Die Töchter von Usedom - Rückkehr nach Swinemünde - Jessica Weber - E-Book

Die Töchter von Usedom - Rückkehr nach Swinemünde E-Book

Jessica Weber

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Beschreibung

Swinemünde und Berlin, Sommer 1913. Kann Liebe alle Grenzen überwinden?

Lilo träumt von einem Medizinstudium, setzt sich in Berlin mutig für Frauenrechte ein und spürt zum ersten Mal die Kraft einer Liebe, die sie sich kaum einzugestehen wagt. Ihre Cousine Tilda arbeitet in einem Kinderheim in Swinemünde und liebt heimlich den Engländer James. Ihre Beziehung lebt von Briefen voller Sehnsucht, doch die Schatten der Politik gefährden ihr Glück.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird zur Zerreißprobe für die Familie und bedroht ihre Träume. Zwischen Verlust und Neubeginn müssen die beiden jungen Frauen ihren Weg gehen - getragen von der Hoffnung auf eine Zukunft jenseits von Hass und Gewalt.

Der dritte Band der Usedom-Saga ist ein bewegender historischer Roman über weibliche Stärke, familiären Zusammenhalt und den unerschütterlichen Mut, selbst in den dunkelsten Zeiten für das eigene Glück zu kämpfen.

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Seitenzahl: 535

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchPersonenverzeichnisTitelKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Über die AutorinWeiterere Titel der AutorinImpressum

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Über dieses Buch

Lilo träumt von einem Medizinstudium, setzt sich in Berlin mutig für Frauenrechte ein und spürt zum ersten Mal die Kraft einer Liebe, die sie sich kaum einzugestehen wagt. Ihre Cousine Tilda arbeitet in einem Kinderheim in Swinemünde und liebt heimlich den Engländer James. Ihre Beziehung lebt von Briefen voller Sehnsucht, doch die Schatten der Politik gefährden ihr Glück.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird zur Zerreißprobe für die Familie und bedroht ihre Träume. Zwischen Verlust und Neubeginn müssen die beiden jungen Frauen ihren Weg gehen - getragen von der Hoffnung auf eine Zukunft jenseits von Hass und Gewalt.

Personenverzeichnis

Berlin

Lieselotte »Lilo« Loewe, geb. 1894

Eleonore »Lore« Loewe, geb. 1871

Ferdinand Loewe, geb. 1870

Lukas Loewe, geb. 1900

Toto und Fritz Loewe, geb. 1903

Karl Pagels, geb. 1873

Franziska Pagels, geb. 1873

Paul Michelsen, geb. 1872

Emilie Michelsen, geb. 1874

Pension Dünenschlösschen

Mathilda »Tilda« Kätner, geb. 1894

Rosalie Kätner, geb. 1873

Wilhelm Kätner, geb. 1872

Luzie Kätner, geb. 1898

Theodor »Theo« Kätner, geb. 1900

Jonas Kätner, geb. 1904

Justyna, Mädchen für alles

Beata, Mamsell

Pension Büchner, Stammhaus

Eleonore »Ella« Pagels, geb. 1850

Ludwig Pagels, geb. 1847

Evelina »Lina« Michelsen, geb. 1852

Friedrich Michelsen, geb. 1849

Heinrich Michelsen, Friedrichs Vater

Małgorzata »Tante Gosia«, Mamsell

Oliwia, Mädchen für alles

Weitere Personen

Max Schrader, geb. 1889

Antonius »Toni« Fröhlich, geb. 1846

James Edwards, geb. 1893

RÜCKKEHR NACHSWINEMÜNDE

Kapitel 1

Berlin, Unter den Linden, Anfang August 1913

Lilo

»Fahrradfahren verboten!«

Der Uniformierte sprang Lilo mit erhobenen Händen in den Weg. Sie riss gerade noch rechtzeitig den Lenker herum und schoss knapp an ihm vorbei.

»Entschuldigung!«, rief sie über ihre Schulter, dann musste sie haltlos kichern. Es war nicht richtig von ihr, denn der Mann hatte vollkommen recht: Auf der prächtigsten Straße Berlins, die von der Schlossbrücke bis zum Pariser Platz am Brandenburger Tor führte, war das Radfahren verboten. Und das aus gutem Grund. Der Verkehr aus neumodischen Automobilen, prächtigen Kutschen, kreuzenden Straßenbahnen und hupenden Omnibussen war gewaltig, und schon als Fußgänger lebte es sich gefährlich, gerade an den Straßenkreuzungen.

Aber Lilo lachte den gestrengen Schutzmann ja gar nicht aus, sondern genoss einfach nur den Fahrtwind und die Sonnenstrahlen im Gesicht, das Gefühl der Freiheit, das sie immer erfasste, wenn sie in die Pedale trat. Außerdem war sie elendig spät dran für ihre Verabredung, und mit dem Fahrrad kam sie so viel schneller voran als zu Fuß und so viel kostengünstiger als mit dem Bus.

Es sei denn, sie würde sich erwischen lassen und sich eine Strafe einhandeln. Mama und Papa wären nicht erfreut, auch wenn Lilo inzwischen ihr eigenes Geld verdiente. Also sollte sie rasch einen Sicherheitsabstand zwischen sich und den wackeren Verkehrspolizisten bringen!

Dessen Pfiffe mit seiner Trillerpfeife klangen Lilo in den Ohren, sie spürte die Blicke der Passanten auf sich und hörte das eine oder andere Schnauben. Frauen auf Fahrrädern waren ein noch ungewohnter Anblick und gerade älteren Herren ein Dorn im Auge. Die sollten sich allerdings schnell an die neuen Zeiten gewöhnen, schließlich befanden sie sich bereits weit im zwanzigsten Jahrhundert!

Lilo wich einer Gruppe Kinder auf Wandertag aus, deren Nachzügler von einem jungen Betreuer über die Straße gescheucht wurden, schlängelte sich an zwei Kutschen voller auf Englisch schnatternder Touristen vorbei, die sich soeben vor dem HotelWestminster zur Abfahrt bereit machten, dann kreuzte sie die Fahrbahn und erreichte die Mittelpromenade. Noch einmal blickte sie über die Schulter. Der Polizist war nicht mehr in Sicht. Sie sollte genügend Sicherheitsabstand zwischen sich und ihn gebracht haben.

Lilo sprang vom Fahrrad, öffnete den Knopf, um den zum Fahren hochgerafften leichten Rock über ihre Pluderhosen hinabfallen zu lassen, und schob ihr liebstes Verkehrsmittel neben sich her, während sie schnellen Schrittes zwischen den beiden Baumreihen auf der Mittelpromenade der breiten Straße voraneilte. Unter den Linden nämlich, genau wie deren Name besagte. Wobei es nicht aussah, als wären es ausschließlich Linden, die die Promenade zierten. Bäume waren Lilo allerdings herzlich egal. Sie war ein Stadtkind, und auch wenn sie den Tiergarten und die vielen Parks Berlins mochte – die prächtigen Gebäude liebte sie mehr, die Neubauten ebenso wie die wenigen alten, die so viel Geschichte in ihren Steinen bargen.

Dort vorn schon war das Brandenburger Tor zu sehen, gekrönt von dem Viergespann nebst Fahrerin, die in ihre Richtung blickten. Die alten, geschichtsträchtigen Steine dieses Gebäudes begannen in letzter Zeit zu bröckeln, sodass mit Renovierungsmaßnahmen begonnen worden war, um der Verwitterung entgegenzuwirken. Nichtsdestotrotz sah das Tor beeindruckend aus, fand Lilo, auch wenn sie es beinahe täglich sah.

Kurz darauf erreichte sie den Pariser Platz und damit das Ziel ihres Ausflugs: das berühmteste Hotel der Stadt, wenn nicht gar des Landes. Sie blickte noch einmal zum Brandenburger Tor und zwinkerte Göttin Victoria auf ihrem Streitwagen zu, dann überquerte sie erneut die Fahrbahn. Dabei warf Lilo einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein Modell, das speziell für Radfahrer und damit besonders bruchsicher angefertigt worden war. Sie war nur neun Minuten zu spät, was für ihre Verhältnisse pünktlich war.

Lautes Hupen erklang, und geistesgegenwärtig sprang Lilo dem herannahenden Automobil aus dem Weg. Dabei wäre sie beinahe über ihr Fahrrad gestolpert. Himmeldonnerwetter! Ihr Herz raste, aber sie schaffte es sicher auf den Gehweg vor dem Hotel Adlon. Sie schnaufte einmal durch und sah sich um. Wo war der Mann? Sie waren doch bereits vor – noch einmal sah sie auf die Uhr – zehn Minuten verabredet gewesen, und nun war er nicht da?

Dann aber sah sie ihn, und ihre Mundwinkel hoben sich ganz ohne ihr Zutun zu einem breiten Lächeln. Auch er strahlte und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er sah so gut aus in seinem sandfarbenen Freizeitanzug, mit dem akkurat geschnittenen hellbraunen Haar und der neuen Brille.

»Guten Tag, mein Lottchen! Na, wieder mit dem stählernen Ross unterwegs?«

»Du bist zu spät«, sagte Lilo gespielt vorwurfsvoll und deutete auf ihre Armbanduhr. »Und nenn mich nicht Lottchen.«

»In Ordnung, mein Lieschen. Wie geht es dir?«

Lilo wollte empört dreinschauen, aber sie musste kichern. »Sehr gut, und dir, mein liebster kleiner Onkel?«

Nun war es an ihm, gespielt verdrießlich dreinzuschauen wegen des liebevollen Schmähnamens, den sie nur auspackte, wenn er sie Lieschen oder Lottchen nannte. Dabei war es nicht einmal gelogen, schließlich reichte sie Onkel Paul bis zur Nasenspitze und war somit kaum kleiner als er. Noch dazu bedeutete sein Name »der Kleine«.

