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Jessica Weber

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Beschreibung

Swinemünde, Sommer 1870: Zwei Frauen, zwei Träume - eine Entscheidung, die alles verändert.

Die romantische Lina sehnt sich nach der großen Liebe, während ihre zielstrebige Cousine Ella von einer eigenen Pension an der Ostsee träumt. Gemeinsam mit der Großmutter vermieten sie Gästezimmer in ihrem kleinen Haus. Doch als Lina eine leidenschaftliche Affäre eingeht und Ellas Ambitionen von unerwarteten Gefühlen erschüttert werden, geraten ihre Pläne ins Wanken. Zwischen gesellschaftlichen Zwängen, verbotenen Gefühlen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben müssen die beiden Frauen ihren eigenen Weg finden.

Ein bewegender historischer Roman über Liebe, Freundschaft und den Mut, für die eigenen Träume zu kämpfen - vor der malerischen Kulisse der Ostsee.

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Seitenzahl: 572

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchPersonenverzeichnisTitelKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Über die AutorinWeiterere Titel der AutorinLeseprobeImpressum

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Über dieses Buch

Swinemünde, Sommer 1870: Zwei Frauen, zwei Träume - eine Entscheidung, die alles verändert.

Die romantische Lina sehnt sich nach der großen Liebe, während ihre zielstrebige Cousine Ella von einer eigenen Pension an der Ostsee träumt. Gemeinsam mit der Großmutter vermieten sie Gästezimmer in ihrem kleinen Haus. Doch als Lina eine leidenschaftliche Affäre eingeht und Ellas Ambitionen von unerwarteten Gefühlen erschüttert werden, geraten ihre Pläne ins Wanken. Zwischen gesellschaftlichen Zwängen, verbotenen Gefühlen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben müssen die beiden Frauen ihren eigenen Weg finden.

Ein bewegender historischer Roman über Liebe, Freundschaft und den Mut, für die eigenen Träume zu kämpfen - vor der malerischen Kulisse der Ostsee.

Personenverzeichnis

Pension Büchner

Eleonore »Ella« Büchner, geb. 1850

Evelina »Lina« Büchner, geb. 1852

Elfriede Büchner, Ellas und Linas Großmutter, geb. 1810

Małgorzata und Beata, Küchen- und Stubenmädchen

Villa Walther

Georg Walther, geb. 1850

Gustav Walther, geb. 1853

Gregor Walther, geb. 1855

Helga und Wolfgang Walther, ihre Eltern

Claus Lehmann, Bruder von Helga Walther, und seine Ehefrau

Herr Schumann, Koch

Familie Michelsen

Friedrich Michelsen, geb. 1849

Heinrich Michelsen, sein Vater

Heiner und Eberhard, ältere Söhne

Weitere Personen

Ludwig Pagels, geb. 1847

Antonius »Toni« Fröhlich, geb. 1846

IM STURM DER ZEITEN

Kapitel 1

Ostseebad Swinemünde, Pension Büchner, Anfang Juli 1870

Lina

Fröhliches Lachen lenkte Linas Blick hinaus auf die Straße, und sie trat näher ans Fenster heran. Die junge Frau, die gerade vorbeiging, hatte eindeutig ein Bad genommen. Und nicht etwa in einem der örtlichen Kalt- oder Warmbadehäuser, in denen Meerwasser in Wannen bereitgestellt wurde.

Nein, sie hatte direkt im Meer gebadet, das war unverkennbar. In ihrem feuchten, zerzausten offenen Haar hing noch ein Stück dunkelgrünes Seegras, ihre Wangen waren gerötet, und sie strahlte über das ganze Gesicht. Unter dem Saum ihres modischen Tageskleides schauten bei jedem Schritt nackte, sandige Füße hervor, und sie trug ein kleines Netz voller Muscheln und Steine in der einen und ihren blumengeschmückten Hut in der anderen Hand.

Sie sah so gesund und glücklich aus mit der frischen Gesichtsfarbe und der fröhlichen Miene, dass Lina einfach mit der jungen Frau mitlächeln musste. Zum Glück ging es auch deren Mutter so, die ihr entgegengekommen war und gerade noch ausgesehen hatte, als wollte sie die Tochter schelten, jetzt aber in deren Lachen einstimmte und ihr vorsichtig das Seegras aus dem Haar zupfte.

Die Familie kam aus Berlin wie so viele der Urlaubsgäste hier in ihrem schönen Ostseebad Swinemünde, das wusste Lina, denn die drei hatten sich bei den Walthers nebenan eingemietet. In ihrer Heimatstadt hätte die Aufmachung der jungen Frau als unschicklich gegolten, hier aber wurde sie hingenommen und milde belächelt, zumindest wenn es um die Urlauberinnen ging.

Lina nahm sich vor, auch bald einmal wieder ins Meer zu hüpfen, den weichen Sand unter den Fußsohlen zu spüren, den Wind im offenen Haar und das Prickeln des eisigen Ostseewassers auf der Haut, tief den frischen, salzigen Geruch einzuatmen …

»Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?«

»Hm?« Verwirrt riss sich Lina vom Anblick der Urlauberinnen los und sah erst zu ihrer Cousine hinüber, dann hinab auf die Serviette, die sie hatte elegant auf einen Teller drapieren wollen. Stattdessen hatte sie das blütenweiße Stoffstück immer wieder in der Mitte gefaltet, bis es nun als winziges Rechteck in ihren Händen lag. Rasch schlug sie es aus, ging zurück zum Tisch und begann von vorn.

»Die kannst du nicht mehr verwenden, sie hat jetzt Knicke.« Ella nahm ihr die Serviette aus der Hand. »Meinst du, im Drei Kronen bekommen die Gäste verknitterte Servietten auf die Frühstücksteller gelegt?«

Lina nahm ein neues Tuch aus ihrem Körbchen. »Wir sind hier nicht im Drei Kronen.«

Ihre Cousine ließ das Argument nicht gelten. »Selbst bei Walthers würde so eine Schlampigkeit nicht vorkommen.«

Dass auch die Villa Walther nebenan in eine ganz andere Kategorie fiel als ihr eigenes Haus mit den gerade mal drei Fremdenzimmern, sprach Lina nicht aus. Es war schließlich gut, dass Ella nach Höherem strebte. Also nahm Lina die Schelte schweigend hin und hoffte, dass die Cousine das andere Thema fallen lassen würde.

Sie tat es nicht.

»Du hast geträumt, gib es zu. Wieder mal vom Theater?« Ellas Stimme klang verständnislos.

»Nein, ich –«

Ella schnalzte mit der Zunge. »Dass du dich von diesen Märchen ablenken lässt, während wir hier so viel Arbeit haben …«

»Ich erledige meine Arbeit doch, bevor ich gehe«, rief Lina lauter als beabsichtigt.

»Psst!« Ella hob prompt einen Finger an die Lippen. »Denk an die Gäste.«

Die Gäste, das waren zurzeit ein schwerhöriger ehemaliger Offizier und seine Gattin, ein frisch verheiratetes, sehr verliebtes Ehepaar aus Stettin, das nur Augen füreinander hatte, sowie ein junger, allein reisender Landschaftsmaler, der, sehr zum Ärger von Großmutter Elfriede, erst spät in der Nacht ins Haus zurückgekommen war und vermutlich noch tief und fest schlief. Sie alle würden sich gewiss nicht an einem etwas lauter gesprochenen Satz stören, aber Lina senkte dennoch die Stimme. »Großmama hat erlaubt, dass ich mir das Bühnenwerk ansehe.«

Ella verdrehte die funkelnden schwarzen Augen, musste dann jedoch lachen. »Das sogenannte ›Bühnenwerk‹ ist ein Rührstück um Liebe und Tod, wenn ich mir die Plakate so ansehe. Außerdem ist die Zeit der Wandertheater doch schon längst vorbei, jetzt, wo es überall Theaterhäuser gibt.« Sie erhob gespielt schulmeisterlich den Zeigefinger und wackelte damit hin und her. »Die wurden übrigens gegründet, weil es bei den herumreisenden Truppen an moralischem Verhalten fehlt.«

»Das ist ein gemeines Vorurteil!«

»Psst!«, machte Ella erneut. »Wie dem auch sei: Diese Truppen sind Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert.«

»Aber es gibt sie noch, und die Menschen lieben sie.«

»Wir müssen jedoch auf den Ruf unserer Pension achten, Lina. Sie sichert unser aller Lebensunterhalt. Was, wenn dich zum Beispiel Herr Offizier a. D. Bardenhöfer dort sieht?«

»Der reist doch heute Mittag ab. Und überhaupt: Wer mich dort sieht, ist ja selbst dort.«

Ella hob zu einer Antwort an, dann aber seufzte sie resigniert und grinste. »Dieser umwerfenden Logik kann ich wohl kaum widersprechen.« Gleich darauf wurde ihre Miene ernst. »Pass nur auf dich auf, ja?«, sagte sie eindringlich.

