Die Tänzerin am Abgrund - Brandon Sanderson - E-Book

Die Tänzerin am Abgrund E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Für immer Kind bleiben! Das war der Wunsch des Straßenmädchens Lift – und bisher hat sich dieser auch erfüllt. Lift lebt am Hof der Azishs im Lande Roschar, und nur ihre einzigartige Gabe hat sie bislang vor Schwierigkeiten bewahrt. Doch das Leben am Hof droht, das freiheitsliebende Mädchen zu ersticken, und so zögert sie keine Sekunde, diesen zu verlassen, als sie erfährt, dass ein grausamer Mann im fernen Yeddaw Menschen wie sie – Menschen mit Magie – verfolgt. Lift bricht auf, diesen zur Seite zu stehen, nicht ahnend, in welche Gefahr sie sich damit begibt ...

In dem Kurzroman »Die Tänzerin am Abgrund« beleuchtet Brandon Sanderson das Schicksal einer bislang kaum beachteten Figur seiner epischen »Sturmlicht-Chroniken«.

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Seitenzahl: 230

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Das Buch

Noch bis vor Kurzem war Lift ein einfaches Straßenmädchen, das in der Stadt Azimir die Gassen der Elendsviertel unsicher gemacht hat, immer auf der Suche nach Nahrung. Seit sie allerdings mit ihrem Kumpan in den Herrscherpalast eingebrochen ist und dort unversehens Teil sehr bedeutsamer Ereignisse wurde, ist nichts mehr, wie es vorher war. Plötzlich ist ihr Freund der neue Prim, der Herrscher von ganz Azir, und Lift ist ein Ehrengast in seinem Palast. Noch weiß niemand, dass an alldem Lifts besondere Gabe, ihre »Großartigkeit«, wie sie es selbst nennt, nicht ganz unschuldig ist. Und weil sie sich nicht gern kontrollieren lässt, flieht sie kurzerhand durch die Wüste in die Stadt Yeddaw. Wo sie nicht nur umgehend von ihrem Schicksal und ihrer Gabe eingeholt wird, sondern plötzlich von einem Wesen bedroht wird, das in ganz Roschar Menschen tötet. Menschen mit ähnlichen Begabungen wie Lift. Und das kann Lift auf keinen Fall zulassen. Ein Abenteuer beginnt, an dessen Ende Lift nicht nur noch großartiger ist als zuvor, sondern auch begriffen haben wird, zu welchem Schicksal sie eigentlich geboren ist …

In »Die Tänzerin am Abgrund« erzählt Brandon Sanderson die Geschichte einer in den Hauptromanen seiner epischen Sturmlicht-Chroniken bislang kaum beachteten Heldin. Der Roman spielt zwischen den Ereignissen von »Die Stürme des Zorns« und »Die Splitter der Macht«.

Der Autor

Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Mit den Sturmlicht-Chroniken, seinem großen Fantasy-Epos um das Schicksal der Welt von Roschar, erobert er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und begeistert auch in Deutschland Tausende Fans. Er wird bereits als der J. R. R. Tolkien des 21. Jahrhunderts gepriesen. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.

Mehr über den Autor und seine Bücher auf

www.brandonsanderson.com

Ein Roman aus der Welt derSturmlicht-Chroniken

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel »Edgedancer«in dem Band Arcanum Unbounded beiTor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Wichtiger Hinweis:

Diese Geschichte spielt nach Die Worte des Lichts und Die Stürme des Zorns und enthält Spoiler.

Deutsche Erstausgabe 12/2019

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2016 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagillustration: Federico Musetti

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-18770-5V001

www.brandon-sanderson.de

1

Lift bereitete sich darauf vor, großartig zu sein.

Sie rannte über ein offenes Feld im nördlichen Taschikk, etwa eine Tagesreise von Azimir entfernt. Die Gegend war mit braunem, ein oder zwei Fuß hohem Gras bewachsen. Die Bäume, die hier und da standen, waren hoch und knorrig; ihre Stämme wirkten, als bestünden sie aus umeinander geschlungenen Ranken, und die Äste zeigten eher aufwärts als seitwärts.

Sie mochten irgendeinen offiziellen Namen haben, doch jedermann nannte sie wegen ihrer nachgebenden, federnden Wurzeln bloß Totsteller. In einem Sturm fielen sie einfach zu Boden und blieben dort liegen. Danach sprangen sie wieder auf, als wäre das eine grobe Geste gegen den Wind.

