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Swinemünde, Sommer 1892: Ein Geheimnis, das alles ins Wanken bringt und die Bande der Familie auf eine harte Probe stellt.
Die Pension der Familie wächst, doch nicht alle Träume lassen sich zwischen ihren Mauern verwirklichen. Linas Tochter Lore sehnt sich nach einem selbstbestimmten Leben als Modezeichnerin in Berlin - ein Wunsch, der den Plänen ihrer Eltern widerspricht. So steht sie vor einer schweren Entscheidung: Soll sie ihrer Familie den Rücken kehren? Ihr jüngerer Bruder Paul hingegen hat große Ideen für die Pension, hütet jedoch ebenfalls ein folgenschweres Geheimnis.
Dann kommt mit einer reisenden Zirkustruppe die junge Rosalie in die Stadt. Auch sie kämpft mit sich und ihrer Herkunft. Das Leben auf der Straße hat Spuren hinterlassen, und die Sehnsucht nach einem echten Zuhause bringt sie dazu, gefährliche Wege zu gehen.
Alte Konflikte brechen auf, und verborgene Wahrheiten drohen ans Licht zu kommen - und alles zu verändern, was die Familie zusammenhält.
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Swinemünde, Sommer 1892:
Die Pension der Familie wächst, doch nicht alle Träume lassen sich zwischen ihren Mauern verwirklichen. Linas Tochter Lore sehnt sich nach einem selbstbestimmten Leben als Modezeichnerin in Berlin - ein Wunsch, der den Plänen ihrer Eltern widerspricht. So steht sie vor einer schweren Entscheidung: Soll sie ihrer Familie den Rücken kehren? Ihr jüngerer Bruder Paul hingegen hat große Ideen für die Pension, hütet jedoch ebenfalls ein folgenschweres Geheimnis.
Dann kommt mit einer reisenden Zirkustruppe die junge Rosalie in die Stadt. Auch sie kämpft mit sich und ihrer Herkunft. Das Leben auf der Straße hat Spuren hinterlassen, und die Sehnsucht nach einem echten Zuhause bringt sie dazu, gefährliche Wege zu gehen.
Alte Konflikte brechen auf, und verborgene Wahrheiten drohen ans Licht zu kommen - und alles zu verändern, was die Familie zusammenhält.
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Pension Büchner, Stammhaus
Eleonore »Ella« Pagels, geb. 1850
Ludwig Pagels, geb. 1847
Karl Pagels, geb. 1873
Elfriede Büchner, geb. 1810
Olga »Tante Olga« Brzezińska, Mamsell
Herr Schumann, Koch
Pension Büchner, Villa
Evelina »Lina« Michelsen, geb. 1852
Friedrich Michelsen, geb. 1849
Eleonore »Lore« Michelsen, geb. 1871
Paul Michelsen, geb. 1872
Heinrich Michelsen, Friedrichs Vater
Małgorzata »Tante Gosia«, Mamsell
Beata, Hausmädchen
Familie Fröhlich
Rosalie Fröhlich, geb. 1873
Antonius »Toni« Fröhlich, geb. 1846
Weitere Personen
Ferdinand Loewe, geb. 1870
Wilhelm Kätner, geb. 1872
Helga und Wolfgang Walther, ehemalige Nachbarn
Hagen, Berliner Original und guter Freund
Hieronymus Diebestaler, Zirkusdirektor
DAS GEHEIMNIS IN DEN DÜNEN
»Stellt euch vor, ihr hättet Karl damals wirklich als euren Sohn ausgegeben, Friedrich.«
Es klirrte, und Porzellanscherben und Kaffee spritzten über den fein gedeckten Tisch. Lore fuhr der Schreck in die Glieder, und sie starrte Mutter an, der die Tasse aus der Hand gefallen war. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden. Auch Vater, Tante Ella und Onkel Ludwig schienen erstarrt zu sein, Urgroßmutter Elfriede dagegen verengte die Augen, was ihr ein verärgertes Aussehen verlieh. Es war totenstill im Familiensalon, nur Großvater Heinrichs leises Glucksen war zu hören.
Dann erst wurde Lore bewusst, was der alte Herr da gerade gesagt hatte. Er war in letzter Zeit oft verwirrt, aber … ihren Cousin Karl als das Kind ihrer Eltern auszugeben? Wie kam er denn nur auf so etwas? Sie sah Karl an, der neben ihr saß. Er hob leicht die Schultern. Auch Lores Bruder Paul hatte die Stirn in Falten gelegt.
»Vater, was redest du denn da?«, fragte Mutter endlich, griff nach ihrer Serviette und versuchte mit abgehackten Bewegungen, das Tischtuch zu säubern. Hatte ihre Stimme gezittert, oder war das Einbildung gewesen?
»Lass, Liebes«, sagte Vater und nahm Mutter das Tuch aus der Hand. »Du schneidest dich nur.« Er begann, die Scherben des zarten Tässchens einzusammeln und auf der Untertasse abzulegen, die wie durch ein Wunder heil geblieben war. »Vater, soll ich dir noch einen Schluck Kaffee nachschenken?« Er hob die Kanne an.
Großvater Heinrich ignorierte ihn, grinste nur weiter vor sich hin. »Dann hätten die zwei jetzt ein Problem«, fuhr er unbeeindruckt fort und deutete abwechselnd auf Lore und Karl. »So als Bruder und Schwester.« Nun zwinkerte er ihr sogar zu!
Lore war über alle Maßen verwirrt. Sie hatten in der Tat ein Problem, aber eines, das nichts damit zu tun hatte, wessen Kind Karl war, und außerdem wusste die Familie ja nichts davon. Was aber meinte Großvater Heinrich denn nur mit seinen Worten? Karl und sie, Bruder und Schwester?
»Heinrich, es ist genug!«, sagte Urgroßmutter Elfriede mit erstaunlich fester Stimme für eine Einundachtzigjährige. »Iss deine Torte und rede nicht solchen Unsinn. Wir wollen feiern und nicht deine kruden Gedanken hören. Schließlich ist heute Karls Geburtstag.«
»Stimmt doch gar nicht«, murmelte Großvater Heinrich trotzig, nahm aber dennoch eine große Gabel voll Quarksahnetorte, die ihn zumindest für den Moment zum Schweigen brachte. Er hatte nicht mehr all seine Zähne, und so mümmelte er das Gebäck langsam und schob es mit der Zunge im Mund hin und her.
»Wie schön, dass dein Geburtstag dieses Jahr auf einen Sonntag fällt, Karl!«, rief Ludwig ein kleines bisschen zu laut, ohne auf Großvater Heinrichs Worte einzugehen. »Sonst hättest du die Kaserne vielleicht gar nicht verlassen dürfen …«
Lore hörte nicht mehr hin.
Stimmt doch gar nicht.
Was sollte nicht stimmen, dass heute Karls Geburtstag war? Aber natürlich war er das! Ihr Cousin war nun achtzehn Jahre alt und damit ganze zweieinhalb Jahre jünger als Lore selbst. Was ihre Eltern nicht davon abhielt, sie seit Jahren als Paar zu sehen und fest davon auszugehen, dass sie einmal heiraten würden.
»Ihr versteht euch so gut, und Cousin und Cousine zweiten Grades, das ist doch kein Problem«, pflegten sie zu sagen, und nein, es wäre auch keines gewesen. Karl war groß, gut aussehend und reif für sein Alter, und Lore liebte ihn innig.
Wie einen Bruder.
Als der er offenbar beinahe ausgegeben worden wäre, wenn sie Großvater Heinrich richtig verstanden hatte. Und die Reaktionen ihrer Eltern hatten ebenfalls Bände gesprochen. Noch immer war die lockere Fröhlichkeit, die zuvor im Familiensalon des Stammhauses der Pension Büchner geherrscht hatte, nicht zurückgekehrt. Ludwig bemühte sich zwar, das Gespräch in Gang zu halten, indem er seinem Sohn Fragen über den Wehrdienst stellte, und Vater kommentierte Karls eher einsilbige Antworten ebenso eifrig. Den Frauen aber schien es vor allem ein Anliegen zu sein, Großvater Heinrich zu mästen und ihn damit von seinem vorherigen Thema abzulenken – oder ihn vielmehr davon abzuhalten, überhaupt noch einmal etwas zu sagen.
Lore lief es kalt über den Rücken. Was verheimlichten sie?
Paul stieß ihr Knie unter dem Tisch mit seinem an, und sie sah zu ihm hinüber. Er hob die Augenbrauen, sah sie durch seine goldgerahmte Brille eindringlich an und drehte den Kopf ganz leicht in Richtung Fenster. Lore verstand. Ohnehin verstanden sie einander meist wortlos, sie alle drei. Lore, Paul und Karl – das eingeschworene Kleeblatt, die junge Generation der Pension Büchner, die noch immer so hieß, obwohl nur noch Urgroßmutter Elfriede diesen Namen trug. Ihre Enkelinnen Lina – Lores und Pauls Mutter – und Ella – Karls Mutter – hatten den Namen mit ihren Hochzeiten abgelegt, doch alle drei sprachen oft und gern von ihrer Zeit als das Büchner-Frauen-Trio, das sich vor mehr als zwanzig Jahren ganz ohne männliche Unterstützung ein Geschäft aufgebaut und es über Jahre erfolgreich und mit viel harter Arbeit geführt hatte.