»Tu ich doch immer«, beteuerte Lina. Sie liebte Ella dafür, dass diese sie seit jeher stets beschützen wollte, aber die Cousine war nur zwei Jahre älter als sie selbst und übertrieb es manchmal schlicht mit ihrer Fürsorge. Lina war nicht mehr das siebenjährige Waisenkind, und Ella hatte ihre Eltern schließlich genauso verloren wie sie. »Wobei es dort ja gar nichts gibt, weswegen ich auf mich aufpassen müsste.«

Ella schüttelte mit milde verzweifelter Miene den Kopf, dann fuhr sie fort, die frischen Blumen in den Vasen auf der Fensterbank zurechtzurücken und nicht vorhandene Flecken von Gläsern zu polieren.

Linas Gedanken wanderten zu der Theatergruppe. Auch sie hatte die Plakate gesehen, die vor ein paar Tagen aufgehängt worden waren. Seither konnte sie an kaum etwas anderes mehr denken. Sie liebte Aufführungen und sah sich sogar gern die Puppentheaterstücke für Kinder und die Darbietungen der reisenden Tanzgruppen an, die in den Sommermonaten in die Seebäder an der Ostsee kamen, um die Feriengäste zu unterhalten. Ein echtes Schauspiel war jedoch etwas Besonderes, selbst wenn es nicht in einem Theater oder im Gesellschaftshaus am östlichen Rand der Stadt aufgeführt wurde, sondern auf einer provisorischen Holzbühne auf dem Kleinen Markt.

Würden sie eine farbenfrohe Kulisse als Hintergrund aufbauen? Ob die Damen prächtige Gewänder tragen würden? Und wer spielte den jugendlichen Liebhaber? Würde er so gut aussehend sein wie die Zeichnung von ihm auf den Plakaten?

Ein sanfter Knuff gegen die Schulter riss sie erneut aus ihren Gedanken.

Ella grinste sie an. »Bei dir ist Hopfen und Malz verloren, meine kleine Träumerin.« Sie seufzte gespielt schwer. »Zum Glück hat eine von uns beiden Großmamas Geschäftssinn geerbt. Ich werde schon für dich sorgen, während du deinen Fantastereien nachhängst. Aber ein bisschen Hilfe brauche ich von dir. Ich kann nicht alles allein machen.«

Lina fand, dass sie genug half, doch sie sparte sich die Entgegnung und machte sich auf in die Küche, um zu schauen, wie weit das Frühstück war, und um Małgorzata, falls nötig, zur Hand zu gehen.

Das Küchenmädchen mit den um den Kopf gewundenen blonden Flechtzöpfen und der blütenweißen Haube, die keck darauf thronte, ohne es zu verbergen, schnitt gerade dicke Scheiben von einem großen, knusprigen Laib Brot ab und legte sie in den Korb, während sie ein polnisches Lied vor sich hin trällerte. Die meisten Städter bevorzugten weiches, helles Brot, und die hiesigen Bäcker hatten ihre Produkte nach und nach dem Geschmack der Urlauber angepasst, aber die Bardenhöfers mochten kräftiges, dunkles Brot, also bekamen sie es. Jeder erhielt in der Pension Büchner das, was er am liebsten mochte, das war Ella sehr wichtig.

Auf dem Herd brodelte das Wasser für den Kaffee, und Lina goss es rasch in die Kanne. Was wohl die Schauspieler zum Frühstück aßen und wie sie es zubereiteten? Auf einem Lagerfeuer? Das musste schrecklich mühselig sein. Und erst die Wäsche …

Lina war froh gewesen, als die Pension endlich genug abgeworfen hatte, dass sie anfangen konnten, die Bettbezüge, Handtücher und Tischdecken in die Neue Straße zur Wäscherin und Plätterin zu bringen. Mittlerweile ließen sie sogar ihre Kleidung reinigen. Ob die Schauspieler genug verdienten, um es auch so zu halten, oder mussten sie erst mühsam auf dem Feuer Wasser erhitzen, um zu waschen?

Auch wenn sie sich das Leben auf der Reise hart vorstellte – war es nicht dennoch romantisch? Das Gemeinschaftsgefühl in so einer Truppe musste doch etwas ganz Besonderes sein. Betrachteten sie einander gar als Familie? Wie war es wohl, mehr Angehörige als nur zwei weitere Personen zu haben …

Linas und Ellas Eltern waren schon lange tot. Seit Lina denken konnte, gab es in ihrem Leben nur Ella und die verwitwete Großmutter. Das Büchner-Frauen-Trio, wie sie sich gern bezeichneten, das sich gemeinsam und ohne jede Hilfe durch die kleinen und großen Stürme des Lebens kämpfen musste. So gut sich Ella mit ihrem scharfen Geschäftssinn um die Pension kümmerte und so innig Lina sie und die manchmal griesgrämige Großmutter Elfriede liebte – die Sehnsucht nach weiteren Menschen, die zu ihr gehörten, blieb …

Schritte auf der Treppe kündeten vom baldigen Eintreffen der Gäste zum Frühstück, und Lina trat aus der Küche zurück in die Diele. Schon stand Herr Offizier a. D. Bardenhöfer vor ihr und salutierte zackig.

Seine Frau rollte mit den Augen, lächelte und sagte: »Guten Morgen, Fräulein Büchner.«

Ella kam aus dem Speisezimmer und begrüßte die Herrschaften überschwänglich, und auch Lina lächelte sie freundlich an, obwohl sie mit den Gedanken immer noch bei der Schauspieltruppe war. Sie brannte darauf, mehr über sie herauszufinden – und noch viel mehr darauf, das Stück zu sehen.

»Kommen Sie, Herr Offizier«, sagte Ella mit lauterer Stimme als gewöhnlich und wies mit ausladender Handbewegung ins Speisezimmer. »Es ist alles für Sie vorbereitet. Die Dame … bitte sehr.«

»Na, dann wollen wir mal«, sagte der Mann, der es sich nicht nehmen ließ, stets in seiner alten blauen Uniformjacke mit blank polierten goldenen Knöpfen aufzutreten. Lina war froh, dass er nicht auch noch eine Pistole am Gürtel trug. »Obwohl es mir nicht richtig erscheint, dass ich müßig am Frühstückstisch sitze, während sich meine Kameraden auf den Krieg vorbereiten, der sich abzeichnet. Hach, ich hätte größte Lust, mich daran zu beteiligen, diesem anmaßenden Franzosen die Meinung zu geigen.«

»Karl-Hermann!«, mahnte seine Gattin, doch der Herr Offizier ließ sich nicht bremsen. Vielleicht hatte er sie aber auch gar nicht gehört.

»Diese Witzfigur von einem Kaiser, der sich wünscht, er wäre der Napoleon, aber an diesen seinen Onkel reicht er bei Weitem nicht heran«, ereiferte sich der Mann lautstark. »Der war im Übrigen gar nicht so klein, wie ihm nachgesagt wird.«

»Du tust, als hättest du Monsieur Bonaparte persönlich gekannt«, stichelte Frau Bardenhöfer und schob ihren Mann vorwärts. »Nun geh schon hinein, ich habe Kaffeedurst.«

Er kam ihrer Aufforderung tatsächlich nach, sprach aber weiter. »Ich wünschte, ich könnte noch in den Krieg ziehen. Ach, was sage ich da? Natürlich könnte ich! Ich wünschte, man würde mich lassen.«

Die Offiziersgattin warf Lina und Ella über die Schulter einen Blick zu, in dem sich Verärgerung und Amüsement die Waage hielten. »Karl-Hermann, wir sind alt«, sagte sie spitz. »Gewöhne dich an den Gedanken.«

»Du bist vielleicht alt«, klang es dumpf aus der Tiefe des Speisezimmers. »Ich bin es noch längst nicht!«

»Jetzt wird er auch noch frech.« Die Dame verdrehte erneut die Augen und lachte auf, und Lina musste kichern. So streng, wie der Offizier a. D. nach außen wirkte mit seiner Uniform und der aufrechten Haltung, ging es in seiner Ehe offenbar nicht zu.

Die Dame folgte ihrem Mann, und nun klang auch ihre Stimme dumpfer, als sie ihn ausschimpfte. »Bei jedem neuen Kriegsausbruch schwingst du diese Reden! Vierundsechzig, Sechsundsechzig und nun schon wieder, obwohl noch gar kein Krieg erklärt wurde. Du willst also in die Schlacht ziehen, so sich eine bietet? Und ich soll noch einmal, so wie Achtundvierzig, wochenlang keine ruhige Minute haben?«

»Schon gut, ich gehe ja nicht.« Der Offizier a. D. schnaubte. »Aber ich könnte!«

Lina fing Ellas Blick auf. Auch die Mundwinkel der Cousine zuckten, obwohl sie es sich niemals erlauben würde, über Gäste zu lachen. Lina aber konnte nicht anders, als breit zu grinsen. Die Streitigkeiten des Ehepaars waren ein nettes kleines Schauspiel gewesen.

Schauspiel … Unabsichtlich wanderten ihre Gedanken erneut zu dem Theaterstück, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie konnte es kaum noch erwarten.

Ein Räuspern erklang direkt vor ihr, und erschrocken richtete sie ihren Blick auf Ella, die mit in die Hüfte gestützten Händen vor ihr stand und die Augenbrauen hochzog.