2

Yeddaw war eine jener Städte, die Lift schon immer hatte besuchen wollen. Sie lag in Taschikk, das selbst im Vergleich zu Azir ein seltsames Land war. Für Lifts Geschmack waren die Leute hier allzu höflich und reserviert. Und sie trugen Kleidung, die es schwer machte, sie zu lesen.

Aber alle sagten, dass man Yeddaw unbedingt gesehen haben musste. Es kam der Stadt Sesemalex Dar am nächsten – und da sie schon seit einer Milliarde Jahren in einer Kriegszone lag, würde Lift vermutlich nie dorthin gelangen.

Sie stand da, hatte die Hände in die Hüften gestemmt, schaute auf die Stadt Yeddaw hinunter und musste vor sich selbst eingestehen, dass sie der allgemeinen Meinung zustimmte. Das war wirklich ein grandioser Anblick. Die Azisch hielten sich für großartig und bedeutend, aber sie klebten bloß Bronze oder Gold oder sonst was an ihre Gebäude und meinten, das würde schon ausreichen. Aber zu was sollte das nützen? Es spiegelte bloß Lifts Gesicht, und das hatte sie schon so oft gesehen, dass es sie nicht mehr beeindruckte.

Nein, das hier war wirklich beeindruckend. Eine majestätische Stadt, die aus dem verdammten Erdboden herausgemeißelt war.

Lift hatte gehört, wie sich ein paar gezierte Schreiberinnen in Azir darüber unterhalten hatten. Sie hatten gesagt, es sei eine neue Stadt, erst vor ein paar Hundert Jahren erschaffen, nachdem sich die Erbauer von Azir kaiserliche Splitterklingen geliehen hatten. Diese waren nicht in erster Linie dazu bestimmt gewesen, im Krieg eingesetzt zu werden, sondern sollten Minen graben oder Felsen aufschneiden oder dergleichen. Sehr praktisch. Wie die Benutzung des Kaiserthrons als Schemel, um sich etwas vom obersten Regal zu holen.

Deshalb hätte man Lift wirklich nicht so anschreien sollen.

Wie dem auch sei, hier hatten sie diese Splitterklingen benutzt. Vorher war dieser Ort einmal eine weite Ebene gewesen. Von ihrem Aussichtspunkt auf einer Anhöhe konnte Lift genau erkennen, dass Hunderte Gräben in den Stein geschnitten worden waren. Sie waren untereinander verbunden, wie ein gewaltiges Labyrinth. Einige der Gräben waren breiter als andere, und sie bildeten eine annähernde Spirale in Richtung des Mittelpunktes, in dem ein großes, hügelartiges Gebäude der einzige Teil der Stadt war, der über die Oberfläche der Ebene hinausragte.

Darüber, auf den Hochflächen zwischen den Gräben, bestellten Menschen ihre Felder. Hier oben gab es so gut wie keine Gebäude; alles befand sich dort unten. Die Leute lebten in diesen Gräben, die zwei oder drei Stockwerke tief zu sein schienen. Wie schafften sie es, während der Großstürme nicht weggespült zu werden? Es stimmte, dass sie breite Kanäle gegraben hatten, die von der Stadt wegführten und in denen niemand zu leben schien, sodass das Wasser durch sie abfließen konnte. Dennoch schien es dort unten nicht besonders sicher zu sein – dafür aber ganz schön cool.

In diesem Labyrinth würde sich Lift gut verstecken können. Deshalb war sie schließlich hergekommen. Um sich zu verstecken. Sonst nichts. Kein anderer Grund.

Die Stadt besaß keine Mauern, aber um sie herum befanden sich auf der Ebene zahlreiche Wachttürme. Lifts Weg führte von der Anhöhe herunter zu einer größeren Straße, an deren Ende eine lange Reihe von Menschen darauf wartete, in die Stadt eingelassen zu werden.

»Wie um alles auf Roschar haben sie es geschafft, so viel Fels wegzuschneiden?«, fragte Wyndel, als er sich zu einem Haufen aus Ranken auftürmte, der ihr bis zur Hüfte reichte, und das Gesicht schräg in Richtung der Stadt hielt.

»Splitterklingen«, sagte Lift.

»Oh. Ooh. So.« Er regte sich unbehaglich, die Ranken zuckten und drehten sich mit knirschenden Lauten umeinander. »Ja. So.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich sollte mir eine besorgen, was?«

Seltsamerweise ächzte Wyndel laut auf.