»Du freches Ding«, sagte er und grinste. »Aber das habe ich wohl verdient.« Er kratzte sich in einer übertriebenen Geste am glatt rasierten Kinn. »Wie nenne ich dich denn bloß? Fräulein Lieselotte, Fräulein Loewe, Miss Nightingale … So viele Möglichkeiten!«

»Und keine davon gefällt mir.« Lilo stemmte die freie Hand in die Taille. »Warum kommst du zu spät? Wurde deine Pause verschoben?«

»Ich habe meine Pause verschoben, weil ich weiß, dass du nie pünktlich bist, und keine Zeit mit dir verlieren wollte. Komm, gib mir deinen Drahtesel, ich bringe ihn in Sicherheit. Und dann lass uns einen Kaffee trinken. Ich sehe dich viel zu selten.«

»Ich bin eben eine berufstätige Frau«, sagte Lilo und hörte selbst den Stolz aus ihrer Stimme heraus. Sie hatte die einjährige Lehrzeit an der Pflegeschule hinter sich, ihr Examen glänzend abgelegt, war Mitglied in der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands und arbeitete nun als freie Schwester in der privaten chirurgischen Klinik von Herrn Doktor Gruber und seiner Frau.

»Ja, Liebes, und darauf sind wir auch alle sehr stolz.« Paul zwinkerte ihr zu. »Auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass es deinen Eltern zu schnell geht mit deinem Erwachsenwerden. Sie sind sicherlich auch nicht gerade gut auf Franziska zu sprechen, da sie dir den Floh mit dem Frauenverein ins Ohr gesetzt hat.«

Lilo lachte und übergab ihr Fahrrad an ihren Onkel. »Das ist kein Floh, sondern eine sinnvolle Sache, das erkennen sogar meine Eltern an. Und damit, dass ich erwachsen werde, müssen sie leben. Sie haben ja noch meine Brüder zum Bemuttern.«

Mit einem weiteren belustigten Kopfschütteln verschwand Paul mit Lilos Fahrrad, um es irgendwo in einer Abstellkammer des luxuriösen Hotels diebstahlsicher zu verstauen. Sie sah an dem gewaltigen Bau hinauf, an den vielen Reihen von Fenstern, hinter denen gekrönte Häupter ebenso übernachteten wie reiche Industrielle und berühmte Persönlichkeiten wie Schauspieler und Sänger. Sie liebte es, wenn ihr Onkel ihr davon erzählte, wie er wieder einmal ein schlüpfriges Geheimnis erfahren oder eine geheime Unterredung belauscht hatte. Er war gut darin, vielleicht gerade weil er klein war für einen Mann und in der Uniform, die alle Concierges des Adlon bei der Arbeit trugen – schwarzer Anzug mit langen Schößen, blütenweißes Hemd, schwarze Krawatte –, so schmuck und harmlos aussah, als wäre es sein Lebensinhalt, den Gästen zu dienen.

Was der Wahrheit auch nahekam, soweit Lilo es beurteilen konnte. Er hatte sich in den letzten zwanzig Jahren über viele Stationen in mehr oder minder angesehenen Häusern hochgearbeitet, bis er schließlich den Portier des vor sechs Jahren eröffneten Hotels Adlon von sich hatte überzeugen können. Dieser Portier, der über die Empfangsmitarbeiter bestimmte, war so angetan von Paul, dass es Lilo nicht wundern würde, wenn dieser ihn eines Tages beerben würde.

Sein Traum als junger Mann war ein anderer gewesen, auch das wusste Lilo. In ihrer Familie gab es keine Geheimnisse. Nicht, nachdem diese in der Vergangenheit so viel Unheil angerichtet hatten … Paul hätte gern das Dünenschlösschen geleitet, die Pension ihrer Familie in Swinemünde an der Ostsee. Und genau dies war durch unglückliche Verwicklungen zwischen einigen von Lilos Familienmitgliedern verhindert worden.

Swinemünde, ihre allerliebste Stadt gleich nach ihrem natürlich unvergleichlichen Berlin. Lilo war in diesem Sommer noch nicht dort gewesen und vermisste nicht nur das Meer, sondern auch die Menschen ganz furchtbar. Besonders ihre liebste, liebste Tilda, ihre gleichaltrige Cousine, die wie eine Schwester für sie war.

Dann war Paul zurück und bot ihr lächelnd den Arm. »Auf in den Tiergarten, meine Liebe! Zwar haben wir heute kein Kaiserwetter«, er wies zum Himmel, an dem Wolkenfelder das strahlende Blau unterbrachen und sich immer wieder vor die Sonne schoben, »aber für einen Kaffee auf einer der Terrassen wird es schon reichen.«

»Sehr gern!« Lilo hakte sich bei ihm unter. »Wer braucht den Kaiser und sein Wetter, wenn er den liebsten aller Onkel haben kann?«

»Na, das lass mal nicht den Kaiser und deinen Onkel Karl hören«, gab Paul zurück.

Lilo musste lachen. »Ach, der Kaiser hat so viele Untertanen, die ihn vergöttern, dass er eine Lieselotte Loewe nicht braucht. Und wer sagt, dass man nur einen liebsten aller Onkel haben kann und nicht zwei?«

Gemeinsam durchquerten sie das Brandenburger Tor und traten kurz darauf unter die schattenspendenden Bäume des riesigen Stadtparks. Vorbei am Königsplatz mit der hoch aufragenden Siegessäule führte Paul sie zu der Straße In den Zelten, die noch immer so hieß, obwohl die dortigen Gaststätten inzwischen in festen Gebäuden und nicht mehr in Zelten untergebracht waren. Die Terrassen der Ausflugslokale waren jetzt, an einem trockenen Nachmittag mitten im Sommer, gut gefüllt. Dennoch fanden sie rasch einen freien Tisch.

»Also, eine Tasse Kaffee?« Paul winkte einem der umhereilenden Kellner zu.

»Lieber ein Glas Limonade«, entgegnete Lilo. »Kaffee ist so bitter.«

Paul sah sie liebevoll an. »In dieser Sache kommst du nach deiner Mutter.«

»Nicht nur in dieser! Mama ist schließlich auch ihren Weg gegangen, ohne dass sie sich von Traditionen und gesellschaftlichen Vorschriften hat aufhalten lassen.« Lilo legte die Hand kurz auf den Arm ihres Onkels. »Das seid ihr beide.«

Sein Lächeln wurde traurig. »Ja. Nur dass ich einen hohen Preis dafür gezahlt habe.«

Der Kellner kam, und Paul bestellte zwei Gläser Zitronenlimonade und zwei Buletten.

»Wie geht es denn Tante Emilie?«, fragte Lilo, um ihren Onkel von den ernsten Gedanken abzulenken. »Macht ihr die Arbeit in der Küche noch Freude?«

Paul lachte auf. »Na, zumindest behauptet sie es. Karl dagegen fragt sich, wie sie es aushält, sich den ganzen Tag vom Maître herumkommandieren zu lassen.«

»Da geht es ihm selbst doch nicht besser«, gab Lilo zurück.

»Schon, aber er ist ein Mann und ein guter Koch. Das weiß auch der große Meister. Deshalb spuckt er Karl gegenüber nie die ganz lauten Töne. Außerdem kann er ihm in der riesigen Küche aus dem Weg gehen.« Er wiegte den Kopf. »Deine arme Tante Emilie aber sitzt den halben Tag mit dem Kerl in dem Glaskasten mitten in der Küche, muss jedes seiner Worte notieren, und wehe, sie bekommt eins davon nicht richtig mit. Und so schnell, wie der Mann spricht – zu allem Überfluss mit seinem französischen Akzent –, passiert es ihr schon mal, dass ihr ein Artikel auf der Einkaufsliste für den kommenden Tag fehlt. Sie musste sich gestern schon wieder einiges anhören, die Ärmste.«

Lilo grinste. »Da kann sich der Herr Küchenchef aber freuen, dass Tante Franziska nicht auch noch im Adlon arbeitet. Sie würde es sich gewiss nicht lange anhören, wenn ihrer«, sie senkte die Stimme, »Liebsten der Kopf gewaschen wird.«

»Da könntest du recht haben. Wobei es mich tatsächlich ein wenig wurmt, dass sie als Einzige aus unserer kleinen Familie nicht im Adlon arbeitet.«

Seine Stimme klang so warm, als er »kleine Familie« sagte, dass Lilo lächeln musste. Nein, sie waren ganz sicher keine alltägliche Familie, und doch waren sie eine.

Die Getränke und die Buletten wurden gebracht, und Lilo biss herzhaft in ihren Fleischklops, ohne das Besteck zu bemühen, das der Kellner neben ihrem Teller abgelegt hatte.