»Ich sehe schon, wo deine Gedanken wieder einmal sind«, sagte sie. »In die Küche mit dir! Sieh zu, dass Małgorzata keinen Unfug macht und dass das Frühstück für die Eheleute Reimers und für Herrn Frahm fertig ist, wenn sie herunterkommen. Ich muss Beata beaufsichtigen und ihr helfen, damit das Zimmer der Bardenhöfers auch ja ordentlich aufgeräumt ist, wenn sie zurückkommen. Gestern war das törichte Ding nicht mit der Arbeit fertig, als die beiden vom Frühstück wieder nach oben gekommen sind.«

»Sie sind doch sowieso höchstens noch ein paar Stunden im Zimmer, ehe sie abreisen«, gab Lina zu bedenken. »Ich verstehe nicht, dass wir uns die Arbeit machen müssen, nur um sie nach kurzer Zeit noch einmal zu tun. Es reicht doch, das Bett grob zu machen. Warum muss es faltenfrei sein? Es wird ja sowieso für die neuen Gäste frisch bezogen.«

»Und wenn sie nach dem Frühstück noch eine Stunde ruhen möchten? Sollen sie sich ins ungemachte Bett legen?« Ella schüttelte den Kopf. »Denkst du, so gehen sie im Drei Kronen mit den Gästen um?«

Lina war ziemlich sicher, dass die Besitzer des Drei Kronen – und aller anderen Gasthäuser – ihre Angestellten keine so überflüssigen Arbeiten verrichten ließen wie das faltenfreie Zurechtmachen eines Bettes, das eine Stunde später abgezogen wurde. Zumal es bis vor Kurzem nicht einmal üblich gewesen war, dass die Gäste Bettzeug erhielten. Noch vor wenigen Jahren hatten die Leute ihre Bettwäsche, Kissen und Decken mitgebracht.

Es hätte allerdings zu nichts geführt, mit ihrer Cousine über diese Angelegenheit zu diskutieren. Ella hatte ihre eigenen Vorstellungen, gegen die Lina nicht ankam. Zumal Großmutter Elfriede der Cousine meistens zustimmte. Also seufzte sie leise, lächelte Ella wortlos an und ging zurück in die Küche.

Kapitel 2

Ella

Ella trat auf die Straße und atmete tief durch. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Die erste Herausforderung eines jeden Tages hatten Lina und sie gemeinsam mit Małgorzata wieder einmal gemeistert. Das Frühstück war ohne Zwischenfälle zu Ende gegangen – die Eier waren zur Zufriedenheit gebraten gewesen, das eine Brot knusprig genug für den Geschmack der Bardenhöfers, das andere weich genug für die Reimers und Herrn Frahm, und auch der Kaffee hatte allen geschmeckt.

Małgorzata hatte ordentlich dazugelernt, seit sie im Frühling zu ihnen gekommen war, fand Ella. Es ging kaum noch etwas zu Bruch oder brannte an. Und doch … Wenn sie sich nur einen Koch leisten könnten! Und ein Küchenmädchen mit Erfahrung, nicht nur die junge Polin, die über die nötigsten Floskeln hinaus kaum ein Wort Deutsch sprach. Daher war eine Verständigung mit ihr oftmals schwierig.

Eine Kutsche rumpelte über das Straßenpflaster an ihr vorbei und versperrte kurz den Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile mit den Geschäften im Erdgeschoss und den darüberliegenden Wohnungen. Ella sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke gebogen war, dann wurde ihre Aufmerksamkeit von einigen kichernden Damen auf sich gezogen, die auf dem Weg in das Konfektionsgeschäft an der Ecke waren.

Bunte Markisen zierten die Eingänge der Läden in der Lindenstraße, sie bewegten sich leicht in der Brise, die von der Ostsee her wehte, genau wie die Äste der Bäume, die hier und da die Straße säumten. Alles sah so friedlich aus. Über Swinemünde lagen oft genug der Lärm und der Qualm der Dampfschiffe und besonders im Sommer der Geruch nach Unrat, aber meist wurde das alles vom Seewind rasch weggeblasen. Zurück blieben frische, salzige Luft, der würzige Duft des Meeres und das Geschrei von Möwen.

Ellas Blick schweifte zu dem Haus in der Reihe neben ihrem eigenen – der Villa Walther. Ein Torbogen, der Durchgang zum gemeinsamen Hof, trennte die beiden Gebäude. Das Haus war doppelt so breit wie ihres und bis obenhin ausgebaut, sodass die Gäste im obersten Stockwerk sogar trotz der dazwischenliegenden Gebäude einen Blick aufs Wasser erhaschen konnten. Auf den ruhigen Meeresarm namens Swine, nach dem die Stadt Swinemünde benannt war, und die Schiffe, die darauf verkehrten. Auf die mächtigen Frachtsegler und die Dampfer aus Stettin, die am Bollwerk anlegten und Urlauber ausspuckten.

Die Swine war die Verbindung zwischen dem Stettiner Haff und der Ostsee, und die Dampferfahrt war in Ermangelung einer Bahnanbindung für viele Gäste der schnellste Weg in die Stadt. Ella selbst war noch nie verreist, und es zog sie auch nicht fort. Darin unterschied sie sich gewaltig von ihrer verstorbenen Mutter, und das war gut so. Sie hatte hier in ihrer hübschen, überschaubaren Heimatstadt an der Ostseeküste alles, was sie zum Glücklichsein brauchte: ein Zuhause, ihre Familie und ihre Arbeit. Diese Arbeit, mit der sie dazu beitrug, die spärlichen Urlaubswochen der Großstadtbewohner angenehm zu gestalten, ihnen bequemere, ruhigere Tage abseits aller Hektik zu ermöglichen.

Bei ihnen bekamen sie köstliche Fischgerichte serviert und brauchten nichts zu tun, als sich zu überlegen, ob sie sich die Sonne in der Plantage oder am Strand ins Gesicht scheinen lassen und ob sie bei Regen in einem Wannenbad planschen oder im Salon sitzen und bei einer Tasse Kaffee Karten spielen wollten.

Ella spähte zum linken Erdgeschossfenster der Nachbarpension, hinter dem der Gästesalon der Villa Walther lag. Er bot ungleich mehr Platz für Zerstreuung als der ihre. Obwohl das Haus bereits die fünfköpfige Besitzerfamilie beherbergte, verfügte es über neun Fremdenzimmer, dreimal so viele wie ihres, die Pension Büchner. Aus diesem Grund arbeiteten in der Villa Walther selbstverständlich viel mehr Angestellte, sogar ein Koch und eine Mamsell, nicht wie bei ihnen neben der Küchenhelferin nur ein Stubenmädchen, das putzte und die Nachtgeschirre leerte und die meiste Zeit so tat, als könnte sie nicht bis drei zählen.

Noch einmal sog Ella tief die Sommerluft ein, die noch eine Spur des Regens vom Vorabend trug, aber schon von der zu erwartenden Mittagshitze kündete. Dann entließ sie sie mit einem tiefen Seufzer, während sie sich wieder zur Eingangstür ihres eigenen Hauses umwandte, das zwar nicht so breit und eindrucksvoll war wie die Villa Walther, aber mit der hübsch geweißten Fassade und den Stuckverzierungen über den Bogenfenstern und am Türsturz dennoch einiges hermachte.

Unter Letzterem stand Großmutter Elfriede und betrachtete Ella. »Na, quält dich der Neid?« Das von feinen Fältchen durchzogene Gesicht der Sechzigjährigen verzog sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Es ist doch nicht gleich Neid, wenn man sich wünscht, das Gleiche zu haben wie die Nachbarn«, erwiderte Ella fest. »Neid wäre es, wenn ich es ihnen nicht gönnen würde.« Dabei war es, wenn Ella ehrlich zu sich selbst war, sehr wohl ein Anflug von Neid, der sich in ihren Ehrgeiz mischte, auch einmal ein Haus zu besitzen, das so vielen Gästen Platz bot. Es war Ellas großer Traum. Alles, wonach sie sich im Leben sehnte, abgesehen davon, für ihre Familie sorgen zu können. Und das eine schien ihr ohne das andere nicht möglich. »Ich bin ja auch bereit, dafür zu arbeiten. Nur …«

»Nur?«

Ella wies erst auf die Villa Walther, dann auf die Pension Büchner. »Wenn die Voraussetzungen nicht stimmen, können wir uns krummlegen, wie wir wollen. Ich wünschte, Großvater hätte ein größeres Haus gekauft. Oder zumindest das zweite Geschoss ausgebaut. So viel ungenutzter Raum und nicht einmal eine ordentliche Treppe nach oben. Ich wünschte …«

»Dein Großvater war Kapitän und Lotse, kein Pensionswirt«, fiel ihr Großmutter streng ins Wort. »Für unsere Familie hatte dieses Haus mit dem Erdgeschoss und dem ersten Stock reichlich Zimmer. Uns waren ja nur die beiden Söhne vergönnt.« Die Falten um ihren Mund vertieften sich, wie immer, wenn sie von Ellas und Linas Vätern sprach. Als Großmutter fortfuhr, klang ihre Stimme rau. »Und kaum waren sie erwachsen, haben sie unser ›langweiliges‹ Swinemünde umgehend verlassen. Ja, wenn sie geblieben wären, euch Mädchen hier aufgezogen hätten, aber sie haben euch ja lieber von hier nach dort geschleift, euch Kinderfrauen und Dienstmädchen überlas–« Sie unterbrach sich. »Aber das weißt du ja alles«, murmelte sie. »Also hör auf, deinem Großvater Vorwürfe zu machen, Kind. Es bestand einfach keine Notwendigkeit, weitere Räume auszubauen, und er hat sicherlich nicht damit gerechnet, dass sein Haus einmal von Fremden bevölkert werden würde.«

Sie presste kurz die Lippen zusammen.