Diese schweren Zeiten lagen hinter der Familie. Sie hatten es geschafft, wie man so schön sagte. Die beiden Häuser der Pension – zur Unterscheidung »Stammhaus« und »Villa« genannt – waren über die ganze Saison und teilweise sogar in der Vor- und Nachsaison ausgebucht und ernährten alle neun Familienmitglieder problemlos. Die drei Kinder hatten gute Schulen besucht und abgeschlossen, und Karl, der sich vor dem Militärdienst gefürchtet hatte, da er jegliche Gewalt und Waffen verabscheute, wurde der kostspielige Einjährig-Freiwilligen-Dienst ermöglicht, sodass er bereits in zwei Wochen wieder zu Hause sein würde statt erst in zwei Jahren. Schon dieses eine Jahr war hart für sie alle gewesen, besonders natürlich für Karl selbst, aber auch für sie – und für Paul.
Dieser sah sie noch immer eindringlich an. Lore ergriff ihre Tasse und trank sie in einem Zug leer. Der Kaffee war ihr zu bitter, obwohl sie reichlich Sahne und Zucker hineingegeben hatte. »Dürfen wir ein Stück spazieren gehen?«, fragte sie laut, sobald es eine Gesprächspause gab. »Das Licht ist herrlich, und ich würde gern noch ein wenig zeichnen.«
»Das sollte Karl entscheiden, schließlich ist heute sein Ehrentag«, sagte Vater.
»Stimmt doch gar nicht«, nuschelte Großvater Heinrich erneut.
»Wartet mal!«, rief Ella rasch. »Ich habe doch noch eine Geburtstagsüberraschung für dich.« Sie sah Karl liebevoll an und drückte seine Hand, die auf der Tischplatte lag. »Eigentlich für euch alle.« Sie sah in die Runde. »Wollen wir zusammen ein Stück gehen? Ich möchte euch etwas zeigen.«
»Heinrich und ich bleiben hier«, sagte Urgroßmutter Elfriede bestimmt. »Nicht wahr, Heinrich? Wir sind zu langsam, außerdem will ich dich im Schach schlagen.«
»Schaffst du sowieso nicht.« Großvater Heinrich zeigte ein breites, zahnloses Grinsen.
Lore musste kichern. Obwohl sein Geist nicht mehr der wachste war, hatte er in dieser Sache vollkommen recht. Im Schach war er selten zu schlagen, das wusste Lore aus eigener leidvoller Erfahrung. Sie nahm sich vor, bald einmal wieder mit ihm zu spielen und dabei vielleicht mehr über seine seltsamen Aussagen herauszubekommen. Oder sie würde in einer stillen Stunde mit Vater darüber reden. Er hatte sie noch nie angelogen und würde es auch diesmal nicht tun. Lore vertraute ihm vollkommen. Mutter natürlich auch, aber sie und Vater hatten schon immer ein besonderes Verhältnis gehabt. Sie liebte es, wenn er sie »mein Mädchen« nannte, auch jetzt mit zwanzig noch.
Nein, er hatte sie noch nie angelogen. Sie log ihn beinahe täglich an. Aus gutem Grund, wenn nicht gar dem besten von allen, aber Lügen waren es dennoch. Das bekannte Schuldgefühl ließ ihre Kehle eng werden. Es gab nur nichts, was sie tun konnte. Nicht im Moment und vielleicht nie.
Sie erhoben sich vom Tisch. Lore bemerkte Pauls enttäuschten Gesichtsausdruck, trat neben ihn und klopfte ihm sanft auf den Rücken.
»Ist ja bald vorbei«, raunte sie ihm ins Ohr, wobei sie sich kaum strecken musste. Sie waren beinahe gleich groß, Lore hochgewachsen für eine Frau, Paul dagegen seit seiner zu frühen Geburt klein und zart geblieben. »Zwei Wochen, und du kannst froh sein –«
»Ich weiß«, unterbrach er sie leise. »Ich wäre trotzdem lieber nicht mit der ganzen Gesellschaft spazieren gegangen.«
Lore seufzte. »Ja, und ich wollte wirklich gern zeichnen.«
»Das kannst du immerhin jeden Tag.«
»Nicht, wenn das Wetter nun bald schlechter wird.« Aber natürlich verstand sie, was er meinte. Nein, ihre Probleme waren nichts gegen seine. Wobei seine mehr und mehr zu ihren wurden …
Lore ging voran, und Karl und Paul folgten ihr aus dem Raum. So war es immer. Sie, die Älteste, gab den Weg vor. Sie, die keine Schüchternheit kannte, die in einer Pension mit zwei großen Häusern voller Gäste aufgewachsen war und den Trubel über alles liebte. Die überquellenden Restaurants, die Tanzabende, die Strandbäder voller Urlauber, die Plantage, die Promenade. Sie, der Swinemünde im Grunde viel zu klein war, die von Berlin träumte, von der flirrenden Hauptstadt des Deutschen Reichs, in der seit drei Jahren ein neuer Kaiser herrschte. Von Theatern, von Kaffeehäusern, Modehäusern, Ateliers, Bars, Straßen voller Menschen, Besuchern aus aller Herren Länder.
Sie aber war hier, in ihrem vergleichsweise beschaulichen Swinemünde, und fühlte sich von Jahr zu Jahr gefangener. Im Gegensatz zu den weiter westlich gelegenen Bädern Ahlbeck und Heringsdorf hatte Swinemünde nicht mal eine Seebrücke! Na gut, die in Heringsdorf wurde eben erst gebaut. Dafür aber gab es in allen westlichen Bädern Unterkünfte in Strandnähe, womit Swinemünde nicht aufwarten konnte. Immerhin war mittlerweile eine Bahnanbindung vorhanden, sodass die Gäste nicht mehr Ewigkeiten lang übers Stettiner Haff geschippert werden mussten, um die Stadt zu erreichen. Jetzt war man aus Berlin innerhalb von drei Stunden hier.
Berlin … Immer wieder Berlin. In ihren Gedanken und ihren Träumen. Nur so wenige Stunden entfernt, und doch war sie noch nie dort gewesen.
Auf der Straße vor der Pension warteten sie auf ihre Eltern und darauf, dass Ella die Richtung vorgab, in der ihre Überraschung lag. Lore atmete tief die frische Spätsommerluft ein. »Schade, dass die Saison schon wieder vorbei ist«, sagte sie seufzend. »Der Winter dauert mir immer viel zu lange.«
Ella trat zu ihr und legte den Arm um sie. »Noch ist ja nicht Winter, und wir werden alle sehr beschäftigt sein.« Dann sah sie auffordernd in die Runde. »Mir nach!« Sie löste sich von Lore und stürmte voran, mit einem Übermut, den ihre sonst so disziplinierte Tante selten an den Tag legte. Gleich darauf bremste sich Ella sichtlich, wandte sich um und streckte ihrem Mann die Hand hin. »Tut mir leid, Lieber. Ich bin nur so aufgeregt!« Ihre schwarzen Augen leuchteten in dem Gesicht mit dem dunklen Teint. Genau wie Lore selbst sah Ella im Sommer immer gebräunt und frisch aus, wurde von der Sonne nie rot wie die anderen in der Familie und neigte auch sonst nicht zum Erröten. Dies und auch die dunklen Locken, die sich besonders bei feuchtem Wetter widerspenstig und kaum zähmbar um ihre Köpfe ringelten, hatten sie und Lore gemein. Wie passend, dass sie noch dazu denselben Vornamen, Eleonore, trugen. Paul dagegen kam nach Vater, auch wenn dieser natürlich viel größer war.
Langsamer ging Ella weiter, mit Rücksicht auf Ludwig, der aufgrund einer alten Verletzung humpelte, gefolgt von Lores Eltern, ihr selbst und als Letztes Karl und Paul. Am Kleinen Markt wandte ihre Karawane der Swine den Rücken zu und bog stadtauswärts in Richtung Meer ab.
Mutter ließ sich zu ihr zurückfallen und lächelte sie an. »Na, Lorchen, ahnst du schon, was die Überraschung sein wird?«
»Nein, du etwa?«
Mutter kicherte wie ein kleines Mädchen. »Du glaubst doch nicht, dass deine Tante Ella vor mir etwas geheim halten kann. Das ist genauso unmöglich, wie die zwei dort hinten …« Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. »… etwas vor dir verbergen könnten.«
Lore blickte sich um. Karl und Paul schritten dicht nebeneinander über das Straßenpflaster und unterhielten sich leise, wobei sich der hochgewachsene Karl zu Lores Bruder hinablehnen musste. Lächelnd schaute sie wieder nach vorn. Nein, die zwei hatten ihr nichts verheimlichen können, sosehr sie es versucht hatten.