»Ich vermute«, erklärte sie, »dass Finsternis eine besitzt, nicht wahr? Er hat mit einer gekämpft, als er versucht hat, mich und Gawx zu töten. Also sollte ich mir eine holen.«

»Ja«, sagte Wyndel, »genau das solltest du tun! Wir gehen auf den Markt und kaufen uns eine sagenumwobene, allmächtige Waffe aus dem Reich der Legende, die mehr wert ist als viele Königreiche zusammengenommen! Ich habe gehört, sie werden im Dutzend verkauft, wenn im Osten das Tauwetter einsetzt.«

»Halt den Mund, Bringer der Leere.« Sie betrachtete sein Gesichtsknäuel. »Du weißt etwas über Splitterklingen, stimmt das?«

Die Ranken schienen zu welken.

»Du weißt es. Heraus damit. Was weißt du?«

Er schüttelte sein Rankenhaupt.

»Sag es mir«, warnte ihn Lift.

»Es ist verboten. Du musst es selbst herausfinden.«

»Das werde ich. Ich werde es herausfinden. Und du wirst es mir sagen. Sag es mir, oder ich beiße dich.«

»Was?«

»Oder ich beiße dich«, wiederholte sie. »Ich werde an dir herumnagen, Bringer der Leere. Du bist eine Ranke, richtig? Ich esse Pflanzen. Manchmal.«

»Selbst wenn du dir an meinen Kristallen nicht die Zähne ausbeißen solltest«, sagte Wyndel, »würde dir meine Masse keine Nahrung bieten. Sie würde sofort in Staub zerfallen.«

»Es geht hier nicht um Nahrung. Es geht um Folter.«

Überraschenderweise sah Wyndel sie mit seinen seltsamen, aus Kristallen gewachsenen Augen aufmerksam an. »Ehrlich, Herrin, ich glaube, das steckt nicht in dir.«

Sie knurrte ihn an, und er welkte noch ein wenig, verriet ihr aber nicht das Geheimnis. Bei den Stürmen! Eigentlich war es beruhigend, dass er Rückgrat zeigte … oder zumindest das, was bei Pflanzen als Rückgrat diente, was immer das auch sein mochte. Rückborke?

»Du sollst mir gehorchen«, sagte sie, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging auf der Straße gemächlich der Stadt entgegen. »Du befolgst die Regeln nicht.«

»Doch, das tue ich«, sagte er mit einem Schnauben. »Du kennst sie bloß nicht. Und ich habe dir gesagt, dass ich kein Soldat, sondern ein Gärtner bin, und deshalb werde ich es nicht zulassen, dass du Leute mit mir schlägst.«

Sie blieb stehen. »Warum sollte ich jemanden mit dir schlagen?«

Er welkte noch ein wenig stärker und wirkte nun fast völlig vertrocknet.

Lift seufzte und setzte ihren Weg fort; Wyndel folgte ihr. Sie mischten sich unter die Menschenmenge und rückten langsam zu dem Turm vor, der den Zugang zur Stadt darstellte.

»Also«, sagte Wyndel, als sie an einem Chullkarren vorbeigingen, »ist das der Ort, zu dem wir von Anfang an unterwegs waren? Diese Stadt, die in den Boden eingegraben wurde?«

Lift nickte.

»Du hättest es mir vorher sagen können«, meinte Wyndel. »Ich hatte schon befürchtet, wir müssten den nächsten Sturm draußen überstehen.«

»Warum denn? Es regnet doch nicht einmal mehr.« Die Weinung hatte seltsamerweise völlig außerplanmäßig aufgehört. Und dann hatte sie wieder eingesetzt. Und erneut aufgehört. Das Wetter verhielt sich ganz widersprüchlich, eher wie normales Wetter, und nicht wie der lange, lange, milde Großsturm, zu dem sie eigentlich gehörte.