»Und ich habe nicht damit gerechnet, dass sowohl er als auch unsere missratenen Söhne mich einmal dazu zwingen würden, in meinem Alter noch Geld zu verdienen.«

Ella hätte entgegnen können, dass weder ihre noch Linas Eltern absichtlich jung gestorben waren und auch Großvater sicherlich nicht geplant hatte, vor der Zeit zu versterben, aber sie sparte sich die Worte. Sie würden nur wieder eine Tirade über die Unzuverlässigkeit von Männern im Allgemeinen nach sich ziehen und darüber, dass die drei in ihrer Familie ihr Unglück selbst über sich gebracht hatten. Dabei wusste Ella nicht einmal, wieso dies auf Großvater zutreffen sollte, denn über die Umstände seines Todes schwieg sich Großmutter Elfriede eisern aus. Jedenfalls hatte Ella diesen Sermon oft genug gehört.

Allerdings war es nicht so, dass Ella Großmutter widersprochen hätte, was deren Meinung von Männern anging. Sie selbst hätte auf die meisten von ihnen ebenfalls gut verzichten können.

»Du bist nicht alt, Großmama, und Lina und ich helfen dir ja beim Geldverdienen«, erwiderte sie stattdessen. Dies brachte einen anderen Gedanken zurück, den sie beiseitegeschoben hatte. »Sag mal, warum lässt du Lina eigentlich zu der Schauspielertruppe gehen? Du bist doch sonst so besorgt darum, dass kein schlechtes Licht auf uns und die Pension fällt. Einen guten Ruf hat eine solche Aufführung nicht.« Ella fühlte sich ein wenig unwohl dabei, in dieser Sache Großmutters Hilfe zu suchen, da sie Lina selbst nicht hatte überzeugen können, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Auch wenn die Cousine im Grunde recht hatte und es keinen echten Anlass gab, sich wegen des Schauspiels zu sorgen. »Ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei, wenn sie hingeht.«

Großmutter hob die Schultern. »Jeder, der unsere Lina kennt, weiß, dass sie anständig ist und nur wegen der Geschichten dorthin geht, nicht wegen der vielleicht flatterhaften Leute dort. Lass ihr also doch die kleine Freude, sie ist so ein braves Mädchen.«

»Ach, im Gegensatz zu mir?« Ein Kloß stieg in Ellas Kehle auf und ließ ihre Stimme hohl klingen.

Großmutter schüttelte leicht den Kopf. »Du weißt, was ich meine. Außerdem hast du ja keine Wünsche, die nichts mit der Arbeit zu tun haben.«

»Trotzdem könntest du mir die meinen auch erfüllen. Ordentliches Personal, mehr Zimmer im zweiten Stock … Wir müssen investieren, um erfolgreicher zu werden, Großmama.«

Großmutter seufzte. »Wir haben doch unser Auskommen und ein angenehmes Leben. Dazu ein wenig Geld für Notfälle. Wozu Unsummen für einen Umbau ausgeben in der vagen Hoffnung, dadurch irgendwann einmal mehr einzunehmen? Nein, du solltest deine Vergrößerungsbestrebungen in eine andere Richtung lenken.« Sie nickte in Richtung der Pension nebenan und zwinkerte ihr vielsagend zu. »Bis dahin wäre es schön, wenn du auch einmal zufrieden wärst mit dem, was wir haben. So wie Lina.«

Ella schwieg bedrückt. Sie wusste, Großmutter hatte Lina lieber als sie. Weil sie die Tochter des »anständigeren« ihrer beiden Söhne war. Desjenigen, der nicht die Frau mit der unbekannten Herkunft, dem dunkleren Teint und den wilden Locken geheiratet hatte. Ihre verfluchte Mutter, deren Ruhelosigkeit und Freiheitsdrang beide Elternpaare gemeinsam in den Tod getrieben hatte. Jedenfalls war es das, was Großmutter dachte, auch wenn sie es nicht aussprach.

Ihrer Mutter wegen hielt Ella ihre schwer zu bändigenden schwarzen Haare kinnlang, glättete und kämmte sie straff an den Kopf und kleidete sich ganz besonders sittsam. Sie hätte sich kaum stärker von Lina mit ihrem blonden, glatten Haar und dem hellen Teint unterscheiden können …

Großmutter Elfriede schaute zum Himmel auf. »Sieht aus, als hätte unsere Kleine Glück mit dem Wetter. Aufführungen unter freiem Himmel bergen ja immer ein gewisses Risiko.« Dann wandte sie sich ab und kehrte ins Haus zurück.

Unsere Kleine … Lina war nur knappe eineinhalb Jahre jünger als Ella, aber weil sie so ein zartes, blasses Püppchen, stets so umgänglich und mit allem zufrieden war, war sie von Anfang an die Kleine gewesen und würde es bleiben, während Ella von Großmutter schon im Alter von neun Jahren wie eine Erwachsene behandelt worden war. Doch oft genug ertappte sich Ella selbst dabei, in Lina noch das liebe, verträumte Kind zu sehen, und sie liebte sie von ganzem Herzen und hätte alles getan, um sie zu beschützen.

Nur war Lina kein Kind mehr. Verträumt allerdings war sie, mit ihren Skizzen, den romantischen Gedichten und den gepressten Blüten, die sie in ihr hellblau eingebundenes Büchlein mit den zartrosa Seiten klebte. Mit ihren schon vollkommen zerlesenen Romanen über die Liebe und ihrem Faible für Rührstücke. Und das war Ellas Meinung nach ein Risiko, das viel schwerer wog als das, von einem Regenschauer überrascht zu werden.

»Hoffentlich bekommst du nicht noch die Quittung dafür, dass du ihr die Zügel so schleifen lässt«, murmelte Ella, während sie Großmutter besorgt hinterherblickte.

»Deine Cousine ist kein Pferd, Ella«, erklang eine belustigte Stimme schräg hinter ihr.

»Und du bist keine Eule, Georg, und doch scheinst du die lautlose Bewegung und das gute Gehör mit einem solchen Nachtvogel gemein zu haben.« Ella drehte sich um und stemmte die Hände in die Seiten. »Warum pirschst du dich so an mich heran und lauschst meinen Gesprächen?«

Georg lachte. »Mir war langweilig. Da wollte ich nach meinen hübschen Nachbarinnen sehen.«

»Die hübscheste ist gerade wieder ins Haus gegangen.« Ella zog einen Mundwinkel hoch.

Er lachte noch lauter und schwenkte den Zeigefinger vor ihrer Nase. »Nicht so respektlos, liebste Eleonore. Ich bin sicher, Frau Büchner senior war früher eine wahre Schönheit. Und sie sieht auch jetzt noch sehr gut aus.«

Das tat sie wirklich mit ihrem sorgfältig aufgesteckten grauen Haar, das noch immer dicht und kräftig war, und der modischen Kleidung, die so gar nichts von einem alten Mütterchen hatte, als das sich viele Gleichaltrige gaben. Elfriede Büchner hätte leicht als Linas und Ellas Mutter durchgehen können, und viele Gäste der Pension hielten sie auch tatsächlich dafür.

»Mal ehrlich, Ella«, fuhr Georg fort. »Was wirfst du deiner Großmutter vor? Oder vielmehr: Was befürchtest du, was deine Cousine anstellen wird, wenn man ihr ›die Zügel schleifen lässt‹?«

Ella setzte ein Lächeln auf, von dem sie hoffte, dass es unbeschwert wirkte. »Ach, nichts.« Sie wollte sich Georg gegenüber ihre Sorgen auf keinen Fall anmerken lassen. Er und seine Familie waren die Allerletzten, die wissen sollten, wenn in dem Frauenhaushalt nebenan etwas nicht stimmte. Wie schnell sich Gerüchte nicht nur unter der einheimischen Bevölkerung, sondern auch unter den Gästen verbreiteten, war ihr nur allzu bekannt, und im Nachbarhaus gingen zahlreiche Menschen ein und aus.

Und sie wusste ja auch selbst nicht, was genau sie befürchtete. Dass sich Lina immer stärker in ihren Traumwelten verlor? Dass sie sich noch weiter von ihnen – von ihr – entfernte? War es wirklich nur die Sorge um Lina und den Ruf der Pension, oder waren es in Wahrheit egoistischere Motive, die sie, Ella, bewegten? Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe.

Sie betrachtete den jungen Mann, der mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Lächeln auf den Lippen vor ihr stand, und sah ihm an, dass er ihr die Unbeschwertheit nicht abnahm. Was er ihr mit seinen nächsten Worten auch bewies.