Mutter wies auf das Gebäude an der Ecke des Kleinen Marktes. »Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen. Erinnerst du dich an die Zeit, als das Postamt noch nicht dort stand?«
Lore nickte. »Ich weiß noch, wie sie es gebaut haben.«
Mutter lachte. »Ja, du hast den Arbeitern so gern zugesehen. Ich musste dich regelrecht von ihnen wegzerren, damit du ihnen nicht in die Quere kamst. Und als sie zur nächsten Baustelle weiterzogen, wolltest du uns verlassen und mit ihnen gehen. Hattest sogar schon dein kleines Bündel geschnürt.« Ein Schatten flog über ihr Gesicht, als schmerzte sie die Erinnerung, dann drehte sie den Kopf. »An den Kirchturm kann ich mich auch noch nicht gewöhnen.«
Lore sah sich ebenfalls nach der Christuskirche um und bewunderte den neuen Turm. Das Gotteshaus war erst in diesem Jahr nach zehnjährigem Umbau wiedereröffnet worden und besaß nach langem turmlosem Dasein nun einen quadratischen Turm, gekrönt von einem nadelspitz in den Himmel ragenden Kupferdach mit viel kürzeren, aber ebenso spitzen Türmchen an den Ecken.
»So vieles verändert sich.« Mutter seufzte. »Und das so rasend schnell, dass ich kaum hinterherkomme. Manchmal wünschte ich …« Sie griff nach Lores Hand und drückte sie. »Es war so viel einfacher, als ihr drei noch Kinder wart.« Mutters Blick wanderte in die Ferne, und Lore hatte das Gefühl, sie hätte vergessen, mit wem sie sprach. »Als alle Schwierigkeiten überstanden waren. Als wir alle wieder in Swinemünde waren und uns in unserem Leben hier eingerichtet hatten.«
»Was für Schwierigkeiten denn?«, platzte Lore heraus.
Mutter zuckte zusammen und sah sie mit glühenden Wangen von der Seite an. Ihre bleiche Haut errötete stets so heftig, als müsste sie die fehlende Röte von Ellas und Lores Wangen ausgleichen. »Oh, du weißt schon. Die Sturmflut, Paulchens Gesundheit …«
Lores jüngerer Bruder war während der verheerenden Sturmflut im November 1872 in einer Notunterkunft viel zu früh zur Welt gekommen, und es war lange nicht klar gewesen, ob er überleben würde. Derselben Sturmflut, die Ludwig bei einem Schiffsunglück vor Swinemünde die Unversehrtheit seines Beins und das Leben seiner vier besten Freunde gekostet hatte. Ja, dies waren sicherlich Schwierigkeiten gewesen, doch Lore wurde das Gefühl nicht los, dass Mutter noch an etwas anderes gedacht hatte. Warum wäre sie sonst feuerrot angelaufen?
»Ich schaue mal, was die drei da vorn so reden«, sagte Mutter betont fröhlich, ließ Lores Hand los und schloss zu Vater, Onkel und Tante auf.
Lore blieb stehen und wartete, bis Paul und Karl sie erreicht hatten, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte. »Findet ihr auch, dass die Erwachsenen in letzter Zeit seltsam sind?«, fragte sie die jungen Männer.
Karl lachte. »Wir sind auch erwachsen, obwohl wir sicherlich auf ewig Lorchen, Paulchen und Karlchen bleiben werden.«
Unwirsch winkte Lore ab. »Du weißt, was ich meine. Erst Opa Heinrich und seine Bemerkungen …«
»Darauf darfst du nichts geben, Schwesterchen«, sagte Paul. »Er wird immer wunderlicher, obwohl er jünger ist als Urgroßmutter Elfriede.«
»Wunderliche alte Leute erinnern sich aber meist sehr gut an frühere Zeiten«, murmelte sie. Die ganze Sache wollte ihr einfach nicht gefallen. »Und Mama hat eben auch seltsame Dinge gesagt.«
»Was denn?«, fragte Karl.
»Dass sie sich die Zeit zurückwünscht, als wir Kinder waren und alle Schwierigkeiten hinter ihnen lagen. Als sie alle wieder in Swinemünde vereint waren.«
»Ja, aber daran ist doch nichts falsch.« Paul sah sie verwirrt an. »Wir sind aus Eckernförde zurückgekommen, und auch Karls Eltern waren ja einige Zeit nicht in der Stadt.«
»Ich weiß, aber …« Lore hob die Schultern. »Ach, keine Ahnung.«
»Wir haben andere Probleme, als dass die Erwachsenen wunderlich werden.« Karl seufzte tief.
Lore schwieg, denn er hatte recht. Die Menschen, die an ihnen vorbeigingen und sie freundlich grüßten, mochten nichts davon ahnen, denn nach außen hin waren sie drei gesunde junge Leute, die in Frieden und Wohlstand lebten. Verglichen mit den Sorgen anderer Menschen, verglichen mit dem täglichen Kampf, den die Tagelöhner führten, dem ums Überleben, um genug Essen auf dem Tisch, damit die Kinder nicht hungrig zu Bett gehen mussten, waren ihre Sorgen tatsächlich unbedeutend.
Lore las Zeitungen und wusste daher, dass es in anderen Teilen der Welt sogar noch viel mehr Elend gab als im florierenden deutschen Kaiserreich. Doch konnte man Sorgen auf diese Weise vergleichen? Ja, sie hatten ein gutes Leben, aber durften sie nicht dennoch von etwas anderem träumen?
Je näher sie dem Meer kamen, desto mehr Menschen begegneten ihnen, die offensichtlich ein Bad genommen hatten, denn ihre Haare waren wirr und feucht, und sie trugen trotz bequemer Kleidung Gepäck bei sich, als wären sie auf Reisen. Der September war warm, und so war der Badebetrieb am Meer noch nicht eingestellt worden, auch wenn sich die windigen Tage mehrten, der Seegang höher wurde und die meisten Menschen es vorzogen, sich in die Wannen in den Warmbadehäusern zu legen.
»Die Dünung ist heute ganz schön kräftig«, bestätigte ein vorbeigehender Herr Lores Gedanken. Sein braunes Haar stand ihm in alle Richtungen ab, was die weibliche Begleitung an seinem Arm zu einem missfälligen Blick veranlasste. »Ich bin froh, meine Liebe, dass du dich entschieden hast, heute nicht schwimmen zu gehen.«
»Mir wäre wohler gewesen, du wärst ebenfalls an Land geblieben«, sagte die Dame verschnupft. »Das hätte mir viele Sorgen um dein Wohlergehen erspart. Als Entschädigung erwarte ich ein Abendessen im Drei Kronen. Ich will mein neues Kleid ausführen.«
»Aber …«, hörte Lore den Mann noch sagen, dann war das Paar an ihnen vorbei und außer Hörweite. Kurz fragte sie sich, ob die Antwort »Aber gewiss« oder »Aber nicht doch« gelautet hatte, dann fingen zwei andere Personen ihren Blick ein. Ihnen kamen zwei junge Damen entgegen, die ganz sicher nicht baden gewesen waren, denn ihre Kleider waren eher für einen Theaterbesuch als für einen Strandspaziergang geeignet. Die Farben harmonierten wunderbar, eins dunkelgrün mit goldenem Bortenbesatz, das andere lindgrün mit feiner gleichfarbiger Stickerei. Beide Röcke waren glockenförmig ausgestellt, hatten sogar eine leichte Schleppe, die langen Ärmel plusterten sich an den Schultern und liefen dann enger zu den Händen hin aus.
Lore konnte sich nicht sattsehen an der Pracht. Wie viele Ellen Stoff wohl benötigt worden waren? Die Kleider entsprachen der neuesten Mode, wie sie sie in den Zeitschriften gesehen hatte. Es juckte ihr in den Fingern, und sie ärgerte sich, dass sie ihren Skizzenblock nicht bei sich hatte. Dann hätte sie sich am Abend an das Schnittmuster machen und sich am nächsten Tag an die Nähmaschine setzen können. Sie hätte die Modelle abzeichnen und hier und da ein Detail verändern wollen – gewiss sähe das Kleid der linken Dame noch schöner aus, wenn die Taille eine halbe Handbreit höher gesessen hätte und die Ärmel einen Fingerbreit kürzer gewesen wären … Ärgerlich seufzte sie.
»Warum so finster, mein Mädchen?«, fragte Vater, der unbemerkt neben sie getreten war.
»Ach, ich …« Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. »Ich hätte die beiden gern gezeichnet.«
»Um ihre Kleider zu kopieren.«
»Ja, natürlich.«
»Sagtest du nicht bei Tisch, du wolltest das schöne Licht ausnutzen?« Vater hob die Augenbrauen. »Für Kleider ist das nicht nötig.«
»Ich male gern Landschaften, aber wenn es etwas Nützliches zu Papier zu bringen gibt, würde ich mich immer dafür entscheiden. Zur müßigen Künstlerin tauge ich nicht, das weißt du doch.«
Er lächelte sie an. »Aber es ist doch Kunst, was du machst.«
Vater meinte es gut, das wusste sie, doch sie wollte nicht als Künstlerin gesehen werden. Mit Kunst verdienten die wenigsten Menschen Geld. Sie wollte arbeiten! Mode entwerfen, Schnittmuster erstellen, Kleider nähen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Am liebsten in einem eigenen Atelier. Dieser Weg jedoch schien unsagbar schwer zu sein, noch dazu in einer Stadt wie Swinemünde. Und gerade für eine Frau, denn die meisten Schneider waren Männer. Aufgeben aber wollte – konnte! – sie den Traum nicht. Fürs Erste jedoch blieb ihr nur, den schön gekleideten Urlauberinnen sehnsüchtig hinterherzublicken und in jeder freien Minute daran zu arbeiten, ihre Zeichentechnik zu verbessern und ihre Kreativität wachzuhalten. Vielleicht änderten sich die Zeiten einmal. Sie war schließlich noch jung.