»Ich weiß nicht«, sagte Wyndel. »Etwas stimmt nicht, Herrin. Etwas an dieser Welt. Ich spüre das. Hast du gehört, was der Alethi-König dem Kaiser geschrieben hat?«

»Über das Eintreffen eines neuen Sturms?«, sagte Lift. »Über den Sturm, der aus der falschen Richtung bläst?«

»Ja.«

»Die Nudeln haben das allesamt als dämlich bezeichnet.«

»Die Nudeln?«

»Die Leute, die um Gawx herumhängen, die ganze Zeit mit ihm quatschen und ihm sagen, was er zu tun hat. Und die versucht haben, mich in eine Robe zu stecken.«

»Die Wesire von Azir. Die Hauptbeamten des Reiches und Berater des Prim!«

»Ja. Lange Arme und teigige Gesichter. Nudeln halt. Wie dem auch sei, sie waren der Meinung, dass dieser wütende Knabe …«

»… Großprinz Dalinar Kholin, der faktische König von Alethkar und derzeit der mächtigste Kriegsherr auf der Welt …«

»… das Ganze nur erfunden hat.«

»Vielleicht. Aber spürst du nicht etwas? Da draußen? Wie es sich zusammenballt?«

»Ein leiser Donner«, flüsterte Lift und schaute nach Westen, über die Stadt hinweg und in Richtung der fernen Berge. »Oder … eigentlich fühle ich mich so, als würde jemand eine Pfanne fallen lassen, und ich sehe sie zu Boden gehen und mache mich auf den Lärm gefasst, wenn sie aufschlägt.«

»Also spürst du es.«

»Vielleicht«, sagte Lift. Ein Chullkarren rollte an ihnen vorbei. Niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit – so war es immer. Und niemand konnte Wyndel sehen – niemand außer ihr selbst, denn sie war etwas Besonderes. »Wissen deine Freunde, die anderen Bringer der Leere, nichts darüber?«

»Wir sind nicht … Lift, wir sind Sprengsel, aber meine Art – die der Bebauungssprengsel – ist nicht sehr wichtig. Wir haben kein eigenes Reich, noch nicht einmal Städte. Wir haben uns nur aufgemacht und mit dir verbunden, weil die Kryptiker und die Ehrensprengsel sich ebenfalls aufgemacht haben. Oh, wir sind mit den Füßen voran in das Meer aus Glas gesprungen, aber wir wussten kaum, was wir taten! Jeder, der eine Vorstellung davon hatte, wie alles funktioniert, ist schon vor vielen Jahrhunderten gestorben!«

Er wuchs neben ihr an der Straße entlang, als sie dem Chullkarren folgten, der ratternd und bebend die Straße entlangrollte.

»Alles ist falsch, und nichts ergibt einen Sinn«, fuhr Wyndel fort. »Ich vermute, mit dir das Band einzugehen, das hätte schwieriger sein sollen, als es tatsächlich war. Manchmal sind meine Erinnerungen verschwommen, aber allmählich erinnere ich mich deutlicher. Ich habe nicht das Trauma erlebt, von dem ich glaubte, dass wir es alle durchleiden müssen. Der Grund dafür könnte in deinen … einzigartigen Umständen liegen. Aber, Herrin, höre auf mich, wenn ich dir sage, dass etwas Großes im Anmarsch ist. Es war die falsche Zeit, Azir zu verlassen. Dort sind wir in Sicherheit gewesen. Und Sicherheit werden wir dringend brauchen.«

»Wir haben keine Zeit mehr, dorthin zurückzugehen.«

»Nein, vermutlich nicht. Wenigstens befindet sich vor uns ein möglicher Unterschlupf.«

»Ja. Vorausgesetzt, Finsternis tötet uns nicht.«

»Finsternis? Der Himmelsbrecher, der dich im Palast angegriffen und beinahe getötet hätte?«

»Jawohl«, sagte Lift. »Er ist in der Stadt. Hast du nicht gehört, wie ich gesagt habe, dass ich eine Splitterklinge brauche?«

»In der Stadt … in Yeddaw, wohin wir gerade unterwegs sind?«

»Ja. Die Nudeln lassen ihn beobachten. Kurz vor unserem Aufbruch kam eine Nachricht herein, die besagte, er sei in Yeddaw gesichtet worden.«

»Warte.« Wyndel schoss vor und hinterließ eine Spur aus Ranken und Kristallen. Er wuchs an der Hinterseite des dahinrollenden Chullkarrens hoch und wickelte sich unmittelbar vor Lift auf dem Holz zusammen. Dann bildete er ein Gesicht aus und sah sie an. »Ist das der Grund für unseren plötzlichen Aufbruch? Ist das der Grund, warum wir hier sind? Willst du etwa Jagd auf dieses Ungeheuer machen?«