»Lass sie besser in ihrem Schreibbüro sitzen«, nuschelte sie mit vollem Mund. Die Bulette schmeckte herrlich würzig! Sie spülte mit einem Schluck der wunderbar sauren Limonade nach. »Stell dir vor, Herr Adlon macht Pleite. Dann würdet ihr ganz schön alt aussehen, wenn ihr alle auf ihn angewiesen wärt.« Erneut biss sie von dem Fleischklops in ihrer Hand ab und sagte kauend: »Ist das lecker!«

Paul schüttelte den Kopf. »Nur weil du eine moderne Frau bist, mein liebes Lieschen«, erwiderte er gespielt streng, »heißt das nicht, dass du gar kein Benehmen mehr an den Tag legen musst.« Er schnitt einen übertrieben winzigen Bissen von seiner Bulette ab und führte mit pikierter Miene die Gabel zum Mund.

Daraufhin brachen sie beide in Gelächter aus.

Sie beendeten ihre Mahlzeit, Paul zahlte bei dem Kellner, dann erhob er sich. »Komm, mein Herz. Lass uns gehen. Deine Eltern warten bestimmt schon sehnsüchtig auf dich.«

Lilo stand ebenfalls auf. »Ja, besonders Mama. Sie hat heute sicherlich wieder irgendetwas Wundersames genäht, in das sie mich stecken will, um mich davon zu überzeugen, dass auch lange Kleider praktisch sein können.« Lilo gluckste. »Sie hat Angst, dass ich bald darauf bestehen könnte, in Hosen herumzulaufen.« Sie hob ihren Rock an und brachte für einen winzigen Augenblick die Pumphosen darunter zum Vorschein. »Womit sie recht haben könnte. Hosen sind so viel sinnvoller als Röcke. Man bleibt nirgends hängen, kann sich viel freier bewegen …«

Paul grinste. »Die Zeit wird kommen, in der jeder tragen darf, was er möchte, ohne dafür schräg angesehen zu werden.« Sein Lächeln verrutschte, und er senkte die Stimme. »Und hoffentlich kommt auch die Zeit, in der …« Er unterbrach sich und presste die Lippen zusammen, so als hätte er sich daran erinnert, dass das Thema keines war, das man mit seiner jungen Nichte besprach.

Lilo wusste aber ohnehin, wie er den Satz hatte vollenden wollen. … in der jeder denjenigen lieben darf, den er möchte.

Sie tätschelte seinen Arm, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Ihr ging es so viel besser als ihrem Onkel. Sie trug die Hosen zwar zumeist auch unter dem Rock versteckt, aber beim Radfahren durfte sie sie zeigen, ohne dafür verhaftet zu werden.

Zumindest wenn sie sich an die Fahrradverbotszonen hielt.

Der Gedanke brachte den an den Schutzmann zurück, und gleich wurde sie wieder fröhlicher. Es gab immer Wege, dem Gesetz zu entkommen, und ihre Onkel hatten einen guten Weg gefunden. Er war nicht perfekt, aber was war schon perfekt im Leben? Nicht einmal Berlin war es. Und dennoch liebte Lilo es mit jeder Faser ihres Herzens, so aufgeblasen die Stadt auch manchmal wirkte mit ihrer Verherrlichung des Kaisers, den protzigen Militärparaden, ihrer Zurschaustellung von Prunk und Glanz, ihrer Maßlosigkeit. So grausam seine andere Seite war, die der verarmenden Arbeiterfamilien in den Elendsquartieren.

Lilo verschloss nicht die Augen davor, tat mit ihrem Verein, was sie konnte, um gerade den Frauen und Kindern zu helfen, und unterstützte ihren Arbeitgeber dabei, mittellosen Menschen mit den Kosten für Behandlungen entgegenzukommen, indem auch sie auf einen Teil ihres Lohns verzichtete. Berlin war Schreckgespenst und Traumgespinst gleichermaßen, und Lilo konnte sich nicht vorstellen, es je zu verlassen.

Am Arm ihres lieben kleinen Onkels schritt sie den Kiesweg entlang, atmete die Sommerluft ein und war schlicht glücklich.

Kapitel 2

Berlin, Friedrichstraße, Wohnung der Familie Loewe

Lilo

Lilo rannte die Treppe hinauf zu der geräumigen, über zwei Geschosse gehenden Wohnung ihrer Familie, schloss die Tür auf und rief: »Ich bin zu Hause!«

»Das ist nicht zu überhören«, brummte Lukas, der gerade die schmale Holzstiege von der Mansarde herunterkam, die er sich mit den Zwillingen teilte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, schlurfte er in die Küche.

»Ach, du Miesepeter! Die anderen freuen sich sicherlich, dass ich da bin.« Sie folgte dem Zwölfjährigen – dem nächstälteren Kind nach ihr selbst – in die große Küche, in der Mutter am Tisch saß und sich mit Minna, ihrer Mamsell und Köchin, unterhielt. Der Duft nach Schmorbraten lag in der Luft, und obwohl Lilo vor Kurzem erst die Bulette gegessen hatte, bekam sie gleich Hunger. »Guten Tag, ihr zwei Schönheiten!«, rief sie strahlend.

Lukas lachte höhnisch auf und fing sich von Minna gleich einen Klaps gegen den Hinterkopf ein. Er ignorierte sie, ging zum Herd und hob den Deckel vom Topf. »Schon wieder Salzkartoffeln?«

»Was möchtest du denn sonst zum Braten essen, vielleicht Pralinen?«, fauchte Minna. Sie war jung für eine Mamsell, erst in ihren Dreißigern, und Lilo hatte nicht übertrieben, indem sie sie eine »Schönheit« genannt hatte.

»Kroketten«, gab Lukas ungerührt zurück.

»Und glaubst du, die wachsen an Bäumen oder unter der Erde?« Minna schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, die werden aus Kartoffeln gemacht. Ich hatte vor, welche zuzubereiten, aber nun nicht mehr!«

»Wie lange hätten wir denn noch aufs Essen warten sollen, wenn Sie erst noch Kroketten machen wollten?«

»Es reicht, Lukas«, schalt Mutter. »Ich weiß, du bist im Wachstum und brauchst viel Essen, aber wir warten auf Papa, vorher gibt es ohnehin nichts. Nimm dir einen Apfel, wenn du es nicht aushalten kannst.«

Lukas brummte etwas Unverständliches, griff sich zwei Äpfel aus der Obstschale und trollte sich.

Lilo kicherte. »Er kommt in ein schwieriges Alter, was?«

»Mir scheint, das tust du auch«, brummte Minna, die aus alter Gewohnheit beim »Du« geblieben war, und wies auf Lilos Beine. »Bald läufst du wohl ganz ohne Kleidung herum.«

Lilo sah an sich herab. Sie hatte vergessen, ihren Rock herunterzulassen, nachdem sie ihr Fahrrad in den Keller gebracht hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Hier in ihrer eigenen Wohnung brauchte sie es nun auch nicht mehr zu tun. »Das sind Hosen, sie sind weit genug, dass man meine Beine nicht erkennt, und durchsichtig sind sie auch nicht.« Sie trat zu Minna und küsste sie auf die Wange. »Kein Grund zur Aufregung.« Dann gab sie auch Mutter einen Kuss und setzte sich ihr gegenüber. »Viele Grüße von Onkel Paul.«

»Hattet ihr es schön heute, mein Lieschen?«, fragte Mutter liebevoll.

»Mama, bitte! Ich bin eine erwachsene Frau.«

Dass die Mamsell sie weiterhin duzte, war ja vollkommen in Ordnung, alles andere wäre Lilo auch seltsam vorgekommen nach der langen Zeit, die sie bei ihnen war, aber diese Verniedlichung ihres Namens klang, als wäre sie drei Jahre alt.

»Und was denkst du, was ich bin?« Mutter grinste. »Dennoch nennt mich die ganze Familie immer noch Lorchen, oder nicht?«

»Ja, und Tante Gosia nennt dich myszko, ich weiß.« Lilo kicherte. »Na gut, dann bleibe ich wohl dein Lieschen. Und ja, Onkel Paul und ich hatten es sehr nett. Wir waren im Tiergarten und haben Limonade getrunken.«

»Das ist schön.« Mutter lächelte. »Geht es meinem kleinen Bruder denn gut? Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen.«

»Natürlich geht es ihm gut! Wer kann schon von sich behaupten, dass er seine Traumarbeitsstelle, seinen Traummann und zudem eine traumhafte Ehefrau hat?« Lilo zwinkerte Mutter zu.

Minna, die mit dem Rücken zu ihnen am Herd stand, schlug sich die Hände auf die Ohren. »Ich habe nichts gehört. Gar nichts!« Dann begann sie laut zu summen.

»Ach, Minna«, sagte Mutter. »Wir wissen doch, dass Sie meinen Bruder und Karl genauso lieben wie wir alle.«

Die Mamsell drehte sich zum Tisch um und sah sie ernst an. »Ja, das tue ich. Und ich bin Ihnen dankbar für diese Arbeit und würde nie etwas tun, was Ihnen schadet. Aber … ich halte mich an Gesetze.«

»Und das ist gut so!« Mutter nickte bekräftigend.

»Es hat ja auch niemand gesagt, dass Sie eine Frau küssen sollen, Minna.« Lilo gluckste, und Minna lief rot an. »Also halten Sie sich doch an die Gesetze. Und wenn andere es nicht tun, schauen Sie am besten weg.«

»Ach ja?«, murrte Minna. »So wie wenn ein gewisses Fräulein wieder mal die Friedrichstraße entlangradelt, obwohl es verboten ist?«

»Lieselotte?«, fragte Mutter streng und runzelte die Stirn. »Von welchem Fräulein redet Minna da wohl?«

Lilo setzte eine unschuldige Miene auf. »Keine Ahnung.«

Mutter wollte gerade weiterreden, da kamen Fritz und Toto, Lilos zehnjährige Zwillingsbrüder, in die Küche gestürmt.