»Du siehst nicht aus, als wäre nichts.« Georg wies auf ihr Gesicht. »Wie immer ist es schwer, in deinen Zügen zu lesen, aber dass irgendetwas nicht stimmt, sähe sogar ein Blinder.« Er legte ihr die Hand auf den Arm, seine Miene wurde ernst. »Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

Er war nicht viel größer als sie, also musste sie nur ein winziges Stück zu ihm aufsehen. Trotzdem erschien es ihr wie eine beinahe unlösbare Aufgabe. »Das weiß ich. Danke, Georg.« Dann endlich kam ihr die Idee, wie sie das Thema beenden konnte. »Aber hier handelt es sich um Frauendinge, die ich unmöglich mit dir besprechen kann.« Es war das eine Argument, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Es gab nur eine Frau in der Familie Walther, und das war Georgs Mutter Helga. »Nur so viel: Sei froh, dass du bloß Brüder hast.«

Seine Finger bewegten sich federleicht auf ihrem Arm, nur ein sanftes Streicheln, schicklich genug für die offene Straße, doch die Berührung schien sie selbst durch den festen Stoff ihres Ärmels zu verbrennen. Nicht vor Leidenschaft, sondern weil sie ihr so unangenehm war.

Georg war keiner der Männer, auf die sie hätte verzichten können. Sie hatte ihn gern. Er war witzig, gut aussehend, loyal und hilfsbereit. Hätte sie sich einen Mann zum Bruder aussuchen dürfen, so wäre es Georg gewesen.

Und genau da lag das Problem. Obwohl er keine Schwester hatte, war er eindeutig nicht auf der Suche nach einer. Jedenfalls sah er offensichtlich nicht sie für diese Rolle vor, das war sonnenklar, wenn man sein Verhalten in den letzten Jahren bedachte.

Ella hätte seine Hand am liebsten weggeschoben, doch sie wollte ihn nicht verletzen. Warum nur hatte er ausgerechnet an ihr, Ella, einen Narren gefressen und nicht an Lina, die sich über romantische Liebesschwüre und Aufmerksamkeiten gefreut hätte? Das wäre wohl zu schön gewesen, um wahr zu sein. Immerhin war er der Älteste der drei Söhne und der designierte Erbe, und es war keine schlechte Aussicht, in die Familie Walther einzuheiraten. Lina hätte ein Auskommen, und Ella müsste sich nicht mehr um sie sorgen.

Aber nein, offenbar musste sie selbst es sein, der diese Rolle zukam, wenn es nach Georg ging. Und so ungern Ella es zugab: Die Nachbarpension lag ihr wie ein schmackhafter Köder tagtäglich vor Augen. Beide Häuser zusammen als eine große Pension zu führen – das verhieße Sicherheit, Wohlstand und Erfolg. Wobei die Villa Walther beides bereits besaß …

Das Haus Büchner hingegen hatte in diese Beziehung wenig mehr einzubringen als einige schöne Räumlichkeiten, ein paar Stammgäste und drei fleißige Frauen, die sich für kaum eine Arbeit zu schade waren. Eine Vergrößerung war immer gut, auch für die Walthers, doch es wären Ella und ihre Familie, die stärker profitieren würden.

Großmutter Elfriede hatte Anfang des Jahres bereits ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert. Was, wenn sie bald nicht mehr arbeiten konnte? Und Lina … Sie tat, was ihr aufgetragen wurde, aber das war auch schon alles. Was, wenn Lina irgendwann allein zurückbleiben würde? Wie schnell Unfälle passieren konnten, hatte man ja an ihren Eltern gesehen. Ein gebrochenes Kutschenrad, ein Abhang – vier Leben auf einen Schlag ausgelöscht. Eine ganze Familie, die binnen Sekunden nur noch aus einer alten Frau und zwei kleinen Mädchen bestanden hatte. Hätte Großmutter nicht dieses Haus und ein wenig Geld besessen, hätten sie auf der Straße gestanden, denn ihre Eltern hatten nicht vorgesorgt, sondern in den Tag hineingelebt. Allesamt Träumer, genau wie Lina.

Es war also an Ella, für alle Eventualitäten vorzusorgen. Und in eine begüterte Familie einzuheiraten, wäre eine gute Möglichkeit, genau dies zu tun.

Wenn nur nicht sie selbst es hätte sein müssen, die diese Ehe einging!

Einmal hatte Ella ihrer Cousine gegenüber vorsichtig angedeutet, ob sie sich nicht einen der Walther-Brüder als ihren Zukünftigen vorstellen könne. Damit hätte Ella Georgs Avancen ohne schlechtes Gewissen, dass sie die Chance auf ein sicheres Auskommen verstreichen ließ, ablehnen können.

Lina jedoch hatte nur gelacht. »Ach, Ella, man kann doch die Liebe nicht erzwingen! Die drei Walther-Jungen sind unsere Freunde seit Kindertagen, ja, aber doch keine Männer zum Heiraten. Jedenfalls nicht für mich. Nein, ich warte auf den Mann, der mich von den Füßen fegt, ehe ich auch nur ans Heiraten denke.«

Ella vermutete, dass Georg dieser Mann für Lina hätte sein können, wenn er sich nur etwas angestrengt hätte. Er machte jedoch keine Anstalten, sondern bedachte allein sie selbst mit seinem Charme. Sie allerdings legte keinen Wert darauf, »von den Füßen gefegt« zu werden. Sie wollte lieber mit beiden Beinen fest im Leben stehen, sich etwas aufbauen.

Ella hatte noch nie für einen Mann geschwärmt, sich noch nie nach der großen Liebe gesehnt. Sie hatte keine Ahnung von der Leidenschaft, von der immer und überall unter jungen Frauen die Rede war, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich diese Gefühle noch irgendwann einstellen würden. Somit hätte sie nicht viel zu verlieren, wenn sie jemanden heiratete, der wie ein Bruder für sie war …

Den Gedanken, was noch zu einer Ehe gehörte, musste sie bei solchen Überlegungen allerdings rasch beiseiteschieben.

»Ich weiß, ich habe keine Ahnung von Frauen«, sagte Georg, und Ella zwang sich, sich wieder auf ihn zu konzentrieren. »Und du tust recht daran, eure Geheimnisse zu bewahren.« Ein unsicheres Lächeln schlich sich auf sein offenes, jugendliches Gesicht. »Du sollst nur wissen, dass ich immer für dich da sein werde.« Er drückte ihren Arm. »Als Freund … und vielleicht irgendwann einmal als mehr als das. Ich kann warten.«

Verschwende nicht deine Zeit mit mir, wollte sie ihm raten. Du bist so ein netterKerl. Such dir eine Frau, die dich von Herzen lieben kann. Ich scheine dazu nicht fähig zu sein.

»Ella?«

Sie drehte sich um.

Lina stand in der Tür ihres Hauses wie zuvor Großmutter Elfriede.

Die Bilder ihrer zwei liebsten Menschen legten sich für einen Augenblick übereinander. Die beiden waren einander äußerlich so ähnlich, wie es eine junge und eine ältere Frau nur sein konnten. Ella blinzelte.

»Hallo, Georg. Entschuldigt die Störung.« Lina lächelte ihn an. »Ella, ich brauche dich kurz. Herr Offizier a. D. Bardenhöfer hat eine Frage zu seiner Rechnung.«

»Ich komme.« Ella tätschelte Georg kurz die Hand, dann schob sie sie von ihrem Arm. »Auf Wiedersehen.«

»Warte … Hast du schon Pläne für heute Abend?« Er räusperte sich und errötete. »Im Gesellschaftshaus wird getanzt.«

Ella musste an sich halten, nicht die Augen zu verdrehen. Ein Tanz im Gesellschaftshaus war ebenso »außergewöhnlich« wie Heringe in der Ostsee, und mit Georg tanzen zu gehen, würde bedeuten, ihm Hoffnungen zu machen. Und solange sie nicht sicher war, ob sie es über sich bringen würde, ihn zu heiraten … Sie war hin- und hergerissen. »Ich weiß n–«

»Ella«, rief Lina. »Bitte, ich brauche wirklich deine Hilfe. Der Herr Offizier möchte abreisen.« Sie deutete die Straße entlang in die Richtung, aus der ein Fuhrwerk heranrumpelte. »Da kommt schon seine Kutsche.«

Ella atmete noch einmal durch. Lina brauchte sie, und das nicht nur in diesem Moment. Sie durfte und wollte Georg nicht vor den Kopf stoßen, und sie hatte seine Einladungen in letzter Zeit schon so oft ausgeschlagen. Also schenkte sie ihm ein Lächeln. »Ich habe noch nichts vor.« Sie zwinkerte ihm zu und eilte zur Haustür, durch die Lina bereits verschwunden war. »Bis später dann!«, rief sie über die Schulter zurück.

Georg hob die Hand zum Gruß, sein Gesicht erhellt von einem Strahlen, das der Mittagssonne Konkurrenz machte.

Herr Offizier a. D. Bardenhöfer verließ nebst Gattin zufrieden und nach vollständig beglichener Rechnung die Pension und versprach, im nächsten Sommer wiederzukommen. Ella blieb jedoch kaum Zeit zum Luftholen, denn schon trafen die nächsten Gäste ein, das Ehepaar Ottendorf aus Berlin. Es würde eines der drei Zimmer beziehen.