»Natürlich nicht«, sagte Lift mit den Händen in den Taschen. »Das wäre dämlich.«

»Und das bist du nicht.«

»Nö.«

»Warum also sind wir hier?«

»Sie backen hier diese leckeren Pfannkuchen«, sagte sie, »mit ganz feinen Sachen darin. Sie sollen wunderbar schmecken und werden traditionell während der Weinung aufgetischt. Zehn verschiedene Sorten. Ich werde mir einen von jeder stehlen.«

»Du bist den langen Weg bis hierher gegangen und hast den ganzen Luxus zurückgelassen, nur um ein paar Pfannkuchen zu essen?«

»Aber ein paar wirklich großartige Pfannkuchen.«

»Obwohl ein göttergleicher Splitterträger hier ist – ein Mann, der verzweifelt versucht hat, dich hinzurichten.«

»Er wollte verhindern, dass ich meine Kräfte benutze«, sagte Lift. »Er ist auch an vielen anderen Orten gesehen worden. Die Nudeln haben ihm hinterherspioniert. Sie sind fasziniert von ihm. Jeder schenkt diesem kahlköpfigen Knaben, der Königshäupter sammelt, große Aufmerksamkeit, aber er hat sich durch ganz Roschar gemordet und auch einfache Leute umgebracht. Stille Leute.«

»Und warum sind wir hier?«

Sie zuckte die Achseln. »Hier ist es genauso gut wie anderswo.«

Er rutschte von der Rückseite des Karrens herunter. »Tatsächlich ist dieser Ort ganz eindeutig nicht so gut wie jeder andere. Er ist viel schlechter, weil …«

»Bist du sicher, dass ich dich nicht essen kann?«, fragte sie. »Das wäre nämlich richtig gut. Du hast eine Menge Ranken. Vielleicht kann ich an der einen oder anderen knabbern.«

»Ich versichere dir, Herrin, dass du diese Erfahrung vollkommen unangenehm finden würdest.«

Sie grunzte, während ihr Magen knurrte. Hungersprengsel erschienen und umschwebten sie wie kleine braune Flecken mit Flügeln. Das war aber gar nicht seltsam. Viele der Menschen vor ihr in der Schlange hatten solche Sprengsel angelockt.

»Ich verfüge über zwei Kräfte«, sagte Lift. »Ich kann herumgleiten und großartig sein, und ich kann Sachen zum Wachsen bringen. Sollte ich mir vielleicht ein paar essbare Pflanzen ziehen?«

»Vermutlich würde es mehr Sturmlicht-Energie benötigen, die Pflanzen wachsen zu lassen, als du aus ihrem Verzehr zurückbekommst. So sind die Gesetze des Universums nun einmal. Und bevor du etwas dagegen einwendest: Es gibt Gesetze, die selbst du nicht beiseiteschieben kannst.« Er hielt inne. »Das glaube ich zumindest. Aber wer weiß schon, was passiert, wenn du dich einmischst?«

»Ich bin nun mal besonders«, sagte Lift und blieb stehen, als sie das Ende der Wartenden erreicht hatte, die Einlass in die Stadt begehrten. »Also gut, hungrig bin ich. Eher hungrig als besonders, zumindest in diesem Augenblick.«

Sie reckte den Kopf und schaute an der Warteschlange vorbei. Einige Wächter standen an der Rampe, die zur Stadt hinunterführte, und neben ihnen befanden sich Schreiber und Schreiberinnen in der seltsamen Kleidung der Taschikker. Sie bestand aus einem ganz langen Stück Stoff, in das sie sich von den Füßen bis zur Stirn eingewickelt hatten. Dafür, dass es sich nur um eine einzelne Stoffbahn handelte, war es ganz schön kompliziert: Sie wurde einzeln zunächst um beide Beine und Arme und dann um die Hüfte gewunden, sodass sie eine Art Rock bildete. Sowohl die Männer als auch die Frauen trugen solche Gewänder, nur die Wächter nicht.

Sie ließen sich Zeit, die Leute abzufertigen. Und es warteten eine ganze Menge Leute. Jeder hier war ein Makabaki, mit dunklen Augen und dunkler Haut – dunkler als Lifts bräunliche Färbung. Bei vielen Wartenden handelte es sich um Familien in gewöhnlicher Azisch-Kleidung: Hosen und dreckige Hemden mit dem einen oder anderen Muster. Erschöpfungssprengsel und Hungersprengsel schwirrten um sie herum und lenkten sie ab.

Lift hatte in der Hauptsache Kaufleute hier erwartet, aber keine Familien. Wer waren all diese Menschen?