»Bekommen wir auch einen Apfel?«, rief Toto, der mit seinen schwarzen Locken und dunklen Augen ganz wie Mutter aussah, während Fritz mit dem rotblonden Haar, den graublauen Augen und der hellen Haut nach Vater kam. Lilo und Lukas waren eine Mischung aus beiden – dunkelbraune, sanft gewellte Haare und ebenfalls graublaue Augen. Sie sahen eher aus wie Zwillinge, als die wahren Zwillinge es taten, vor allem seit Lukas im Frühjahr in die Höhe geschossen war.

»Ja, wir wollen Äpfel!«, stimmte Fritz ein. »Lukas hat sogar zwei bekommen! Und er will nicht teilen.«

Lilo musste lächeln. Sie hatte ihre Brüder furchtbar lieb, sogar den muffeligen Lukas, und sosehr sie sich eine Zeit lang eine Schwester gewünscht hatte – nach Tildas letzten Berichten über Luzies Verhalten war sie heilfroh, doch keine zu haben. Außerdem hatte sie in Tilda die allerbeste Cousine, und das war viel mehr wert als jede Schwester. Auch wenn sie so weit entfernt voneinander wohnten, dass sie sich nur selten sahen.

»Natürlich bekommt ihr einen Apfel, meine Schätze«, sagte Minna liebevoll. Sie hatte eindeutig einen Narren an den Jüngsten in der Familie gefressen. Sie suchte sogar die zwei schönsten der hellgelben Augustäpfel aus der Obstschale heraus, rieb sie mit einem Tuch ab, bis sie glänzten, und reichte sie den beiden. Diese zogen kichernd und bereits kauend wieder ab, vermutlich um ihren großen Bruder zur Weißglut zu treiben.

»Ach, Lilo.« Mutter stand auf. »Ich habe dir etwas aus dem Atelier mitgebracht.«

»Wie erwartet«, entfuhr es Lilo, und sofort fing sie sich ein weiteres Stirnrunzeln ein. »Ich meine ja nur«, ergänzte sie schnell, »dass ich Onkel Paul gerade vorhin erzählt habe, dass du mir gern Kleider nähst.«

»O ja, und ich wette, du hast dich in den höchsten lobenden Tönen über die Kleidungsstücke ausgesprochen.« Mutter verdrehte die Augen, dann aber grinste sie. »Komm mit.«

Lilo folgte ihr in das Ankleidezimmer, das sie sich teilten und in dem noch immer Mutters alte Nähmaschine stand, obwohl das Atelier und die Schneiderei gleich unten im Erdgeschoss und ersten Stock ihres Hauses gelegen waren. Mutter schaltete das Licht ein, dann ergriff sie ein hellgrünes Kleidungsstück, das über dem Stuhl gehangen hatte.

»Schau mal, das ist ein Reformkleid. Es –«

»Reformkleider sehen aus wie Säcke!«, rief Lilo aus. »Ja, viele Damen in meinem Verein tragen sie, sogar Tante Franziska, und ihr stehen sie ja, da sie so schlank ist, aber … Mama, ich sehe darin unförmig aus.« Lilo deutete auf ihre nicht gerade kleine Oberweite. »Die Kleider stehen hier ab und fallen dann durch die fehlende Taille einfach herunter. Ich mag es bequem und praktisch, das ist richtig, aber ich will auch nicht wie ein Gespenst aussehen!«

»Bist du fertig?«, fragte Mutter und zog die Augenbrauen hoch. »Dann könntest du mich ausreden lassen.«

»Entschuldige«, murmelte Lilo.

»Du hast recht. Meine bisherigen Kreationen sahen an dir … nicht optimal aus.« Mutter gluckste. »Und ich habe nichts dagegen, wenn du auf dem Fahrrad oder in der Wohnung deine Hosen zeigst. Aber ich glaube, dieses Mal habe ich ein Kleid für dich entworfen und angefertigt, das dir stehen und trotzdem komfortabel sein könnte. Ich habe mich an den Kreationen von Else Oppler-Legband orientiert und sogar extra einen Vortrag besucht.« Sie schüttelte den lindgrünen Stoff aus und hielt ihn Lilo hin. »Probiere es doch einmal an. Es kombiniert einen Reformschnitt mit einer leichten Taillierung und Stickereien an den richtigen Stellen, und das Material ist fließend und fühlt sich schön auf der Haut an.«

Lilo unterdrückte ein Seufzen. »Ist gut, gib her.«

Mutter reichte ihr das Kleid, zwinkerte ihr zu und ließ sie allein. Lilo erwartete nicht viel, als sie ihre Rock-Hosen-Kombination auszog und das neue Kleid überstreifte. Wieder einmal rutschte es viel zu leicht über ihr vorn geknöpftes Leibchen, das sie anstelle eines Korsetts trug, als dass es etwas anderes als ein Sack sein konnte.

Dann aber stellte Lilo überrascht fest, dass der leichte Stoff gar nicht sackartig an ihr hing, sondern tatsächlich ihre Figur umschmeichelte, ohne sie einzuengen oder unschicklich auszusehen. Sie trat vor den Spiegel und betrachtete sich. Sie war kein eitler Mensch, mochte nicht stundenlang an ihrem Äußeren feilen, ehe sie das Haus verließ, und noch immer hätte sie lieber Hosen getragen, aber das hieß nicht, dass sie herumlaufen wollte wie ein wandelndes Fass. Und dieses Kleid … Es ließ sie tatsächlich hübsch aussehen. Wie die junge Frau aus guter Familie, die sie nun einmal war.

Mutter war wahrhaftig eine Künstlerin! Und schien endlich verstanden zu haben, worum es Lilo ging. Sie drehte sich vor dem Spiegel, kletterte erst auf den Stuhl und von dort aus aufs Fensterbrett, um zu sehen, ob das Kleid ihr genügend Beinfreiheit gab, falls sie mal über einen Zaun steigen musste oder Ähnliches. Schließlich wusste man nie, in was für eine Lage man einmal geraten würde.

In diesem Moment klopfte es, die Tür ging auf, und Mutter streckte den Kopf ins Zimmer. »Lilo, Papa ist zu Hau– Was zum Donnerwetter tust du da oben?«

Lilo kicherte und sprang auf den Boden. »Das Kleid ausprobieren, wie du es dir gewünscht hast.« Sie drehte sich vor Mutter einmal um sich selbst, dann küsste sie sie auf die Wange. »Es ist wunderbar! Nicht so gut wie Hosen, aber das Zweitbeste.«

Mutter strahlte. »Das freut mich, mein Liebes. All meine Kundinnen sind immer so zufrieden mit meinen Kreationen, nur mein Fräulein Tochter habe ich bisher nie zufriedenstellen können.«

»Dabei ist dein Fräulein Tochter doch so anspruchslos.«

»O ja, vollkommen anspruchslos. Es muss nur alles immer nach ihrem hübschen Näschen gehen.« Sie stupste besagtes Näschen an und grinste. »Nun zieh das Kleid aber wieder aus. Es soll ja zum Ausgehen sein, nicht für das Abendessen mit der Familie.« Sie schwenkte den Zeigefinger. »Und auch nicht dafür, darin klettern zu gehen.«

Lilo tat, wie ihr geheißen, und schlüpfte in ihr Hauskleid. Bei diesem störte es sie wenig, dass es wie ein Sack an ihr hing. Ihre Familie kannte sie schließlich kaum anders.

Als sie fertig war, saßen die anderen bereits am langen Esszimmertisch. Vater sah wie üblich müde aus nach einem langen Arbeitstag im Zeitungsverlag, für den er nicht mehr nur fotografierte, sondern neuerdings auch Artikel schrieb. Er begrüßte Lilo lächelnd, Mutter lobte den Schmorbraten und ließ sich reichlich auftun, Lukas stürzte sich auf die Kroketten, die Minna schließlich doch noch gebacken hatte, Fritz und Toto plapperten durcheinander und trommelten mit ihren Gabeln auf den Tisch. Und Lilo konnte nicht anders, als zu lächeln. Sie schlüpfte auf ihren Platz neben Vater, und er sah sie liebevoll an.

»Na, meine kleine Große, wie war dein Tag?«

»Ganz wunderbar. Bei der Arbeit haben wir als Erstes einen Zehennagel gezogen, was ordentlich geblutet hat, aber mein Verband ist gleich beim ersten Versuch gut geraten. Dann mussten wir ein eitriges Fur-«

»Uääääh!«, fiel ihr Lukas ins Wort. »Hör mit den ekelhaften Geschichten beim Essen auf, du widerwärtiges Geschöpf!«

»Genau!«, fiel Toto ein. »Außerdem tust du, als wärst du der Arzt. Wir haben dies, wir haben das.«

»Na und?« Ungerührt spießte Lilo eine Krokette mit der Gabel auf. »Es sind ja auch unsere Operationen. Die von Herrn Doktor Gruber, seiner Frau und mir. Meinst du, ein Chirurg operiert ganz allein? Sucht sich selbst die Gerätschaften zusammen, während er sich gerade über den aufgeschnittenen Patienten beugt?«

Lukas’ erneutes »Uäääh!« ignorierte sie.

»Meinst du, er wischt sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn oder sterilisiert am Ende die Geräte wieder? Ich muss kein Arzt sein, um dem Doktor zu helfen.« Auch wenn ich es zu gern wäre, fügte sie in Gedanken hinzu, und wieder einmal schlug ihr Herz schneller bei dem Gedanken. Sie liebte ihren Beruf, doch Medizin zu studieren, Ärztin zu werden … Es war ihr größter Traum.