Während Lina noch einmal nachsah, ob auch ja keine Falte im Bettzeug war und sich frisches Wasser im Krug auf dem Waschtisch befand, erledigte Ella die Formalitäten. Während sie den Zimmerschlüssel herauslegte und das dicke, in Leder gebundene Gästebuch aufschlug, sagte sie eine ihrer üblichen Begrüßungsfloskeln auf: »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.« Ella sah auf und blickte in das sauertöpfische Gesicht von Frau Ottendorf.

Diese schnaubte. »Angenehmer wäre sie gewesen, wenn dieser Ort an die Bahnstrecke angebunden wäre!«, gab sie so schnippisch zurück, als wäre es allein Ellas Schuld, dass noch keine Schienen bis Swinemünde verlegt worden waren. »Erst mussten wir stundenlang im Zug sitzen, nur um dann noch einmal so lange auf einem elenden Dampfer über das Haff und den Fluss gefahren zu werden.« Frau Ottendorf setzte eine jammervolle Miene auf. »Ich bin immer noch seekrank, obwohl wir schon vor Ewigkeiten angelegt haben und den ganzen Weg hierher zu Fuß gegangen sind.« Sie funkelte Ella an. »Mit all unserem Gepäck!«

Die Swine ist kein Fluss, und seekrank wird man auf ihr auch nicht, dachte Ella. Und »der ganze Weg hierher« sind keine sechshundert Fuß. Schließlich legten die Dampfer aus Stettin ganz in der Nähe an. Die Gäste mussten nur das Bollwerk, die Kaistraße an der Swine, ein Stück entlanggehen und erreichten schon nach kurzer Zeit die Lindenstraße und die Pension Büchner.

Natürlich sprach sie diese Gedanken nicht aus, sondern bemühte sich um ein freundliches Lächeln, das hoffentlich nicht zu gequält aussah.

»Das Gepäck haben der Bursche und ich getragen, Hilde«, versuchte Herr Ottendorf seine Frau zu beschwichtigen, »und so weit war es nun auch wie–«

»Und mein werter Herr Gemahl«, fiel die ungnädige Dame diesem scharf ins Wort, »bucht auch noch ein Zimmer in einer billigen Pension anstatt im Drei Kronen oder im Hôtel de Prusse! Geizkragen, der er ist!«

»Hildegard!« Nun klang auch Herr Ottendorf ungehalten. »Wir hatten darüber gesprochen. Die Reise zur Sommerfrische sollst du haben, wenn du meinst, die Luft hier tut deiner angegriffenen Lunge gut, aber wir werfen das Geld nicht mit vollen Händen zum Fenster hinaus!« Er sah entschuldigend zu Ella. »Und ich bin sicher, die Pension Büchner ist ein hervorragendes Haus, das unseren Bedürfnissen mehr als genügen wird.«

»Wollen wir es hoffen.« Die Berlinerin reckte das Kinn, was ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein hochnäsiges Aussehen verlieh. »Na, wir werden uns ohnehin nur zum Schlafen im Zimmer aufhalten. Und wenn das Essen nicht schmeckt, nehmen wir die Mahlzeiten eben in einem der Hotels oder Restaurants ein.« Damit kehrte sie Ella den Rücken zu.

Ella kochte innerlich, behielt aber das Lächeln bei. »Wenn Sie bitte hier unterschreiben wollen, Herr Ottendorf?«, sagte sie bemüht höflich. Wenn die angegriffene Lunge der Dame mal nicht vom ewigen Schimpfen herrührte! So schlimm schien es um das Organ nicht bestellt zu sein, wenn es Frau Ottendorf genug Luft ließ, um sich in einem fort zu beschweren.

Der Mann setzte schwungvoll seine Unterschrift in das Buch und nahm den Schlüssel entgegen.

Lina kam die Treppe herunter, begrüßte die Gäste und half dem Mann mit dem Gepäck.

Ella sah ihnen nach. So unangenehm die Ottendorfs waren – zumindest die Frau –, sie brauchten mehr Besucher ihres Schlages: wohlhabend, fein gekleidet, gebildet. Gäste, die ihre Pension auswählten, weil sie gut war. Nicht nur, weil sie preiswert war. Sie mussten alles geben, um diese Gäste zu überzeugen, dass in einem kleinen Haus viel besser auf ihre Bedürfnisse eingegangen werden konnte als in einem, das vielen Menschen Platz bot.

Ella nahm sich vor, die Ottendorfs nach ihren Essensvorlieben zu befragen, sobald sie wieder herunterkamen. Sie sollten sich so wohlfühlen, dass sie bald wiederkamen und ihren Freunden zu Hause nur das Beste von dem Aufenthalt erzählten!

Kapitel 3

Kleiner Markt, vor der Bühne des Wandertheaters

Lina

»Es behagt mir nicht, dich hier allein zu lassen.« Ella blickte sich mit missbilligender Miene um. »Sieh zu, dass du keinen Unsinn anstellst, und pass gut auf dich auf.«

Lina verbiss sich ein Schnauben. »Ich werde mit vielen anderen Menschen auf Holzbänken sitzen und mir eine Aufführung ansehen, mehr nicht«, erwiderte sie. »Außerdem bin ich ebenso daran gewöhnt wie du, auf mich selbst aufzupassen. Was soll mir schon passieren?«

Ella zuckte mit noch immer finsterer Miene die Schultern. »Wer weiß? Mit so einer Truppe reisen sittenlose Gesellen.«

»Das sagtest du bereits«, gab Lina zurück. »Und ich wiederhole: Das ist ein Ammenmärchen. Danke, dass du dich um mich sorgst, aber ich bin kein Kind mehr, außerdem bin ich doch gerade einmal ein paar Schritte von zu Hause entfernt.« Ihr kam ein Gedanke, und ihr Ärger wich der Belustigung. »Vielleicht sollte ich dich auch warnen, immerhin gehst du heute Abend mit einem feschen Mann aus. Und wer weiß, welche Absichten der hat?« Lina grinste ihre Cousine an. Sie konnte sich nicht erklären, wieso Ella so plötzlich Georgs Werben erhört hatte, aber es freute sie.

Ella brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu Lina um. »Ach, und wirf nicht zu viel in den Hut, ja? Wenn es danach geht, was die Aufführung wert ist, wäre jeder Groschen zu viel.«

»Du hast das Stück doch noch gar nicht gesehen!«, fuhr Lina sie an, plötzlich wieder ärgerlich, aber Ella hatte sich schon abgewandt und in Bewegung gesetzt. Nun schnaubte Lina doch.

Die dauernde Bevormundung und die ständigen Belehrungen durch Cousine und Großmutter setzten ihr gehörig zu. Sie war erwachsen, und niemand traute ihr irgendetwas zu. Nur weil es ihr oft wichtiger war, den Frieden zu bewahren, als ihre Meinung durchzusetzen. Das hieß jedoch nicht, dass sie keine hatte.

Sie verscheuchte die schlechten Gedanken und trat näher an die Bühne heran. Die Holzbänke waren bisher spärlich besetzt, und Lina suchte sich einen Platz in der ersten Reihe. Sie drapierte ihr Kleid um sich, sodass sich niemand zu dicht neben sie setzen würde, und betrachtete den Bühnenaufbau.

Augenblicklich schlug ihr Herz schneller. Die in bunten Farben bemalte Kulisse zeigte im Hintergrund eine Burg auf einem Hügel, im Vordergrund die Häuser eines Dorfes und an den Seiten links das Meer mit einem hellen Strand und wie als Gegensatz dazu rechts einen dunkelgrünen Tannenwald. Ein einfaches Podest war als Bühne errichtet worden, je drei Stufen führten an den Seiten hinauf.

Ob die fahrende Truppe all diese Aufbauten mitgebracht hatte, auch die Sitzbänke? Wo waren die Wagen, mit denen sie gekommen waren? Lina hatte gehört, dass nur wenige Städte den Spielleuten Unterkunft boten, und noch weniger gern gesehen waren angeblich die Wagen. Mussten die Theaterleute vor der Stadt lagern? Wie sah so ein Lager aus?

Lina malte sich aus, wie die Truppe nach getaner Arbeit in trauter Gemeinsamkeit um ein Feuer sitzen und den Abend ausklingen lassen würde. Ohne ein festes Zuhause zu leben, war gewiss nicht einfach, aber jeden Morgen an einem anderen Ort aufzuwachen, so viel von der Welt zu sehen – das musste herrlich sein. Der Gedanke weckte Sehnsucht in Lina. Doch wäre ein solches Leben überhaupt etwas für sie?

Sie hatte das Glück, in relativen Wohlstand hineingeboren worden zu sein, und sie kannte genügend Menschen, die um ihr Auskommen kämpfen mussten. Wie konnte sie also so etwas wie Neid fühlen auf eine Gruppe von Schauspielern, die keine gemauerten Wände ihr Zuhause nennen konnten?

Aber bestand ein Zuhause überhaupt aus Steinen? Ging es nicht vielmehr um die Menschen darin? Menschen, die einander vertrauten und wertschätzten?