Ihr Magen knurrte.

»Herrin?«, fragte Wyndel.

»Psst«, machte sie. »Bin zu hungrig zum Reden.«

»Bist du …?«

»Hungrig? Ja. Halt also den Mund.«

»Aber …«

»Ich wette, diese Wächter haben etwas zu essen. Wächter werden immer gut gefüttert. Sie können niemandem auf den Kopf hauen, wenn sie gerade verhungern. Das ist eine Tatsache.«

»Wenn ich einen Gegenvorschlag machen darf: Du könntest dir mit den Kugeln, die der Kaiser dir zugeteilt hat, einfach etwas zu essen kaufen.«

»Hab sie nicht mitgenommen.«

»Du hast … du hast das Geld nicht mitgenommen?«

»Hab’s zurückgelassen, als du grad nicht hingeschaut hast. Du kannst nicht ausgeraubt werden, wenn du kein Geld dabei hast. Wer Kugeln mit sich herumträgt, fordert das Schicksal geradezu heraus. Außerdem …« Sie kniff die Augen zusammen und beobachtete die Wächter. »Nur schicke Leute haben solches Geld. Wir normalen Menschen müssen anders über die Runden kommen.«

»Du bist also normal.«

»Natürlich bin ich das«, sagte sie. »Alle anderen sind komisch.«

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, glitt sie unter einen Chullkarren und machte sich daran, zum Anfang der Schlange zu schlüpfen.

3

Tallew, sagst du?«, fragte Hauka und hob die Plane, die den verdächtigen Getreidehaufen abdeckte. »Aus Azir?«

»Ja, natürlich, Frau Wächterin.« Der Mann, der vorn auf dem Wagen saß, wand sich. »Bin nur ein einfacher Bauer.«

Ohne Schwielen an den Händen, dachte Hauka. Ein einfacher Bauer, der sich liaforanische Stiefel und einen Seidengürtel leisten kann. Hauka stieß mit dem stumpfen Ende ihres Speers in das Getreide hinein. Sie fand keine Schmuggelware, keine Flüchtlinge. Aber das war nur der Anfang.

»Ich muss deine Papiere überprüfen lassen«, sagte sie. »Fahr den Wagen an die Seite.«

Der Mann beschwerte sich brummend, aber er gehorchte, drehte den Karren und setzte ihn rückwärts neben das Wächterhaus. Es war das einzige Gebäude, das oberhalb der Stadt errichtet war – abgesehen von einigen Türmen, aus denen Pfeile auf jeden abgeschossen werden konnten, der versuchen sollte, über die Rampen in die Stadt zu gelangen oder sie zu belagern.

Der Bauer lenkte seinen Wagen sehr, sehr vorsichtig, denn schließlich befand er sich in der Nähe des Abgrunds, in dem das Viertel der Zuwanderer lag und von dem ihn nur ein wackliger Holzzaun trennte. Reiche Leute betraten die Stadt nicht an dieser Stelle; hierher kamen nur diejenigen ohne Papiere. Oder diejenigen, die keine Aufmerksamkeit erregen wollten.

Hauka entrollte die Papiere des Mannes und ging an dem Wächterhaus vorbei. Aus ihm drangen verführerische Düfte. Das Mittagessen wurde vorbereitet, und das bedeutete, dass die Leute in der Schlange vor ihnen noch länger warten mussten. Ein schon recht betagter Schreiber saß auf einem Stuhl vor dem Wachtposten. Nissiqqan liebte die Sonne.

Hauka verneigte sich vor ihm. Nissiqqan war der stellvertretende Schreiber, der für die Einwanderung zuständig war und heute Dienst hatte. Der ältere Mann war von Kopf bis Fuß in eine gelbe Shiqua gehüllt, hatte aber das Gesichtsteil nach unten geschoben und zeigte viele Runzeln und ein eingekerbtes Kinn. Er befand sich in seiner Heimat, und die Notwendigkeit, sich vor Nun Raylisi – der Wesenheit, die seinem Gott feindlich gegenüberstand – zu verbergen, war kaum gegeben. Taschi würde ihn und die Seinen hier beschützen.