Das jedoch würde es wohl für immer bleiben. Erst seit wenigen Jahren war Frauen überhaupt das Studium erlaubt, und Lilo besaß nicht einmal den nötigen Schulabschluss. Als sie das Lyzeum beendet hatte, war die Aussicht auf einen Studienplatz noch so gering gewesen, dass sie sich für die Berufsausbildung entschieden hatte anstatt dafür, Gymnasialkurse zu belegen, die sie zum Abitur und damit zur Universitätszulassung führen würden. War es die falsche Entscheidung gewesen? Ihr eigenes Geld zu verdienen, machte sie glücklich, alles andere würde erst einmal nur Kosten verursachen. Dennoch – sie könnte immer noch den anderen Weg einschlagen …

»Schon gut, meine Große«, sagte Vater sanft. »Wir sind stolz auf dich und die Arbeit, die du verrichtest. Aber …« Er schielte auf seinen Teller. »Vielleicht lassen wir die blutigen Themen bis nach dem Essen ruhen?«

»Na gut.« Lilo widmete sich ihrer Mahlzeit, in Gedanken noch immer beim Studium, bis Mutter sie ansprach.

»Es ist ein Brief für dich gekommen. Wieder einmal ein dicker Umschlag. Von deiner allerliebsten Tilda natürlich. Was habt ihr zwei euch nur ständig zu schreiben?«

Lilo kicherte. »Das wüsstest du wohl gern.«

»Bestimmt schreibt ihr euch gehässiges Zeug über eure Geschwister«, behauptete Lukas.

»Wir haben Besseres zu tun, als uns über euch die Mäuler zu zerreißen«, gab Lilo zurück. »So wichtig seid ihr nicht.«

»Sind wir wohl!«, rief Fritz. »Oder, Mama?«

»Natürlich seid ihr wichtig!« Das war Minna, die mit ihnen am Tisch saß, obwohl es Jahre gedauert hatte, bis sie sich dazu hatte überwinden können. Noch immer behauptete sie vor jedem Essen, ihr Platz wäre in der Küche, doch Mutter wollte davon nichts hören. »Aber Frauen haben nun mal Geheimnisse. Das war schon immer so und wird auch so bleiben.«

Wenn du wüsstest, wie nahe du der Wahrheit bist, dachte Lilo erschrocken.

»Wir haben auch Geheimnisse!«, trumpfte Toto auf, und Fritz stimmte ein.

»Ja, ganz viele!«

»Natürlich habt ihr das«, sagte Mutter sanft. »Und nun esst, bevor alles kalt wird. Lilo, ich gebe dir den Brief nach dem Essen.« Sie seufzte. »Es ist so schade, dass du und Tilda euch nicht so nah seid und zusammen aufwachst wie Tante Ella und deine Großmama. Ihr versteht euch so gut, und ihr habt ja sogar fast dieselben Interessen, du mit der Kranken- und sie mit der Kinderpflege.«

Lilo schüttelte sich. »Das stimmt, aber ich würde auf Dauer eingehen in Swinemünde! So schön die Ferien auch jedes Mal sind – gegen Berlin ist es ein Dorf. Tilda müsste hierherkommen, zu uns. Aber Onkel Wilhelm und Tante Rosalie lassen sie ja nicht nach Berlin ziehen.«

»Würde sie das denn überhaupt wollen?«, fragte Vater.

Ja, würde sie? Lilo war sich nicht sicher.

»Ich denke, es würde ihr guttun, einmal rauszukommen«, sagte Mutter. »Ich habe schon versucht, mit meiner Schwester zu reden. Wenn jemand weiß, wie es sich anfühlt, aus familiären Gründen ans Gastgewerbe gebunden zu werden, dann ja wohl ich! Aber Rosalie will auf Tilda nicht verzichten, und Tilda widerspricht nicht. Man muss schon selbst dafür einstehen, wenn man etwas anderes will.«

»So wie Onkel Paul und du.«

Mutter lächelte, doch es wirkte traurig. »Ja, so wie Paul und ich. Nur hätte ich beinahe meine Familie darüber verloren, und Paul …«

Sie musste nicht weiterreden, denn jeder der Erwachsenen am Tisch wusste, was sie meinte. Paul hatte seine Familie verloren, zumindest den Teil in Swinemünde. Er war nie dorthin zurückgekehrt, und auch wenn Großmutter Lina und Großvater Friedrich hin und wieder nach Berlin kamen und sie sich sahen, war das Verhältnis distanziert. Paul hatte ihnen nie ganz verziehen, ihn sein Leben lang nicht für voll genommen zu haben, und vielleicht war gerade das der Grund, warum Mutter und Vater so darauf bedacht waren, dass Lilo und ihre Geschwister alle Freiheiten bekamen, das zu tun, wonach sie strebten.

Als Lilo später in ihrem kleinen Zimmer auf dem Bett lag und den Umschlag mit Tildas Brief aufriss, war die Traurigkeit, die sie bei Tisch kurz verspürt hatte, verflogen. Sie zog das beschriebene Blatt heraus und musste grinsen. Lukas hatte nicht ganz unrecht gehabt, nur dass es nicht all ihre Geschwister waren, über die sich ihre Cousine und sie ausließen. In Tildas Briefen ging es zumeist nur um Luzie, die offenbar ein wahres Biest geworden war.

In diesem Schreiben aber erzählte sie außerdem ausführlich von ihrer neuen Helferinnenstelle, die sie im gerade erbauten Kaiser-Wilhelm-Kinderheim in Ahlbeck angetreten hatte. Lilo war furchtbar stolz auf ihre Cousine, denn das, was sie dort tat, war eine wichtige Aufgabe und ganz im Sinne der Frauenbewegung, die Tilda sonst nicht offen unterstützte. Im Gegenteil, sie arbeitete zwar in der Pension und nun auch auswärts, dennoch träumte sie davon, einmal eine eigene Familie und viele Kinder zu haben, so wie es über Jahrhunderte wenn nicht der Traum, so doch das Leben der allermeisten Frauen gewesen war.

Damit unterschieden sich ihre Träume ganz gewaltig von Lilos. Aber war nicht das Schönste daran, Rechte zu besitzen, dass ein Mensch für sich entscheiden durfte, wie er leben wollte? Nicht jede Frau musste das für sich wollen, was Lilo wollte, und am liebsten die ganze Welt umkrempeln. Es war genauso gerechtfertigt, sich Kinder und ein Heim zu wünschen.

Und einen Mann. Lilo grinste und zog einen zweiten geschlossenen Umschlag aus dem ersten. Sie würde am kommenden Tag in der Mittagspause das Postamt aufsuchen müssen …

Kapitel 3

Swinemünde, Dünenstraße, Pension Dünenschlösschen, Anfang August 1913

Tilda

»Gott sei Dank, da sind Sie ja, Herr Professor Daubner!« Mutter verließ ihren Platz hinter dem Rezeptionstresen, wo sie und Tilda gerade die Buchungen für die kommende Woche durchgegangen waren, und eilte auf den eben durch die Eingangstür getretenen Gast zu. »Wir dachten schon, Sie wären auf dem Unglücksboot gewesen!«

Der Professor blickte verwirrt drein. »Nein, ich bin kurz entschlossen mit der Bahn nach Stettin gefahren und über Nacht geblieben.« Er runzelte die Stirn. »Unglücksboot?«

»Ja, haben Sie denn nicht von dem Untergang des Segelbootes gestern Nachmittag gehört?«, fragte Mutter. »Es steht sogar schon in der Morgenausgabe.«

Der Professor schüttelte den Kopf, dann weiteten sich seine Augen. »Ah, hängen deswegen die Flaggen auf Halbmast, mit denen die Stadt wegen des Kaiserbesuchs geschmückt ist?«

»Richtig. Es ist eine Tragödie!« Mutters Stimme schwankte, und auch Tilda erfasste erneut ein eisiges Entsetzen, wie jedes Mal, wenn sie an das Unglück dachte. Diese armen Menschen, die nur einen schönen Ausflug hatten machen wollen … »Eines der Vergnügungsschiffe ist bei einer Wende von einer Böe erfasst worden, sodass es in Schräglage geraten ist. Die meisten Passagiere sind über Bord gegangen. In der Nähe anwesende Fischer und andere Bootseigner haben versucht, Personen zu bergen, und bei einigen wenigen ist es wohl gelungen, aber …« Mutter räusperte sich. »Am Ende ist das Boot sogar gesunken. Den ganzen Tag wurde noch nach den Vermissten gesucht, bis es zu dunkel wurde. Heute früh ging es weiter. Seien Sie froh, dass Sie nichts davon mitbekommen haben. Die Szenen, die sich am Strand abgespielt haben, waren entsetzlich.«

Entsetzlich war die ganze Sache auch für Großpapa Ludwig und Großmama Ella gewesen. Es hatte sie an Ludwigs eigenes Schiffsunglück erinnert, das er als junger Mann nur knapp und mit einer bleibenden Verletzung überlebt hatte. Die gesamte übrige Besatzung war dabei umgekommen, darunter Tildas leiblicher Großvater und Urgroßvater. Ihr armer Vater hatte somit im Alter von nur wenigen Monaten zwei Menschen verloren, an die er nicht einmal eine Erinnerung hatte. Vielleicht war ihm Ludwig deswegen ein Ersatzvater geworden – dieser hatte die Männer schließlich gekannt und konnte ihm und auch den Enkeln von ihnen erzählen.