Hinter der Kulisse lugte eine junge Frau hervor, die ihren Blick über die sich füllenden Sitzreihen schweifen ließ. Sie musste ungefähr in Linas Alter sein. Ob sie auch so sehr um Anerkennung zu kämpfen hatte wie sie? Gewiss nicht!

Die Bank geriet ins Schwanken, und Lina wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ein Mann und eine Frau setzten sich neben sie. Lina lächelte und nickte ihnen zu.

Die Frau musterte mit hochgezogenen Augenbrauen Linas Kleid, und ihre Wangen wurden heiß. Es war schon das schlichteste, das sie hatte finden können, und dennoch war sie zu gut gekleidet für diese Aufführung? Verstohlen sah sie sich um. Natürlich wurden die kostenlosen Schauspiele in der Mehrzahl von Personen besucht, die sich Theaterkarten nicht leisten konnten, aber dass sie so hervorstechen würde, hatte sie nicht erwartet.

Sie richtete den Blick wieder nach vorn auf die Kulisse, und das ungute Gefühl verschwand. Sie hatte das Recht, hier zu sein, ebenso wie alle anderen.

Ein Gong ertönte, und das Gemurmel um sie herum ebbte ab. Lina krampfte aufgeregt die Hände in den Stoff ihres Kleides. Gleich würde sie zu sehen bekommen, worauf sie sich seit Tagen freute! Der Gong schlug zweimal. Von allen Seiten kamen Leute herbeigeeilt und rutschen auf die Bänke, bis diese bis zum letzten Platz gefüllt waren. Weitere Schaulustige stellten sich am Rand auf. Und wieder erklang der Gong.

Gleichzeitig mit dem dritten Schlag trat die Frau, deren Gesicht Lina bereits gesehen hatte, hinter der Kulisse hervor und hüpfte die Stufen hinauf. Sie strahlte vor Freude und presste die Hände auf ihren Brustkorb.

»Ach, ich bin das glücklichste Mädchen der Welt!«, rief sie, und Lina bewunderte die weithin tragende Stimme dieser zarten Person. Sie hallte über den Kleinen Markt und war sicher noch in den umstehenden Häusern zu hören.

Die junge Frau trug ein prächtiges Kleid, rosafarben, ausladend und voller zarter Stickereien. Sie tanzte über die Bühne, kam manchmal so nah an die Kante, dass die Zuschauer hörbar den Atem einsogen, aber Lina erkannte, dass jeder Schritt der Schauspielerin perfekt eingeübt war. Diese fuhr fort, von ihrem Liebsten zu schwärmen, der an diesem Tag bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten würde.

Eine letzte Drehung, dann knickste die junge Frau, tänzelte die Stiege wieder herab und verschwand hinter der Kulisse. Applaus brandete auf, und auch Lina klatschte begeistert in die Hände.

Als Nächstes betraten zwei Männer von den Seiten her die Bühne. Der von rechts Kommende war deutlich älter als die junge Frau, ein gesetzter Herr in der förmlichen Kleidung eines Geschäftsmannes. Sicherlich stellte er ihren Vater dar. Der andere Mann war hochgewachsen, schlank, besaß tiefschwarzes, lockiges Haar und ein jugendliches Gesicht, gebräunt und mit einem leichten Bartschatten. Kein Schnurrbart.

Lina konnte den Blick nicht mehr von ihm wenden. Sie hatte sich den Hauptdarsteller des Stücks aufgrund der gezeichneten Plakate als einen gut aussehenden Mann ausgemalt, doch eine solche Schönheit hatte sie nicht erwartet. Gebannt starrte sie den Schauspieler an, der dem Vater seiner Geliebten seine Absichten erklärte – und von ihm zum Teufel gejagt wurde.

Dies zog eine solche Verzweiflung bei dem jungen Paar nach sich, dass es Lina die Tränen in die Augen trieb. Sie spürte die Verzweiflung der beiden körperlich, denn die Schauspieler waren unsagbar gut.

Es folgte viel Hin und Her mit insgesamt drei weiblichen und drei männlichen Darstellern, die Kulisse wurde wieder und wieder verändert. Heimliche Treffen, Lügen, Schwüre, Wutausbrüche, Hoffnung, Verzweiflung – das Stück hatte alles, was sich Lina davon erhofft hatte.

Wie konnte Ella nur so abfällig über die Darstellung solch großer Gefühle reden? Linas Herz war zugleich leicht und schwer, voller Freude und Mitleid, und als es langsam zu dämmern begann und Öllampen am Rande der Bühne entzündet wurden, meinte sie, es wollte ihr zerspringen vor lauter Glück und Schmerz. Das Schauspiel war schöner als jedes Buch, das sie je gelesen hatte!

Das Stück ging für die Liebenden nicht gut aus. Die junge Frau setzte in ihrer Verzweiflung ihrem Leben ein Ende.

Der letzte Auftritt des Abends gehörte dem jungen Mann. Er wandte sich den Zuschauern zu und hielt einen Monolog über seine verlorene Liebe, die Verschwendung eines Lebens aufgrund der Unnachgiebigkeit der Gesellschaft, über zerstörtes Glück und die Notwendigkeit seines Weiterlebens, damit der Tod seiner Geliebten nicht umsonst gewesen war. Im Gedenken an sie würde er unermüdlich dafür kämpfen, dass sich diese Gesellschaft veränderte, bis die Liebe zwischen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft möglich wäre.

Lina hörte die Leute um sich herum nach Luft schnappen, und Gemurmel erklang.

»Unerhört!«

»Was für aufrührerische Gedanken.«

»Der Vater war doch im Recht!«

»Und was nützt ihm das, wenn er sein Kind verloren hat?«

»Psst!«

Auch Lina fand die Worte des jungen Mannes unerhört, aber das steigerte ihre Begeisterung über das Stück nur noch, und sie lauschte gebannt. Irgendwann im Laufe seiner Rede sah er Lina geradewegs ins Gesicht, und es kam ihr vor, als spräche er nur noch mit ihr.

Sein Blick hielt sie gefangen, als er mit rauer Stimme sagte: »Und vielleicht, nur vielleicht, werde ich doch noch irgendwann mein Glück finden. Niemand kann mir Rosalie ersetzen, und ich werde sie für immer in meinem Herzen tragen, aber die Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist, werde ich in mir bewahren.« Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Züge, und Lina fühlte, wie sich auch ihre Mundwinkel hoben.

Er verstummte und verbeugte sich, und trotz der vorher laut gewordenen Kritik brandete Applaus auf.

Die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler betraten die Bühne, und das gesamte Ensemble nahm die Begeisterung der Zuschauer lächelnd entgegen. Die »wieder auferstandene« junge Frau zog sich den blumengeschmückten Hut vom Kopf und ging damit durch die Reihen. Die Zuschauer warfen Münzen hinein, und auch Lina zog einige Groschen aus ihrem Beutel und ließ sie klirrend in die Kopfbedeckung fallen. Die junge Frau knickste vor ihr, und Lina lächelte sie an.

Als die Schauspielerin alle Besucher abgeklappert hatte, ging sie zurück auf die Bühne und hielt den Hut in die Höhe. »Vielen Dank, sehr verehrte Damen und Herren!«, rief sie.

»Beehren Sie uns gern wieder!«, stimmte der Darsteller des unnachgiebigen Vaters ein, der in Wahrheit zu einem viel freundlicheren Tonfall in der Lage war und eher wie ein gutmütiger Onkel klang. »Wir spielen noch vier Tage lang jeden Abend um die gleiche Zeit an diesem Ort.«

»Und wer weiß? Vielleicht geht das Stück morgen anders aus!« Der junge Hauptdarsteller zwinkerte, und wieder hatte Lina das Gefühl, es gelte ihr allein.

Die Schauspieltruppe verließ geschlossen die Bühne und verschwand hinter der Kulisse, und Lina schwor sich, Großmutter zu überreden, dass sie sich das Stück noch einmal ansehen durfte.

Ihr Herz war voll, der Abend war mild, die Dunkelheit breitete sich langsam aus. Um sie herum standen die Leute auf und trollten sich, doch sie konnte sich kaum losreißen. Wie schade, dass sie dieses herrliche Gefühl nicht mit ihrer liebsten Ella teilen konnte! Mit dem einen Menschen, der ihr alles bedeutete.

Lina wusste nicht, wie man jemanden so lieb haben konnte, mit dem man nichts gemein hatte außer dem ungefähren Alter und demselben Schicksal. Sie sahen sehr verschieden aus, und so unterschiedlich waren auch ihre Wesen, und doch liebten sie einander sehr.

Lina hatte oft versucht, Ella von ihren Büchern zu erzählen, von den Puppentheaterstücken, den Aufführungen. Nicht ein einziges Mal war die Begeisterung übergesprungen, im Gegenteil: Sie war belächelt worden. Auf liebevolle Weise zwar, aber doch belächelt. Lina konnte Ella nie lange böse sein, denn war es nicht eigentlich gut, dass eine von ihnen mit den Beinen mitten im Leben stand, anstatt »den Kopf in den Wolken« zu haben? So jedenfalls drückte Großmutter es immer wieder aus.