Lore hatte nicht darauf geachtet, wohin sie gingen, und fuhr überrascht aus ihren Gedanken auf, als Ella plötzlich laut ausrief: »Da!«
Ihre ganze Gruppe blieb stehen und folgte mit den Augen dem Fingerzeig der Tante.
»Das ist die Überraschung«, sagte Ella stolz.
Sie blickten auf ein leeres Stück Land. Der Boden war sandig, hier und da schauten Baumwurzeln, Strandhafer und anderes Gestrüpp aus der Erde.
Ella stürmte voran, mitten auf das Brachland. »Von hier«, rief sie und rannte über Stock und Stein nach links, bis sie an einem in den Boden gehauenen Holzstab ankam, auf den sie deutete. Sie änderte die Richtung und lief wieder los. »Bis hier!« Sie zeigte auf ein identisches Stäbchen ein ganzes Stück weiter rechts. Dann breitete sie die Arme aus. »Alles unser!«
Schon kam sie zu ihnen zurückgelaufen und strahlte in die Runde, bis ihr Blick an ihrem Sohn hängen blieb.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz.« Sie reckte sich hoch, um Karl auf die Wange zu küssen. »Es gehört natürlich nicht dir allein, sondern der ganzen Familie, aber du und Lore, ihr werdet sie ja übernehmen.«
»Sie?«, fragte Karl verdattert, und auch Lores Gedanken rasten. Wovon sprach ihre Tante?
»Unsere neue Pension!« Ella strahlte und vollführte mit der flachen Hand eine Bewegung durch die Luft. »Haus Dünenschlösschen. Ich sehe das Schild über dem Eingang schon vor mir.«
»Du hast es wirklich getan?«, fragte Vater. »Du hast dem Wertheim diese Parzelle abgekauft?«
Ella nickte eifrig. »Und die Finanzierung für den Bau steht auch. Was meint ihr, warum ich in letzter Zeit so auf unsere Ausgaben geachtet habe?« Sie lachte vergnügt. »Die Bauarbeiten können schon übernächste Woche beginnen. Wenn unser Karl aus dem Militärdienst entlassen ist und alles mit beaufsichtigen kann.« Als sie Karls Miene bemerkte, sanken ihre Mundwinkel herab. »Freust du dich denn gar nicht, mein Sohn?«
Karl räusperte sich. »Doch, natürlich. Das … ist doch ein Traum, eine Pension so nah am Meer.« Aber nicht mein Traum. Lore hörte ihn im Geiste die Worte sagen, die auch durch ihren Kopf kreisten.
Du und Lore werdet sie ja übernehmen.
Lore schluckte schwer. Keiner von ihnen wollte dies. Weder wollte Karl Geschäftsführer eines Gästehauses sein, noch sah sie ihre Zukunft in Swinemünde. Doch wie sagte man dies den Eltern, die alle vier – vielleicht mit Ausnahme von Mutter – überglücklich zu sein schienen?
Erneut räusperte sich Karl. »Aber ich kann mir noch gar nicht vorstellen, unser Haus zu verlassen. Das Jahr fort von zu Hause …« Sein Blick huschte zu Lore – oder vielmehr zu Paul, der neben sie getreten war –, dann sah er wieder seine Mutter an. »Das war schwer. Und nun schon wieder eine Veränderung?« Er hob die Schultern. »Ich … weiß nicht, ob ich das kann.« Nun schaute er Lore an, und sein Blick trug Verzweiflung in sich. »Ob wir dazu schon bereit sind.«
Erwartete er eine Reaktion von ihr? Sollte sie ihm beipflichten, dass es zu früh war, an so etwas wie die gemeinsame Leitung einer Pension zu denken – und das, was damit unweigerlich zusammenhing?
»Die Bauzeit wird ja noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen«, sagte Ella, krampfhaft bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken und die gute Laune nicht verderben zu lassen.
»Und unser Haus bleibt dir ja, mein Sohn«, bekräftigte Ludwig. »Wir geben die jetzigen Pensionen nicht auf, und die Häuser gleich gar nicht. Aber das Dünenschlösschen ist ein riesiger Schritt für die ganze Familie.«
Ja, dachte Lore, für den Teil der Familie, der sich als Hoteliers sieht. Der sich nichts Schöneres vorstellen kann, als Gäste zu bewirten und ihnen die kurzen Urlaubswochen angenehm zu gestalten.
Sie wusste, sie war undankbar. Ihre Eltern ermöglichten ihnen etwas, was andere junge Menschen als den Himmel auf Erden angesehen hätten. Ein gesichertes Auskommen, ein Dach über dem Kopf. Einen Beruf, der einen nicht das Leben kosten konnte wie so viele andere. Vater und Großvater Heinrich waren Fischer gewesen, damals vor der Sturmflut. Sie hätten jederzeit auf dem Wasser verunglücken können. So wie Ludwig, der zwar nur aushilfsweise zur See gefahren und ansonsten Zimmermann gewesen war, aber die wenigen Fahrten hatten ausgereicht, dass er fast nicht zurückgekommen wäre. Karl würde solch eine Arbeit nicht annehmen müssen.
Sie wusste, dass er ihre Gedanken teilte. Sie erkannte es an seiner Miene.
»Ich sehe es schon vor mir«, sagte Vater und wies um sich. »Swinemünde-Bad. Villen und Hotels in einer Reihe den ganzen Strand entlang, wie Perlen auf einer Kette. Und eine dieser Perlen wird unser neues Haus sein.« Er trat zwischen Ella und Ludwig und legte um jeden von ihnen einen Arm. »Ich bin froh, eine Familie wie diese gefunden zu haben.« Liebevoll lächelte er erst Lore, dann Paul, dann Mutter zu. »Schaut, dort hinten sind schon die ersten Villen im Bau.« Er nahm die Hand von Ludwigs Schulter und zeigte in Richtung Osten, wo sich tatsächlich bereits erste halb fertige Häuser zeigten. »Eine neue Zeit bricht an, für das Seebad und für uns.«
Mutter trat zu Lore. »Du siehst überfordert aus, Kleines.« Liebevoll streichelte sie ihr die Wange. »Für mich ist es auch schwer, dass sich so vieles ändern wird«, sagte sie leise. »Aber es wird gut werden, das verspreche ich dir. Du und Karl …«
Ich und Karl, das gibt es nicht, wollte sie schreien, tat es aber nicht. Schließlich ließen sie die Eltern selbst in dem Glauben und durften sich nun nicht wundern.
»Dies wird eure gemeinsame Zukunft.« Mutter lächelte.
Eine Zukunft, die sie nicht wollten. Nicht so.
Bietet es Paul an! Er wartet so darauf.
Sollte sie es aussprechen? Sie sah ihren Bruder an. Er hatte den Blick fest auf Karl gerichtet, die Lippen zusammengepresst. Die Enttäuschung war unübersehbar, zumindest für Lore. Er spielte keine Rolle in den Plänen der Eltern – wieder einmal. Plötzlich konnte sie nicht mehr schweigen.
»Sicherlich wird doch auch Paul mit in die Leitung der neuen Pension einbezogen, nicht wahr?« Alle, ihr Bruder eingeschlossen, sahen sie überrascht an. Lores Hände wurden feucht. »Ich meine«, fuhr sie fort und rieb sich die Handflächen verstohlen am Rock ab, »er ist doch derjenige von uns dreien mit dem Organisationstalent und der guten Übersicht für Geschäftliches.« Und der Einzige, fügte sie im Stillen hinzu, der sich wirklich für das Geschäft interessiert.
»Ach was!« Ella winkte ab. »Paulchen will doch sicher nicht das fünfte Rad am Wagen bei euch zweien sein. Außerdem macht er sich doch so gut als Concierge in den jetzigen Häusern.«
Concierge … Das schöne französische Wort täuschte nicht darüber hinweg, dass Paul kaum anderes tat, als hübsch auszusehen und die Gäste willkommen zu heißen. Er durfte nicht einmal die Koffer auf die Zimmer tragen, weil er angeblich zu schwach dafür war.
Natürlich, Paul machte mit Anzug, Fliege und seiner hübschen neuen Brille eine ausgezeichnete Figur hinter dem Rezeptionstresen, und die Gäste liebten ihn und seine höfliche, zuvorkommende Art. Lore aber wusste, dass mehr in ihm steckte, dass er gern mehr Verantwortung übernommen hätte. Die Belegungspläne erstellt, die Buchhaltung für Ella vorbereitet … Ihm wurde jedoch nichts zugetraut, und er wagte es nicht, zu widersprechen. Deshalb blieben diese Arbeiten an Lore hängen, und sie konnte sich kaum etwas Langweiligeres vorstellen und suchte oft genug heimlich Hilfe bei ihrem Bruder.