Hauka trug einen Brustpanzer, einen Helm, eine Hose und einen Umhang, auf dem die Muster ihrer Familie und ihrer Studiengebiete prangten. Die Einheimischen erkannten eine Azisch wie sie ohne Schwierigkeiten an – Taschikk besaß kaum eigene Soldaten, und Haukas Leistungen waren ihr von einem Wesir in Azimir offiziell bestätigt worden. Sie hätte eine ähnliche Stellung bei jeder örtlichen Wache in der Groß-Makabaki-Region erhalten können, auch wenn ihre Qualifikationen deutlich machten, dass sie nicht als Kommandantin auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden durfte.

»Hauptwächterin?«, sagte Nissiqqan, während er seine Brille zurechtrückte und die Papiere des Bauern betrachtete, die sie ihm entgegenhielt. »Weigert er sich, die Zollgebühren zu zahlen?«

»Sie befinden sich schon im Tresor«, sagte Hauka. »Ich bin trotzdem misstrauisch. Dieser Mann ist kein Bauer.«

»Schmuggelt er Flüchtlinge?«

»Ich habe das Getreide abgesucht und auch unter den Wagen gesehen«, sagte Hauka und warf einen Blick über die Schulter. Der Mann schien nur aus breitestem Lächeln zu bestehen. »Es ist neues Getreide. Etwas überreif, aber essbar.«

»Darüber wird die Stadt froh sein.«

Er hatte recht. Der Krieg zwischen Emul und Tukar entwickelte sich immer hitziger. Zugegeben, so etwas wurde immer wieder behauptet. Aber in den letzten Jahren hatte sich tatsächlich vieles verändert. Dieser Gottkönig der Tukari … über ihn gab es alle Arten von wilden Gerüchten.

»Das ist es!«, sagte Hauka. »Euer Gnaden, ich wette, dieser Mann ist in Emul gewesen. Er hat ihre Felder abgeerntet, während alle dazu fähigen Männer mit der Abwehr der Invasion beschäftigt sind.«

Nissiqqan nickte und rieb sich das Kinn. Dann durchstöberte er seine Aktenmappe. »Besteuere ihn als Schmuggler und als Hehler. Ich glaube … ja, das wird sich machen lassen. Der dreifache Zoll. Ich werde dafür sorgen, dass die zusätzlichen Zollgebühren zur Ernährung der Flüchtlinge verwendet werden, gemäß dem Referendum drei-einundsiebzig-scha.«

»Danke«, sagte Hauka. Sie entspannte sich und nahm die entsprechenden Formulare entgegen. Man konnte über die seltsame Kleidung und die Religion der Taschikker sagen, was man wollte, aber sie wussten zumindest, wie man solide Anordnungen erließ.

»Ich habe Kugeln für dich«, bemerkte Nissiqqan. »Ich weiß, dass du nach aufgeladenen gefragt hast.«

»Wirklich!«, sagte Hauka.

»Mein Vetter hatte welche in seinem Kugelkäfig draußen gelassen, als dieser unvorhergesehene Großsturm getobt hat – es war schieres Glück, dass er sie dort vergessen hatte.«

»Ausgezeichnet«, sagte Hauka. »Ich bezahle sie Euch später.« Sie besaß einige Informationen, an denen Nissiqqan ziemlich interessiert sein würde. Informationen waren hier in Taschikk ein genauso gutes Zahlungsmittel wie Kugeln.

Und, bei den Stürmen, ein paar aufgeladene Kugeln wären sehr schön. Nach der Weinung besaßen die wenigsten Leute welche, was ziemlich unpraktisch sein konnte, denn eigenes offenes Feuer war in der ganzen Stadt verboten. Also konnte sie nachts nur lesen, wenn ihr ein paar aufgeladene Kugeln zur Verfügung standen.

Sie ging zu dem Schmuggler zurück und durchblätterte ihre Formulare. »Du musst diese Steuern bezahlen«, sagte sie ihm und reichte ihm eines der Formulare. »Und dann diese hier.«

»Eine Hehlererlaubnis!«, rief der Mann. »Und Schmuggeln! Das ist Diebstahl!«

»O ja, ich glaube, das ist es. Oder das war es zumindest.«

»Ihr könnt diese Anschuldigungen nicht beweisen«, sagte er und schlug wütend mit der Hand auf die Formulare.