Lina seufzte. Sie brauchte sich gar nicht erst zu bemühen, ihrer Cousine von diesem magischen Abend zu erzählen, geschweige denn zu versuchen, sie zu überreden, an einem der nächsten Tage mit ihr hierherzukommen. Ella mochte weder das Theater, noch ging sie je aus.

Oder doch. Lina grinste. Ella ging sehr wohl aus – gerade in diesem Moment war sie beim Tanz, und zwar mit Georg! Der Arme liebte Ella, solange Lina zurückdenken konnte, und endlich hatte sie ihn erhört. Ob sich damit seine Wünsche erfüllt hatten?

Das letzte Mal, als sie im Gesellschaftshaus gewesen waren – sie beide mit Georg und seinem Bruder Gustav, deren Eltern und Großmutter –, hatte sich Ella an ihrer Limonade festgehalten und die Tanzfläche nicht einmal betreten. An diesem Abend hingegen waren sie und Georg allein dort. Neugier ergriff Lina und vermochte sie endlich von ihrer Bank loszureißen.

Sie bemerkte, dass man um sie herum bereits damit begonnen hatte, die Sitzgelegenheiten einzusammeln. Sie lächelte dem Handlanger der Schauspieltruppe entschuldigend zu und wandte sich in Richtung Swine. Sie würde nicht geradewegs nach Hause gehen, sondern das Gesellschaftshaus aufsuchen und durchs Fenster spähen. Vielleicht konnte sie ja Ella und Georg entdecken. Sie brannte darauf, zu sehen, wie sie sich betrugen, nun, da sie allein miteinander ausgingen.

War es falsch, Menschen heimlich zu beobachten? Vermutlich, aber das war ihr gleichgültig. Sie liebte es, die menschliche Natur zu studieren, sei es in Romanen oder im wahren Leben. Herauszufinden, warum Leute so handelten, wie sie es nun einmal taten. Nur aus der Ferne allerdings. Lina hatte kein Interesse daran, selbst ein Teil der »Handlung« zu sein. Zu viel Angst machten ihr die Menschen. Aber beobachten wollte, ja, musste sie sie! Und dabei bildeten ihre Verwandten keine Ausnahme, so unerhört ein solches Benehmen auch sein mochte.

War es denn wirklich etwas anderes, als ein Buch zu lesen oder ein Stück zu sehen? Sie würde ja nicht eingreifen, konnte es im Leben genauso wenig, wie sie auf eine Bühne stürmen würde, um die Handlung zu ändern. Menschen taten ohnehin, was sie tun wollten. Und auf sie, Lina, hörte ja doch niemand. Warum also nicht einen Blick wagen?

Kapitel 4

Gesellschaftshaus, Tanzsaal

Ella

»Und nach der Saison fahren Gustav, Gregor und ich mit dem Frachtschiff nach Danzig.« Georg strahlte Ella an. »Wir waren im Frühjahr schon einmal dort, vielleicht erinnerst du dich, ich hatte dir davon erzählt. Zwar hat Gregor die Seefahrt nicht so gut vertragen, aber ich werde ihn schon noch überreden, wieder mitzukommen. Danzig ist eine wunderschöne Stadt. Ich plane, eines Tages meine Hochzeitsreise dorthin zu machen.«

Das Lächeln, das eben noch auf ihren Lippen gelegen hatte, entglitt Ella, und schnell trank sie einen Schluck von ihrer Bowle. Sie hatte Georgs Anspielung nur zu gut verstanden. Ella umklammerte das bauchige Glas so fest, dass sie befürchtete, es zu zerbrechen. Hochzeitsreise … Hochzeitsnacht. Das Bett teilen. Sie erschauderte innerlich.

»Es ist nicht so, dass meine Brüder und ich zur See fahren, weil wir das Geld dringend brauchen«, plapperte Georg weiter. »Die Pension wirft genug ab. Aber ich möchte jetzt schon etwas beiseitelegen, damit ich meiner Braut einmal all ihre Wünsche erfüllen kann.« Er sah so hoffnungsvoll aus, dass Ella ein schlechtes Gewissen bekam. Sie stürzte den Rest aus ihrem Glas herunter. »Und damit sie auf keinen Fall arbeiten muss!«

Ein Stück Erdbeere geriet ihr in den falschen Hals, und Ella räusperte sich unterdrückt, um es wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.

Georg schien es nicht zu bemerken. Zu gefangen war er von seinen Zukunftsplänen. »Ich werde für meine Frau sorgen, und sie muss sich keine Gedanken darüber machen, wie das Essen auf den Tisch kommt.« Seine Augen waren kugelrund vor Begeisterung, sein Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. »Sie kann sich ganz dem widmen, was ihr Freude macht.«

In Ellas Magen bildete sich ein unangenehmer Knoten. Er versucht dich zu ködern, schoss es ihr durch den Kopf. Anders waren seine Worte nicht zu deuten. Ja, glaubte Georg denn, sie mit diesen Schilderungen zu beeindrucken? Mit der Aussicht, dass sie, wäre sie seine Ehefrau, ihr Leben im Müßiggang verbringen sollte, womöglich sticken oder andere Ehefrauen zu sinnentleerten Gesprächen zum Tee empfangen? Dass sie die Verantwortung für die Geschäfte abgeben sollte und damit auch die Kontrolle über die Finanzen und die Qualität der gebotenen Leistung? Kannte er sie so wenig, dass er annahm, ihr damit einen Gefallen zu tun? Oder interessierte es ihn einfach nicht, was sie wollte?

Sie brannte im Gegenteil darauf, Einblick in die Geschäfte der Nachbarn zu erhalten, aber Georg klang nicht, als wäre dies für seine zukünftige Ehefrau eine Option.

Noch immer sah er sie erwartungsvoll an, hob nun sogar die Augenbrauen noch höher. Er wartete eindeutig darauf, dass sie anbiss.

Ella kicherte, aber nicht vor Freude oder um mit ihm zu schäkern, sondern vor Anspannung. Das war das erste Mal, dass er bewusst die Angel nach ihr auswarf, und sie konnte nicht behaupten, dass es ihr gefiel. Was dort vor ihrer Nase am Haken baumelte, war nicht der schmackhafte Köder, den sie erwartet hatte.

Sie hatte ja bereits darüber nachgedacht, dass es vielleicht nicht schlimm wäre, mit Georg verheiratet zu sein – schließlich mochte sie ihn. Doch Voraussetzung war für sie gewesen, ihre Arbeit zu haben, ihre Fähigkeiten in die gemeinsame vergrößerte Pension einbringen und diese immer weiter verbessern zu können. Noch mehr Gästen den Aufenthalt in der Stadt verschönern, noch mehr Gewinne erwirtschaften und das Geld wieder investieren zu können, um das Haus zu einem Erfolg zu machen. Es dazu zu bringen, in aller Munde, in den Prospekten der Reiseagenturen und in den Berliner Zeitungen zu sein.

Ella sah die Anzeigen einmal mehr vor sich. Pension Büchner, Ihre erste Adresse in Swinemünde. Verkehrsgünstig gelegen. Geräumige Zimmer mit Waschgelegenheit, Bettwäsche inklusive …

Oder ihretwegen auch Pension Walther. Am Namen sollte es nicht scheitern. Hauptsache, sie dürfte arbeiten, wäre am Erfolg des Geschäfts beteiligt.

Hauptsache, sie könnte ihre Familie versorgen.

Georgs Vorstellungen jedoch klangen so weit entfernt von den ihren, dass ihr der Kopf schwirrte. Zum Glück spielten die Musikanten gerade zu einem neuen Walzer auf.

»Lass uns tanzen«, rief sie ein wenig zu laut und stellte ihr leeres Glas zu heftig auf den Tisch, neben dem sie standen. Ein Herr auf der anderen Seite der Tischplatte räusperte sich empört.

Georg dagegen lachte. »Zu Befehl, meine resolute Holde!« Er nahm ihre Hand und führte sie auf die Tanzfläche.

Ella hatte gehofft, während des Walzers ihre Gedanken zur Ruhe bringen zu können, doch sie hatte keinen Erfolg. Sie zwang sich, Georgs verliebtem und bewunderndem Blick nicht auszuweichen. Seine Hand schien sich in ihren unteren Rücken zu brennen. Lag sie nicht viel tiefer, als es sich schickte? Nun bewegte er auch noch die Finger, als würde er eine Katze kraulen. Hätte Ella nicht schon vermutet, dass Georg mehr als eine gute Freundin in ihr sah, wäre dies die Bestätigung gewesen. Ihr wurde flau.

Schon war der Tanz wieder vorbei, und sie wand sich aus Georgs Umarmung. Obwohl sie froh war, der Hand auf ihrem Rücken zu entkommen, graute es ihr davor, das Gespräch fortzusetzen. Es würde ganz und gar nicht in eine Richtung führen, die sie beruhigte. Wenn sie in Georgs Pension nicht mitarbeiten durfte, wäre sie gänzlich von ihm abhängig. Rechtlich wäre sie es ohnehin. Während alleinstehende Frauen fast alle Rechte besaßen, Geschäfte zu tätigen, war Ehefrauen dies nur mit Zustimmung ihres Mannes erlaubt. Was, wenn Georg nicht so handeln würde, wie sie es wollte? Was wurde dann aus Großmutter … und aus Lina? Vor allem aus Lina?