Auch von jenem Schiff hatte noch eine ganze Weile nur noch die Mastspitze aus dem Wasser geschaut, so wie es auch bei dem Vergnügungsboot gewesen war.

Erneut ging die Vordertür auf, schwungvoller dieses Mal, und hereingestürmt kamen Tildas jüngere Brüder. Jonas rannte voraus, Theo – benannt nach ebenjenem verstorbenen Großvater – dicht auf den Fersen.

»Mama, Mama!«, rief Jonas aufgeregt. »Sie suchen immer noch nach den Toten! Und stell dir vor, unter den Zuschauern am Strand war sogar der Kaiser! Und es sind so viele Menschen gestorben, fünfzehn, sagen sie. Oder sogar noch mehr!«

»Jonas«, erwiderte Mutter scharf. »Beruhige dich. Und rede nicht, als wäre das Ganze ein großes Abenteuer.« Sie wandte sich Theo zu und seufzte tief. »Bitte tu mir den Gefallen und achte besser auf den kleinen Unhold, ja? Zum Glück beginnt am Montag die Schule wieder.«

»Ich hab’s ja versucht«, brummte Theo. »Aber du weißt ja selbst, wie schwierig es ist. Außerdem muss ich lernen. Kann Luzie ihn nicht hüten?«

»Bloß nicht«, platzte Tilda heraus, ehe sie sich bremsen konnte. Es war nur wirklich die allerschlechteste Idee, den wilden Jonas von der noch wilderen Luzie beaufsichtigen zu lassen. Diese war zwar schon fünfzehn, aber man merkte es ihr selten an.

»Können wir das bitte nicht vor den Gästen diskutieren?«, fragte Mutter und lächelte Herrn Professor Daubner entschuldigend an. Dann sah sie zu Tilda und hob auffordernd die Augenbrauen.

»Aber der Kaiser!«, rief Jonas. »Er stand da wie ein normaler Mensch und –«

»Er ist ja auch ein normaler Mensch«, fiel ihm Tilda ins Wort und trat um den Tresen herum.

Sie legte den Arm um ihren jüngsten Bruder und führte ihn rasch in den Familiensalon, wo Luzie auf dem Sofa fläzte und ein Buch las, das ganz gewiss nichts mit der Schule zu tun hatte. Sie hätte besser daran getan, sich wie Theo mit dem Stoff zu beschäftigen, denn schließlich war es ihr letztes Jahr vor dem Abschluss. Tilda hütete sich jedoch, den Gedanken auszusprechen, um sich keine scharfe Erwiderung einzufangen. Stattdessen versuchte sie weiter, den Neunjährigen zu beruhigen, der noch immer aufgeregt auf und ab hüpfte.

»Ich habe den Kaiser erst vor zwei Tagen gesehen«, erzählte sie ihm, »als er mit seinen Gästen das Kinderheim besucht hat. Er sah von Nahem wie ein ganz gewöhnlicher Mann aus. Er hat sogar mit mir geredet.« Dass er sie und ihre Kolleginnen insgesamt gegrüßt hatte, während sie vor ihm geknickst hatten, verschwieg sie. Diese Auskunft würde ihrer Sache nicht helfen.

Jonas riss die Augen auf. »Und das erzählst du mir erst zwei Tage später?«

Tilda hob in einer gleichgültigen Geste die Schultern, obwohl sie zugeben musste, dass sie tatsächlich aufgeregt gewesen war, als der Kaiserbesuch angekündigt worden war. »Es war ja nichts Besonderes. Gestern haben wir mit den Kindern auf Wunsch Seiner Majestät sogar den Kreuzer Kolberg besichtigt, der die Kaiserjacht auf der Nordlandreise und hierher begleitet hat.«

»Och, Tilda!« Jonas schob die Lippe vor. »Ich will auch ein Kind in deinem Heim sein und mit dem Kaiser reden.«

»Ich höre nur noch Kaiser, Kaiser, Kaiser!« Luzie sprang auf und schleuderte ihr Buch auf das Sofa. »Der Kerl ist schon fünfundzwanzig Jahre an der Macht. Und jedes Jahr taucht der mindestens einmal hier auf, und alle müssen strammstehen. So langsam ist das nun wirklich nichts Besonderes mehr. So gern, wie sich der eitle Fatzke zeigt, ist es eher ein Wunder, wenn man ihn noch nicht zu sehen bekommen hat.« Sie lachte gehässig auf. »Besonders hier bei uns, wo er doch eine gute Freundin in Heringsdorf hat, die er alle naselang besucht.« Damit rauschte sie aus dem Raum.

Tilda entfuhr ein verzweifeltes Kichern. Der Bruder vergötterte den Kaiser, die Schwester schmähte ihn lautstark. Und irgendwo dazwischen lag Tildas eigene Meinung. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Ehrfurcht, die ihnen in der Schule eingetrichtert worden war, und der Sorge, dass sich die europäischen Spannungen, von denen die Zeitungen schrieben, verschlimmern würden.

Als Vater hereinkam, überließ sie ihm Jonas nur allzu gern, denn der wollte einfach nicht aufhören, über das Unglück und den Kaiser zu reden. Sie ging zurück zu Mutter, die den Professor inzwischen über die Ereignisse ins Bild gesetzt hatte und ihn gerade verabschiedete.

»Komm, meine Große«, sagte Mutter liebevoll. »Die Post ist gekommen und muss geöffnet werden. Die Welt bleibt ja nicht stehen, obwohl sie es in manchen Augenblicken tun sollte, damit man wieder zu Atem kommen kann.«

Tilda machte sich daran, die Postsendungen zu sichten, schaffte es aber kaum, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Und das nicht nur wegen des Unglücks, das auch bei den ein und aus gehenden Gästen in aller Munde war. Nein, die Briefe hatten sie an etwas erinnert – oder vielmehr an jemanden. Jemanden, der ohnehin immer in ihrem Hinterkopf war, den sie aber manchmal verdrängen musste, um überhaupt ihre Aufgaben bewältigen zu können.

In diesem Moment war es ihr unmöglich. Immer wieder musste sie daran denken, ob ihr Brief wohl schon bei Lilo angekommen war und ob diese schon auf dem Postamt gewesen war, um den verschlossenen Umschlag, der in dem ersten gelegen hatte, weiterzusenden. Aufregung erfasste sie jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie der Brief zusammen mit vielen anderen in einen Postsack gesteckt und dieser auf ein Schiff verladen wurde, um die Reise in die Nordsee und von dort aus in den Ärmelkanal anzutreten. Würde das Postschiff die Kanalpassage von Kiel aus bezahlen, um den Weg abzukürzen, oder den langen Weg um den Norden von Dänemark herum wählen? Wie lange dauerte es, bis James ihr Schreiben in den Händen halten würde? Würde er sich an den Strand setzen, wie sie es so gern mit seinen Briefen tat, oder ihn in seinem Zimmer lesen, zwischen seinen Büchern und Studienunterlagen?

Musste er, so wie sie, ihre Korrespondenz geheim halten?

In Brighton lebten, wie James ihr einmal geschrieben hatte, ungefähr hundertvierzigtausend Menschen und damit zehnmal so viele wie in Swinemünde. Hier bliebe es niemandem verborgen, wenn sie einen Brief nach England aufgab. Wie verhielt es sich wohl in seiner Heimatstadt mit Briefen nach Deutschland?

»Tilda!«

Sie schrak aus ihren Gedanken und sah Mutter an. Die schüttelte lächelnd den Kopf. »Hast du nicht gehört?«

»Nein …«

»Lass die Briefe kurz liegen. Die Thomsens benötigen neue Bettwäsche für den Kleinen. Er hatte in der Nacht einen Unfall.«

»In Ordnung, Mama.« Tilda ging in die Wäschekammer und suchte die Laken und Bezüge für das Kinderbett heraus, dann ging sie die breite, geschwungene Treppe hinauf in die Familiensuite im zweiten Stock und machte sich an die Arbeit. Als sie mit den schmutzigen Laken wieder hinuntergegangen war und diese in die Wäschekammer neben der Küche gebracht hatte, sprach Mutter sie erneut an.

»Lina hat darum gebeten, dass du heute Nachmittag etwas Zeit mit Urgroßvater Heinrich verbringst. Du weißt ja, Luzie hat keine Geduld mit ihm, und die Jungen sind zu wild. Das erträgt er nicht mehr.«

Tilda verbrachte zwar lieber Zeit mit Kindern als mit alten Menschen, aber Urgroßvater Heinrich war eine Ausnahme. Er war ein so lieber alter Herr, auch wenn er oft wirr redete und sie manchmal nicht einmal erkannte.

»Ja, Mama. Ich mache mich gleich auf den Weg, wenn ich die Post fertig habe.«

Kurz darauf holte Tilda Hut und Schultertuch und verließ das Dünenschlösschen, um langsam die Promenade entlangzuspazieren. Immer wieder blieb sie stehen und drehte sich nach ihrem Zuhause um.

Wie Perlen an einer Kette waren die ganze Dünenstraße entlang Pensionen und Gasthäuser aufgereiht, eins schöner als das andere. Das Dünenschlösschen mit seinen Türmchen, die es beinahe wie ein richtiges Schloss aussehen ließen, war jedoch mit Abstand das schönste Gebäude, fand Tilda. Vielleicht weil sie darin aufgewachsen war, jeden Winkel, jeden Kratzer im hölzernen Parkett und jede Unebenheit im Putz kannte. Sie wusste, wie jede Treppenstufe klang, wenn sie darauftrat, und liebte den Duft der Rosen, der vom Garten aus in den Familiensalon hereinzog.

