flügeltür in ihr großes Wohnzimmer mit Erker, dessen zweite Tür zum Korridor führte und nur bei Besuch aufgeschlossen wurde. Sie nannte es ironisch „Salon“, wenn der ehemalige Gewandhaus-Posaunist, Kammervirtuose Lüdemann, alle vierzehn Tage zum Skatnachmittag kam, an dem auch Frau von Österreicher, die jedes Mal einen anderen, penetrant nach Mottenpulver riechenden Hut aufhatte, mit wellig gebogener Krempe (so etwas mochte in der Hindenburg-Zeit modern gewesen sein), sowie die pergamenthäutige Frau Feuerriegel, die atemlos das Neueste immer schon im Korridor verriet, teilnahmen. Legen Sie bitte ab und treten Sie ein, sagte dann Fräulein Bethge jedes Mal stereotyp. Wenn alle vollzählig waren, vorausgesetzt, es war nicht Hochsommer, hing an dem Garderobenständer immer ein altdeutscher Knotenstock vor einem grauen, mit Samt abgepaspelten Mantel neben dem schwarzen Persianer von Frau von Österreicher und dem grünen Loden mit Fuchsbalg von Frau Feuerriegel, der mit erstarrtem und dennoch melancholischem Blick auf den gebohnerten Linoleumboden des Korridors sah. Und wie oft hatte Fräulein Bethge vor Karen bei gelegentlicher Konversation in der Küche betont, dass sie schon bessere Zeiten, „Friedenszeiten“, wie sie diese immer nannte, gekannt hatte. Aber manchmal, wenn Fräulein Bethge in ihrer Konversation so richtig in Fahrt gekommen war, verlor sie ihre Vornehmheit und bekam mitunter hypochondrische Anwandlungen, da teilte sie jedem, mit dem sie sprach, ihre Schmerzen mit, die überall in ihrem Körper, vom Fußspann bis zur Stirn, herumzuwandern schienen; dabei verrenkte sie sich wie eine Gymnastikerin, zeigte mal auf ihr Knie, das sie winklig anzog, fuhr mit den Händen zu den Waden hinunter, drehte den Kopf in diese oder jene Richtung, umklammerte mit der Gelenkigkeit eines Schimpansen ihren Rücken und starrte mit verdrehtem Kopf so schräg nach oben, dass sich Karen vor dem grässlichen Zinkblick, als würde er sie hypnotisieren, erschrak. Fräulein Bethge besuchte schon seit Jahren die Polikliniken, wie sie sagte, ohne von den Ärzten jemals eine genaue Diagnose ihrer Krankheiten erfahren zu haben. Die Mediziner waren für sie, bis auf einen Professor, den sie ständig als Privatpatientin besuchte, allesamt Weihnachtsmänner oder Sanitäter mit Marxismus-Leninismus-Ausbildung, die einen Herzinfarkt von einer Darmverschlingung nicht unterscheiden könnten. Fräulein Bethge lebte schon seit über vierzig Jahren in dieser Wohnung und fühlte sich wie eine Hauptmieterin, wenngleich in Karens Mietvertrag die „Teilhauptmiete“ als Abgrenzung gegenüber des bourgeoisen Relikts „Untermiete“ besonders hervorgehoben wurde.

Einmal, als Karen beim Aufwasch in der Küche etwas danebengespritzt und nicht gleich aufgewischt hatte, sprang Fräulein Bethge, die sich gerade das Abendbrot zurechtmachte, um es pünktlich auf die Minute sich selbst im großen Erkerzimmer zu servieren, sofort nach dem Wischlappen, der wie immer akkurat über den Abfalleimer gespannt war, und wischte demonstrativ auf. Ähnliche Situationen häuften sich, so dass Karen jedes Mal, wenn Fräulein Bethge in die Küche kam und scheppernd zu hantieren begann, sofort die Flucht ergriff. Danach gab sich Karen kurz angebunden. Fräulein Bethge dagegen verstand es immer wieder, das Gespräch in Gang zu bringen. So erzählte sie wiederholt mit näselnder Stimme, da wieder eine dieser seltsamen Krankheiten in ihr laichte und sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte, dass sie des Öfteren merkwürdige Geräusche höre … Karen wurde verlegen, dachte nach, ob ihre Doppelbettcouch wohl unmissverständliche Töne von sich gab. Aber das hatte sie mit ihrem Mann bedacht, die Couch war verschwiegen. Vielleicht kamen die Geräusche von oben; über ihr wohnte Lokheizer Kowalski, ein vitaler Mann mit anthrazitfarbenem Blick. Sogleich verwarf sie jedoch ihre unausgesprochene Verdächtigung und fragte sich, ob es wohl wieder nur eine der üblichen Spitzen war, die Fräulein Bethge ohne Unterlass parat hatte, denen sie aber nicht Paroli bieten konnte. Karen war wehrlos und innerlich viel zu aufgeregt – und das wusste Fräulein Bethge, ihre scheinbare Überlegenheit genießend. Seit jenem Tag dachte Karen immer wieder, wenn sie abends im Bett lag und ihr Mann sich um sie bemühte, an ihre ehemalige Wand-an-Wand-Nachbarin, als wäre sie noch immer wie ein Wachhund mit überdimensionalen Ohren präsent. Diese Vorstellung steigerte sich in Karen von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und sie war zur Liebe kaum noch fähig. Ihr Mann aber brannte und konnte sich verströmen wie je. Bald empfand sie die Spiele, obwohl sie ihren Mann liebte, als lästig und unerträglich, und sie widerstand seinen fleischlichen Einfällen.