Außerdem war es nicht Paul, der das fünfte Rad am Wagen wäre …
»Nein, Karl wird wie geplant auf die Wirtschaftsschule gehen, und bis der Neubau fertig ist, wird er alles gelernt haben, was für die Leitung einer großen Pension nötig ist.« Ella lachte. »Er wird der Erste sein, der das Geschäft von Grund auf lernt und nicht ins kalte Wasser geworfen wird, so wie Lina und ich damals.«
»Und Friedrich und ich ebenfalls.« Ludwig stimmte in das Lachen seiner Frau ein.
Ella sah ihn liebevoll an. »Du wirst schon bald Gelegenheit haben, deinem ursprünglichen Beruf nachzugehen.« Sie wies wieder auf das Brachland. »Selbst Hand anlegen musst du nicht, aber ich wäre sehr beruhigt, wenn du den Bau überwachen würdest, wenn Karl auf der Schule ist.«
»Ich will aber nicht auf die Wirtschaftsschule«, murmelte Karl beinahe unhörbar.
Beinahe. Sofort richtete sich der Blick seiner Mutter auf ihn. »Wie bitte?«
Hilfe suchend sah Karl zu Lore. Sie schickte ihm ein ermutigendes Lächeln, schwieg aber. Diesen Kampf musste er allein führen.
Er straffte die Schultern. »Ich will auf keine Wirtschaftsschule«, sagte er mit fester Stimme. »Schickt Paul hin. Er ist besser geeignet.«
»Paul wird aber nicht Geschäftsführer dieser Pension!« Ellas Stimme klang wie ein Peitschenknall, und Lore sah sowohl Paul als auch Karl leicht zusammenzucken. »Das wirst du. Und als solcher solltest du –«
»Ruhig, Liebste«, unterbrach Ludwig und zog Ella an sich. »Wir reden später darüber. Wir wollen doch heute nicht streiten.«
»Lass den Jungen doch erst einmal vom Militärdienst zurück sein«, sagte Vater beschwichtigend. »Und wieder zu Hause ankommen.« Er legte Karl eine Hand auf die Schulter.
»Ich will mich nicht streiten«, erwiderte Ella bemüht ruhig. »Ich wüsste nur gern, wie die Pläne meines Sohnes aussehen, da sie offenbar nicht mit meinen – unseren – übereinstimmen.«
Karl schwieg. An seinem Mundwinkel zuckte ein Muskel. Lore kannte dieses Zeichen. Seine Geduld war am Ende. Es dauerte, aber wenn es passiert war, gab es selten ein Halten. Ein weiteres Wort seiner Mutter, und er würde platzen.
»Was genau bringt dich auf die Idee, dass du diese Ausbildung nicht brauchst, um ein Geschäft zu führen? Willst du es denn nicht leichter haben als wir damals?« Es war mehr als nur ein weiteres Wort, was Ella in deutlich gereiztem Ton von sich gab. Lore konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken. Hatte denn keiner der Erwachsenen dieser Familie irgendeine Ahnung, was in ihren Kindern vorging?
Dafür wusste sie selbst nur allzu gut, was in ihrem Cousin vorging. Erwartungsgemäß straffte Karl die Schultern. Er setzte sich selten durch, aber wenn er etwas wirklich wollte, stand sein Entschluss meist unumstößlich fest, und er kämpfte wie ein Löwe dafür. »Ich habe bereits mit Herrn Schumann gesprochen«, sagte er, und nur wer ihn gut kannte, hörte das leichte Zittern in seiner Stimme. Lore kannte ihn fast so gut wie sich selbst. »Sobald ich vom Wehrdienst zurück bin, fange ich meine Kochlehre bei ihm an.«
»Das hat nicht Schumann zu entscheiden«, grollte Ella. »Er ist unser Angestellter und folgt unseren Anweisungen. Und das wirst –«
»Das muss doch nicht sofort entschieden werden!«, unterbrach Ludwig seine Frau und streichelte beschwichtigend ihre Wange, ehe sie die Worte aussprechen konnte, die Karl verletzt hätten.
Nur dass sie sie nicht auszusprechen brauchte. Sie hingen in der Luft und vergifteten diese.
»Ich bin erwachsen«, fauchte Karl. »Ich habe einen guten Schulabschluss und bin in zwei Wochen Reserveoffizier. Ihr könnt mich nicht länger wie ein Kind behandeln.«
»Und mit diesem guten Schulabschluss willst du nun Koch werden?« Ella sagte das Wort, als spräche sie über etwas Schlechtes.
»Ja, denn es ist ein ehrenwerter Beruf, und du weißt, wie gern ich koche.«
»Und gut dazu!«, warf Paul ein. »Schon jetzt. Wie gut wird Karl erst nach der Ausbildung kochen? Die neue Pension wird mit einer herausragenden Küche überzeugen. Das kann doch nur von Vorteil sein.«
Alle sahen Lores jüngeren Bruder an, aber nicht mit demselben Stolz in den Gesichtern, den sie empfand. Sie sahen nicht, dass Paul erkannt hatte, was das neue Haus außer einer guten Lage noch benötigen würde, um sich von den vielen anderen abzuheben, die in Strandnähe im Entstehen begriffen waren. Und wie wertvoll ein gut ausgebildeter Koch hierfür war.
Nein, sie betrachteten ihn mit ihren üblichen halb mitleidigen, halb liebevollen »Ach, Paulchen«-Mienen. Lore ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte ihren Bruder verteidigen, doch das hätte alles nur schlimmer gemacht.
Eins aber konnte sie tun: die beiden jungen Männer für den Moment aus den Netzen befreien, in die die Erwachsenen sie verstrickt hatten. »Also«, rief sie betont fröhlich, »es ist doch noch reichlich Zeit, dies alles zu planen. Danke, Tante Ella, dass du der Familie dies ermöglichst.« Sie trat zu ihrer Namensvetterin und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin schon so gespannt, wie das neue Haus aussehen wird. Dürften wir drei jetzt noch ein Stück allein gehen, bevor Karl wieder zurück in die Kaserne muss?« Sie zwang sich zu einem breiten Lächeln. »Der Abend wird bestimmt wunderbar, und ich möchte ein wenig aufs Meer schauen.«
Ellas Miene wurde weicher. »Aber natürlich, Liebes. Nimm deinen Karl und geh ein Stück mit ihm.« Sie lehnte sich zu Lores Ohr. »Vielleicht bringst du ihn zur Vernunft wegen der Lehre«, wisperte sie. Laut sagte sie: »Paulchen, kommst du mit uns zurück? Ich will dich noch in die morgigen Aufgaben einweisen. Wir haben einige Abreisen …«
»Paul kommt mit uns«, sagte Lore rasch. »Ich muss auch mit ihm etwas besprechen.« Sie zwinkerte ihrer Tante zu. »Geschwisterdinge. Außerdem kennt er seine Aufgaben sowieso.« Sie sah in die Runde, und ihr Blick blieb an Mutter haften, die ihr liebevoll zulächelte. Sie war glücklich, dass sich Lore um ihren Bruder kümmerte, das war ihr deutlich anzusehen.
Sie meinten es nicht böse, wie sie Paul behandelten. Sie alle nicht. Dennoch tat es weh, dabei zuzusehen. Als wäre nicht alles andere schon schlimm genug …
Paul
Paul warf einen Blick über die Schulter zurück. Seine Eltern, Onkel und Tante gingen in die entgegengesetzte Richtung davon, zwei glückliche, vertraute Paare, Hand in Hand. Sehnsucht zerrte an ihm, und seine Kehle schnürte sich zu. Seine Finger kribbelten vor Verlangen, sich auszustrecken und …
»Danke, Lore«, sagte Karl und riss ihn aus den Gedanken. »Es fehlte nicht viel, und ich wäre in die Luft gegangen.«
»Ja, danke, Schwesterchen«, stimmte Paul ein.
Lore schlüpfte aus ihrer Position zwischen ihnen hervor, trat an Pauls linke Seite und drängte ihn sanft weiter in Karls Richtung, bis sich ihre Arme berührten. »Schon gut. Ich fand es sinnvoll, die Situation zu beenden. Das war ja nicht zum Aushalten.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Natürlich hilft uns das auf lange Sicht nicht weiter …«
Sie setzte sich in Bewegung, und Paul stupste Karl leicht an, um ihm zu bedeuten, ihr zu folgen.
Schweigend schritten sie die Straße entlang, bogen dann in Richtung Strand ab und stapften durch den tiefer werdenden Sand zu den Dünen. Sie suchten sich ein geschütztes Fleckchen zwischen den hohen Strandhaferpflanzen. Mit einem Seufzen ließ sich Paul in den warmen Sand fallen.
Lore links von ihm legte sich direkt auf den Rücken und starrte in den Himmel. Karl streckte die langen Beine aus und sah aufs Meer hinaus, die Lippen zusammengepresst. Paul war genau da, wo er am liebsten war – zwischen den beiden Menschen, die ihm am meisten auf der Welt bedeuteten. Dennoch kam sein Geist nicht zur Ruhe. Er nahm zwei Hände voll Sand auf und ließ ihn durch die Finger auf seine Hosenbeine rieseln. Karl sah über ihn hinweg zu Lore, und Paul folgte seinem Blick. Seine Schwester hatte die Augen geschlossen. In einiger Entfernung befanden sich andere Menschen, aber keiner konnte sie sehen.