Nur für einen einzigen Menschen auf der Welt würde sie ihr geliebtes Zuhause verlassen. Und dieser Mensch war nicht ihre allerliebste Cousine Lilo, sosehr diese sie auch bekniete, zu ihr nach Berlin zu kommen. Tilda log Lilo nie an, nur in dieser Sache, in der sie keine Ruhe gab, hatte sie Mutter als Ausrede vorgeschoben, die es ihr verbot. Es war nicht so, dass es tatsächlich eine Lüge gewesen wäre. Mutter und Vater brauchten sie im Geschäft und hätten sie vermutlich nicht einmal gehen lassen, wenn sie sie darum angefleht hätte. Zwar war auch Luzie inzwischen neben der Schule in der Lage, stundenweise mitzuarbeiten, doch Tildas Arbeitskraft war wertvoller.

Nein, der einzige Ort, an den es sie zog, war Brighton in England, und der einzige Mensch, für den sie gehen würde, war James … Für ihn allerdings hätte sie keine Sekunde gezögert.

Tilda verstand sich durchaus als geduldige Person, nur in dieser Sache nicht. Ja, sie waren jung, ja, James ging noch zur Handelsschule, um einmal die Hotels seines Vaters zu übernehmen und erfolgreich zu leiten. Ja, es trennten sie viele Kilometer, und sie hatten einander erst wenige Male gesehen. Ja, ja, ja. All das. Und doch …

Tilda seufzte und ging weiter, musste sich stellenweise durch Menschenströme schieben, die auf der Promenade flanierten, die Damen lächelnd Arm in Arm mit Schwestern oder Freundinnen, die Männer rauchend und schwatzend – und schwitzend, so sie denn ihre steife Kleidung nicht gegen etwas Leichteres eingetauscht hatten. Tilda sah immer wieder Erwachsene neidvolle Blicke auf die Kinder werfen, die in dünnen Kleidchen, kurzen Hosen oder gar gestreiften Badeanzügen herumsprangen, Kescher und Schäufelchen schwenkend.

Den Strand zierten Strandkörbe, und auch dort wimmelte es von Urlaubern. Es hieß, dass noch nie eine Saison so gut besucht gewesen war wie diese. Auch die Zimmer des Dünenschlösschens, des Stammhauses und der Villa waren dauerhaft ausgebucht. Swinemünde war seit beinahe zwanzig Jahren Solbad und beliebter denn je.

Sie passierte die Seebrücke, den breiten hölzernen Steg, der auf dem Strand begann und an dessen Ende ein prächtiges Bauwerk auf Stelzen im Meer stand, ein großes, weißes Gebäude mit vielen schwarzen Dächern und kleinen, spitzen Türmchen sowie zwei großen Türmen rechts und links des Eingangs zum Restaurant, das darin angesiedelt war.

Ein schmalerer seitlicher Steg führte weiter aufs Meer hinaus. Von dort aus hatte das unglückliche Ausflugsboot am Vortag abgelegt, voller vergnügter Menschen, die nicht ahnten, dass es ihre letzte Fahrt werden würde. Es schien inzwischen gehoben und fortgebracht worden zu sein, denn es waren keine Spuren mehr davon zu erkennen. Zum Glück! Tilda fröstelte erneut, wenn sie darüber nachdachte, dass vielleicht noch nicht alle Menschen geborgen waren, der Badebetrieb aber bereits weiterging …

Noch ein Stück weit folgte sie der Promenade, passierte das prachtvolle Kurhaus mit seinem Turm, der einer Kirche Konkurrenz gemacht hätte, den Bogenfenstern und den roten Dächern über strahlend hellen Mauern, das Herrenbad, dann weitere eindrucksvolle Gebäude, Hotels, Restaurants, die Konditorei mit den köstlichsten Sahnetorten.

Schließlich wandte sie sich vom Meer ab und ging die Königsallee hinab, um den alten Stadtkern zu erreichen, der sich entlang der Swine erstreckte. Der Meeresarm war noch immer von Schiffen und Booten bevölkert, auch wenn die meisten Urlaubsgäste heutzutage die Anreise mit der Bahn gegenüber der stundenlangen Seefahrt über das Stettiner Haff bevorzugten. Die Schiffe brachten allerdings nicht nur Touristen herbei, auch wenn diese im Sommer inzwischen zu Zehntausenden nach Swinemünde kamen. Nein, es waren ebenso Frachtschiffe, Fähren und Fischerboote, die das Gewässer befuhren.

Sie wandte den Blick von der Swine ab und bog in die Lindenstraße ein, in der sich das Stammhaus der Pension Büchner befand, aus der das Dünenschlösschen hervorgegangen war. Mit dessen Eröffnung zu Pfingsten vor genau zwanzig Jahren war das Hauptgeschäft mit den gut situierten Touristen in das neue, große Haus im Strandbereich verlagert worden, während die beiden ehemals einzigen Häuser im Besitz der Familie, nämlich besagtes »Stammhaus« und die im Laufe der Zeit hinzugekommene »Villa« nebenan, weiterhin kostengünstigere Zimmer für Reisende anbot, denen es nichts ausmachte, ein paar Schritte bis zum Meer gehen zu müssen.

Alle drei Häuser waren bis unter das Dach belegt, größtenteils mit zufriedenen, fröhlichen Menschen. Tilda musste lächeln. Ob sich Elfriede Büchner, die erst vor sechs Jahren beinahe hundertjährig verstorben war, das hätte träumen lassen, als sie, verwitwet und allein mit ihren zwei kleinen Enkelinnen Lina und Ella, in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts aus der Not heraus begonnen hatte, Fremdenzimmer in ihrem Wohnhaus anzubieten?

Ella und Lina, die Tilda beide »Großmama« nannte, obwohl sie es nicht waren, waren nicht mehr klein, sondern gestandene Frauen in ihren frühen Sechzigern, beide glücklich verheiratet, und lebten mit ihren Ehemännern, Tildas zwei Großpapas Ludwig und Friedrich, und Urgroßvater Heinrich im alten Stammhaus. Noch immer kümmerten sich die beiden Ehepaare um die Vermietung der dortigen Gästezimmer, während die Villa nebenan ihnen zwar noch gehörte, aber verpachtet war.

Tilda öffnete die Tür des Stammhauses und trat ein. Hinter dem Rezeptionstresen stand Großmama Ella und sah mit ihrem silberdurchzogenen, aber größtenteils noch immer rabenschwarzen Haar und der aufrechten Haltung so eindrucksvoll aus wie immer. Als sie Tilda erblickte, verzog sich ihre strenge Miene jedoch zu einem Lächeln.

»Ah, hallo, Liebes. Da bist du ja.«

»Guten Tag, Großmama Ella. Ich hoffe, du bist wohlauf.«

»Gewiss. Wie läuft das Geschäft?«

Tilda musste kichern. Natürlich fragte Ella zuerst nach dem Geschäft und hielt sich nicht mit dem Befinden der Familie auf. Sie war die bei Weitem geschäftstüchtigste Person, die Tilda kannte. Abgesehen von Mutter vielleicht.

»Alles in Ordnung im Dünenschlösschen«, antwortete Tilda. »Glücklicherweise war keiner unserer Gäste auf dem Unglücksboot.« Sogleich verfluchte sich Tilda im Stillen dafür, das Thema angeschnitten zu haben.

Ella jedoch nickte nur. Sie schien den Schrecken des Vortags überwunden zu haben. »Schlimm, was da passiert ist. Wie kann es sein, dass erwachsene Menschen heutzutage nicht schwimmen können?«

»Nun, sie leben in der Großstadt. Dort –«

»Auch dort gibt es Seen.« Ella schwenkte den Zeigefinger hin und her. Sie trug wie üblich die langen, schwarzen Handschuhe, die die Brandnarben an Händen und Unterarmen verdeckten. »Darin kann man ebenso gut ertrinken wie im Meer.«

»Da hast du recht.«

Tilda und ihre Geschwister hatten schon früh schwimmen gelernt, sogar der kleine Jonas beherrschte es schon meisterhaft. Und wann immer Lilo und ihre Geschwister in Swinemünde waren, stellten sie unter Beweis, dass auch sie es konnten.

Großmama Lina kam aus dem Familiensalon, sah Tilda und lächelte strahlend. »Schön, dass du da bist, meine Liebe. Du kümmerst dich um Urgroßvater Heinrich, während wir fort sind?«

»Ihr geht aus?«, fragte Tilda und schaute von Lina zu Ella.

Beide grinsten geheimnisvoll.

»Wir führen unsere lieben Ehemänner nach Stettin aus, dort hat ein neues Restaurant eröffnet«, sagte Lina dann.

»Und dafür gebt ihr Geld aus?«, entfuhr es Tilda. Schnell korrigierte sie sich. »Ich meine, es sei euch gegönnt, ich wundere mich nur …« Sie sah Ella an.