Überall im Neubauviertel waren noch Berge von Bausand zu sehen; lädierte und zerbrochene Gasbetonsteine lagen zwischen kalkbespritzten Brennnesseln herum, Schienenteile, auf denen der Kran gefahren war, Zementplatten, Rohrstücke, Teertonnen, Kabelrollen; nur ein schmaler, festgetretener Kiespfad führte zum Punkthochhaus – und von dort, sich mehrfach verzweigend, in die blau-weiße mit Plastikteilen verkleidete Konsum-Kaufhalle. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, nur die kühle Mathematik aus Beton und Glas. Sicher würde in einigen Jahren alles ganz anders aussehen, trösteten sich die Leute. Sie freuten sich über ihre Neubauwohnung, denn die meisten von ihnen hatten – genauso wie Karen – in Teilhauptmieten und schlechten Wohnverhältnissen gelebt. Doch Zufriedenheit wollte sich in ihr nicht so recht ausbreiten, seitdem sie im vierzehnten Stockwerk eines Punkthochhauses wohnte. Zwar brauchte sie sich nicht mehr über Fräulein Bethge zu ärgern, jener Ärger, der fast elf Jahre in ihr genagt hatte, aber sie sehnte sich des Öfteren wieder nach ihrem alten Viertel zurück, in dem zwar stetig der Putz bröckelte und die roten oder gelben Ziegelsteine der Wände hervortraten, an die Häuser der Gründerzeit und an die mit reichlicher Jugendstilornamentik verzierten, auch wenn die Flure inzwischen, von Salpeter zerfressen, modrig und nach defekten Klosettrohren rochen, besonders bei Witterungsumschlag, da war ihr immer der Geruch nach sauer gewordener Kohlsuppe in die Nase gestiegen. Aber in diesen Häusern, in denen sie einen Teil ihres Lebens verbracht hatte, war ihr alles so vertraut gewesen. Sie sehnte sich nach den freundlichen alten Leuten zurück, die fleißig ihre Messingschilder mit Elsterglanz polierten, besonders dann, wenn Schritte im Hausflur zu hören waren, da trat manchmal jemand vor die Tür, um während des Polierens einen Plausch anzufangen. Sie sehnte sich nach den Schuppen und Werkstätten im Hinterhof zurück, nach den Polsterern, die ihr manchmal beim Wäscheaufhängen etwas Neckisches zuriefen. Sie sehnte sich nach dem Lärm der Kinder und dem Gezwitscher der Spatzen und Krähen zurück, die auf hoch aufgeschossenen, bis über die Häusergiebel ragenden Birnbäumen saßen … Wenn sie lange genug ihren Erinnerungen nachgegangen war, drängte sich zugleich Fräulein Bethge ins Bewusstsein, die vielen Kränkungen, die Karen über sich hatte ergehen lassen und nur diese Vorstellung vermochte sie mit dem Hochhaus zu versöhnen. Doch abends oder nachts, wenn die Hände ihres Mannes über ihre Brüste strichen und langsam, mit Verzögerung, bis ans Schamhaar hinunterfuhren, war in ihr wieder Fräulein Bethge gegenwärtig, als würde sie noch immer hinter der Wand existieren, und Karen kam sich ausgetrocknet und wie zugeschraubt vor. Trotzdem ließ sie ihren Mann über sich gleiten. Sie wusste, dass er es brauchte, einmal am Tag das Vergnügen des Fleisches. Zu einer echten Lust dagegen war es schon lange nicht mehr gekommen. Immer waren in Karens Vorstellungen Fräulein Bethges überdimensionalen Ohren im Spiel, wenngleich sie unlängst – trotz Fürsorge „ihres“ Professors – den Weg allen Fleisches gegangen war. Die Anzeige hatte sich Karen extra aus der Zeitung ausgeschnitten. Sie brach in Tränen aus, ihr Mann wurde missmutig und zornig, er schüttelte sie, riet ihr, einen Arzt aufzusuchen, versuchte es besonders zärtlich. Sie spürte kaum noch die treibende Kraft seines Rückgrates, den Schwung seiner Hüften – und sein Glied bereitete ihr Schmerzen. Sie stieß ihn von sich und sagte: Ich kann nicht, mir tut alles weh.