Karl streckte seinen langen Zeigefinger aus und malte Kringel in den Sand auf Pauls Hosenbein. Die Berührung ließ Paul zusammenzucken, und er suchte Karls Blick. Dessen Mundwinkel zogen sich ganz leicht nach oben, aber seine Augen blieben traurig. Er widmete sich wieder seinen Mustern, und das leise Kitzeln auf seinem Bein ließ Paul wünschen, er trüge keine Hosen und würde die Berührung auf der Haut spüren. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Karl glättete den Sand, dann malte er ein Herz hinein. Paul fing seine Hand ein und bedeckte sie mit der eigenen. Ihre Finger verwoben sich.
Ein glückliches, vertrautes Paar, Hand in Hand.
Ein heimliches Paar. Und das schon seit Jahren.
Paul legte sich zurück, und Karl tat es ihm nach. Der Dünensand knirschte unter seinem Kopf. Sie wandten einander die Gesichter zu, so nah, dass er Karls Atem spürte, ganz leicht, wie einen Windhauch, ein Streicheln. Sehnsucht überfiel ihn mit solcher Heftigkeit, dass es ihm beinahe gleich gewesen wäre, dass sie in der Öffentlichkeit waren, dass es ein Gesetz gab, das sexuelle Handlungen zwischen Personen gleichen Geschlechts verbot. Er schob den Kopf noch einen Zentimeter in Karls Richtung, und es hätte nicht viel gefehlt, und ihre Lippen hätten sich berührt.
»Nicht hier«, wisperte Karl.
Paul zog sich ein Stück zurück. Sein Liebster war schon immer der Vernünftigere von ihnen gewesen. Derjenige, der die Leidenschaft leichter im Zaum halten konnte. Er war auch derjenige, der mehr zu verlieren hatte. Strafe drohte ihnen beiden, würde ihre Beziehung öffentlich werden, innerhalb der Familie jedoch war es nicht Paul, der mit Entsetzen und Vorwürfen zu rechnen hätte. Ihm wurde ohnehin nichts zugetraut, und vielleicht würden sie ihn selbst in dieser Situation wieder schonen. Karl dagegen, der Hoffnungsträger …
Die Enttäuschung über die Missachtung der Familie kroch wieder in Paul hoch. Was musste er noch tun, um sie von sich zu überzeugen? Er gab doch schon alles für das Unternehmen!
»Du siehst unglücklich aus«, sagte Karl sanft. Mitgefühl lag in seinem Gesichtsausdruck, niemals die Art von herablassendem Mitleid, das andere so häufig ihm gegenüber an den Tag legten. Nein, Karl fühlte wahrhaftig mit ihm.
Paul konnte nicht antworten, seine Kehle war wie zugeschnürt. Er betrachtete Karls schöne tiefbraune Augen, seine langen Wimpern, den Schwung seiner Lippen, die feinen Sandkörnchen auf Wange und Stirn, und eine erneute Woge von Zärtlichkeit erfasste ihn. Alle hielten ihn für den Zarten, den Zerbrechlichen, in Wahrheit aber war es Karl, der so viel empfindsamer war als er. Zum Glück musste er, Paul, damit leben, dass ihn ihr Umfeld für das fünfte Rad am Wagen hielt, für denjenigen, der sich in das junge Glück von Lore und Karl hineindrängte und nicht verstehen wollte, wann es an der Zeit war, sich zurückzuziehen. Über ihn dachten sie schlecht, nicht über Karl, den es verletzt hätte. Paul verletzte es nicht. Er, seine Schwester und sein Liebster kannten die Wahrheit. Das allein zählte.
Er wandte den Kopf und sah Lore an. Sie lag ganz still auf dem Rücken, hatte noch immer die Augen geschlossen. Wie stets ließ sie ihnen Zeit, auch wenn sie, sein rastloser Schmetterling, innerlich brodeln musste wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, wenn sie so zur Untätigkeit verdammt war.
Ich habe ein solches Glück mit dieser Schwester, schoss es ihm durch den Kopf. Sie hatte Karl und ihn nie verurteilt, von Anfang an nicht, war nicht einmal schockiert gewesen. Dabei war es gewiss für sie auch nicht leicht. Wie lange würde sie noch bereit sein, ihr eigenes Glück zurückzustellen, um ihnen ihres zu erhalten? Und selbst wenn sie für immer so weitermachen wollte – würden sie dieses Geschenk, dieses Opfer annehmen können? Er wusste von Lores Träumen. Sie wollte fort. Was aber wurde dann aus ihm und seinem Geliebten?
Er drehte den Kopf zurück zu Karl, der ihn noch immer ernst ansah. Paul richtete sich halb auf, sah sich um. Sie waren allein, die letzten Spaziergänger und Badegäste hatten den Strandbesuch für den Tag beendet. Spontan beugte er sich über Karl und küsste ihn zart auf den Mund. Nach kurzem Zögern erwiderte sein Liebster den Kuss, und Wärme sammelte sich in Pauls Innerem. Alle Welt meinte, es wäre falsch, was sie taten, was sie fühlten. Wie aber konnte dies falsch sein?
Sie lösten sich voneinander. Paul schluckte schwer und rollte sich herum, bis er auf dem Rücken lag. Die Sonne stand schon tief, und der auffrischende Wind trieb die Wolken über den Himmel. Sie hielten einander immer noch an den Händen. Er wünschte sich, diesen Augenblick einfrieren zu können. In Bernstein einschließen, damit er für immer blieb.
»Wir müssen zurück.« Es war Karl, der zuerst sprach. »Ich muss in die Kaserne.« Abscheu klang aus seiner Stimme. Paul wusste, es war nicht nur der Waffendienst, den sein Liebster verabscheute. »Die anderen Männer …«, fuhr Karl fort.
Paul wusste, was kommen würde. Es war nicht das erste Mal, dass sich Karl bitterlich beklagte.
»Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Sie sind so grob. Sie schlagen einander zum Spaß, wollen alle wie harte Kerle wirken. Und sie lachen über Männer wie uns, geben uns furchtbare, verletzende Schmähnamen. Ich halte es kaum aus! Wenn ich aber nicht mitmache, verspotten sie mich.« Er senkte die Stimme, klang nicht mehr ärgerlich, nur noch resigniert. »Wie aber kann ich mitmachen? Mich selbst verhöhnen – und dich?«
Paul drückte noch einmal Karls Hand, ließ ihn dann los und setzte sich auf. »Es ist ja bald vorbei. Sehr bald.«
»Und dann?«, fragte Karl düster. »Dann steht mir der nächste Kampf bevor. Ich will nicht auf die verfluchte Wirtschaftsschule!«
»Immerhin darfst du überhaupt auf eine Schule.« Auch Lore kam hoch und rieb sich über den Kopf, um den Sand aus ihrer Hochsteckfrisur zu entfernen. »Paul und ich dürfen nicht.«
»Ich weiß.« Karl rührte sich nicht, obwohl er zum Aufbruch gemahnt hatte. »Mit dem Unterschied, dass ihr es wollt, während ich nur kochen möchte. Keine Verantwortung außer der, dass die nächste Mahlzeit die Gäste verzaubert.« Er seufzte abgrundtief.
»Unsere Eltern lieben uns doch!« Lore sprang auf die Füße. »Wie können sie uns nur so wenig … sehen?« Sie streckte Paul die Hand hin, und er ließ sich hochziehen.
»Dass sie uns lieben, daran besteht kein Zweifel«, gab er zurück. »Und dass sie uns nicht sehen, liegt daran, dass wir ihnen nicht zeigen, wer wir sind.«
»Sie sollten es dennoch sehen«, widersprach Karl. Er lag noch immer auf der Seite und starrte an die Stelle, an der Paul gelegen hatte.
Paul beugte sich zu ihm hinunter und fasste ihn sacht an der Schulter. »Komm«, sagte er sanft, und endlich setzte sich Karl auf. »Wir können nicht erwarten, dass sie uns sehen, wenn wir ihnen so vieles verheimlichen.«
Er richtete sich auf und streckte die Hand aus. Lore tat es ihm nach, und gemeinsam zogen sie den hochgewachsenen Karl auf die Füße. Er stolperte ein Stück vorwärts, und Paul schlang für einen winzigen Moment die Arme um ihn, bis er sicher stand. Er sah hoch in sein Gesicht und wünschte sich, ihn einfach weiter festhalten zu können, aber das ging natürlich nicht.
»Sie sollten zumindest sehen, was du leistest«, sagte Lore zu ihm. »Da hat Karl recht. Bei mir erkennen sie immerhin, dass ich etwas kann, aber es reicht dennoch nicht aus, um mich einen Beruf ergreifen zu lassen, bei dem ich mein Können anwenden könnte.«
Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, und passierten nach einer Weile das Grundstück, auf dem die neue Pension entstehen sollte. Keiner von ihnen sprach. Paul ahnte, was in den Köpfen der beiden vor sich ging. Die Abneigung gegen die Vorstellung, dort gemeinsam einzuziehen, womöglich als Ehepaar, sprach aus jeder Zelle ihrer Körper. Er selbst dagegen fühlte Aufregung, Vorfreude auf diese neue, größere Pension und darauf, den Gästen mehr bieten zu können als bisher.