»Sicher«, sagte sie. »Wenn ich beweisen könnte, dass du die Grenze nach Emul illegal überquert und die Felder guter, hart arbeitender Leute geplündert hast, während sie durch die Kämpfe abgelenkt waren, und dass du deine Ladung dann ohne die entsprechenden Erlaubnisscheine hierher gebracht hast, dann würde ich den Wagen einfach beschlagnahmen.« Sie beugte sich vor. »Du kommst gerade noch mal glimpflich davon. Wir beide wissen das.«

Er sah ihr in die Augen, dann wandte er nervös den Blick ab und füllte die Formulare aus. Gut. Kein Ärger heute. Es gefiel ihr, wenn es keinen Ärger gab. Es …

Hauka hielt inne. Die Plane über dem Wagen des Mannes raschelte. Hauka runzelte die Stirn, zog die Plane weg und fand dahinter ein junges Mädchen, das bis zum Hals im Getreide begraben war. Es hatte hellbraune Haut – vielleicht war es eine Reschi, vielleicht auch eine Herdazianerin – und vermutlich war sie elf oder zwölf Jahre alt. Es grinste Hauka an.

Vorhin war sie eindeutig nicht da gewesen.

»Dieses Zeug«, sagte das Mädchen auf Azisch mit einem vollen Mund, in dem rohes Getreide zu stecken schien, »schmeckt schrecklich. Ich vermute, deshalb verarbeiten wir es vorher.« Sie schluckte. »Hast du etwas zu trinken?«

Der Schmuggler sprang von seiner Sitzbank auf und streckte den Arm gegen das Mädchen aus. »Sie ruiniert meine Ware! Sie schwimmt darin! Wächterin, unternehmt etwas! Da sitzt ein schmutziger Flüchtling in meinem Getreide!«

Großartig. Die Formulare, die auf diesen Zwischenfall folgten, würden ein Albtraum sein. »Raus da, Kind. Hast du Eltern?«

»Klar hab ich die«, sagte das Mädchen und rollte mit den Augen. »Jeder hat Eltern. Aber meine sind tot.« Es hielt den Kopf schräg. »Was rieche ich denn da? Das sind doch … Pfannkuchen, oder?«

»Sicher«, sagte Hauka, die eine Möglichkeit spürte, die Lage zu entschärfen. »Sonnentag backt gerade Pfannkuchen. Du kannst einen haben, wenn du …«

»Danke!« Das Mädchen sprang aus dem Getreide hervor, das nun in alle Richtungen davonflog, und der Schmuggler stieß einen lauten Schrei aus. Hauka versuchte das Kind zu fangen, aber irgendwie wand es sich aus ihrem Griff und sprang über Haukas Hände hinweg nach vorn.

Und landete auf Haukas Schultern.

Hauka ächzte unter dem plötzlichen Gewicht des Mädchens, das rasch wieder von den Schultern herunterhüpfte und hinter der Wächterin landete.

Hauka wirbelte herum und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Bei Taschi«, sagte der Schmuggler. »Sie ist Euch auf die sturmverdammten Schultern gesprungen, Wächterin.«

»Danke. Du bleibst hier. Beweg dich nicht von der Stelle.« Hauka richtete ihren Helm und rannte hinter dem Kind her, das nun an Nissiqqan vorbeihuschte – er ließ seine Formulare fallen – und das Wächterhaus betrat. Gut. Es gab keinen anderen Weg hinaus. Hauka hastete zur Tür, stellte den Speer daneben ab und nahm die Keule aus ihrem Gürtel. Sie wollte den kleinen Flüchtling zwar nicht verletzen, aber eine gewisse Einschüchterung war hier wohl auch nicht fehl am Platze.

Das Mädchen glitt über den Holzboden, als wäre dieser mit Öl eingerieben, und rutschte unter den Tisch, an dem einige Schreiber und zwei weitere Wächter gerade zu Mittag aßen. Das Mädchen stand auf und warf den Tisch um. Alle zuckten zurück, und die Speisen fielen zu Boden.

»Entschuldigung!«, rief das Mädchen aus der Mitte des Chaos. »Das wollte ich nicht.« Sein Kopf ragte hinter dem umgekippten Tisch hervor, und ein Pfannkuchen steckte ihm bereits halb im Mund. »Die sind gar nicht schlecht.«

Haukas Männer sprangen auf die Beine. Hauka setzte an ihnen vorbei und versuchte, um den Tisch herumzugreifen und den kleinen Flüchtling zu packen. Ihre Finger berührten den Arm des Mädchens, den es ihr sofort wieder entzog. Das Kind drückte sich gegen den Fußboden und glitt geradewegs zwischen Rezs Beinen hindurch.

Hauka sprang erneut und drängte das Mädchen in eine Ecke der Wächterkammer.