Du bist wie ein Stück Eis mit einem Spalt darin, mehr nicht, sagte er. Das habe ich schon lange gewusst …

War es wirklich Fräulein Bethge, die hinter der Schlafzimmerwand zu lauern schien? fragte sich Karen. War es die ungewohnte Umgebung im Punkthochhaus mit seiner aseptischen Glätte – das Wohnen im vierzehnten Stockwerk? Oder waren es vielmehr nur die üblichen Abnutzungserscheinungen einer Ehe? Und sie ahnte, dass in ihr langsam etwas zu erstarren begann; aber nun hatte ihr Mann die Metapher ausgesprochen: Eis. Da reihte sich eine Kette von Worten aneinander: frigid, kälter denn kalt, eisig, arktisch, antarktisch, und vor ihr türmten sich himmelhohe Wände aus Eis. Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Im Spiegel sah sie auf ein bestimmtes Schläfenhärchen, das schon ergraut war. Mit einer Pinzette zog sie es heraus. Lange sah sie sich an, prüfte Wangen und Nase und wischte einige Hautpartikelchen ab. Als sie zurückkam, lag er noch immer nackt quer über der Doppelbettcouch und starrte auf ihr Negligé. Er stand auf, küsste sie heftig, bog sie über das Bett, als wollte er sie vergewaltigen. Aber sie wehrte ab, schlug ihn ins Gesicht und weinte, bis er losließ.

Sie stürzte aus dem Zimmer, zog sich an und lief zum Fahrstuhl. Es summte hinter der Tür, klickte und klackte, summte weiter, das Geräusch wurde leiser und verstummte. Sie drückte mehrere Male heftig auf den Knopf, aber die Tür blieb verschlossen, an der Anzeigetafel verlosch das Licht. Sie hastete den langen Flur entlang, vorbei an den vielen Namensschildern, öffnete die Tür zur Außentreppe, beugte sich über den Balkonrand und sah das Lichtermeer der Stadt. Der Wind fegte ihr Haar durch, das Mondlicht splitterte sich im zerfaserten Gewölk. Plötzlich war ihr, als würde sie mit ausgebreiteten Armen gleiten. Wie oft hatte sie als Kind dieses Gefühl gehabt, wenn sie auf Bergen oder Aussichtsplattformen stand. Sanft schwebte sie. Wenn sie die Arme anlegte, kippte sie nach vorn und stürzte in rasendem Flug in die Tiefe. Kurz vor dem Boden aber breitete sie die Arme aus und fing sich ab.

Eine Etage tiefer starrte sie erneut nach unten. Der Wind hatte sich gesteigert und riss ihre Haare auseinander. In vollen Zügen atmete sie und begann wieder zu fliegen, Widerstand an den Armen, als wären sie mit Häuten bespannt – und unter sich die vielen Autos, ihre Abblend- und Scheinwerferlichter wie seltsame Blutkörperchen mit riesigen Leuchtfühlern auf den Arterien der Straße. Segelnd zeichnete sie Kurven in rasender Geschwindigkeit und stand wieder fest auf dem Balkon. Auf einmal war ihr, als käme etwas näher, das Teerdach mit dem angebauten Gaststättenkomplex. Es kam auf sie zu und versank gleichzeitig in der Tiefe. Ein Schwindelgefühl hatte sie ergriffen, Angst zog ihre Kopfhaut zusammen, sträubte das Haar; ihr Herz schien eingepresst von einem unbekannten Gefühl. Langsam spürte sie wieder ihre Füße auf dem Boden. Mit beiden Händen umspannte sie das Stahlrohr am Balkonrand.

Nach einer Weile rannte sie, ohne anzuhalten, die Treppen hinunter, dreizehn Stockwerke, schloss die Zwischentür zum Hauseingang auf und starrte auf das hell erleuchtete Klingelbrett: Namen über Namen. Nummern über Nummern. Nirgendwo konnte sie klingeln. Keiner, den sie kannte. Alle waren ihr fremd.

Sie ging den schmalen Kiespfad entlang zur Straßenbahn- und Bushaltestelle. Irgendwohin musste sie doch – und wenn sie nur mit der Straßenbahn bis zur Endstelle und zurück fahren würde …

Ihr Kopf war leer, leicht, ohne Gefühl für Richtung oder Gleichgewicht. Unwirklich, unkörperlich kam sie sich vor. Sie ging immer schneller. Alles, nur nicht zurück, nicht in dieses große Haus, in dieses Wohnregal, darin sie eine Wabe, drei Zimmer, Küche mit Durchreiche und Bad bewohnte. Aber sie war müde, schwach, die Gelenke ihrer Füße hielten sie kaum noch aus. Endlich stand sie an der Haltestelle. Kein Mensch zu sehen, keine Bahn, kein Bus.

Erschrocken war sie, als plötzlich doch jemand auf sie zukam, ein Mann: groß, hager, sein Schädel kahl und blank, die obere Stirn bis zur Hälfte des Kopfes wie poliert. Über den Ohren wölbten sich zwei kleine Bogen grauer Haare, kurz geschnitten. Die Augen stechend in der fahlen Gesichtshaut. Er sprach sie an. Niemals zuvor hätte sie sich auf so ein Gespräch eingelassen. Sie zitterte, es war aus mit ihrer Selbstbeherrschung. Bloß nicht nach Hause …

Unwillkürlich griff er nach ihr, als wollte er sie vor etwas bewahren. Er beruhigte sie und erzählte irgendwelche Geschichten, fantasierte.