Nur dass er nicht als Teil dieser Unternehmung eingeplant war. Würde es ihnen gelingen, die Eltern zu überzeugen, dass sie dort zu dritt leben und arbeiten wollten? Es würde seine und Karls Probleme lösen, Lores jedoch nicht. Und wenn sie erst einmal blieb und später fortging? Wäre das eine Lösung?
Nur wenn sie und Karl nicht zur Ehe gezwungen wurden.
Wie Paul es auch drehte und wendete: Eine Lösung, die alle Beteiligten glücklich machte, gab es nicht. Wie lange würden sie diese Tatsache noch verdrängen können?
Lore hatte dafür gesorgt, dass er und Karl einige Minuten allein miteinander gehabt hatten, ehe Karl hatte aufbrechen müssen. Zum Glück schöpften die Eltern nie Verdacht oder äußerten Bedenken, wenn sie Zeit allein mit ihrem Zukünftigen verlangte. Dass sie sich regelmäßig von diesen Treffen absetzte, an ihrer statt ihn einschleuste und sogar oft genug Wache stand, war bisher unbemerkt geblieben.
Paul trat ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Herr Wiedemann, einer ihrer aktuellen Pensionsgäste, verließ gerade das Toilettenhäuschen und stolperte über den orangefarbenen Kater, den Tante Olga und Tante Gosia heimlich fütterten und der es immer wieder schaffte, irgendwem unter die Füße zu geraten. Fast wäre Wiedemann lang hingeschlagen, doch er fing sich im letzten Moment und schwenkte die Faust in Richtung der Katze, die unbeeindruckt davontrabte. Paul musste grinsen, aber nur kurz, dann sanken seine Mundwinkel wieder herab. Die Straße lag zur anderen Seite, und so konnte er nicht sehen, wie Karl fortging, aber er spürte es in jeder Faser seines Körpers. Es war schön gewesen, den Geliebten nach der langen Zeit wieder einmal in der Abgeschiedenheit von Lores Zimmer in den Armen zu halten. Ihnen waren nur wenige Minuten vergönnt gewesen, sodass es nicht zu mehr als zu einigen innigen Küssen gekommen war. Auch diese waren wunderschön gewesen, doch leider hatten sie eine Sehnsucht ausgelöst, die lange nicht zu stillen sein würde.
Paul seufzte. Am liebsten hätte er das Fenster aufgerissen und tief durchgeatmet, doch die nahe Toilette und die Tatsache, dass man ihn nicht in Lores Zimmer sehen sollte, hielten ihn davon ab. Er stieß sich von der Fensterbank ab, ging zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hindurch. Der Flur des zweiten Stocks lag leer vor ihm. Er huschte hinaus und zwei Türen weiter zu seinem eigenen Zimmer. Nach kurzem Klopfen trat er ein.
Seine Schwester saß auf seinem Bett und hatte eine der Berliner Zeitungen auf dem Schoß, die sie abonniert hatte. Sie blickte auf. »Musste Karl gehen?«
Paul nickte und setzte sich neben sie auf die Bettkante. »Gibt es etwas Interessantes?«, fragte er, um seine Gedanken von Karl abzulenken, der soeben auf eine Stube voller Männer zurückkehrte, die ihn vermutlich zusammenschlagen würden – oder Schlimmeres –, wenn sie je herausfanden, dass er einen Mann liebte. Sie hatten fast ein ganzes Jahr überstanden, es gab keinen Grund, so kurz vor dem Ende zu verzweifeln.
»Der Kaiser hat seine Großmutter, die Königin von England, eingeladen, nächstes Jahr nach Deutschland zu kommen, und sie hat zugesagt. Aber stell dir vor!« Lore schüttelte den Kopf. »Sie will überhaupt nicht nach Berlin oder Potsdam kommen, sondern in irgendeinem Schloss am Rhein verweilen. Wie kann man nicht nach Berlin wollen?«
Paul musste lachen. »Nicht jeder findet Berlin so unvermeidlich wie du. Was gibt es da schon Besonderes?« Er wollte sie nur auf den Arm nehmen, das hätte Lore eigentlich wissen müssen, denn auch er selbst träumte davon, die Hauptstadt einmal zu sehen. Das war kein Geheimnis. Lore aber schien sich daran nicht zu erinnern.
»Alles an Berlin ist besonders!«, rief sie empört und tippte auf eine Anzeige. »Sieh nur, wie viele Theaterstücke dort gespielt werden! Gleich zwei Opern und zwei Schauspiele. Eines ist sogar eine Komödie von Shakespeare. Und das sind allein die Aufführungen im Opern- und im Schauspielhaus. Von den vielen kleineren Theatern gar nicht zu reden! Und den Varietés! Und hier: ein Konzert im zoologischen Garten.«
»Na, ob das den Tieren gefällt, wenn da die Militär-Blaskapelle aufspielt?« Nun war es an Paul, den Kopf zu schütteln. »Du magst Blasmusik nicht einmal, Schwesterchen.«
Lore schnaubte. »Na und? Die Tiere will ich sehen!«
»Geh runter in den Hof, da siehst du einen wilden roten Tiger. Er hätte eben fast den Wiedemann auf dem Gewissen gehabt.«
»Ach, Paul!« Lore verdrehte in komischer Verzweiflung die Augen und blätterte eine Seite weiter. Paul sah ihr über die Schulter, und sein Blick fiel auf eine Anzeige, die aufgrund ihrer Größe aus den übrigen hervorstach.
Hôtel du ParcPotsdamer Platz 1, Berlin. Erstes Haus am Platz. Concierge gesucht.Gute Bezahlung.
In einem solchen Hotel zu arbeiten … Wenn er schon der ewige Rezeptionist bliebe, dann vielleicht zumindest in einem Haus wie jenem? Er seufzte und rief sich zur Ordnung. Er würde seine Familie ja doch nicht verlassen, egal, wie wenig sie ihn zu schätzen wussten. Schließlich waren Karl und Lore hier und würden es bleiben.
Als Ehepaar, höhnte seine innere Stimme, und er zwang sich, sie zu vertreiben. Er sah seine Schwester an und hielt verwundert inne. Lore war ganz starr geworden, ein leichtes Runzeln lag auf ihrer Stirn. Er folgte ihrem Blick. Sie betrachtete ebenfalls eine Annonce.
Handels- und Gewerbe-Institut für erwachsene TöchterBeginn Wintersemester am ersten OktoberHandelslehre, Sprachen, Zeichnen u.v.m.
Zeichnen. Modezeichnen womöglich? Paul überlief es eiskalt. Lore plante doch nicht etwa, die Eltern zu überreden, sie auf diese Schule gehen zu lassen? Sie konnte doch nicht für Jahre verschwinden! Nicht nur, dass er sie furchtbar vermissen würde – was würde aus ihm und Karl? Sie brauchten sie doch! Als ihre Freundin, Vertraute. Und als ihr Alibi.
Du bist selbstsüchtig, schalt er sich. Deine Schwester hat ein Recht darauf, glücklich zu sein und sich ihre Träume zu erfüllen. Freu dich, dass sie nicht längst einen Mann gefunden hat, den sie liebt.
Dennoch überkam ihn Erleichterung, als sie sich von der Anzeige losriss, die Zeitung beiseitelegte und den Kopf schüttelte. »Sag mal, Paul … wegen dieser Dinge, die Großvater Heinrich vorhin am Kaffeetisch gesagt hat. Meinst du, ich sollte ihn einmal darauf ansprechen? Ich möchte zu gern wissen, was er gemeint hat.«
Paul wollte es lieber gar nicht so genau wissen. Hatten sie nicht genügend Schwierigkeiten? »Er hat sicherlich etwas durcheinandergebracht. Du solltest ihn nicht noch mehr verwirren. Am Ende denkt er, er hätte einen Fehler gemacht, und dann fühlt er sich schlecht.«
Lore nickte langsam. »Das ist das Letzte, was ich erreichen möchte.« Sie atmete hörbar ein und stoßweise wieder aus. »Dann frage ich Papa.«
»Ach, Schwesterchen. Warum bist du denn so neugierig? Ist es nicht gleich, was früher vielleicht beinahe gewesen wäre? Es ist doch heute, wie es ist.« Paul rieb sich über die Stirn. »Und das ist kompliziert genug.«
Lore lehnte den Kopf an seine Schulter. »Du hast ja recht. Ich hab nur ein ganz ungutes Gefühl. Und ich weiß, dass mir Papa die Wahrheit sagen würde, wenn ich ihn danach frage.«
Da war sich Paul nicht so sicher, dann wiederum hatte er nie hinter die besondere Beziehung seiner Schwester zu Vater blicken können und konnte es vielleicht einfach nicht beurteilen. Auch er hatte ein gutes Verhältnis zu ihm, aber es war längst nicht so innig wie das zwischen Vater und Lore.