Die lachte auf. »Du kennst mich gut, Tilly. Aber ja, ab und zu muss es sein, dass wir uns etwas gönnen.« Ihre Miene wurde weich. »Schließlich haben wir mit unseren Männern beide einen großartigen Fang gemacht.«

»Und wir mit unseren Frauen«, erklang es aus Richtung des Büros, das sich hinter dem Rezeptionstresen befand. Schon steckte Großpapa Friedrich den Kopf hervor. »Guten Tag, Tilda. Ich habe Vater eben in den Familiensalon gebracht. Er freut sich schon auf seine jugendliche Gesellschafterin.«

»Dann gehe ich doch gleich zu ihm. Euch vieren viel Freude!«

»Danke, Liebes«, sagte Lina. »Du musst nicht auf uns warten. Wenn Vater müde wird, bringe ihn einfach zu Bett. Małgorzata und Oliwia sind da und werden ein Auge auf ihn und die Gäste haben.«

Als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, trat Erstere aus der Küche und kam strahlend auf Tilda zu. »Ah, kwiatuszku. Da bist du ja.«

»Guten Tag, Tante Gosia.« Tilda musste über den Kosenamen lächeln. Ihre Mutter Rosalie wurde różyczko – kleine Rose – genannt, weshalb es wohl nur natürlich war, dass Tilda als ihre Tochter den KosenamenBlümchen erhalten hatte.

»Geh nur zu Herrn Michelsen«, sagte Tante Gosia. »Ich bringe euch gleich Kaffee.«

»Vielen Dank«, erwiderte Tilda.

Tante Gosia war gar nicht ihre Tante, sondern das frühere Küchenmädchen Małgorzata, das schon beinahe fünfundvierzig Jahre im Dienst der Familie und schon längst mehr Verwandte als Mamsell war. Ebenso verhielt es sich mit Tante Gosias Schwägerin, die von Tilda und ihren Geschwistern nur Tante Olga genannt wurde. Sie und ihr Mann waren die Pächter der Villa, hatten wie Gosia als Hausangestellte angefangen und schnell das Vertrauen und die Freundschaft der Familie gewonnen. Und sie hatten über die Jahre einen Haufen weitere Familienmitglieder in die drei Pensionshäuser mitgebracht.

Die Verhältnisse in Tildas Familie – mit all den falschen Großeltern und Tanten, mit zwei Onkeln, die ein Paar waren und trotzdem Ehefrauen hatten – waren zugegebenermaßen verwirrend, und vermutlich musste man bei den Entwicklungen oder vielmehr Verwicklungen dabei gewesen sein, um das alles richtig zu begreifen.

Tilda störte sich nicht daran. Ihre Familie war eben ganz und gar ungewöhnlich und dadurch besonders. Wieso sollten zum Beispiel nicht eine Reihe von polnischstämmigen Menschen ebenso dazugehören wie sie, Tilda? Schließlich war ihre Mutter nur mit einer einzigen Person aus der Büchner-Familie, die die Pension gegründet hatten, überhaupt blutsverwandt. Und dennoch ließen sie weder Ella und Ludwig Pagels noch Lina und Friedrich Michelsen je spüren, dass sie nicht Tildas wirkliche Großeltern waren.

Es war nicht so, als hätte Tilda keinen leiblichen Großvater besessen. Er war derjenige, der das Band des Blutes zwischen Mutter und ihrer Halbschwester Lore geknüpft hatte – und damit das zwischen Tilda und Lilo. Ihr gemeinsamer Großvater Toni – Antonius Fröhlich mit vollem Namen – ließ sich allerdings höchst selten in Swinemünde blicken, und Tilda hatte nicht das Gefühl, dass irgendjemand sonderlich traurig darüber war … Sie selbst jedoch war es. Sie hätte den Mann gern näher kennengelernt.

Nun aber musste sie sich erst einmal um diejenigen kümmern, die da waren und immer für sie da gewesen waren. Tilda ging zur Tür des Familiensalons und trat ein. »Guten Tag, Urgroßpapa!«, rief sie, damit der alte Herr sie auch hörte.

Er hatte zusammengesunken auf das Schachbrett gestarrt, nun hob er den Kopf, und einen Moment lang lag Verwirrung auf den faltigen Zügen. Dann lächelte er sein zahnloses Lächeln. »Ah, das Fräulein Mathilda. Willkommen. Du bist gekommen, um zu verlieren?« Seine zittrige Hand wies auf das Spielbrett.

Tilda musste lachen. »Das bin ich wohl, Urgroßpapa. Dich schlägt doch niemand.«

»Nur Elfriede«, murmelte er, und seine Stirn wurde noch runzliger. »Wo ist die alte Schachtel eigentlich?«

Tilda brachte es nicht übers Herz, dem Neunzigjährigen, der seit Jahrzehnten »tüdelig« war, wie es im Volksmund hieß, wieder einmal zu erklären, dass seine alte Freundin Elfriede Büchner verstorben war, also lächelte sie nur und fragte: »Möchtest du Kaffee? Tante Gosia bringt uns gleich welchen.«

Der Nachmittag verging wie im Fluge, und nach mehreren Partien Schach, einigem Gekleckere mit Kaffee und einem gerade eben geschafften Toilettengang mit dem alten Herrn musste Tilda feststellen, dass die Unterschiede zwischen Greisen und Kindern doch nicht so groß waren, wie sie gemeint hatte. Dennoch lag es ihr mehr, mit Letzteren umzugehen, denn die Jugend war so viel hoffnungsvoller als das Alter. Alles lag noch vor den Kindern, und Tilda hoffte, ein Teil ihrer Entwicklung zu sein, ebenso sehr bei fremden wie später einmal bei ihren eigenen. Denen von ihr und James …

Ihre Gedanken blieben bei ihm, während sie diesmal geradewegs durch die Stadt zum Dünenschlösschen schlenderte.

Kapitel 4

Pension Dünenschlösschen, Ende August 1913

Tilda

»Ein Brief für dich!«, erklang es hinter ihr. Tilda ließ das Staubtuch auf die Anrichte fallen und fuhr herum. Luzie kam näher und wedelte mit dem Umschlag vor ihrer Nase herum. »Von Lilo natürlich. Was schreibt ihr euch bloß andauernd?«

»Das geht dich nichts an«, entfuhr es Tilda harsch, dann zügelte sie sich. Es war nicht ratsam, ihre Schwester zu reizen. »Gib schon hier«, sagte sie sanfter. Ihr Herz schlug schneller. Ein Brief von Lilo war zugleich ein Brief von James!

»Warum telefoniert ihr nicht einfach, so wie wir jungen Frauen es heutzutage tun?« Luzie rümpfte ihr hübsches Näschen und hielt den Brief weiterhin außerhalb von Tildas Reichweite.

»Du bist keine junge Frau, sondern ein kleines Biest.« Und niemand schaffte es wie sie, Tilda in Wut zu versetzen. »Gib mir meinen Brief.«

Luzie versteckte die Hände mit dem Umschlag hinter dem Rücken. »Was bekomme ich dafür?«

»Keinen Satz heißer Ohren!«

»Du würdest mich nicht schlagen, Tilly. Dazu bist du viel zu brav.«

Wenn du wüsstest, dachte Tilda. Sie ärgerte sich maßlos über sich selbst. Wie hatte ihr entgehen können, dass ihre neugierige Schwester bereits aus der Schule gekommen war? Sie hätte anderenfalls selbstverständlich darauf geachtet, den Briefträger abzufangen.

»Was tust du überhaupt schon hier, Luzie? Es ist noch nicht einmal Mittag. Du hast doch Unterricht.«

Luzie zuckte die Schultern. »Mir war schlecht.« Sie fächelte sich mit Tildas Brief Luft zu und stöhnte theatralisch auf.

Tilda verengte die Augen. Ausgerechnet an diesem Tag musste das Biest wieder einmal krank spielen!

Eine Bewegung lenkte ihren Blick ab, und ehe sie reagieren konnte, war Jonas, der auch eben erst aus der Schule gekommen sein musste, herbeigesprungen und hatte Luzie den Umschlag entrissen. Kichernd rannte ihr jüngster Bruder durch den Raum und rief mit seiner noch hellen Kinderstimme: »Den kriegt keine von euch wieder!«

Sofort war ihm Luzie auf den Fersen, raffte den Rock und stürmte ihm hinterher durch den Familiensalon. Eine Vase geriet ins Schwanken, und Tilda konnte sie gerade noch vor dem Fall bewahren.

»Hört auf, ihr Wilden, und gebt mir mein Schreiben!«, fauchte sie. Sie musste an sich halten, nicht auch noch hinter den beiden herzurennen. Sie war neunzehn, kein Kind mehr, das sich um Spielzeug balgte.

Nur dass das Objekt ihres Kampfes kein schlichtes Spielzeug war, sondern etwas, was unschätzbaren Wert für Tilda hatte.

Als sie sich gerade doch in die Jagd einmischen wollte, erwischte Luzie Jonas am Kragen, zog ihn zurück und griff nach dem Umschlag. Ihr Bruder aber hielt eisern fest, es gab ein Ratschen, und das Papier riss entzwei.

Voller Entsetzen sah Tilda zu, wie ein zweiter, unversehrter Umschlag aus dem ersten fiel und auf dem Boden zwischen ihren Geschwistern landete. Sie sprang vor, doch Luzie trat kräftig mit ihrem Stiefel darauf, wobei sie Jonas’ Finger erwischte, da der Kleine ebenfalls gerade nach dem Umschlag gegriffen hatte. Er heulte auf, und der Klang ging Tilda durch und durch. Wenn sie etwas nicht ertrug, war es das Weinen eines Kindes. Dennoch war sie hin- und hergerissen, aber nur für eine Sekunde. Dann kniete sie sich hin, zog ihren kleinen Bruder in die Arme und strich ihm beruhigend über den Rücken.