Entschlossen löste sich Lore von ihm und krabbelte aus dem Bett. »Komm mit, wir fragen ihn gemeinsam.«
Widerstrebend folgte Paul seiner Schwester. Er hätte sich gern eine Weile in seinem Zimmer eingeschlossen, um sich in Ruhe nach Karl zu sehnen und sich wenigstens einige Stunden lang nicht anhören zu müssen, wie die Pläne für die neue Pension lauteten. Er konnte sich Lores Aufforderungen allerdings selten widersetzen, und auch in diesem Fall spürte er, dass sie nicht lockergelassen hätte. »Warum willst du mich unbedingt dabeihaben?«, fragte er, als er hinter ihr den Flur entlangtrottete.
»Zwei gegen einen ist immer besser«, gab Lore fröhlich zurück.
Sie trafen Vater im geräumigen Büro an, wo er ebenfalls in eine Zeitung vertieft war. Alles in der ehemaligen Villa Walther – von allen nur noch »die Villa« genannt –, die Paul mit Eltern, Schwester und Großvater bewohnte, war größer als im Stammhaus, von wo aus noch immer größtenteils die Geschäfte abgewickelt wurden und wo Paul auch hinter dem Rezeptionstresen arbeitete. Dieses Büro diente hauptsächlich zur Aufbewahrung von Unterlagen, als Bibliothek, Lese- und Schreibzimmer.
Vater ließ die Zeitung sinken und lächelte ihnen entgegen. »Nanu, meine Lieben, was kann ich denn für euch tun, dass ihr mich hier aufsucht?« Das kam in der Tat nicht häufig vor.
Lore ließ sich auf einen der freien Stühle fallen, und Paul setzte sich ebenfalls, wenn auch auf die vordere Kante. Er verspürte Unruhe und wünschte, Lore würde nicht darauf beharren, Antworten zu erhalten.
»Wegen der Dinge, die Großvater Heinrich vorhin gesagt hat«, begann sie. »Was weißt du darüber?«
Sie fragte nicht: Weißt du etwas darüber? Sie ging einfach davon aus.
Vaters Lächeln verrutschte nur ganz leicht, kaum merklich. »Du weißt doch, dass er in letzter Zeit verwirrt ist, mein Mädchen. Du darfst nichts auf seine Worte geben.«
»Aber er wird sich doch so etwas nicht einfach ausdenken«, beharrte Lore. »Was meinte er damit, dass Karl als mein Bruder ausgegeben werden sollte? Und was damit, dass heute gar nicht sein Geburtstag sei?«
Vater rieb sich über das Gesicht, dann vergrub er eine Hand in seinem Haar. »Lore, dein Großvater verliert sich mehr und mehr in seinen Erinnerungen. Er hat letztens schon Heiner zu dir gesagt, Paul, weißt du noch?«
Paul nickte. Das war tatsächlich passiert, und er hatte sich sehr gewundert.
»Und Karl hat er für Eberhard gehalten«, fuhr Vater fort.
»Heiner und Eberhard, deine verstorbenen Brüder?«, fragte Lore nach.
»Ja. Sie waren ein wenig älter als ihr zwei, als sie fielen, aber das kann Vater sicherlich nicht mehr unterscheiden. Er denkt, ihr seid sie. Deshalb die Verwirrung mit dem Geburtstag. Eberhard ist im März geboren worden.« Er nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. »Und da sie Brüder waren, denkt er wohl, ihr zwei, Paul und Karl, wärt ebenfalls Brüder.«
Paul musterte Vater aufmerksam. Diese Erklärung ergab wenig Sinn. Wenn er sie für Brüder hielt, warum würde er dann behaupten, sie wären beinahe für Brüder ausgegeben worden? Nein, irgendetwas stimmte hier nicht. Zumal die Begründung viel zu auswendig gelernt klang und ein Muskel in Vaters Wange zuckte, als wäre er nervös.
Paul sah Lore ins Gesicht und erkannte seine eigenen Zweifel widergespiegelt. Dann jedoch zuckte sie mit den Schultern. »Ja, so wird es sicherlich sein.« Sie lächelte Vater an und stand auf. »Danke, Papa. Wir überlassen dich dann mal wieder deiner Lektüre.«
Auf dem Flur fragte Paul: »Du willst die Sache ruhen lassen?« Er konnte es sich kaum vorstellen.
Lore seufzte schwer. »Ich will es ganz bestimmt nicht. Aber wenn es stimmt, dass Großvater Heinrich zeitweise denkt, ihr wärt seine Söhne, dann will ich nicht daran rühren. Soll ich dem armen alten Mann sagen, dass seine Söhne in Wahrheit tot sind? Immer wieder, wenn er es vergessen hat, und wozu? Um herauszubekommen, ob es vielleicht irgendein Geheimnis gibt, das am Ende doch nichts ändern wird?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das bringe ich nicht übers Herz. Ich hab den alten Herrn viel zu lieb.«
Paul konnte nicht recht glauben, dass seine neugierige Schwester tatsächlich klein beigab, aber ihm sollte es recht sein, solange es dauerte. Wer brauchte noch mehr Geheimnisse, wenn bereits das ganze Leben eines war?
»Ich dachte, wir wären hier, um den Kaiser zu sehen.«
»Sind wir auch, Karl, aber es schadet nicht, auch einmal eine Buchhandlung zu besuchen, wenn wir schon in der Stadt sind.« Lore warf ihrem Cousin einen missbilligenden Blick zu, dann widmete sie sich wieder der Auslage. Sie hatte Geld gespart, um sich ein Buch mit Abbildungen von Kleidern und den dazugehörigen Schnittmustern zuzulegen, konnte sich jedoch nicht entscheiden, welches sie auswählen sollte.
»Swinemünde ist auch eine Stadt, und im Laden unseres Nachbarn Schultz bekommst du ebenfalls Bücher«, murrte Karl.
»Ach, komm, lass Lore ihren Spaß«, sagte Paul und lachte. »Solche Bücher, wie sie sie sucht, gibt es bei uns nicht, und den Kaiser bekommst du schon noch früh genug zu sehen.«
Ja, Swinemünde war eine Stadt, aber Stettin war deutlich größer. Noch immer kein Vergleich zu Berlin, doch es fühlte sich zumindest so an, als kämen sie diesem näher. Sie hätten einfach nur im Zug sitzen bleiben müssen … Doch sie waren an diesem Samstag in Stettin ausgestiegen und hatten sich unter das zahlreiche Volk gemischt, das darauf wartete, dass sich das Kaiserpaar zeigte.
»Es geht mir nicht um den Kaiser«, gab Karl zurück, und obwohl er sich bemüht hatte, leise zu sprechen, brachte seine Aussage einen neben ihnen stehenden Herrn dazu, sich empört zu räuspern. Lore warf einen Blick auf ihn. Er trug eine eindeutig nicht mehr aktuelle Uniform und erinnerte sie damit an ihren Stammgast, den alten Herrn Offizier a. D. Bardenhöfer. »Ich meine, es wird großartig sein, ihn zu sehen«, versicherte Karl rasch und ein wenig eingeschüchtert. »Es ist nur so warm in diesem Geschäft, und ich würde lieber wieder an die Luft gehen.«
Lore bemerkte, dass der alte Herr seinen abfälligen Blick von Karl ab- und ihr zugewandt hatte. Er musterte das Buch in ihrer Hand und dann ihr Gesicht, und sein Mund verzog sich. Ärger überkam Lore. »Mir geht es auch nicht um den Kaiser«, sagte sie, wobei sie ihre Stimme mit voller Absicht nicht dämpfte und den Herrn herausfordernd ansah. »Sondern um die Kaiserin«, fügte sie hinzu. »Sie trägt immer schöne Kleider und sieht darin so wunderbar aus, dass ich sie immerzu zeichnen möchte. Aber das ist nicht das Einzige.« Sie sprach Karl und Paul an, wandte den Blick aber nicht von dem fremden Mann. »Wusstet ihr, dass sie sich für die bessere Bildung von Mädchen und Frauen einsetzt?«
Der Fremde gab noch ein »Hmpf« von sich und ging seines Weges. Lore musste kichern.
»Nun entscheide dich aber wirklich für ein Buch, Schwesterchen.« Paul sah ihr über die Schulter. »La Mode Feminine de Paris oder Der praktische Damenschneider. Welches wird es heute sein?«
»Paris«, sagte Lore und legte das andere Buch weg. Sie gingen zur Kasse, zahlten, dann traten sie zurück in den hellen Sonnenschein dieses Samstagmittags. Lore blinzelte. »Wo sind Papa und Mama?«
»In die Konditorei Hamann wollten sie«, sagte ihr Bruder. »Ich weiß noch vom letzten Besuch, wo die ist. Kommt.« Er führte sie durch die belebten Straßen, die vor Aufregung über den Besuch des Kaiserpaars zu vibrieren schienen.
Wo sich die edlen Gäste zurzeit befanden, wusste Lore nicht. Es waren verschiedene Programmpunkte geplant, viele davon allein für die Angehörigen der Garnison, ohne dass die Öffentlichkeit zuschauen durfte. Irgendwann würden sie einfach dem Strom der Schaulustigen folgen, um einen Blick zu erhaschen.